04.06.2015 Aufrufe

Ornamente der Fassade

ISBN 978-3-86859-233-7

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232 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 233<br />

Imitation und Abstraktion – Bildmotive <strong>der</strong> Natur<br />

Während die »grüne Wand« und die »Regenmalerei«-Betonwand materialtechnisch<br />

auf die direkte, jedoch planerisch kalkulierte und gesteuerte Präsenz von<br />

Natur zurückgehen, basieren die folgenden Beispiele auf einer unterschiedlich<br />

stark abstrahierten Darstellung von Motiven aus dem Bild- und Formenschatz<br />

<strong>der</strong> Natur. Vegetabile Elemente wie Zweige, Baumrinde, Blüten o<strong>der</strong> Blätter,<br />

die aufgrund ihrer Morphologie und mittels einer seriellen o<strong>der</strong> symmetrischen<br />

Anordnung ornamentales Potenzial entfalten können, werden photographisch<br />

aufbereitet o<strong>der</strong> computertechnisch verfremdet. Dabei kann zwischen flächigen<br />

und reliefhaften, dreidimensionalen Natur-<strong>Ornamente</strong>n unterschieden werden.<br />

Während erstere meist durch seriellen Siebdruck auf Glas o<strong>der</strong> Kunststoff aufgebracht<br />

werden, können letztere in enger Verbindung mit <strong>der</strong> Konstruktion<br />

beispielsweise mittels Aluminiumguss, Negativrelief in Ortbeton o<strong>der</strong> Laserschnitt<br />

hergestellt werden. Bei diesen Oberflächengestaltungen von Gebäuden<br />

– ob in <strong>der</strong> Fläche o<strong>der</strong> im Relief – geht es meist nicht um direktes Nachahmen<br />

von Naturmotiven o<strong>der</strong> -vorgängen, son<strong>der</strong>n vielmehr um assoziative, kulturell<br />

bedingte Verknüpfungen und mehrschichtige Übertragungsprozesse. Bildhafte<br />

Natur-<strong>Ornamente</strong> geben nicht unbedingt Aufschluss über die Gebäudefunktion,<br />

bringen jedoch eine Belebung und Ästhetisierung ansonsten »leerer« <strong>Fassade</strong>n<br />

mit sich und dienen häufig als Sonnenschutz.<br />

Das Ricola-Lagerhaus in Mulhouse gilt weniger wegen <strong>der</strong> »Regenmalerei«, als<br />

vielmehr wegen seiner Längsseiten als <strong>der</strong> Pionierbau für ornamental-bildhafte<br />

<strong>Fassade</strong>ngestaltung in den frühen 1990er Jahren. Herzog & de Meuron verfremdeten<br />

die Schwarzweiß-Photographie Die Doldige Schafgarbe von Karl<br />

Blossfeldt aus dessen Werk Urformen <strong>der</strong> Kunst: Photographische Pflanzenbil<strong>der</strong><br />

von 1928, indem sie diese in verän<strong>der</strong>tem Maßstab und in rigi<strong>der</strong> ornamentaler<br />

Reihung (sechsmal in <strong>der</strong> Höhe) von innen mittels Siebdruck auf<br />

die transluzenten Kunststoffplatten aufbringen ließen, welche die <strong>Fassade</strong> bilden<br />

(Abb. 102-103). 887 Ein alltägliches industrielles Baumaterial – Platten aus<br />

dreischichtigem, lichtdurchlässigen Polycarbonat – wird durch eine Ikone <strong>der</strong><br />

Photographie-Geschichte veredelt und individualisiert. Auf assoziativ-visueller<br />

Ebene verweist das so geschaffene bildhaft-ornamentale Blatt-Motiv weiter in<br />

die Architektur- und Kunstgeschichte zurück als bis zu den Anfängen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Natur-Photographie. Der gestaffelte Aufbau <strong>der</strong> Schafgarben-Blätter in<br />

Frontalansicht erinnert formalästhetisch an die stilisierten Akanthusblätter des<br />

korinthischen Kapitells o<strong>der</strong> <strong>der</strong> griechischen Akroterien.<br />

Die Verwendung eines Pflanzenmotivs korreliert mit <strong>der</strong> Nutzung des Gebäudes,<br />

in dem aus Kräuterextrakten hergestellte Bonbons gelagert werden.<br />

Damit könnte das Gebäude als zeitgenössische architecture parlante o<strong>der</strong> gar<br />

106<br />

Herzog & de Meuron: Ricola-Europe SA in Mulhouse-<br />

Brunstatt (F), Blick aus dem Inneren, 1992/93<br />

als gebaute Eigenwerbung für Ricola<br />

im Sinne eines firmeneigenen branding<br />

aufgefasst werden. 888 Aufgrund <strong>der</strong> Verfremdung<br />

<strong>der</strong> historischen Photographie<br />

durch Vergrößerung, ornamentale<br />

Reihung und Siebdruck bewahrt es sich<br />

jedoch einen vielfältig interpretierbaren<br />

Charakter, was <strong>der</strong> Eindimensionalität<br />

und schnellen Lesbarkeit von Werbebotschaften<br />

entgegensteht. Im Zusammenspiel<br />

<strong>der</strong> milchigen, transluzenten<br />

Polycarbonatwände mit natürlichem<br />

o<strong>der</strong>, nachts, künstlichem Licht ist das<br />

Blattmotiv von außen mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

gut sichtbar; die Oberflächen wirken<br />

eher verschlossen, glatt und texturhaft.<br />

Die langen, schmalen Streifen in <strong>der</strong> Polycarbonatwand<br />

scheinen einem Schleier<br />

gleich »von oben herab bis auf die Erde<br />

zu fließen«, und diese »Illusion des Strömens«<br />

lässt die Vor<strong>der</strong>seiten mit den beiden<br />

seitlichen Betonwänden verschwimmen. 889 Aus einer gewissen Entfernung<br />

betrachtet, erinnern auch die Regenwasser-Streifen mit ihrem unregelmäßigen<br />

Hell-Dunkel-Rhythmus an die zufällig gebildeten Falten eines Vorhanges. Von<br />

innen bestätigen die Längsseiten diese vorhangartige Wirkung, zumal das Licht<br />

durch das milchige Polycarbonat leicht gedämpft wird (Abb. 106). Herzog & de<br />

Meuron ist es bei dem Ricola-Lagerhaus gelungen, »die willkürliche Trennung<br />

von Natur und Kunst nie<strong>der</strong>[zu]reißen, die Trennung zwischen <strong>der</strong> blickdichten<br />

Mauer als opakes, lasttragendes Bauelement und <strong>der</strong> Mauer als lichtdurchlässigem,<br />

raumumschließenden ›Ge-Wand‹ « 890 aufzulösen. Der gesamte Baukörper,<br />

<strong>der</strong> mit seinen Blattmotiv-bedruckten vorkragenden Vordächern wie eine<br />

Bonbonschachtel mit aufgeklappten Seitendeckeln da steht, bekommt durch<br />

die Vorhang-Assoziation und die bildhaft-ornamentale Motivik etwas Bühnenhaftes,<br />

Theatral-Inszeniertes. Jenseits von oberflächlichem »Natur-Kitsch« positioniert<br />

sich das Ricola-Gebäude durch vielschichtige formalästhetische Querverbindungen<br />

zur frühen, wissenschaftlich begründeten Natur-Photographie,<br />

zur Postmo<strong>der</strong>ne und zur Pop Art in <strong>der</strong> Kunst- und Architekturgeschichte. 891<br />

Während die Naturmotivik beim Ricola-Gebäude eng mit <strong>der</strong> Gebäudefunktion<br />

verbunden ist, erscheint sie bei <strong>der</strong> 2000-2004 von Wiel Arets entworfenen Universitätsbibliothek<br />

auf dem Campus in Utrecht zunächst eher willkürlich (Abb.

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