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Ansichtssache Frauenhandel - An.schläge

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Fo t o s : Fi l m l a d e n<br />

ge.sehen<br />

Aus heiterem Himmel –<br />

Tan de repente. Argentinien 2002<br />

(94 Minuten)<br />

Regie: Diego Lerman / Drehbuch:<br />

Diego Lerman und Maria Meira –<br />

noch zu sehen im Wiener Votiv Kino<br />

42 an.<strong>schläge</strong>juli august 2004<br />

Argentinische Provinz<br />

Amouröse Verstrickungen zwischen zwei Lesben und einer Hetera, erzählt von einem Mann –<br />

das endet zumeist so platt, wie es klingt. Warum Diego Lermans argentinisches Roadmovie<br />

dennoch gelungen ist, erklärt <strong>An</strong>gelika Pelikan<br />

„So plötzlich“ lautet die wörtliche<br />

Übersetzung von „Tan de repente“.<br />

Ebenso plötzlich beginnt<br />

für die argentinische Dessous-<br />

Verkäuferin Marcia (Tatiana Saphir)<br />

ein neuer Lebensabschnitt. Als sie<br />

von den lesbischen <strong>An</strong>archistinnen Mao<br />

(Carla Crespo) und Lenin (Verónica Hassan)<br />

an einer Straßenecke in Buenos Aires<br />

angesprochen wird, soll sich ihr bis<br />

dahin tristes und ereignisloses Leben<br />

mit einem Schlag verändern. Denn die<br />

frustrierte Marcia wird kurzerhand von<br />

den beiden Punkerinnen entführt. Mit<br />

einem gestohlenen Taxi machen sich<br />

die drei Frauen auf den Weg ans Meer.<br />

Dieser Trip ist der Beginn einer wunderbaren<br />

Erzählung über das Leben, verschiedene<br />

Frauen und unterschiedliche<br />

Lebensphilosophien.<br />

Das Schicksal verschlägt Marcia<br />

und ihre Entführerinnen in die tiefste<br />

argentinische Provinz, wo sie auf Lenins<br />

Großmutter und deren UntermieterInnen<br />

treffen. Von hier aus nehmen die<br />

Veränderungen ihren Lauf. Die bis dahin<br />

an ein klassisches Roadmovie erinnernde<br />

Geschichte beginnt ruhiger zu werden.<br />

Alle handelnden Menschen sammeln<br />

sich in einem Haus. Hier nimmt<br />

Diego Lermans außergewöhnliche Darstellung<br />

der einzelnen Frauen und ihrer<br />

Werte ihren <strong>An</strong>fang. Gesellschaftliche<br />

Normen in ihrer konservativsten Form<br />

werden ebenso in Frage gestellt, wie die<br />

Sinnhaftigkeit des Aussteigertums oder<br />

das zwanghafte Denken in sexuellen<br />

Kategorien.<br />

Lesbische Frauen, die von sich<br />

selbst meinen, sie wären nicht lesbisch;<br />

die heterosexuelle Marcia, die Sex mit<br />

einer Frau nie auch nur annähernd in<br />

Erwägung gezogen hat und nun ihre<br />

ersten lesbischen Erfahrungen genießt;<br />

die kettenrauchende Großmutter – all<br />

diese Menschen sind in Lermans Charakterisierung<br />

trotz ihrer Paradoxien<br />

schlüssig. Sie funktionieren innerhalb<br />

der Geschichte und sind auch in der<br />

Realität denkbar. Der argentinische<br />

Film hat mit Diego Lerman einen Meister<br />

der Einfachheit gefunden. Der<br />

grobkörnig in schwarz-weiß inszenierte<br />

Film konzentriert sich mit seinen fast<br />

monoton erscheinenden Bildern auf<br />

die Zeichnung der einzelnen Charaktere.<br />

Der einzige Mann in dem Film wirkt<br />

farblos und leer, ohne Persönlichkeit.<br />

Seine Präsenz ist weder für die Handlung<br />

noch für die Entwicklung einer der<br />

Frauen notwendig. Dennoch oder gerade<br />

deswegen treten die Frauen und ihre<br />

unterschiedlichen Philosophien stärker<br />

an die Oberfläche. Diese Einfachheit<br />

macht die Handelnden in ihrer<br />

Darstellung realistischer, vertrauensund<br />

auch kraftvoller, als dies in jeder<br />

anderen aufwendigeren Inszenierung<br />

je der Fall hätte sein können. Lerman<br />

balanciert seine Heldinnen auf einem<br />

dünnen Seil, er entscheidet, ob sie fallen<br />

und in ihrer Darstellung lächerlich<br />

erscheinen oder den Seilakt mit Bravour<br />

bestehen und dem Publikum der<br />

ursprüngliche Kern jedes einzelnen<br />

Charakters vermittelt werden kann. Er<br />

bepackt jede Einzelne von ihnen noch<br />

mit zusätzlichem Ballast, bevor er sie<br />

ihren Weg bestreiten lässt. Der Drahtseilakt<br />

gelingt. Gerade der Mut zur Verletzlichkeit,<br />

das Zeigen von Verzweiflung<br />

und <strong>An</strong>gst, das gewahr Werden<br />

von Begehren, Verlusten und Enttäuschungen<br />

in der gesamten nur möglichen<br />

emotionalen Bandbreite lassen<br />

die – eigentlich schwach durch die<br />

Handlung tänzelnden – Frauen stark<br />

und heroisch erscheinen.<br />

Diego Lerman hat mit „Tan de repente“<br />

einen Film geschaffen, der Themen<br />

mit vergangener, aktueller und<br />

wahrscheinlich auch zukünftiger Relevanz<br />

anspricht, ohne diese zu kategorisieren<br />

oder lächerlich zu machen. Er<br />

stellt sie in den Raum und bietet die<br />

Möglichkeit, darüber zu reflektieren, ohne<br />

sie selbst zu bewerten. Dieser Film<br />

erzählt von Frauen, vom individuellen<br />

Sinn und den Fragen des Lebens, der<br />

Liebe und der Kraft, die in jeder/m von<br />

uns schlummert, und nur geweckt werden<br />

muss. ❚

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