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Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland - Konrad ...

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4.7. Formen der Eheschließung......................................1014.8. Ehrenmord...........................................................1094.9. Zusammenfassung.................................................111115 | 5. lebenswelt schule5.1. Zur Bedeutung der Schule bei <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong><strong>Jugendliche</strong>n.........................................................1165.2. Zur Bedeutung von Bildung <strong>in</strong> den Familien............... 1205.3. Berufsausbildung <strong>und</strong> Berufs<strong>in</strong>teressen..................... 1255.4. Zusammenfassung.................................................127130 | 6. konsequenzen für die pädagogische praxis6.1. Die strukturelle Ebene:Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem.............................. 1336.2. Die Ebene der Organisation:Schule <strong>und</strong> Schulentwicklung.................................. 1386.3. Die Ebene der Interaktion:Unterricht <strong>und</strong> Beratungsgespräche ......................... 1446.4. Zusammenfassung.................................................158163 | 7. konsequenzen für die elternarbeit:türöffner <strong>und</strong> stolperste<strong>in</strong>e7.1. Das Elterngespräch................................................1647.2. Elternbeteiligung <strong>und</strong> Informationsabende................ 1697.3. Hausbesuche........................................................1737.4. Zusammenfassung.................................................177179 | 8. statt e<strong>in</strong>es fazits: erfolgreiche muslime<strong>in</strong> deutschland184 | literatur199 | Autoren <strong>und</strong> herausgeber199 | ansprechpartner <strong>in</strong> der konrad-adenauer-stif tungVorwort<strong>Jugendliche</strong> wachsen mit unterschiedlichen Voraussetzungenauf, die ihre Eltern ihnen ermöglichen. Ihre Entwicklungsmöglichkeitenhängen erheblich davon ab, ob sie imSchatten von Arbeitslosigkeit aufwachsen, mit ungelöstenMigrationsproblemen heranwachsen oder von engagiertenEltern gefördert werden. Die Lebenswelten, <strong>in</strong> denen die<strong>Jugendliche</strong>n sich heute entwickeln, differenzieren nicht nur<strong>in</strong> ökonomischer <strong>und</strong> kultureller H<strong>in</strong>sicht, sondern auch imH<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong> unterschiedliches Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungsverständnis.In der vorliegenden Publikation setzen sich die Verfasserausführlich mit der Lebenswelt muslimischer <strong>Jugendliche</strong>rause<strong>in</strong>ander. Trotz zahlreicher Analysen wissen wir wenigüber die Lebenswelt muslimischer <strong>Jugendliche</strong>r <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.Wir haben kaum E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> ihre Alltagswelt, die Erziehungsstile<strong>und</strong> Erziehungspraktiken ihrer Eltern mit denensie heranwachsen. Vor allem dann, wenn die <strong>Jugendliche</strong>ndie Hauptschule besuchen <strong>und</strong> ihre Eltern die deutscheSprache nicht beherrschen, ist uns ihre Lebenswelt weitgehendverschlossen. Ihre Eltern bleiben für viele Lehrer<strong>in</strong>nen<strong>und</strong> Lehrer nahezu „unsichtbar’’.Die heutigen muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> geboren <strong>und</strong> nehmen es als Diskrim<strong>in</strong>ierungwahr, anders behandelt zu werden als deutsche <strong>Jugendliche</strong>.Ihre Erfahrungen beziehen sich auf <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> nurmittelbar auf das Herkunftsland ihrer Eltern. UnmittelbareMigrationserfahrung haben sie eher selten gemacht.Die Integration muslimischer <strong>Jugendliche</strong>r steht <strong>und</strong> fälltmit der Möglichkeit e<strong>in</strong>e sichere materielle Existenz aufzubauen.Dadurch gew<strong>in</strong>nen Themen wie Schulabschluss,Berufsausbildung <strong>und</strong> Studium an Bedeutung. Wie <strong>in</strong> anderenMigrantengruppen <strong>und</strong> auch bei autochthonen <strong>Jugendliche</strong>ns<strong>in</strong>d Mädchen h<strong>in</strong>sichtlich der Bildungsabschlüsseerfolgreicher als Jungen. Allerd<strong>in</strong>gs fällt auf, dass im späte-


en Lebensverlauf fast jede zweite junge Frau über ke<strong>in</strong>e abgeschlosseneBerufsausbildung verfügt. Damit liegt der Anteil der jungen Frauen ohneBerufsabschluss etwas höher als bei den jungen Männern.Zur Entstehungsgeschichte des BuchsAlad<strong>in</strong> El-Mafaalani | Ahmet ToprakBildung wird jedoch nicht von allen Familien <strong>in</strong> gleicher Weise wertgeschätzt.Während <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> vielen autochthonen Mittelschichtsfamilienim Rahmen frühk<strong>in</strong>dlicher Bildung die frühe Förderung erfahren, f<strong>in</strong>det<strong>in</strong> der überwiegenden Mehrheit muslimischer Familien ke<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>andersetzungmit frühk<strong>in</strong>dlicher Bildung statt.Die deutschen Bildungse<strong>in</strong>richtungen setzen strukturell e<strong>in</strong>e Basis vonSprache, Motivation, Kommunikation <strong>und</strong> Diszipl<strong>in</strong> voraus, die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>bereits im Elternhaus mitbekommen haben <strong>und</strong> die <strong>in</strong> der Schule nichtmehr systematisch gefördert werden muss. Über diese Kompetenzen,die <strong>in</strong> autochthonen Mittelschichtsfamilien <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n mehrheitlich „mitgegeben”werden, verfügen <strong>K<strong>in</strong>der</strong> aus bildungsfernen Familien, zu denene<strong>in</strong>e große Zahl der muslimischen Familien gehört, nicht. Umso schwierigergestaltet sich die spätere Jugendphase, <strong>in</strong> der die <strong>Jugendliche</strong>n denunterschiedlichen Logiken der Familie e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> der Schule andererseitsgerecht werden müssen.Angesichts dieser beiden konträren Lebenswelten, die für sich selbst dasrichtige Ideal beanspruchen, geraten <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> den kaum lösbarenSpagat beidem gerecht werden zu wollen. Für Lehrer <strong>und</strong> Lehrer<strong>in</strong>nenstellen diese <strong>Jugendliche</strong>n e<strong>in</strong>e große Herausforderung dar, auf die sienicht immer e<strong>in</strong>e passende pädagogische Antwort haben.Die Verfasser des Buches möchten Lehrern, Lehrer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> pädagogischInteressierten aufzeigen, wie es zu irritierendem, befremdlichen <strong>und</strong>sozial unerwünschtem Verhalten kommt, um daraus konkrete Verhaltens<strong>und</strong>Handlungsmuster abzuleiten.Sankt August<strong>in</strong>, im August 2011Christ<strong>in</strong>e Henry-HuthmacherKoord<strong>in</strong>ator<strong>in</strong> für Frauen- <strong>und</strong> Familienpolitik, Team GesellschaftspolitikHauptabteilung Politik <strong>und</strong> Beratung der <strong>Konrad</strong>-Adenauer-Stiftung e.V.Durch e<strong>in</strong>e Reihe von Ereignissen wird heute sche<strong>in</strong>bar über religiöse<strong>und</strong> kulturelle Sachverhalte diskutiert, ohne dabei die kulturspezifischenSozialisationsbed<strong>in</strong>gungen zusammen mit der Schichtzugehörigkeit <strong>in</strong>den Blick zu nehmen. Genauso problematisch erweist sich die Kulturdebattevor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> übersehener Versäumnisse <strong>in</strong> der Zuwanderungspolitikseit dem Zweiten Weltkrieg.Es ist aus unserer Sicht e<strong>in</strong> Irrtum, von e<strong>in</strong>er „schlechten” Integrationsleistung<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> zu sprechen. Wenn man möchte, f<strong>in</strong>det manhierfür immer <strong>und</strong> überall Argumente. Aus e<strong>in</strong>er anderen Perspektivezeigt sich h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong> positiveres Bild. Von den Zuständen, wie wir sie<strong>in</strong> französischen Vororten sehen, ist <strong>Deutschland</strong> sehr weit entfernt.Die Struktur der Studierenden an deutschen Hochschulen wird ebensoimmer bunter. Die Zahl der <strong>in</strong>terethnischen <strong>und</strong> <strong>in</strong>terreligiösen Partnerschaften<strong>und</strong> Eheschließungen steigt. Vieles funktioniert gut, e<strong>in</strong>igesfunktioniert weniger gut. Während <strong>in</strong> der Vergangenheit die Schwierigkeitenheruntergespielt wurden, werden sie heute sehr stark – unsererAnsicht nach zu stark – betont.Dieses Buch entsteht aus genau dieser Problemstellung heraus. Essche<strong>in</strong>t so zu se<strong>in</strong>, als wären nicht <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>im Allgeme<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e Zielgruppe, die die pädagogischeArbeit vor besondere Herausforderungen stellt, sondern <strong>in</strong> besonderemMaße jene Nachkommen der muslimisch geprägten Staaten des Mittelmeerraums.Daher befasst sich der gesamte nachfolgende Text nichtnur mit „muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>”, sondern dabei<strong>in</strong>sbesondere mit türkei- <strong>und</strong> arabischstämmigen jungen Menschen, diesich <strong>in</strong> sozial benachteiligten Lebenslagen bef<strong>in</strong>den. Jene muslimische<strong>Jugendliche</strong>, die erfolgreich waren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d – ja, natürlich gibt es auchsolche –, werden zum Schluss „statt e<strong>in</strong>es Fazits” thematisiert. Erfolgsbeispieledienen <strong>in</strong> diesem Kontext als Kontrastmittel zur Reflexion desgesamten Textes aus e<strong>in</strong>er anderen Perspektive. Dadurch wird die Verschränkungvon schicht- <strong>und</strong> migrationsspezifischen Problemstellungendeutlich.


10 11Migrantenmilieus begründbar s<strong>in</strong>d. Dabei bilden soziale <strong>und</strong> kulturelleAspekte <strong>in</strong> diesen Milieus e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit <strong>und</strong> können entsprechend kaumunterschieden werden. Daher wird die Verbesserung der sozialen Lebensbed<strong>in</strong>gungennur dann gel<strong>in</strong>gen, wenn die milieuspezifischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<strong>in</strong> ihrer Gesamtheit erkannt <strong>und</strong> berücksichtigt werden.Das Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungssystem ist für die Integration der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> die zentrale Instanz. Hier werden Chancengeneriert oder blockiert. Und genau hier<strong>in</strong> liegen die Probleme begründet:In <strong>Deutschland</strong> haben sich noch ke<strong>in</strong>e Strukturen etabliert, die mitDiversität <strong>und</strong> Ungleichheit erfolgreich umgehen.These 2: Eltern <strong>und</strong> Schule konkurrieren – es fehlt die Kooperation.Die pädagogischen Institutionen s<strong>in</strong>d gerade deshalb von besondererBedeutung, weil benachteiligte Migrantenfamilien kaum <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d,ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n beim schulischen Lernen <strong>und</strong> bei der sozialen Etablierungzu helfen. Im Gegenteil: Sie kennen sich kaum mit dem Schul- <strong>und</strong> Ausbildungssystemaus, verstehen häufig nicht die pädagogischen Ziele <strong>und</strong>überschätzen die Funktion der Schule <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Das führt dazu,dass die Eltern die pädagogische Verantwortung umfassend an die Schulen<strong>und</strong> Lehrkräfte abtreten, was von den Lehrkräften dann häufig alsDes<strong>in</strong>teresse gedeutet wird. Während <strong>in</strong> den traditionell-muslimischenFamilien Autorität <strong>und</strong> Loyalität die dom<strong>in</strong>ierenden Werte darstellen,werden <strong>in</strong> der Schule Selbstständigkeit <strong>und</strong> Selbstdiszipl<strong>in</strong> erwartet.Gleichzeitig werden an den Nachwuchs hohe Erwartungen gestellt: DieEltern erwarten sowohl Erfolge <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Beruf als auch Loyalitätgegenüber den traditionellen Werten. Dies stellt ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> vor besondereHerausforderungen. Sie müssen sich <strong>in</strong> sehr unterschiedlichen Erziehungslogiken<strong>und</strong> Wertesystemen zurechtf<strong>in</strong>den <strong>und</strong> häufig gleichzeitigsprachliche Rückstände ausgleichen.Das deutsche Schulsystem ist kaum <strong>in</strong> der Lage, adäquat auf dieseLebensumstände der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> e<strong>in</strong>zugehen. Zu stark s<strong>in</strong>d historisch gewachseneNormalitätsannahmen (deutsche Mittelschichtfamilie). Entsprechendmachen arabisch- <strong>und</strong> türkeistämmige <strong>Jugendliche</strong> seltener alsihre Altersgenossen hochwertige Schulabschlüsse, verlassen das Schulsystemdeutlich häufiger ohne Abschluss <strong>und</strong> haben entsprechend auchgrößere Probleme beim Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Ausbildungs<strong>und</strong>Arbeitsmarkt. Der Misserfolg bzw. die ausbleibende gesellschaftlicheEtablierung der eigenen <strong>K<strong>in</strong>der</strong> wird von konservativen Eltern häufig aufden Mangel an Kontrolle, Strenge <strong>und</strong> Autorität <strong>in</strong> der Mehrheitsgesellschaftzurückgeführt, wodurch sie sich gezwungen fühlen, durch e<strong>in</strong>enoch stärkere Verfolgung traditioneller Erziehungsziele <strong>und</strong> -stile entgegenzusteuern,was dann die Widersprüche <strong>und</strong> Spannungsverhältnisseauch für <strong>K<strong>in</strong>der</strong> folgender Generationen konserviert. Gleichzeitig wirdgenau dieses Verhalten der Eltern von den pädagogischen Institutionenangeprangert. Ohne systematische Kommunikation <strong>und</strong> Kooperationzwischen Institutionen <strong>und</strong> Eltern wird dieser „Teufelskreis” nicht durchbrochen.These 3: Anerkennung führt zu Integration. Gute Sprachkenntnisse<strong>und</strong> erfolgreiche Bildungskarrieren s<strong>in</strong>d Ausdruck von erfahrenerAnerkennung – nicht umgekehrt.Überforderungstendenzen, Orientierungslosigkeit <strong>und</strong> Des<strong>in</strong>tegration s<strong>in</strong>d<strong>in</strong> der sozialwissenschaftlichen Literatur gängige Beschreibungen derKonflikte, <strong>in</strong> denen alle <strong>Jugendliche</strong>n heute heranwachsen. Anerkennung<strong>und</strong> B<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d die zentralen Aspekte, die Integration generieren.Entsprechend ist die Jugendphase über alle Herkunftsgrenzen h<strong>in</strong>weggeprägt durch die Suche nach Zugehörigkeit <strong>und</strong> Anerkennung. Wenndie Chance, Anerkennung außerhalb des ethnischen Kollektivs zu erfahren,ungewiss ist bzw. als unwahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong>geschätzt wird, werdendie B<strong>in</strong>dungen zur ethnischen Community forciert. Diese Erfolglosigkeit<strong>und</strong> das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, begünstigen Selbstethnisierung-<strong>und</strong> Selbstausschlusstendenzen.Viele <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> aufgewachsene <strong>Jugendliche</strong> def<strong>in</strong>ieren sich selbstals Türken bzw. Araber. Dabei ist ihr Referenzpunkt nicht das tatsächlicheHeimatland ihrer Eltern – darüber wissen sie <strong>in</strong> der Regel relativ wenig –sondern vielmehr e<strong>in</strong>e Vorstellung, e<strong>in</strong> Narrativ desselben. Es wird gewissermaßene<strong>in</strong>e Wunschvorstellung der eigenen Herkunft geformt, waspsychologisch betrachtet durchaus funktional ist. Fühlt man sich nichtzugehörig, gleichberechtigt oder erwünscht, dann werden Vorstellungenentwickelt, die es erleichtern, mit diesem subjektiv wahrgenommenenZustand zu leben. Ähnlich ist auch die häufig beobachtbare Selbstbeschreibungals Muslim zu <strong>in</strong>terpretieren. Die <strong>Jugendliche</strong>n suchen <strong>in</strong>dieser Kategorie e<strong>in</strong> Def<strong>in</strong>itionskriterium, das Orientierung bietet – allerd<strong>in</strong>gsauch hier häufig, ohne sich mit der Religion h<strong>in</strong>reichend ause<strong>in</strong>anderzusetzen.In den prekären Verhältnissen, <strong>in</strong> denen sich viele muslimische<strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> bef<strong>in</strong>den, ist e<strong>in</strong>e solch „e<strong>in</strong>fache”


12 13<strong>und</strong> zugleich Orientierung stiftende Identitätsarbeit durchaus rational.Es muss gewissermaßen e<strong>in</strong> eigenes Milieu geschaffen werden, e<strong>in</strong>Lebensraum, der sich weder strikt an der Herkunftsgesellschaft oderder Lebensweise der Eltern noch an der Mehrheitsgesellschaft orientiert.Genau dies wird durch das Kollektiv von Peers mit ähnlicher Geschichteermöglicht.Es existieren bei arabisch- <strong>und</strong> türkeistämmigen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>nzwei parallel laufende Anerkennungsmodi, die sich <strong>in</strong>sbesondere<strong>in</strong> den Geschlechterrollen ausdrücken: e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> mehrheitsgesellschaftlichgewünschtes Bild von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit, welchesden <strong>Jugendliche</strong>n mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Schulevermittelt wird, andererseits traditionelle Geschlechtsbilder des Herkunftsmilieus.Dies stellt e<strong>in</strong>e enorme Herausforderung für das e<strong>in</strong>zelneIndividuum dar, denn es handelt sich um zwei unterschiedliche Identitäten,zwei verschiedene kulturelle Codes mit zwei divergierenden Geschlechtsmodellen,also im wörtlichen <strong>und</strong> metaphorischen S<strong>in</strong>ne umzwei Sprachen, bei denen sich die Heranwachsenden als Sprecher <strong>und</strong>Übersetzer zugleich üben müssen. Diese zu vollziehenden komplexenSyntheseleistungen zwischen herkunftsbezogenen <strong>und</strong> aufnahmelandbezogenenErwartungen werden um schichtspezifische Problemstellungenverstärkt. Die Art, <strong>in</strong> der Jungen <strong>und</strong> Mädchen e<strong>in</strong>e Möglichkeit erhaltenbzw. erkennen, Anerkennung <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Beruf zu erfahren, bestimmtentscheidend mit, <strong>in</strong>wieweit sie die traditionellen Denk- <strong>und</strong> Handlungsmusteraufrechterhalten, verstärken oder den „deutschen” Verhältnissenangleichen.These 4: In e<strong>in</strong>em Anerkennungsvakuum ist abweichendes Verhaltenrational.Die fehlende Anerkennung <strong>in</strong> der Schule <strong>und</strong> die als unzeitgemäß wahrgenommeneLebensweise der Eltern können dann dazu führen, dassdie Lebenswelt <strong>in</strong> Jugendgangs zur alles dom<strong>in</strong>ierenden Sozialisations<strong>in</strong>stanzwird. Hier versteht man sich, man teilt geme<strong>in</strong>same Erfahrungen<strong>und</strong> kann Stärke <strong>und</strong> Überlegenheit demonstrieren. Es wird e<strong>in</strong> Raumgeschaffen, <strong>in</strong> dem Anerkennung über die Verteidigung von Ehre <strong>und</strong>Respekt erfahren wird. In diesen Jugendgangs treten die <strong>Jugendliche</strong>nhäufig <strong>in</strong> Opposition zur Mehrheitsgesellschaft <strong>und</strong> zur ethnischen Community.These 5: Interkulturelle Kompetenz ist e<strong>in</strong>e Schlüsselkompetenz fürpädagogische Berufe.Was ist Kultur, was ist jugendliche Rebellion? Wann liegt soziale Ausgrenzungvor, wann kulturelle oder religiöse Selbstbestimmung? Diese komplexenFragen br<strong>in</strong>gen pädagogische Fachkräfte nicht selten <strong>in</strong> widersprüchlicheSituationen, <strong>in</strong> denen immer auch F<strong>in</strong>gerspitzengefühl e<strong>in</strong>ebesondere Rolle spielt. Interkulturell kompetente Fachkräfte imitierennicht die Eltern der Heranwachsenden oder weichen von den eigenenWerten ab. Im Gegenteil: Sie reflektieren ihre eigenen Wertvorstellungen<strong>und</strong> <strong>in</strong>teressieren sich für andere. Und sie setzen sich dafür e<strong>in</strong>, dass denihnen anvertrauten <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n die gesellschaftliche Etablierungbestmöglich gel<strong>in</strong>gt. Hierfür ist es offensichtlich erforderlich, dasssich die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mit der deutschen Kultur (Sprache, Geschichte, Literatur,Politik etc.) gut auskennen. Dies mit dem Argument kultureller Selbstbestimmungzu negieren, trägt nicht zur Verbesserung der sozialen Lageder Migranten bei. Gleichzeitig ist e<strong>in</strong>e Öffnung der Curricula <strong>und</strong> Lehrplänefür orientalische Sprachen <strong>und</strong> Geschichte sowie für die islamischeReligion wünschenswert <strong>und</strong> gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend.Aus der subjektiven Perspektive begünstigen folgende Faktoren gewaltbereitesVerhalten: (1) wenig Zeit bzw. ke<strong>in</strong> Handlungsspielraum,(2) e<strong>in</strong>geschränkte Handlungsmöglichkeiten <strong>und</strong> fehlende soziale bzw.kognitive Kompetenzen für kommunikative Konfliktlösungen <strong>und</strong> (3) ke<strong>in</strong>Risikobewusstse<strong>in</strong>, weil man kaum etwas zu verlieren hat. Problematischwird e<strong>in</strong> Zustand dann, wenn e<strong>in</strong>e mehr oder weniger große Gruppe vonMenschen unter Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen aufwächst, die langfristig alledrei Faktoren kritisch ersche<strong>in</strong>en lassen. Denn dann wird die Ausübungvon Gewalt – so illegitim sie auch ist – zu e<strong>in</strong>er rationalen Wahl.Interkulturelle Kompetenz ist also die Gr<strong>und</strong>lage für geme<strong>in</strong>sames Lernen<strong>und</strong> umfassende Verständigung. Bisher s<strong>in</strong>d weite Teile der Erziehung<strong>und</strong> Persönlichkeitsentwicklung <strong>in</strong> den Bereich der Familie ausgelagert<strong>und</strong> werden <strong>in</strong> der Schule implizit vorausgesetzt. Stattdessensollte expliziert werden, was bisher vorausgesetzt wird. Da alle Menschendas Schulsystem durchlaufen, stellt es auch den Mittelpunkt für gesellschaftlichenZusammenhalt, Integration <strong>und</strong> Chancengerechtigkeit dar.


1. E<strong>in</strong>leitungZum E<strong>in</strong>stieg e<strong>in</strong> Auszug aus e<strong>in</strong>em Interview, das im Oktober2010 mit e<strong>in</strong>em arabischstämmigen Arzt aus Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen geführt wurde <strong>und</strong> <strong>in</strong> dem er über e<strong>in</strong> kurz zuvorstattgef<strong>und</strong>enes Zusammentreffen mit dem Polizeipräsidentense<strong>in</strong>er Stadt berichtet:„Da hat der Polizeipräsident angerufen. Der wollte e<strong>in</strong>enDialog. Ich habe gar nicht verstanden, was das bedeutet.Der hat so oft Dialog gesagt – warum sagt er nicht ‚ich willmit Euch sprechen’? Na gut, er will Dialog, er hat nicht gesagt,worum es geht <strong>und</strong> ich habe natürlich gesagt, wirfreuen uns jeden Tag über Besuch. Ich sag mal, der Polizeipräsident,das ist ja nicht irgendwer. Aber er wollte unbed<strong>in</strong>gte<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>. Ich habe gesagt: ‚Ich b<strong>in</strong> Rentner. Ichb<strong>in</strong> fast immer <strong>in</strong> der Moschee, Mittwoch, Freitag <strong>und</strong> Sonntagauf alle Fälle. Kommen Sie, wann Sie wollen’. Er hatlange geredet, das kann ich alles gar nicht genau nacherzählen,aber er hat dann ganz ängstlich gefragt: ‚Wirwürden gerne mit ihrer gesamten muslimischen Geme<strong>in</strong>de<strong>in</strong> den Dialog treten, vielleicht wäre es an e<strong>in</strong>em Freitag,vor oder nach dem Gebet möglich?’ Also bitte, wer ist ‚wir’?Die Polizei?! Und wer ist die muslimische Geme<strong>in</strong>de? UnsereGeme<strong>in</strong>de besteht aus dreißig bis vierzig Rentnern, die allearabische Ärzte oder Ingenieure s<strong>in</strong>d, na ja, manche s<strong>in</strong>dauch aus der Türkei <strong>und</strong> Iran. Ich habe natürlich nichtsdagegen. Er soll Freitag um 18 Uhr kommen, habe ichgesagt. (…) Und das wurde dann natürlich pe<strong>in</strong>lich. Er hat


16 17erzählt <strong>und</strong> erzählt <strong>und</strong> geredet <strong>und</strong> immer <strong>und</strong> immer DIALOG – manhat immer dieses Wort gehört. Das war nervig, weil ke<strong>in</strong>er der 25 anwesendenalten Männer verstanden hat, worum es geht. Nachdem ichihn gebeten habe, nun zu sagen, worum es <strong>in</strong> diesem Dialog geht, kames raus. Er wollte eigentlich mit den <strong>Jugendliche</strong>n, die <strong>in</strong> den Straßenr<strong>und</strong> um unsere Moschee Ärger <strong>und</strong>, ich sage mal, Quatsch machen, <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en Dialog treten. ‚Was haben wir damit zu tun’, fragte ich. Und schonwieder: Dialog mit Muslimen, Dialog wurde zu lange nicht gemacht,Dialog, um das geme<strong>in</strong>same Leben zu verbessern, Dialog, Dialog. Ichb<strong>in</strong> höflich geblieben, Polizei ist wichtig <strong>und</strong> ich habe natürlich Respektvor dem Polizeipräsidenten. Aber irgendwann musste ich deutlich werden,sag ich mal. Ke<strong>in</strong>er der hier sitzenden Muslime hat e<strong>in</strong> Problem mitDialog. Ke<strong>in</strong>er. Ke<strong>in</strong>er macht etwas, was schlecht ist, ke<strong>in</strong>er muss etwasverbessern. Wir haben immer Steuern bezahlt, haben deutsche Angestellte<strong>und</strong> unsere <strong>K<strong>in</strong>der</strong> haben alle Diplome an e<strong>in</strong>er deutschen Universität.Ich habe ihm gesagt, dass diese <strong>Jugendliche</strong>n ke<strong>in</strong>e Muslime s<strong>in</strong>d.Die s<strong>in</strong>d auch zu uns frech gewesen. Und die gehen nicht <strong>in</strong> die Moschee,bei uns schon gar nicht.E<strong>in</strong> anderes Mitglied unseres Vere<strong>in</strong>s hat der Polizei klar gemacht, dasswir selbst Angst vor diesen Männern haben. Noch e<strong>in</strong> anderer sagte,dass man mit denen ke<strong>in</strong>en Dialog führen kann, die sollte man e<strong>in</strong>sperren,fertig. Ich glaube auch, dass das bei manchen notwendig ist. Daspassiert doch immer, wenn junge Männer nix zu tun haben <strong>und</strong> sich nurauf der Straße herumtreiben. Dialog hilft da nicht. Aber wenn er e<strong>in</strong>enDialog führen will, dann soll er das mal schön selbst machen. (…) Als ichdas dann später me<strong>in</strong>em Sohn erzählt habe, hat er mir gesagt, dass dasbestimmt wegen Sarraz<strong>in</strong> <strong>und</strong> so ist. Ich habe das gar nicht verstanden,der kann doch nicht uns geme<strong>in</strong>t haben. Da wurde ich wirklich, ich sagemal, st<strong>in</strong>ksauer. Wo lebe ich hier? Das kann doch nicht se<strong>in</strong>, wir s<strong>in</strong>danständige Menschen. Wir hatten <strong>in</strong> unseren Ländern schon nichts mitkrim<strong>in</strong>ellen <strong>und</strong> respektlosen Menschen zu tun. Und hier soll ich jetztdamit anfangen <strong>und</strong> die Arbeit der Polizei übernehmen? E<strong>in</strong> alter Mannwie ich? Was soll das? Sehen Sie, ich lebe fast vierzig Jahre <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.Me<strong>in</strong>e <strong>K<strong>in</strong>der</strong> s<strong>in</strong>d hier aufgewachsen <strong>und</strong> haben <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> diee<strong>in</strong>zige Heimat. Und <strong>in</strong> vierzig Jahren habe ich so was nicht erlebt. (…)Ich verstehe das nicht, wir s<strong>in</strong>d hier, uns geht es gut. Was soll e<strong>in</strong> Dialog.”ZielsetzungMit diesem Buch wird zum Teil e<strong>in</strong> grober Überblick <strong>und</strong> <strong>in</strong> entscheidendenBereichen e<strong>in</strong> tiefer E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Lebensverhältnisse <strong>und</strong> Strategienbenachteiligter jugendlicher Muslime <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> gegeben.Die Schwerpunktsetzung hat e<strong>in</strong>e klare Zielsetzung: Es soll all jenenProfessionellen <strong>und</strong> Interessierten helfen, die verstehen wollen, wie eszu irritierenden, befremdlichen, störenden <strong>und</strong> sozial unerwünschtenVerhaltensweisen kommt. Erst durch das Verstehen kann e<strong>in</strong>e Verständigungerfolgen. Wie kommt e<strong>in</strong> bestimmtes Verhalten zustande? Und:Wie kann man junge Migranten dabei unterstützen, e<strong>in</strong> Teil dieser Gesellschaftzu werden, e<strong>in</strong> gutes Leben im Rahmen rechtlicher Normen <strong>und</strong>sozialer Werte zu führen? Diese Fragestellungen sollten deutlich machen,dass es nicht primär darum geht, Probleme bei der Integration <strong>und</strong> imBildungssystem festzustellen. Diese Probleme existieren <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>länglichbekannt. Wir fragen also nicht nur nach dem „Was”, sondern<strong>in</strong>sbesondere nach dem „Wie”.Zum ThemaAlle <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n wachsen im Wesentlichen <strong>in</strong> den vierLebenswelten Familie, Schule, Peergroup <strong>und</strong> Medienlandschaft auf.Diese vier Bezugspunkte stellen <strong>Jugendliche</strong> türkischer <strong>und</strong> arabischerHerkunft allerd<strong>in</strong>gs vor besonders widersprüchliche Erwartungen <strong>und</strong>Handlungsoptionen. Das deutsche Schulsystem ist nachweislich kaum<strong>in</strong> der Lage, soziale Unterschiede auszugleichen. Die Nachkommen derehemaligen Arbeitsmigranten s<strong>in</strong>d dadurch nachweislich benachteiligt.Sie machen seltener als ihre Altersgenossen hochwertige Schulabschlüsse<strong>und</strong> verlassen das Schulsystem deutlich häufiger ohne Abschluss.Das liegt neben der Schulstruktur <strong>und</strong> wenig lernförderlichen Unterrichtsformenauch daran, dass <strong>in</strong> der Schule Werte wie Selbstständigkeit,Selbstdiszipl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Selbstreflexion (notwendigerweise) e<strong>in</strong>e besondereRolle spielen. Denn viele dieser <strong>Jugendliche</strong>n wachsen <strong>in</strong> autoritärenFamilienstrukturen auf, <strong>in</strong> denen Gehorsam, Unterordnung <strong>und</strong> vielfachauch Gewalt den Alltag begleiten. Ihnen fehlt oft die Intimsphäre, dieHeranwachsende <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> benötigen, um e<strong>in</strong> selbstbestimmtesLeben zu üben (wie beispielsweise auch e<strong>in</strong> eigenes Zimmer). Zusätzlichführen <strong>in</strong>konsistente Erziehungsstile, die sie häufig <strong>in</strong> ihren Familien,aber auch <strong>in</strong> der Schule (beispielsweise durch unterschiedliche Lehrertypen)erleben, zu Irritationen <strong>und</strong> Orientierungslosigkeit.


18 19Diese Widersprüchlichkeiten im Verhältnis von Schule <strong>und</strong> Familie, denensich diese <strong>Jugendliche</strong>n gegenüber sehen, werden dadurch verschärft,dass ihre Eltern sowohl Loyalität gegenüber den traditionellen Wertenals auch Erfolg <strong>in</strong> der Schule <strong>und</strong> später im Arbeitsleben erwarten –e<strong>in</strong>e typische Erwartungshaltung von Migranten der ersten Generationgegenüber ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n. Dabei können die Eltern den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n kaumHilfestellungen geben, auch weil sie traditionsbed<strong>in</strong>gt die Erziehungs<strong>und</strong>Bildungsverantwortung vollständig an die Schule abgeben. Insbesonderefür junge Männer ergeben sich daraus strukturelle Konflikte <strong>in</strong> denPassungsverhältnissen von schulischer <strong>und</strong> familialer Lebenswelt. E<strong>in</strong>eGruppe von Bildungsforschern formulierte es folgendermaßen: „Für<strong>K<strong>in</strong>der</strong> aus ‚bildungsfernen’ Milieus stellt sich damit beim E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> dieSchule die mehr oder m<strong>in</strong>der ausgeprägte Alternative, sich entwederauf den Versuch des Bildungsaufstiegs e<strong>in</strong>zulassen <strong>und</strong> dabei das eigeneSelbst schutzlos den schulischen Zuweisungen von Erfolg <strong>und</strong> Misserfolgpreiszugeben, oder sich den Anforderungen zu verweigern <strong>und</strong> ihnendie <strong>in</strong> den Peers <strong>und</strong> im eigenen Herkunftsmilieu ausgebildeten Bildungsstrategien<strong>und</strong> Anerkennungsmodi entgegen zu halten, die das eigeneSelbst zu stützen <strong>und</strong> anzuerkennen vermögen” (Gr<strong>und</strong>mann u.A. 2008,S. 58).Dieses Problem verschärft sich für <strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsgeschichtezusätzlich, denn sie leben sowohl mit sozialen Unterschieden aufgr<strong>und</strong>ihrer Schichtzugehörigkeit als auch mit kulturellen Unterschieden aufgr<strong>und</strong>der Migrationssituation. Für sie bestehen ke<strong>in</strong>e vorgeprägtenLaufbahnen, an denen sie sich <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Arbeitsmarkt orientierenkönnten. Sie fühlen sich nicht als Deutsche <strong>und</strong> nicht als Türken oderAraber. Sie distanzieren sich <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht sowohl von der Mehrheitsgesellschaftals auch von der Familie <strong>und</strong> der traditionellen muslimischenCommunity. Sie suchen nach Orientierungspunkten, die Sicherheitbieten <strong>und</strong> Identität stiften. Genau dieser Effekt wird durch dasKollektiv von Peers mit gleichartiger sozialer <strong>und</strong> kultureller Herkunftermöglicht. Die Ausbildung der Hauptschule als Restschule – e<strong>in</strong>e Entwicklung,die nicht zuletzt PISA unbeabsichtigt zugespitzt hat – <strong>und</strong> diemessbare Benachteiligung von Schülern mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> beider Überweisung auf e<strong>in</strong>e Förderschule haben dazu geführt, dass sichdort junge Männer mit Zuwanderungsgeschichte konzentrieren, dieke<strong>in</strong>e Vorbilder mehr kennen, die zeigen könnten, dass man Achtung<strong>und</strong> Respekt auch ohne Gewaltanwendung erfahren kann. Im Gegenteil:Sie f<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e Art Ersatzfamilie bzw. e<strong>in</strong>e zweite Familie, bestehendaus engen Fre<strong>und</strong>en, die füre<strong>in</strong>ander be<strong>in</strong>ahe alles tun, unter Umständenbis zur Inkaufnahme, das eigene Leben zu gefährden. So werden Gewalt<strong>und</strong> Machterfahrung zu e<strong>in</strong>em „effektiven Mittel der Selbststabilisierung”(vgl. Heitmeyer 2004, S. 647). Diese verme<strong>in</strong>tlichen „Tugenden” werdendurch die Medien unterstützt – zum<strong>in</strong>dest bei Betrachtung der für diese<strong>Jugendliche</strong>n attraktiven, Action <strong>und</strong> Gewalt darstellenden Bereiche derMedienlandschaft.Der vorliegende Text geht – um es kurz zu fassen – von folgenden Annahmen,die nach <strong>und</strong> nach begründet werden, aus:• S<strong>in</strong>d es soziale oder kulturelle Faktoren, die schwierige <strong>und</strong> stockendeIntegrationsprozesse begründen? Beides! Soziale Faktoren (wie Bildungsniveau,E<strong>in</strong>kommen, Wohnumfeld usw.) spielen genauso e<strong>in</strong>eRolle wie kulturelle Traditionen <strong>und</strong> Geschlechterkonstruktionen – <strong>in</strong>sbesonderedann, wenn sie stark von der deutschen Kultur abweichen.Dabei kann nicht quantifiziert werden, wie stark jeweils das e<strong>in</strong>e <strong>und</strong>das andere ist. Allerd<strong>in</strong>gs deutet zum e<strong>in</strong>en Vieles darauf h<strong>in</strong>, dass diesozialen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen entscheidender s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> zum anderenwerden auch die sozialen Faktoren von den kulturellen bee<strong>in</strong>flusst.Daher hilft e<strong>in</strong>e andere Frage für die Schwerpunktsetzung diesesBuchs:• Können die kulturellen Faktoren verändert werden? Ja, aber nur <strong>in</strong>direktüber die sozialen Faktoren. Das heißt, dass auf die Kultur, dieprimär <strong>in</strong> der Familie weitergegeben bzw. weitergelebt wird, nicht unmittelbarzugegriffen werden kann <strong>und</strong> darf. Allerd<strong>in</strong>gs kann durchdie Verbesserung der sozialen Lebensumstände der nachwachsendenGenerationen (<strong>in</strong>sbesondere durch Bildung <strong>und</strong> Beruf) die Bedeutungder Traditionen deutlich abgeschwächt werden. Bildung ist hier diezentrale Dimension.• Wie können <strong>K<strong>in</strong>der</strong> aus benachteiligten muslimischen Familien bei e<strong>in</strong>ererfolgreichen Bildungskarriere unterstützt werden? Durch die Kenntnis<strong>und</strong> Beachtung der kulturellen Faktoren. Hier schließt sich der Kreis.Genau diesen Zusammenhängen differenziert nach den Sozialisations<strong>in</strong>stanzenFamilie, Schule <strong>und</strong> Peers widmet sich dieses Buch. Nachdem<strong>in</strong> Kapitel zwei die Ebenen der sozialen Integration knapp unterschiedenwerden, folgen daraufh<strong>in</strong> die differenzierten Betrachtungen der Lebens-


20welten benachteiligter muslimischer <strong>Jugendliche</strong>r: In Kapitel 3 wird e<strong>in</strong>umfassender Überblick zum Familienleben gegeben; Kapitel 4 zeigt diespezifischen Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster muslimischer <strong>Jugendliche</strong>rauf; <strong>in</strong> Kapitel 5 folgen Ausführungen zur Lebenswelt Schule aus derPerspektive der <strong>Jugendliche</strong>n. Daraufh<strong>in</strong> werden <strong>in</strong> Kapitel 6 pädagogischeKonsequenzen für die Arbeit mit den <strong>Jugendliche</strong>n <strong>und</strong> <strong>in</strong> Kapitel 7Vorgehensweisen bei der Elternarbeit aufgezeigt. Statt e<strong>in</strong>es Fazitsfolgt zum Schuss die Betrachtung erfolgreicher Muslime <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>(Kapitel 8). Dieses Abschlusskapitel bietet sich gerade deshalb an, weildadurch alle zuvor thematisierten Aspekte aus e<strong>in</strong>er anderen Perspektivereflektiert werden können. Und nicht zuletzt hat uns der <strong>in</strong> der Arbeitmit jungen Menschen dr<strong>in</strong>gend empfohlene pädagogische Optimismusdazu veranlasst, bei allen schwierigen Sachverhalten, die <strong>in</strong> diesem Buchanalysiert werden, aufzuzeigen, dass es sich dabei weder um determ<strong>in</strong>istischeZusammenhänge handelt, noch dass sich diese Problemlagendurch e<strong>in</strong> „Aussitzen” von alle<strong>in</strong> auflösen werden. Am Ende wird deutlich,dass es um Themen wie <strong>in</strong>terkulturelle Kompetenz, Ungleichheitssensibilität,Ressourcenorientierung, aber auch pädagogische Professionalität,Konfrontation <strong>und</strong> Entschiedenheit geht. Es bedarf e<strong>in</strong>es Umdenkens. Fürdieses Umdenken muss zunächst verstanden werden. Hierzu möchtenwir e<strong>in</strong>en Beitrag leisten. 11| Ergänzende Literaturtipps folgen am Ende jedes Kapitels.2. Ebenen der sozialenIntegrationIn der medialen Diskussion um die E<strong>in</strong>wanderungsproblematiken<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> werden gr<strong>und</strong>legende D<strong>in</strong>ge außer Achtgelassen. Insbesondere wird die E<strong>in</strong>wanderungsgeschichteder B<strong>und</strong>esrepublik kaum reflektiert. So wurden <strong>in</strong> den1960er Jahren <strong>und</strong> 1970er Jahren ausschließlich Arbeitergesucht, die für e<strong>in</strong>en begrenzten Zeitraum schwere körperlicheTätigkeiten <strong>in</strong> Industrie <strong>und</strong> Bergbau ausüben sollten,um danach <strong>in</strong> ihre Heimatländer zurückzukehren. Unterdiesen Vorzeichen fand die Migration statt. Daher wurdebei der Zuwanderung weder auf Bildung noch auf Sprachkenntnissegeachtet. Vielmehr sollten die Arbeitskräfte überkörperliche Fitness <strong>und</strong> langjährige Erfahrung <strong>in</strong> praktischenTätigkeiten verfügen, was entsprechend nicht durch e<strong>in</strong>enSchulabschluss, sondern u.a. über Hornhaut an den Händennachgewiesen werden konnte. Die Zugewanderten wiederumverfolgten primär das Ziel, ihre ökonomische Position zuverbessern. Beide Seiten konnten ihre Erwartungen an dieZuwanderung erfüllen. Hierfür war es weder erforderlich,sich kennenzulernen, noch sich anzupassen. Insbesonderetürkeistämmige Arbeiter waren bei den Arbeitgebern sehrbeliebt, da sie sich – im Gegensatz zu anderen Gastarbeitergruppen– weder umfassend an Streiks beteiligten nochgewerkschaftlich organisierten. Es passierte genau das,was bei größeren Wanderbewegungen immer passiert: Nache<strong>in</strong>er gewissen Zeit wird deutlich, dass die Menschen sess-


22 23haft werden <strong>und</strong> bleiben. Trotz des wirtschaftlichen Strukturwandels <strong>und</strong>der steigenden Arbeitslosenzahlen hat es erstaunlich lange gedauert bissich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass <strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wanderungslandist.In der Tat lag <strong>in</strong> den 1970er Jahren e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>-W<strong>in</strong>-Situation vor: DerArbeitermangel konnte abgebaut <strong>und</strong> die wirtschaftliche Entwicklungvorangetrieben werden; die deutschen Arbeitnehmer konnten durchden Import un- <strong>und</strong> angelernter Arbeitskräfte aus dem Ausland weitgehendsozial aufsteigen, <strong>in</strong>sbesondere auch deshalb, weil durch dieBildungsexpansion höhere Positionen praktisch ausschließlich von deutschenArbeitskräften besetzt wurden; gleichzeitig haben die Zuwandererihre wirtschaftliche Situation verbessern können; die Türkei konntee<strong>in</strong>en enormen Teil der niedrig qualifizierten bzw. arbeitslosen Menschen„exportieren” <strong>und</strong> hat durch F<strong>in</strong>anztransfers der <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebendenGastarbeiter an die <strong>in</strong> der Türkei verbliebenen Familienangehörigenzusätzlich profitiert.Diese positiven Effekte s<strong>in</strong>d nun den langfristigen Nebenwirkungen gewichen:Die Nachkommen der Zugewanderten s<strong>in</strong>d im Bildungssystem<strong>und</strong> auf dem Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt; <strong>in</strong>sbesondere Sprachdefizitewerden zu e<strong>in</strong>em dauerhaften Problem, was u.a. auch daranliegt, dass die ersten Nachkommen zeitweise im sogenannten „Nationalunterricht”<strong>in</strong> eigenen Klassenverbänden von türkischen Lehrkräften<strong>und</strong> auf Türkisch unterrichtet wurden, ohne dass die entsprechenden„Lehrpläne” von deutschen Behörden entwickelt bzw. kontrolliert wurden;damit sollte e<strong>in</strong>e Rückkehr von <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> geborenen Türken ermöglichtwerden – e<strong>in</strong>e systematische Förderungen der Sprachkompetenz<strong>in</strong> der Amtssprache Deutsch hat jahrzehntelang nicht stattgef<strong>und</strong>en;die Unterschichtung der E<strong>in</strong>wanderer 1 führt zu sozialen Schieflagen <strong>in</strong>verschiedenen Bereichen <strong>und</strong> damit auch zu e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Skepsisbis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em Gefühl der Überfremdung <strong>in</strong> der Bevölkerung.Das entscheidende Problem, dem man sich heute stellen muss, ist nichtprimär die E<strong>in</strong>wanderungspolitik, sondern vielmehr der Umgang mitden bereits E<strong>in</strong>gewanderten. Denn alles, was man aus Staaten mit e<strong>in</strong>ererfolgreicheren Integrationspolitik lernen kann, bezieht sich auf denAnfang der E<strong>in</strong>wanderung. Länder wie Kanada oder die skand<strong>in</strong>avischenStaaten haben die E<strong>in</strong>wanderung <strong>und</strong> später auch die E<strong>in</strong>bürgerungmit hohen Anforderungen verknüpft: u.a. e<strong>in</strong> gewisses Bildungsniveau,f<strong>und</strong>ierte Sprachkenntnisse sowie Berufserfahrung <strong>und</strong> E<strong>in</strong>kommen bzw.Vermögen. Damit ist automatisch gewährleistet, dass die Menschen dieE<strong>in</strong>wanderung mit e<strong>in</strong>er gewissen Motivation verknüpfen. Gleichzeitigwurde großen Wert darauf gelegt, dass bereits die Erste Generationgefördert wird. Solche präventiven Maßnahmen können <strong>und</strong> sollten <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong>geführt werden, allerd<strong>in</strong>gs kann mit e<strong>in</strong>er verändertenE<strong>in</strong>wanderungspolitik nicht die Erwartung verb<strong>und</strong>en werden, die Problemlagender mittlerweile <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> etablierten E<strong>in</strong>gewanderten<strong>und</strong> teilweise auch E<strong>in</strong>gebürgerten zu bewältigen. Politische Entscheidungenwirken – wie man <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften vielfach zeigenkonnte – auch noch Jahrzehnte später nach. Diese Pfadabhängigkeitkann nicht nur <strong>in</strong> der Sozialpolitik, sondern <strong>in</strong> vergleichbarer Form auch<strong>in</strong> der Migrationspolitik beobachtet werden. Die erfolgreichen E<strong>in</strong>wanderungsländers<strong>in</strong>d ganz anders gestartet <strong>und</strong> haben dadurch die Situation,wie sie sich <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> heute darstellt, gar nicht erst aufkommenlassen. Die Staaten, die <strong>in</strong> der Vergangenheit e<strong>in</strong>e ähnliche Gastarbeiterpolitikpraktiziert haben, weisen ganz ähnliche Problemlagen auf, wiewir sie <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> diskutieren. Die Verunsicherung im Umgang mitMigration, wie sie heute die öffentliche Diskussion bestimmt, kann alsoauch darauf zurückgeführt werden, dass sich die deutsche Politik aufke<strong>in</strong>e Best-Practice-Beispiele für die hier spezifischen Herausforderungenberufen kann. Häufig wird daher die erfolgreiche Assimilation der ausOsteuropa Zugewanderten herangeführt. Allerd<strong>in</strong>gs wird dabei außerAcht gelassen, dass es sich zum e<strong>in</strong>en um Nachbarländer <strong>und</strong> damit ume<strong>in</strong>e kulturnahe E<strong>in</strong>wanderung handelt, <strong>und</strong> dass sich zum anderen diewirtschaftliche Lage – <strong>und</strong> damit die Integration <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt –vollkommen anders darstellte. Die Strukturen der Wirtschaft haben sich<strong>in</strong>nerhalb weniger Jahrzehnte f<strong>und</strong>amental gewandelt: Durch Automatisierung,Rationalisierung <strong>und</strong> Globalisierung f<strong>in</strong>den niedrig qualifizierteArbeitnehmer kaum noch Anschluss auf dem Arbeitsmarkt. Das betraf<strong>in</strong> den 1970er Jahren bereits die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> der Zuwanderer.Tabelle 1 gibt e<strong>in</strong>en Überblick über die Typen der Integration. Inklusionbedeutet hierbei, dass die Zugewanderten sich <strong>in</strong> beide Kulturen, also<strong>in</strong> die Herkunftskultur <strong>und</strong> <strong>in</strong> das Aufnahmeland, <strong>in</strong>tegriert haben. DieseForm der Integration wird häufig mit der Metapher der multikulturellenGesellschaft bezeichnet. Dem gegenüber steht der Begriff Assimilationfür e<strong>in</strong>en Zustand, bei dem die Zugewanderten primär <strong>in</strong> die Aufnahmegesellschaft<strong>in</strong>tegriert s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> (zum<strong>in</strong>dest) im Laufe der Zeit den Bezugzur Herkunftskultur verlieren: Aus Ausländern werden Deutsche. Der <strong>in</strong>


24 25der öffentlichen Diskussion häufig genutzte Begriff der Parallelgesellschaftwird <strong>in</strong> der Migrationsforschung mit dem Begriff der Separationbezeichnet. Hierbei ist der primäre Bezugspunkt der Zugewanderten dieHerkunftskultur bzw. die ethnische Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong>nerhalb des Aufnahmelandes:Die Zugewanderten bleiben unter sich <strong>und</strong> bleiben auch nachmehreren Generationen gewissermaßen „Fremde”. Die letzte Form, derZustand der Marg<strong>in</strong>alisierung, tritt <strong>in</strong> der Masse kaum auf (geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>dhiermit z.B. Obdachlose).1. Strukturelle Integration (Arbeitsmarkt<strong>in</strong>tegration <strong>und</strong> Bildungsbeteiligung),2. Kulturelle Integration (soziale Werte <strong>und</strong> Sprache),3. Soziale Integration (soziale Beziehungen),4. Emotionale Integration (Identifikation der Individuen)2.1. Strukturelle Integration:Arbeitsmarkt <strong>und</strong> BildungssystemTabelle 1: Typen der Sozial<strong>in</strong>tegration von ZuwanderernSozial<strong>in</strong>tegration<strong>in</strong> dieAufnahmegesellschaftJaNe<strong>in</strong>Sozial<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> die ethnische Geme<strong>in</strong>deJaIn Anlehnung an Esser (2000, S. 287)Inklusionals Mehrfach<strong>in</strong>tegrationStichwort:MultikulturelleGesellschaftSeparationals gesellschaftlicheExklusionStichwort:ParallelgesellschaftNe<strong>in</strong>Assimilationals E<strong>in</strong>fach<strong>in</strong>tegrationStichwort:HomogeneGesellschaftMarg<strong>in</strong>alisierungals MehrfachexklusionStichwort:Vere<strong>in</strong>zelungEs ist unbestritten, dass die Tendenz zur Separation teilweise erkennbarist. Dies gilt <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den größeren Städten. Separation ist zweifelsfreidie „e<strong>in</strong>fachste” Form. Sie entsteht praktisch automatisch, wenne<strong>in</strong>e Vielzahl von Menschen aus dem e<strong>in</strong>en Land <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes wandert.Die Menschen suchen Vertrautes <strong>und</strong> schaffen sich e<strong>in</strong>e für sie angenehmeUmgebung – prom<strong>in</strong>ente <strong>und</strong> positiv konnotierte Beispiele s<strong>in</strong>ddie Ch<strong>in</strong>atowns <strong>in</strong> den USA. Problematisch wird Separation erst dann,wenn sie auch <strong>in</strong> nachfolgenden Generationen aufrechterhalten wird.Auf Dauer s<strong>in</strong>d für das Aufnahmeland <strong>und</strong> <strong>in</strong> unserem Fall für <strong>Deutschland</strong>nur zwei der Integrationstypen erstrebenswert: Inklusion <strong>und</strong>/oderAssimilation. Dabei können folgende vier Teilaspekte für Integrationunterschieden werden, die anschließend für die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebendenMuslime skizziert werden:Erwerbsarbeit ist zweifelsfrei e<strong>in</strong>e der wichtigsten Dimensionen imLebenslauf e<strong>in</strong>es Menschen. Nur über e<strong>in</strong>en Arbeitsplatz kann gewährleistetwerden, dass e<strong>in</strong> Mensch über ökonomisches Kapital verfügt,welches den materiellen Ausgangspunkt für Flexibilität <strong>und</strong> Selbstbestimmtheitdarstellt. E<strong>in</strong> Arbeitsplatz kann als Gr<strong>und</strong>lage für E<strong>in</strong>kommenentsprechend auch als notwendigster Aspekt der Sozial<strong>in</strong>tegrationverstanden werden. Zudem kann Erwerbsarbeit auch s<strong>in</strong>nstiftend wirken<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Person e<strong>in</strong>en sozialen Status verleihen. In umfassender Formkann über e<strong>in</strong>en Beruf Anerkennung erlangt <strong>und</strong> Selbstwertgefühl entwickeltwerden. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass im Erwachsenenalterkaum e<strong>in</strong>e andere Möglichkeit besteht – außerhalb e<strong>in</strong>esberuflichen Kontextes – soziale Kontakte zu knüpfen <strong>und</strong> aufrechtzuerhalten.Entsprechend konnte die erste Generation der sogenannten Gastarbeitertrotz relativ schlechter Sprachkenntnisse beträchtliche Integrationsleistungenvollbr<strong>in</strong>gen. Sie konnten ihre Lebensverhältnisse durch die Migration<strong>in</strong>sgesamt verbessern <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e sichere Existenz aufbauen. Die Erwerbsarbeitermöglichte es ihnen zudem, beachtliche f<strong>in</strong>anzielle Mittel<strong>in</strong> ihre Heimatländer zu transferieren. Dadurch war es also möglich, auchvon der Verwandtschaft <strong>in</strong> der Türkei bzw. <strong>in</strong> arabischen Ländern Anerkennung<strong>und</strong> Respekt zu erhalten. Und das trotz der relativ ungünstigenArbeitsbed<strong>in</strong>gungen für die erste Generation. In Interviews mit älterenArbeitern der ersten Generation erfährt man häufig, dass Diskrim<strong>in</strong>ierungs-bzw. Fremdheitserfahrungen ganz anders wahrgenommen werdenals dies spätere Generationen können: Wer selbst aus- <strong>und</strong> e<strong>in</strong>gewandertist, hat die Möglichkeit e<strong>in</strong>es Vergleichs zweier Formen im Umgang mit„Ausländern”. Gastarbeiter aus Nordafrika <strong>und</strong> der Türkei konnten durchauserkennen, dass das teilweise skeptische, nicht selten auch ausschließendeVerhalten der deutschen Mehrheitsgesellschaft kaum von jenemUmgang mit Kulturfremden abweicht, den sie selbst <strong>in</strong> ihren Herkunfts-


26 27ländern erlebt haben. Man war Gast <strong>und</strong> hat wenig Ansprüche gestellt.Dabei ist zu betonen, dass die türkeistämmigen Gastarbeiter <strong>Deutschland</strong>deutlich positiver bewerteten als andere Gastarbeitergruppen. Zudemergaben Umfragen <strong>in</strong> den 1970er Jahren, dass sie deutlich stärker denKontakt zu Deutschen suchten bzw. sich e<strong>in</strong>en solchen wünschten alsbeispielsweise Griechen oder Italiener. Aus der heutigen Sicht ist ebensoerstaunlich, dass die erste Generation der zugewanderten Türken denAufenthalt <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> mit Bildungserwartungen für ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> verb<strong>und</strong>enhat. Hier sche<strong>in</strong>t sich etwas über die Generationen verändert zuhaben.Diese E<strong>in</strong>ordnungsmöglichkeit <strong>in</strong> Bezug auf Differenz- <strong>und</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungenhaben <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> geborene Migranten nicht. Sienehmen es als Diskrim<strong>in</strong>ierung wahr, anders behandelt zu werden, dennsie haben die Migrationserfahrung nicht selbst gemacht. Ihre Erfahrungenbeziehen sich lediglich auf <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>in</strong>direkter, narrativerForm auf das Herkunftsland der Eltern. Dadurch fällt es ihnen auch deutlichschwerer, Anerkennung <strong>in</strong> jenem Herkunftsland zu erfahren. Dielangfristige Integration steht <strong>und</strong> fällt letztlich mit der Möglichkeit, e<strong>in</strong>esichere materielle Existenz aufzubauen. Und diese Sicherheit kann ausschließlichüber Erwerbsarbeit gewährleistet werden. Dadurch werdenbestimmte Themen wie Arbeitslosigkeit, Berufsausbildung, Studium<strong>und</strong> Berufs<strong>in</strong>teressen bzw. -wahl zu existentiellen Aspekten der sozialenIntegration. Um den primären Strategien der Arbeitslosigkeit zu entr<strong>in</strong>nen,f<strong>in</strong>den Migranten <strong>in</strong> der Form der e<strong>in</strong>fachen Selbstständigkeit(Obsthandel, Kiosk, verschiedene Formen der Gastronomie, Friseursalon,Transport- <strong>und</strong> andere e<strong>in</strong>fachere Dienstleistungsbetriebe). Diese Branchens<strong>in</strong>d überwiegend durch prekäre Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen gekennzeichnet.Dabei bef<strong>in</strong>den sich diese Arbeitsplätze <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> Stadtteilenmit e<strong>in</strong>em hohen Migrantenanteil.E<strong>in</strong> anderes wichtiges Merkmal für die sozialen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen,die die <strong>Jugendliche</strong>n positiv bzw. negativ bee<strong>in</strong>flussen können, ist dieArt der Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en dieArmut der Eltern. Alle aktuellen Untersuchungen belegen, dass vor allemtürkische <strong>und</strong> arabische Migranten am stärksten von der Arbeitslosigkeitbetroffen s<strong>in</strong>d (vgl. z.B. Beauftragter der B<strong>und</strong>esregierung 2007). Dief<strong>in</strong>anziellen Notlagen der <strong>Jugendliche</strong>n hängen aber nicht nur von derobjektiven Höhe der zur Verfügung stehenden Mittel ab, sondern auchvon ihren <strong>in</strong>dividuellen Ansprüchen <strong>und</strong> Wünschen. Bei jungen Migrantenarabischer <strong>und</strong> türkischer Herkunft kann festgestellt werden, dass materielleAnsprüche, wie z.B. Handy, Markenkleidung, Führersche<strong>in</strong> mit 18oder aber der Wunsch nach e<strong>in</strong>em Auto, sehr ausgeprägt s<strong>in</strong>d, weildiese Statussymbole die Stellung der <strong>Jugendliche</strong>n bzw. der Familie <strong>in</strong>der Gesellschaft widerspiegeln. Dadurch entstehen häufig große Diskrepanzenzwischen Anspruch <strong>und</strong> Wirklichkeit.<strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> muslimischer Abstammungs<strong>in</strong>d auf dem Ausbildungsmarkt deutlich unterrepräsentiert. Ihre Ausbildungsbeteiligungliegt bei weniger als 25 Prozent (Beauftragter derB<strong>und</strong>esregierung 2007; Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2008). Diese Entwicklungist besonders vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es stetigen Anstiegs desAnteils dieser Gruppe <strong>in</strong>nerhalb der Kohorten <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> besorgniserregend.Gleichzeitig konzentrieren sich diese <strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> wenigenBerufsausbildungsgängen, deren Zukunftssicherheit <strong>und</strong> Entgelt alsger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geschätzt werden können (Beauftragter der B<strong>und</strong>esregierung2007). In den unter den <strong>Jugendliche</strong>n beliebten Berufen, wie z.B. BankoderVersicherungskaufmann, ist die Ausbildungsbeteiligung weit unterdem Durchschnitt.Insgesamt lässt sich festhalten, dass die berufliche Integration muslimischer<strong>Jugendliche</strong>r nur sehr bed<strong>in</strong>gt gel<strong>in</strong>gt <strong>und</strong> zweifelsfrei e<strong>in</strong> großesHandlungsfeld politischer <strong>und</strong> pädagogischer Anstrengungen darstellt.Auf der e<strong>in</strong>en Seite werden hierfür Diskrim<strong>in</strong>ierungseffekte herangeführt:beispielsweise bei der Personalauswahl für e<strong>in</strong>en AusbildungsoderArbeitsplatz. 2Für die dauerhafte Integration <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> ist das Bildungssystemvon besonderer Bedeutung. Dies gilt zweifelsfrei <strong>in</strong> allen modernenGesellschaften, da die Integration auf dem Arbeitsmarkt hauptsächlichüber Bildungsabschlüsse <strong>und</strong> Sprachkenntnisse erfolgt. Aufgr<strong>und</strong> strukturellerVeränderungen <strong>in</strong> der Wirtschaft, stehen genau jene Arbeitsplätze,die die erste Generation der E<strong>in</strong>wanderer bekleiden konnte, nichtmehr zur Verfügung. Es werden <strong>in</strong>sbesondere Fachkräfte <strong>und</strong> Hochqualifiziertegesucht. Daher besteht <strong>in</strong> manchen Bereichen Arbeitskräftemangel,der durch die arbeitsuchenden, niedrig qualifizierten Menschennicht abgedeckt werden kann. Die Bildungsexpansion <strong>in</strong> der zweitenHälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hat zudem dazu geführt, dass der Wertvon Abschlüssen gesunken ist. Von dieser Entwicklung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondereHauptschüler betroffen. Dieser gr<strong>und</strong>legende Abschluss reicht <strong>in</strong> den


28 29meisten Fällen nicht mehr dafür aus, e<strong>in</strong>en Beruf zu erlernen <strong>und</strong> sichdauerhaft „beschäftigungsfähig” zu halten. Von der Bildungsexpansionseit den 1970er Jahren haben muslimische <strong>Jugendliche</strong> nicht nur nichtprofitiert, sondern sie s<strong>in</strong>d im Gegenteil durch den Bedeutungsverluste<strong>in</strong>facher Abschlüsse mittlerweile stärker benachteiligt.„Benachteiligung” ist e<strong>in</strong> äußerst vieldeutiger <strong>und</strong> vielseitig anwendbarerBegriff. Ab wann jemand als benachteiligt bezeichnet werden kann, ist<strong>in</strong> besonderem Maße von vorzunehmenden Def<strong>in</strong>itionen abhängig. InBezug auf Bildung kann Chancengleichheit (als Gegenteil von Chancenbenachteiligung)<strong>in</strong> zwei Gr<strong>und</strong>modellen kategorisiert werden (vgl. Geißler2008). Erstens: Das Proporzmodell, wonach von Benachteiligungdie Rede ist, wenn e<strong>in</strong>e Gruppe (bspw. soziale Schicht, Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>,Geschlecht) auf allen hierarchischen Ebenen des Bildungssystemsanteilsmäßig deutlich ger<strong>in</strong>ger vertreten ist als <strong>in</strong> der Gesamtbevölkerung.Zweitens: Das meritokratische Modell, wonach – unabhängigvon der Gruppenzugehörigkeit – die <strong>in</strong>dividuellen Kompetenzen <strong>und</strong>Leistungen den Bildungsverlauf prägen. In Bezug auf das Bildungsniveaus<strong>in</strong>d Frauen <strong>und</strong> Mädchen ke<strong>in</strong>eswegs mehr benachteiligt, im Gegenteil:Die benachteiligende Dimension „Geschlecht” sche<strong>in</strong>t sich bezogen aufBildungsabschlüsse <strong>in</strong> den letzten Jahren umzukehren, Frauen s<strong>in</strong>dhäufiger an Gymnasien <strong>und</strong> schließen es mit dem Abitur ab, verlassendie allgeme<strong>in</strong> bildende Schule seltener ohne Schulabschluss, erreichen<strong>in</strong>sgesamt höhere <strong>und</strong> besser bewertete Schulabschlüsse <strong>und</strong> weisenbei Kompetenztests wie PISA <strong>in</strong>sgesamt bessere Ergebnisse auf (vgl.Blossfeld u.a. 2009).In der derzeitigen politischen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungum Bildungsverlierer treten Jungen <strong>in</strong>s Zentrum der Diskussion. Allerd<strong>in</strong>gsist das Kriterium „soziale Herkunft” deutlich benachteiligender alsdas Geschlecht. Insbesondere Arbeiterk<strong>in</strong>der mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>haben größere Probleme im Schulsystem. War vor e<strong>in</strong>igen Jahrzehntennoch die Arbeitertochter der bildungspolitische „Problemfall”, so werdenheute Jungen, <strong>in</strong>sbesondere Migrantensöhne, strukturell benachteiligt(vgl. Geißler 2008). Selbst bei gleichen Leistungen hat die soziale Herkunfte<strong>in</strong>en Effekt auf die Bildungskarriere. <strong>K<strong>in</strong>der</strong> aus Migrantenfamiliens<strong>in</strong>d <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht benachteiligt. Zum e<strong>in</strong>en existiert e<strong>in</strong>e herkunftsbed<strong>in</strong>gteForm der Selbstdiskrim<strong>in</strong>ierung durch Bildungsentscheidungen<strong>in</strong> den Familien (vgl. Becker/Lauterbach 2008; Boudon 1974).Zum anderen bestehen <strong>in</strong>stitutionelle Mechanismen, die sich nachteiligauf den Bildungserfolg von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>auswirken können. Diese „Institutionelle Diskrim<strong>in</strong>ierung”(Gomolla/Radtke 2002) besteht durch die frühe Selektion im stratifiziertenSchulsystem <strong>und</strong> die unterschiedlichen Entwicklungsmilieus <strong>in</strong>den Schulformen, durch die Lehrerempfehlungen bei der Schulformzuweisung,durch die Form des Unterrichts <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Inhalte sowie durchstereotype Erwartungshaltungen der Lehrkräfte (vgl. Gomolla/Radtke2002; Dravenau/Groh-Samberg 2008). Dementsprechend kann trotzKontrolle der Leistungsfähigkeit der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> sowohl <strong>in</strong> Bezug auf Bildungsentscheidungen<strong>in</strong> den Familien als auch bei der Leistungsbeurteilung<strong>in</strong> der Schule e<strong>in</strong> Herkunftseffekt nachgewiesen werden (vgl. Geißler2008). Des Weiteren lässt sich zeigen, dass auch die ethnische Herkunftfür den Übergang von der Gr<strong>und</strong>- zur Hauptschule e<strong>in</strong>e Rolle spielt (vgl.Kirsten 2002). Bei der Betrachtung der Klassenwiederholungen bereits<strong>in</strong> der Gr<strong>und</strong>schule ist der Anteil der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>dramatisch hoch (vgl. Krohne/Meier/Tilmann 2004).Entsprechend s<strong>in</strong>d <strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsgeschichte, <strong>in</strong>sbesondereJungen muslimischer Herkunft, an Gymnasien <strong>und</strong> Realschulen deutlichunterrepräsentiert, während sie an den Haupt- <strong>und</strong> Sonderschulen überproportionalstark vertreten s<strong>in</strong>d (vgl. Baumert 2001; Beauftragter derB<strong>und</strong>esregierung 2007; Bos u.a. 2003; Gomolla 2003). 3 Der Anteil derMigrantenk<strong>in</strong>der, der ohne Hauptschulabschluss das Schulsystem verlässt,liegt stabil bei 20 Prozent (vgl. Diefenbach 2008). Diese messbarger<strong>in</strong>geren Bildungschancen hängen auch damit zusammen, dass Migrantenfamilien,<strong>in</strong>sbesondere türkisch- <strong>und</strong> arabischstämmige Familien,die Funktion von Schule nicht richtig e<strong>in</strong>schätzen können. TraditionsbezogeneEltern aus dem Arbeitermilieu stehen der Schule skeptischgegenüber, weil sie nicht autoritativ, sondern <strong>in</strong>dividualistisch erzieht(vgl. Leenen u.a. 1990), <strong>und</strong> zudem fehlen ihnen die Möglichkeiten,ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n Hilfestellungen zu geben (vgl. Alamdar-Niemann 1992;Toprak 2004).Auch wenn <strong>in</strong> verschiedenen Studien e<strong>in</strong>e hohe Bildungsaspiration beitürkeistämmigen Eltern nachgewiesen werden konnte (beispielsweiseDollmann 2010), drückt sich diese hohe Bedeutungszuschreibung fürBildung nicht <strong>in</strong> der tatsächlichen Bildungsbeteiligung aus. Dies liegt u.a.daran, dass dieser Bildungswunsch kaum durch unterstützende Handlungengestützt wird <strong>und</strong> sich an e<strong>in</strong>em funktionalen Bildungsbegrifforientiert. Es handelt sich also „lediglich” um e<strong>in</strong>en funktionalen Wunsch.


30 31Anders als Geld zeichnet sich die „Währung Bildung” dadurch aus, dasssie nicht von allen Menschen <strong>in</strong> gleicher Weise wertgeschätzt wird. NachGeld <strong>und</strong> Eigentum streben mehr oder weniger alle, nach Bildung nurwenige – schon gar nicht als Selbstzweck. Oder anders ausgedrückt:Nach Geld streben <strong>in</strong>sbesondere jene, die wenig oder ke<strong>in</strong>es haben;Bildung kann h<strong>in</strong>gegen nur von jenen umfassend wertgeschätzt werden,die über Bildung verfügen. Die Währung Bildung kann also nicht vollständigfunktionalisiert werden. Denn die Motivation, Kompetenzen zuentwickeln, alle<strong>in</strong>e um später e<strong>in</strong>en Beruf zu erlernen, ist denkbar ungünstig<strong>und</strong> entspricht nicht der <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> üblichen Vorstellungvon Allgeme<strong>in</strong>bildung. Bildung be<strong>in</strong>haltet immer auch Bildung als Selbstzweckbzw. Bildung, „weil Bildung e<strong>in</strong>fach gut ist”. Die funktionale Haltunggegenüber Schule <strong>und</strong> Bildung entwickelt sich bereits <strong>in</strong> der Familie<strong>und</strong> <strong>in</strong> frühen Netzwerken.Zudem können die Eltern aufgr<strong>und</strong> ihrer e<strong>in</strong>geschränkten verbalen Fähigkeitenihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> kaum bei der Lernentwicklung unterstützen. Da <strong>in</strong> denFamilien wenig gelesen wird, werden die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> auch nicht zum Lesenmotiviert.2.2. Kulturelle Integration: Soziale Werte<strong>und</strong> SpracheGr<strong>und</strong>legend für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Schulkarriere s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere guteSprachkompetenzen. Die Sprachkompetenzen <strong>in</strong> den muslimischenFamilien s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> beiden Sprachen, also sowohl <strong>in</strong> der Mutter- bzw. Herkunftsspracheals auch <strong>in</strong> Bezug auf die deutsche Sprache, häufig e<strong>in</strong>geschränkt<strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der dritten Generation erstaunlich schwachausgeprägt. Dabei ist bereits die Anwendung der Muttersprache, wie siedie Eltern nutzen, von Stil <strong>und</strong> Wortschatz her sehr milieuspezifisch <strong>und</strong>häufig „überaltet”, so dass die Familien <strong>und</strong> ganz besonders die Nachkommenselbst <strong>in</strong> ihrem Herkunftsland sprachlich auffallen (vgl. Toprak2000). Das <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> gesprochene Türkisch hat sich durch die vonder Türkei abgekapselte Entwicklung, die sich dabei überwiegend durcheher wenig Gebildete vollzog, sehr „verslangt”. Das gilt für die verschiedenenAusprägungen der arabischen Sprache, wie sie von Libanesen,Syrern, Irakern, Ägyptern, Tunesiern, Marokkanern usw. gesprochenwird, <strong>in</strong> vergleichbarer Weise.Das Erlernen der deutschen Sprache fällt dann besonders schwer, wennman sie entweder nicht sehr früh als Muttersprache erlernt oder wennman e<strong>in</strong>e andere Muttersprache – also Türkisch oder Arabisch – nicht gutbeherrscht (vgl. Reich/Roth 2002). Zudem wird häufig problematisiert,dass e<strong>in</strong>erseits die Herkunftssprache nicht gefördert wird, obwohl dieMigranten im H<strong>in</strong>blick auf ihre allgeme<strong>in</strong>e Sprachkompetenz davon profitierenwürden, <strong>und</strong> andererseits im Schulsystem zwischen legitimen<strong>und</strong> illegitimen Sprachkenntnissen unterschieden wird (vgl. Diefenbach2008). Dieser E<strong>in</strong>druck entsteht dadurch, dass das Erlernen von Fremdsprachenals wertvolle <strong>und</strong> <strong>in</strong> Zukunft notwendige Investition dargestelltwird, damit allerd<strong>in</strong>gs offenbar hauptsächlich die Sprachen Deutsch,Englisch <strong>und</strong> Spanisch geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d (teilweise auch Russisch <strong>und</strong> Ch<strong>in</strong>esisch).Demgegenüber sche<strong>in</strong>t den <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> am häufigsten gebrauchtenMigrantensprachen (Türkisch <strong>und</strong> Arabisch) eher sek<strong>und</strong>äreBedeutung beigemessen zu werden.Durch die städtische Segregation werden sprachliche Defizite weiterverstärkt. Die Tatsache, dass man den Alltag im Stadtteil mit mäßigenDeutschkenntnissen problemlos bewältigen kann, senkt dauerhaft dieMotivation, die Sprachkompetenzen zu erweitern. Durch die sprachlichenSchwächen s<strong>in</strong>d türkei- <strong>und</strong> arabischstämmige <strong>Jugendliche</strong> häufig nicht<strong>in</strong> der Lage, Konflikte kommunikativ auszutragen. Die meisten Konflikteentwickeln sich aufgr<strong>und</strong> von Missverständnissen, Missdeutungen<strong>und</strong> fehlender kommunikativer Fähigkeiten (vgl. Krim<strong>in</strong>ologisches Forschungs<strong>in</strong>stitutNiedersachsen 2002). E<strong>in</strong> Zusammenhang zwischengewalttätigem Verhalten <strong>und</strong> Schulbildung bei <strong>Jugendliche</strong>n mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>lässt sich auch <strong>in</strong> der Untersuchung von Toprak (2006)feststellen. Hier wurden 228 <strong>Jugendliche</strong> türkischer, arabischer <strong>und</strong> albanischerHerkunft untersucht, die e<strong>in</strong> Anti-Aggressivitäts-Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g bei derArbeiterwohlfahrt München besucht haben. Hierbei konnte festgestelltwerden, dass die Hälfte der <strong>Jugendliche</strong>n ke<strong>in</strong>en Hauptschulabschlussnachweisen konnte. Von den Hauptschulabsolventen befanden sich zumZeitpunkt des Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs viele nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Berufsausbildung.Im Zusammenhang mit ger<strong>in</strong>gen Sprachkenntnissen <strong>und</strong> städtischerSegregation wird häufig von Parallelgesellschaften gesprochen. Beispielsweiseist das Kopftuch e<strong>in</strong> Symbol, an dem häufig die fehlende kulturelleIntegration festgemacht wird. Dabei wird häufig übersehen, dass dieM<strong>in</strong>derheit aller muslimischen Frauen e<strong>in</strong> Kopftuch trägt <strong>und</strong> die Tendenzs<strong>in</strong>kt (vgl. Haug u.a. 2009). Ebenfalls ist festzustellen, dass die meisten


32 33Mädchen am Sport- <strong>und</strong> Schwimmunterricht teilnehmen. Hier liegen alsoke<strong>in</strong>e umfassenden Problemlagen vor. Dennoch werden die genanntenAspekte, <strong>in</strong>sbesondere die sozialen <strong>und</strong> religiösen Werte, <strong>in</strong> den folgendenKapiteln ausführlicher dargestellt.2.3. Soziale Integration: Netzwerke,Fre<strong>und</strong>schaften, PartnerschaftDie soziale Integration bezeichnet die sozialen Kontakte von Migranten.Hier steht also im Vordergr<strong>und</strong>, <strong>in</strong>wieweit es zu e<strong>in</strong>er sozialen Durchmischungkommt. Dabei <strong>in</strong>teressiert <strong>in</strong>sbesondere, ob Partnerschaften,Eheschließungen, Fre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> Netzwerke ausschließlich <strong>in</strong>nerhalbder ethnischen oder religiösen Community oder auch <strong>in</strong>terkulturell<strong>und</strong> <strong>in</strong>terreligiös geschlossen werden. Diese Form der Integration istbesonders deshalb von Bedeutung, weil die sozialen Kontakte als sozialesKapital dienen können, beispielsweise als „Vitam<strong>in</strong> B” bei der Arbeitsplatzsuche,als implizite Hilfe bei der sprachlichen Lernentwicklung (auchder <strong>K<strong>in</strong>der</strong>) <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere auch bei der Etablierung sozialer Normen<strong>und</strong> Werte. Dieser Bereich ist sehr schwer politisch zu bee<strong>in</strong>flussen, dennes handelt sich um <strong>in</strong>dividuelle Dispositionen. Allerd<strong>in</strong>gs weiß man sehrgenau, dass e<strong>in</strong>e soziale Durchmischung der Kontakte im K<strong>in</strong>desalter,<strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungse<strong>in</strong>richtungen sowie im Stadtteil,die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>er umfassenden sozialen Integration deutlichverstärkt.Bei der Wahl des Wohnortes bevorzugen 80 Prozent der MigrantenStädte, die m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wohnerzahl von 100.000 aufweisen(vgl. Beauftragter der B<strong>und</strong>esregierung 1997, 2002, 2007). Die Untersuchungsergebnisseder B<strong>und</strong>esregierung zeigen, dass die großenBallungszentren <strong>in</strong> den alten B<strong>und</strong>esländern e<strong>in</strong>en mehr als doppeltso hohen Migrantenanteil aufweisen als die ländlichen Räume. Die geme<strong>in</strong>tenGebiete haben e<strong>in</strong>en niedrigen Sozialstatus <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d für diedeutsche Bevölkerungsgruppe häufig unattraktiv. Auch die Wohnungssuchefür muslimische Familien erweist sich häufig als schweres Unterfangen,besonders wenn es sich um k<strong>in</strong>derreiche Familien handelt.Dadurch entstehen häufig Quartiere, teilweise ganze Stadtteile, derenErsche<strong>in</strong>ungsbild durch die E<strong>in</strong>gewanderten geprägt wird. Sobald dieseEntwicklung begonnen hat, entsteht e<strong>in</strong>e beschleunigte Eigendynamik:Wohlhabende verlassen diese Wohngebiete, die Mietpreise s<strong>in</strong>ken,dadurch kommen immer mehr e<strong>in</strong>kommensschwache <strong>und</strong> Migrantenfamilienh<strong>in</strong>zu <strong>und</strong> zuletzt entwickelt sich e<strong>in</strong>e spezifische Gewerbestruktur,die auf diese Wohnbevölkerung zugeschnitten ist, wodurch dieseEntwicklungen manifestiert werden. Insbesondere Banken reagieren aufdiese Veränderungen, <strong>in</strong>dem sie türkisch <strong>und</strong> arabisch sprechende Auszubildende<strong>und</strong> Mitarbeiter e<strong>in</strong>stellen, was e<strong>in</strong>erseits für viele <strong>Jugendliche</strong>die Möglichkeit eröffnet, bei e<strong>in</strong>er Bank beschäftigt zu werden, wasandererseits aber auch dazu führt, dass die deutsche Sprache <strong>in</strong> diesenStraßenzügen enorm an Bedeutung verliert – selbst bei Bankbesuchenist es dann nicht mehr notwendig, deutsch zu sprechen. Es entstehensegregierte Stadtgebiete, die die öffentlichen Institutionen vor neueHerausforderungen stellen. Die Jugendämter, Schulen, <strong>K<strong>in</strong>der</strong>betreuungse<strong>in</strong>richtungen,aber auch die Polizei müssen sich auf andere Arbeitsschwerpunktee<strong>in</strong>stellen. Durch diese Entwicklungen wird vermehrt vone<strong>in</strong>er „Parallelgesellschaft” gesprochen. In der Tat führen die Lebensverhältnisse<strong>in</strong> diesen benachteiligten Wohnvierteln dazu, dass Fre<strong>und</strong>schaften,Partnerschaften <strong>und</strong> Eheschließungen häufiger <strong>in</strong>nerhalb derethnischen Community bleiben. Es entsteht gewissermaßen e<strong>in</strong>e Vergeme<strong>in</strong>schaftungmit herkunftsspezifischer Ausprägung. Dadurch entwickelnsich Formen der sozialen Kontrolle, wie sie <strong>in</strong> ländlichen Gebietendes Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordafrikas üblich s<strong>in</strong>d: Die <strong>Jugendliche</strong>n werdendurch die Nachbarschaft im Stadtbezirk beobachtet <strong>und</strong> es entstehensomit umfassende Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen, die die soziale Entwicklungder Heranwachsenden prägen. Ob diese ethnische Vergeme<strong>in</strong>schaftungfür die Mehrheitsgesellschaft bedrohlich ist, kann nicht pauschal beantwortetwerden. 4 In jedem Fall stellt sie für die dort aufwachsenden <strong>K<strong>in</strong>der</strong><strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n e<strong>in</strong>e enorme Barriere dar. Sie wachsen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em relativhomogenen sozialen Umfeld auf. Ähnlich wie sich im 19. Jahrh<strong>und</strong>ertauch Arbeiterviertel durch e<strong>in</strong>en gewissen Zusammenhalt der Arbeiterklasseauszeichneten <strong>und</strong> Sicherheit boten, allerd<strong>in</strong>gs auch wenig Aufstiegschancenermöglichten, s<strong>in</strong>d auch die ethnisch differenzierten Stadtgebieteheute e<strong>in</strong>zuordnen.Die sozioökonomische Differenzierung der Bevölkerung wird also um e<strong>in</strong>ekulturelle zusätzlich verschärft. Die zunehmende städtische Segregationhat dazu geführt, dass sich <strong>in</strong> bestimmten Stadtteilen junge Männermit Zuwanderungsgeschichte konzentrieren, die kaum Kontakt zu derMehrheitsgesellschaft aufbauen können. Dies gilt auch deshalb, weil die<strong>K<strong>in</strong>der</strong>betreuungse<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Schulen überwiegend e<strong>in</strong>e stadtteilspezifische<strong>K<strong>in</strong>der</strong>- <strong>und</strong> Schülerstruktur aufweisen <strong>und</strong> zudem durch die


34 35Schulformen die soziale Herkunft der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n relativhomogen gehalten wird.Am Beispiel des Ruhrgebiets ist diese Entwicklung deutlich erkennbar.So wird häufig von dem Sozialäquator des Ruhrgebiets gesprochen (vgl.Kerst<strong>in</strong>g u.a. 2009). Geme<strong>in</strong>t ist hierbei die Autobahn 40 (Ruhrschnellweg/ B1). Nördlich der A40 ist die Sozialhilfe- <strong>und</strong> Arbeitslosenquotedeutlich höher, die Übergangsquote zum Gymnasium deutlich niedriger<strong>und</strong> der Ges<strong>und</strong>heitszustand der dort lebenden <strong>K<strong>in</strong>der</strong> deutlich schlechterals südlich der A40. Und im Norden des Ruhrgebiets leben auch mitgroßem Abstand die meisten Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. DiesesSüd-Nord-Gefälle ist <strong>in</strong> allen Städten des Ruhrgebiets messbar – <strong>in</strong>anderen Ballungsgebieten <strong>Deutschland</strong>s ist e<strong>in</strong>e solche Differenzierungder Wohnverhältnisse <strong>in</strong> vergleichbarer Weise nachweisbar. Hieran wirdexemplarisch deutlich, dass die Integrationsebenen Erwerbsarbeit, Bildungsniveau<strong>und</strong> soziale Beziehungen im „kle<strong>in</strong>en Raum”, also <strong>in</strong>nerhalbder Stadt bzw. <strong>in</strong> Stadtteilen <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten. Und es wird deutlich,dass die Integrationsebenen sich wechselseitig bed<strong>in</strong>gen.2.4. Emotionale Integration: Identität(en)Die drei genannten Bereiche laufen <strong>in</strong> der letzten Ebene der Integrationzusammen: die emotionale Integration. Sie ist nicht direkt bee<strong>in</strong>flussbar.Sie leitet sich vielmehr davon ab, <strong>in</strong>wieweit man sich mit <strong>Deutschland</strong>oder mit dem Wohnort identifiziert. Es ist leicht nachvollziehbar, dassman sich als gut gebildeter Mensch, der perfekt deutsch spricht, e<strong>in</strong>enguten Arbeitsplatz hat <strong>und</strong> viele bzw. <strong>in</strong>tensive soziale Beziehungen zuDeutschen pflegt, eher mit <strong>Deutschland</strong> identifizieren kann. Allerd<strong>in</strong>gsmuss ebenso erwähnt werden, dass die Möglichkeit, sich mit <strong>Deutschland</strong>zu identifizieren, auch mit der Mehrheitsgesellschaft zusammenhängt.Es wird auch sehr gut <strong>in</strong>tegrierten muslimischen Menschen nicht leichtgemacht, sich dazugehörig zu fühlen – wie u.a. die e<strong>in</strong>gangs zitiertenAussagen des arabischen Arztes zeigen. 5 Die emotionale Integration istalso gewissermaßen die Königsdiszipl<strong>in</strong>: Sie ist komplex, beruht auf Subjektivität<strong>und</strong> ist nicht mit Kausalität erklärbar.In der Migrationsforschung wird häufig von e<strong>in</strong>em Zustand „zwischenden Stühlen” gesprochen. Geme<strong>in</strong>t ist hiermit, dass sich Migranten derzweiten <strong>und</strong> dritten Generation weder zu der e<strong>in</strong>en noch zu der anderennationalen bzw. kulturellen Identität zugehörig fühlen. Dieser problembehafteteBef<strong>und</strong> liegt im Kern dar<strong>in</strong> begründet, dass man deutlicheDifferenzerfahrungen im Herkunftsland der Eltern sowie <strong>in</strong> der deutschenMehrheitsgesellschaft erkennt <strong>und</strong> erfährt. Die Tatsache, dass man sichnicht als Deutscher <strong>und</strong> nicht als Türke bzw. Araber fühlt, kann allerd<strong>in</strong>gsauch mit der Metapher des „dritten Stuhls” <strong>in</strong>terpretiert werden(vgl. Badawia 2002). Damit ist e<strong>in</strong>e hybride Identität umzeichnet, diee<strong>in</strong> Deutscher mit arabischen Wurzeln folgendermaßen konkretisiert:„Wenn ich sage, ich b<strong>in</strong> deutsch, aber nicht wie die Deutschen, <strong>und</strong>marokkanisch, aber nicht wie die Marokkaner, das ist für Deutsche e<strong>in</strong>Rätsel” (Badawia 2006, S. 183).Diese dritte Identität ist e<strong>in</strong>e Herausforderung, da viele Syntheseleistungendes Ichs selbstständig entwickelt werden müssen, <strong>und</strong> gleichzeitige<strong>in</strong>e große Chance, da die Widerstandsfähigkeit des <strong>Jugendliche</strong>n gestärktwird <strong>und</strong> der erweiterte Erfahrungsschatz e<strong>in</strong>e enorme Ressourcedarstellen kann. Die <strong>in</strong>ternational ausgerichtete Wirtschaft hat mit derStrategie des Diversity Managements bereits darauf reagiert. Die beschleunigteDynamik <strong>und</strong> Prozesshaftigkeit dieser hybriden Identitäten,nämlich weder deutsch noch ausländisch zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> trotzdem beideszugleich, führen unweigerlich zu komplexen Anforderungen an dieHeranwachsenden. Deutschen fällt es bereits schwer zu erläutern, wasDeutschse<strong>in</strong> bedeutet. Entsprechend stehen Migrantenjugendliche vore<strong>in</strong>er doppelten Herausforderung, da sie zwar e<strong>in</strong> Mehr an Möglichkeitender Identitätsbildung haben, allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong> Weniger an Orientierung.Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> ist das Phänomen zu verstehen, dass sich die<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> selbst als Türken bzw. Araber sehen. Dabeiist ihr Referenzpunkt nicht das tatsächliche Heimatland ihrer Eltern –darüber wissen sie <strong>in</strong> der Regel relativ wenig – sondern vielmehr e<strong>in</strong>eVorstellung, e<strong>in</strong> Narrativ desselben. Es wird gewissermaßen e<strong>in</strong>e Wunschvorstellungder eigenen Herkunft aufrechterhalten, was psychologischbetrachtet durchaus funktional ist. Fühlt man sich nicht zugehörig,gleichberechtigt oder erwünscht, dann werden Vorstellungen entwickelt,die es erleichtern, mit diesem subjektiv wahrgenommenen Zustand zuleben. Zu e<strong>in</strong>em Problem wird dies, wenn die ersten Erfahrungen mitdem Heimatland der Eltern gemacht werden. Beispielsweise werdendie türkeistämmigen <strong>Jugendliche</strong>n aus <strong>Deutschland</strong> <strong>in</strong> der Türkei als„Deutschländer” bezeichnet <strong>und</strong> damit wird e<strong>in</strong>e deutliche Abgrenzungkonstruiert. Ähnlich ist auch die häufig beobachtbare Selbstbeschreibungals Muslim zu <strong>in</strong>terpretieren. Die <strong>Jugendliche</strong>n suchen <strong>in</strong> dieser Kategorie


36 37e<strong>in</strong> Def<strong>in</strong>itionskriterium, das Orientierung bietet – allerd<strong>in</strong>gs auch hiernachweislich, ohne die Religion h<strong>in</strong>reichend zu kennen. Das Gefühl,irgendwo dazuzugehören, ist bei allen <strong>Jugendliche</strong>n stark ausgeprägt.In den prekären Verhältnissen, <strong>in</strong> denen sich viele muslimische <strong>Jugendliche</strong><strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> bef<strong>in</strong>den, ist e<strong>in</strong>e solch „e<strong>in</strong>fache” <strong>und</strong> zugleichOrientierung stiftende Identitätsarbeit durchaus rational. Es muss gewissermaßene<strong>in</strong> eigenes Milieu geschaffen werden, e<strong>in</strong> Lebensraum,der sich weder strikt an der Herkunftsgesellschaft oder der Lebensweiseder Eltern noch an der Mehrheitsgesellschaft orientiert.Tabelle 2: IntegrationsebenenKulturelleIntegrationSoziale Werte<strong>und</strong> SpracheFamilie <strong>und</strong>Bildungs<strong>in</strong>stitutionenStrukturelleIntegrationQualifikationen<strong>und</strong> ErwerbsarbeitArbeitsmarkt <strong>und</strong>BildungssystemSozialeIntegrationSoziale KontakteSoziales Umfeld,Wohnort, Peersetc.EmotionaleIntegrationIdentifikationSubjektive /<strong>in</strong>dividuelle ProzesseKapitel 3: Familie Kapitel 5: Schule Kapitel 4: Peers Kapitel 8: Aufsteiger2.5. ZusammenfassungZweifelsfrei hängen die skizzierten Ebenen der Sozial<strong>in</strong>tegration mite<strong>in</strong>anderzusammen. Allerd<strong>in</strong>gs sollte deutlich geworden se<strong>in</strong>, dass sieweder unveränderbar s<strong>in</strong>d noch von alle<strong>in</strong>e im Laufe der Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ezufriedenstellende Position münden. Arbeitsmarkt-, Bildungs- <strong>und</strong> Sozialpolitikkönnen durchaus erfolgreich se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>sbesondere dann, wenn sieim „kle<strong>in</strong>en Raum” auf der Kommunalebene zusammengedacht werden.Dabei wird mittlerweile von allen politischen Akteuren erkannt, dassSprache <strong>und</strong> Bildung die Schlüsselpositionen <strong>und</strong> damit Bildungs<strong>in</strong>stitutionendie zentralen Instanzen e<strong>in</strong>er dauerhaften Integration darstellen.Denn Menschen streben nach Anerkennung. Anerkennung wiederumwird <strong>in</strong>sbesondere über Erwerbsarbeit <strong>und</strong> <strong>in</strong> sozialen Beziehungenermöglicht. Diese beiden Bereiche s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> besonderer Weise von der<strong>in</strong>dividuellen Sprachkompetenz <strong>und</strong> vom <strong>in</strong>dividuellen Bildungsniveauabhängig. Dort, wo man als Mensch anerkannt wird, fühlt man sich auchzugehörig, was dazu führt, dass die emotionale Identifikation mit e<strong>in</strong>erNation oder e<strong>in</strong>er Kultur erst am Ende dieser Entwicklung steht.Kulturelle Diversität ist an sich ke<strong>in</strong> Problem. Erst wenn sich soziale Ungleichheiten<strong>und</strong> kulturelle Vielfalt überlappen <strong>und</strong> geographisch konzentrieren,entstehen Probleme. Diese Entwicklungen haben bereits vorJahrzehnten – zu Beg<strong>in</strong>n der E<strong>in</strong>wanderung – begonnen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d ausder historischen Betrachtung durchaus plausibel. Die Pfadabhängigkeitder Migrationspolitik wurde e<strong>in</strong>gangs erläutert. Im Weiteren soll es nichtmehr um historische Prozesse gehen <strong>und</strong> schon gar nicht um Schuldzuschreibungen,sondern um analytische Perspektiven die e<strong>in</strong> konstruktivesZusammenleben <strong>in</strong> Zukunft ermöglichen. E<strong>in</strong> solcher Zugang geht vonder Bemühung aus, die Lebenswelten <strong>und</strong> Denk- <strong>und</strong> Handlungsmusterder <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n verstehen zu wollen. Darum wird es <strong>in</strong> dennächsten Kapiteln gehen.Literaturtipps• Schrader, Achim / Nikles, Bruno W. / Griese, Hartmut M. (1979):Die Zweite Generation. Sozialisation <strong>und</strong> Akkulturation ausländischer<strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik. Königste<strong>in</strong>.• Spohn, Cornelia (Hrsg.) (2006): Zweiheimisch. Bikulturell leben <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>. Bonn.• Treibel, Annette (2003): Migration <strong>in</strong> modernen Gesellschaften.1|2|3|Soziale Folgen von E<strong>in</strong>wanderung, Gastarbeit <strong>und</strong> Flucht. We<strong>in</strong>heim/München.Mit dem Term<strong>in</strong>us „Unterschichtung” wird <strong>in</strong> der Soziologie e<strong>in</strong> Prozess bezeichnet,bei dem die E<strong>in</strong>wanderer die unteren Schichten der Gesellschafte<strong>in</strong>nehmen, was meist dazu führt, dass die E<strong>in</strong>heimischen (moderat) aufsteigenkönnen.In diesem Kontext stehen Projekte, die Diskrim<strong>in</strong>ierungseffekte <strong>in</strong> Bewerbungsverfahrennach den Merkmalen Alter, Geschlecht <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondereMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> m<strong>in</strong>dern wollen.Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sich die Schulbildung bei muslimischen<strong>Jugendliche</strong>n im Vergleich zu jener ihrer Eltern deutlich verbesserthat. Beispielsweise verfügten weniger als 4 % der türkeistämmigen E<strong>in</strong>wandererüber e<strong>in</strong>e hohe Schulbildung, während unter den 20- bis 25-Jährigen türkischerHerkunft über 22 % über e<strong>in</strong>e Hochschulzugangsberechtigung (<strong>in</strong>klusiveFachhochschulreife) verfügen. Dennoch: Der Anteil der Altersgenossen ohneMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> ist mit 42,2 % fast doppelt so hoch (Foroutan 2010).Interessant s<strong>in</strong>d die Ergebnisse der Iraner, Iraker <strong>und</strong> Afghanen. Sie erreichen<strong>in</strong> dieser Altergruppe mit 50 % überdurchschnittlich oft die Hochschulreife,gleichzeitig aber auch überdurchschnittlich häufig auch ke<strong>in</strong>en Schulabschluss.


384|5|Allerd<strong>in</strong>gs stellt die Tatsache, dass Ehegatten – meist Frauen – aus denHerkunftsländern geheiratet werden, e<strong>in</strong> enormes Problem dar. Dadurchhat man es immer wieder mit e<strong>in</strong>er „ersten” Generation zu tun. Zudemerziehen Mütter, die sich <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> noch nicht orientieren können,den Nachwuchs, was die Integrationsleistung immer wieder vor neue Problemestellt. Wie wir später mehrfach feststellen werden, sollte der Fokusauf die muslimischen Männer gelegt werden, da über sie der Zugriff aufpraktisch alle Problemlagen gel<strong>in</strong>gen kann.Auch die beiden Autoren haben vielfach skeptische Blicke entgegnetbekommen, wenn sie sich selbst als „Deutsche” bezeichnet haben. Essche<strong>in</strong>t so zu se<strong>in</strong>, dass die Herkunft immer wieder betont werden muss –<strong>in</strong> der Regel mit gut geme<strong>in</strong>ter Absicht. Dies ist <strong>in</strong> der Tat e<strong>in</strong>e Besonderheitder deutschen Kultur im Umgang mit Migranten.3. Lebenswelt FamilieUrsprünglich stammen sehr viele Migranten türkischer<strong>und</strong> arabischer Herkunft aus den wirtschaftlich wenigerentwickelten Gebieten der türkischen Prov<strong>in</strong>zen sowie ausden kle<strong>in</strong>eren Dörfern aus dem Mittel-, Nord- <strong>und</strong> Südostender Türkei oder aus vergleichbaren arabischen Regionen. Indiesen Gebieten hat die Tradition e<strong>in</strong>en großen Stellenwert.Massenarbeitslosigkeit, Armut, Analphabetismus <strong>und</strong> e<strong>in</strong>eunterentwickelte Infrastruktur bestimmen das alltäglicheLeben dort auch heute (vgl. hierzu ausführlich Kagitcibasi/Sunar 1997).In diesem Arbeitermilieu diskutieren die Eltern <strong>in</strong> den seltenstenFällen mit dem K<strong>in</strong>d, um das K<strong>in</strong>d mit Argumentenzu überzeugen <strong>und</strong> ihm zu erklären, was richtig <strong>und</strong> falschist. Dieser Erziehungsstil führt dazu, dass das K<strong>in</strong>d von derAußenkontrolle der Mutter bzw. Erwachsener abhängig ist.Durch diesen Erziehungsstil überlässt das K<strong>in</strong>d die Kontrollese<strong>in</strong>es Verhaltens ständig anderen, <strong>und</strong> es wird sich selbstnach den Maßstäben <strong>und</strong> E<strong>in</strong>schätzungen anderer bewerten.Das Verhalten des K<strong>in</strong>des bleibt also stark von sozialer Kontrolleabhängig, wodurch sich die Selbstkontrolle <strong>und</strong> Selbstständigkeitdes K<strong>in</strong>des nicht <strong>in</strong> dem Maße entwickelt, wie es<strong>in</strong> der deutschen Gesellschaft gewünscht <strong>und</strong> erforderlichist. Eigenschaften wie Gehorsam, Verlässlichkeit, Loyalität,Respekt vor Autoritäten <strong>und</strong> Rücksichtnahme anderen gegenüber,die für das Funktionieren e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> so enger Verb<strong>in</strong>dungmite<strong>in</strong>ander lebenden Familiengruppe unerlässlich


40 41s<strong>in</strong>d, werden Jungen <strong>und</strong> Mädchen gleichermaßen beigebracht. Bereitsab der Geburt des K<strong>in</strong>des beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> vielen türkischen Familien die Sozialisation<strong>in</strong> Geschlechterrollen. Für <strong>K<strong>in</strong>der</strong> beider Geschlechter geltenjeweils unterschiedliche bzw. unterschiedlich gewichtete Werte <strong>und</strong>Erwartungen. Da e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Kontext vorgeformter Werte <strong>und</strong> Erwartungenh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren wird, unterliegt es schon bald e<strong>in</strong>em teilsunterschwelligen, teils offenk<strong>und</strong>igen Druck, sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e def<strong>in</strong>iertegeschlechtsspezifische Rolle zu fügen. Dabei wird ke<strong>in</strong>es der beidenGeschlechter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em besonderen Maße zur Unabhängigkeit ermutigt.Die für e<strong>in</strong> selbstbestimmtes Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überkomplexen modernenGesellschaft notwendigen Kompetenzen können durch diese geschlechtsspezifischeErziehung nicht entwickelt werden. Es s<strong>in</strong>d Kompetenzenwie Verantwortungsbewusstse<strong>in</strong>, Entscheidungsfähigkeit, die Fähigkeit,widersprüchliche Situationen <strong>und</strong> Erwartungen auszuhalten (Ambiguitätstoleranz),Flexibilität, Weitsichtigkeit <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere Individualität,die die notwendigen Eigenschaften darstellen, um das Leben „<strong>in</strong> dieeigene Hand nehmen” zu können. E<strong>in</strong> solches Selbstmanagement mussim Sozialisationsprozess gestärkt werden. Und <strong>in</strong> der familiären Erziehungist dies häufig nicht der Fall. Im Gegenteil: Individualisierung wirdals bedrohlich <strong>und</strong> unnatürlich wahrgenommen. Daher flüchten sich viele<strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kollektiv, das zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>in</strong> benachteiligtenMilieus anzutreffen ist – die Folgen s<strong>in</strong>d bekannt.Im Folgenden soll e<strong>in</strong> Überblick über die Besonderheiten muslimischerFamilien gegeben werden, wobei <strong>in</strong>sbesondere Erziehungsstile, Erziehungsziele,geschlechtsspezifische Aspekte der Erziehung sowie Gewalt<strong>in</strong> der Familie näher erläutert werden.3.1. Zur Bedeutung des K<strong>in</strong>des<strong>K<strong>in</strong>der</strong> haben <strong>in</strong> arabischen <strong>und</strong> türkischen Familie e<strong>in</strong>en großen Stellenwert.Sie s<strong>in</strong>d nach wie vor zentraler <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nstiftender Bestandteil derLebensplanung. E<strong>in</strong> k<strong>in</strong>derloses Ehepaar wird als unvollkommen <strong>und</strong>nicht als Familie betrachtet. E<strong>in</strong>e Ehe kann durch den Mann geschiedenwerden, wenn die Frau nicht m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d auf die Welt br<strong>in</strong>gt.E<strong>in</strong> frisch verheiratetes Paar steht unter enormem Druck, <strong>in</strong>sbesondereseitens der Familien, bald nach der Eheschließung e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu bekommen.Wenn die Ehefrau auch zwei Jahre nach der Eheschließung nochnicht schwanger ist, s<strong>in</strong>d besorgte Andeutungen näherer Verwandterim H<strong>in</strong>blick auf mögliche biologische Ursachen beider Ehepartner zuerwarten.In e<strong>in</strong>er Untersuchung von Kagitcibasi <strong>und</strong> Esmer (1980) wurde dieBedeutung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> unterschieden. Dabei stellten sich drei vone<strong>in</strong>anderunabhängige Typen des VOC heraus (Value of Children):• ökonomisch-utilitaristischer VOC (z.B. Alterssicherung, Beitrag zumFamilienhaushalt)• psychologisch-affektiver VOC (z.B. emotionale Stärkung, Familien-b<strong>in</strong>dung)• sozial-normativer VOC (Statuserhöhung, Fortführung des Familien-namens)Es ist davon auszugehen, dass <strong>in</strong> den ländlichen Gebieten sowie <strong>in</strong> ärmerenTeilen der Stadtbevölkerung, die e<strong>in</strong>e niedrige Bildung sowie kaumAussichten auf e<strong>in</strong>e Rente haben, die ökonomisch-utilitaristischen <strong>und</strong>sozial-normativen VOCs e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle spielen. „Um sicher zuse<strong>in</strong>, dass im Alter jemand da ist, um mir zu helfen” wird am häufigstenvon türkischen Eltern als Gr<strong>und</strong> für e<strong>in</strong> weiteres (männliches) K<strong>in</strong>d genannt.Die Jungen s<strong>in</strong>d langfristig die größere Quelle ökonomischenNutzens. „Das ,ideale’ Familienkonzept auf der Basis ökonomisch-utili-taristischer Nutzenerwartungen wird deshalb möglichst viele männlicheNachkommen vorsehen, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> Gesellschaften mit patril<strong>in</strong>earenVerwandtschaftssystemen, <strong>in</strong> denen Söhne lebenslang zur Herkunftsfamilie‚gehören’” (vgl. Nauck 1997, S. 169). Die psychologisch-affektiveBedeutung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>, wie z.B. „wegen der Freude, e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d heranwachsenzu sehen”, wird <strong>in</strong> der gebildeten städtischen Mittelschicht eher alsGr<strong>und</strong> für e<strong>in</strong> weiteres K<strong>in</strong>d genannt als bei der Landbevölkerung. Beipsychologisch-affektiven Motiven könnte die Zahl der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> ger<strong>in</strong>g se<strong>in</strong><strong>und</strong> das Geschlecht des K<strong>in</strong>des ke<strong>in</strong>e bedeutende Rolle spielen, dennweibliche Nachkommen können genauso viel psychologische Befriedigungverschaffen wie männliche. Diese Beweggründe, der Wunschnach mehreren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n, vor allem aber der Wunsch nach Söhnen, s<strong>in</strong>d<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> größtenteils beibehalten worden. Vor allem die ökonomischenGründe, wie z.B. dass die Söhne im Alter für die Eltern sorgenwerden, haben aufgr<strong>und</strong> der ger<strong>in</strong>gen Verdienstmöglichkeiten, des ger<strong>in</strong>genAnspruchs auf Rente <strong>und</strong> Sozialhilfe sowie länger anhaltenderArbeitslosigkeit wieder an Bedeutung gewonnen. Bernhard Nauck stellt<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Untersuchung aus dem Jahr 2000, <strong>in</strong> der deutsche, italienische,griechische, vietnamesische <strong>und</strong> türkische Eltern <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nachdem Wert der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> befragt wurden, fest, dass <strong>in</strong>sbesondere bei tür-kischen Eltern – im Gegensatz zu anderen Nationalitäten – die ökono-


42 43misch-utilitaristischen Werte am höchsten s<strong>in</strong>d. Ähnlich verhält es sichbei arabischstämmigen Familien.3.2. ErziehungsstileUntersuchungen zu den Erziehungsstilen türkischer Familien <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>von Alamdar-Niemann (1992), Merkens (1997) <strong>und</strong> Toprak (2002)kommen trotz unterschiedlicher Methoden zu ähnlichen Ergebnissen.Die rigiden Erziehungsstile, „der religiös-autoritäre Erziehungsstil”(Alamdar-Niemann), „der autoritäre Erziehungsstil” (Merkens) <strong>und</strong>„der konservativ-spartanische Erziehungsstil” (Toprak), liegen <strong>in</strong> muslimischenFamilien häufiger vor als die offenliberalen Erziehungsstile,wie z.B. „verständnisvoll-nachsichtig” (Toprak), „permissiv-nachsichtig”(Alamdar-Niemann) oder „permissiv” (Merkens). Die <strong>in</strong> verschiedenenStudien entwickelten Charakteristika <strong>in</strong> der familiären Erziehung sollenim Folgenden überblicksartig skizziert werden.Monika Alamdar-Niemann befragte <strong>in</strong> ihrer Untersuchung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 108Haupt- <strong>und</strong> Gesamtschüler <strong>und</strong> deren Eltern mit Hilfe e<strong>in</strong>es standardisierten(schriftlichen) Fragebogens <strong>und</strong> kommt zu dem Ergebnis, dasses bei türkischen Familien drei Arten von Erziehungsstilen gibt, nämlichden permissiv-nachsichtigen Erziehungsstil, den leistungsorientiert-e<strong>in</strong>fühlsamenErziehungsstil <strong>und</strong> den religiös-autoritären Erziehungsstil.Der permissiv-nachsichtige Erziehungsstil: Alamdar-Niemann setzt alsIndiz für diesen Erziehungsstil die Skalen „Permissivität” <strong>und</strong> „Nachsicht”e<strong>in</strong>. „Die Erziehungse<strong>in</strong>stellungen drücken <strong>in</strong> diesem Typ e<strong>in</strong>e permissiveHaltung der Eltern gegenüber dem K<strong>in</strong>d aus. Permissivität heißt <strong>in</strong> dieserUntersuchung, dass Eltern gegenüber ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e generöse <strong>und</strong>weniger restriktive Erziehung favorisieren, d.h. dem K<strong>in</strong>d genügend Freiraumfür die <strong>in</strong>dividuelle Haltung lassen. Dem entspricht auch e<strong>in</strong>e weitereDimension dieses Faktors, die durch nachsichtige <strong>und</strong> verständnisvolleE<strong>in</strong>stellung der Eltern <strong>in</strong> der Erziehung charakterisiert werden kann”(Alamdar-Niemann 1992, S. 219).Der leistungsorientiert-e<strong>in</strong>fühlsame Erziehungsstil: Bei diesem Erziehungsstilbilden die Items „Erziehungsvermögen” <strong>und</strong> „Leistungsorientierung”die Skalen. „Hier machen sich Bildungs- <strong>und</strong> Leistungsvorstellungender Eltern bemerkbar, die aber nicht zum völligen E<strong>in</strong>engen desK<strong>in</strong>des führen. Auf e<strong>in</strong>fühlsame Weise [...] wird an dem emotionalenZustand <strong>und</strong> den Interessen des K<strong>in</strong>des entlang e<strong>in</strong>e bildungs- <strong>und</strong> leistungsmotivierteE<strong>in</strong>stellung der Eltern ausgeübt” (Alamdar-Niemann1992, S. 220-221).Der religiös-autoritäre Erziehungsstil: Hier stehen die Items „religiöseOrientierung” <strong>und</strong> „autoritäre Rigidität” im Vordergr<strong>und</strong>. „Die religiöseMotivation des elterlichen Erziehungsstils steht bei diesem Typ im Vordergr<strong>und</strong>.Deutlich werden die religiösen Aktivitäten <strong>und</strong> religiösen Anschauungenvom K<strong>in</strong>d abverlangt bzw. erwartet (Moscheebesuch etc.).Diese Religiosität f<strong>in</strong>det im Zusammenhang mit autoritärer E<strong>in</strong>stellungder Eltern gegenüber dem K<strong>in</strong>d statt, so dass die Kontrolle der k<strong>in</strong>dlichenAktivitäten <strong>in</strong>strumentellen Charakter erhält” (Alamdar-Niemann 1992,S. 221).Hans Merkens unterscheidet vier unterschiedliche Erziehungsstile: denautoritären, den emotionalen, den permissiven <strong>und</strong> den Erziehungsstil„Zusammengehörigkeit”. Er befragte <strong>K<strong>in</strong>der</strong> der Schulklassen sieben bisneun <strong>und</strong> deren gleichgeschlechtliche Elternteile 1 mit Hilfe e<strong>in</strong>es standardisierten(schriftlichen) Interviews <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, We<strong>in</strong>garten <strong>und</strong> Friedrichshafen.Um den autoritären Erziehungsstil zu erheben, stellt Merkensfolgende vier Fragen: ob der jeweilige Elternteil ke<strong>in</strong>en Widerspruchdulde, sich aufrege, wenn das K<strong>in</strong>d widerspricht, gegenüber Forderungendes K<strong>in</strong>des gr<strong>und</strong>sätzlich hart bleibe <strong>und</strong> das Abweichen von elterlichenAnordnungen nicht dulde. Für die Erhebung zum emotionalen Erziehungsstilwurden die Probanden danach gefragt, ob der jeweilige Elternteildem K<strong>in</strong>d ansehe, wenn ihm etwas gut gefällt, wenn es traurig ist,sowie beim K<strong>in</strong>d erkenne, wenn etwas nicht stimmt. Für den permissivenErziehungsstil wurden folgende Items erhoben: nachgeben, wenn dasK<strong>in</strong>d im Anschluss an e<strong>in</strong> Verbot um Erlaubnis bettelt; nicht gleich bösese<strong>in</strong>, wenn das K<strong>in</strong>d unpünktlich ist; <strong>und</strong> nicht gleich böse se<strong>in</strong>, wenne<strong>in</strong> Auftrag vom K<strong>in</strong>d vergessen wird. Beim Erziehungsstil Zusammengehörigkeitwurde gefragt, ob der jeweilige Elternteil jede freie M<strong>in</strong>utemit dem K<strong>in</strong>d verbr<strong>in</strong>gt, das K<strong>in</strong>d am liebsten immer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nähe hat<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e vorübergehende Trennung vom K<strong>in</strong>d nur schwer verschmerzenkann.In der Untersuchung von Toprak (2002) wurden qualitative Interviewsgeführt. Hier wurden zwölf Erwachsene nach ihrer subjektiven Me<strong>in</strong>ung<strong>in</strong> Bezug auf ihren Erziehungsstil <strong>und</strong> den Erziehungsstil, den sie erfahrenhaben, befragt. Die Aussagen wurden vergleichend <strong>in</strong>terpretiert. Dabei


44 45konnten drei Erziehungsstile klassifiziert werden: der konservativ-spartanischeErziehungsstil, der verständnisvoll-nachsichtige Erziehungsstil<strong>und</strong> Erziehung zwischen Tradition <strong>und</strong> Moderne. Kriterien dafür warenprimär die Antworten zu Fragen über „Erziehung (Autoritätsstruktur)”,„Religion” <strong>und</strong> „Ehre”. Diese drei Kategorien wurden auch deshalb gebildet,weil beobachtet werden konnte, dass <strong>in</strong> jedem der e<strong>in</strong>zelnen Erziehungsstilez.B. der Wert der Ehe, der Wert der islamischen <strong>und</strong> standesamtlichenEheschließung, die Bedeutung der Religion sowie der arrangiertenEhe unterschiedliche Bedeutung hatten. E<strong>in</strong>en explizit religiösenErziehungsstil, den Alamdar-Niemann festgestellt hat, konnte Toprak(2002) nicht beobachten, wohl aber, dass die Religion <strong>und</strong> die religiöseHaltung der Eltern auf jeden Erziehungsstil e<strong>in</strong>e wesentliche Auswirkunghaben. In der neusten Studie von Toprak (2011) wird die Erziehungstypologieweiter ausdifferenziert.Was man auf der Gr<strong>und</strong>lage der vorgestellten Studien über die Erziehungsstile<strong>in</strong> muslimischen Familien lernt, kann mit den Begriffen Autorität,Zusammengehörigkeit, Nachsichtigkeit <strong>und</strong> Religiosität umschriebenwerden. Hierbei handelt es sich um die Form. Der Inhalt, nämlich diezentralen Erziehungsziele <strong>in</strong> den orientalischen Familien, lässt sich entsprechendableiten.3.3. ErziehungszieleFolgende sechs Erziehungsziele spielen <strong>in</strong> arabisch- <strong>und</strong> türkeistämmigenFamilien e<strong>in</strong>e zentrale Rolle: Respekt vor Autoritäten, Ehrenhaftigkeit,Zusammengehörigkeit, Leistungsstreben, türkische Identität <strong>und</strong>religiöse Identität (vgl. hierzu ausführlich Toprak 2004).Respekt vor AutoritätenDie Erziehung zu Respekt, Gehorsam, Höflichkeit, Ordnung <strong>und</strong> gutemBenehmen hat für die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebenden muslimischen Migrantenimmer noch e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert. Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> werden sehr früh, <strong>in</strong>sbesonderegegenüber ihren Eltern, ihren älteren Geschwistern sowieanderen Verwandten, nach diesen traditionellen Wertvorstellungen erzogen.Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> dürfen ihre Eltern, älteren Geschwister, Onkel, Tantenusw. niemals mit dem Vornamen, sondern mit „anne” (türkisch: Mutter),„baba” (Vater), „abla” (große Schwester), „abi” (großer Bruder), „teyze”(Tante) sowie „amca” (Onkel) ansprechen. 2 Diese Regel gilt auch dann,wenn der Jüngere den Älteren überhaupt nicht kennt, sowie außerhalbder Verwandtschaft. Respekt <strong>und</strong> Gehorsam haben auch Geltung vor denälteren Menschen, die nicht der Verwandtschaft angehören. Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>sollen <strong>in</strong> Gegenwart der Eltern schweigen <strong>und</strong> den Höherstehenden nichtwidersprechen oder <strong>in</strong>s Wort fallen. Auch erwachsene Söhne <strong>und</strong> Töchterdürfen <strong>in</strong> Anwesenheit der Eltern nicht rauchen <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>en Alkohol tr<strong>in</strong>ken.Ziel dieser Erziehung ist es, die familiären B<strong>in</strong>dungen zu festigen<strong>und</strong> e<strong>in</strong>en auf das Funktionieren der Familie gerichteten Orientierungss<strong>in</strong>nfür das gesellschaftliche Leben zu entwickeln.Bedeutung von Respekt <strong>und</strong> Gehorsam <strong>in</strong> muslimisch geprägtenGesellschaftenDie Untersuchungen von Cigdem Kagitcibasi belegen, dass die Erziehungzu Respekt <strong>und</strong> Gehorsam von türkischen Eltern <strong>in</strong> der Türkei oft anerster Stelle genannt wird. 59 Prozent der befragten Mütter geben an,dass das wichtigste Erziehungsziel Respekt <strong>und</strong> Gehorsam sei; bei denVätern ist dieser Prozentsatz leicht höher, er beträgt 61 Prozent. ImGegensatz dazu s<strong>in</strong>d die Werte zum Erziehungsziel „Selbstständigkeit”relativ niedrig: Neunzehn Prozent der Mütter <strong>und</strong> siebzehn Prozent derVäter bezeichnen dieses Erziehungsziel als wichtig (vgl. Kagitcibasi 1996,S. 102). Die niedrigen Prozentsätze beim Erziehungsziel „Selbstständigkeit”können damit begründet werden, dass die Eltern durch dieses Erziehungszieldas familiäre Zusammenleben gefährdet sehen. Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>könnten durch Selbstständigkeit das familiäre Zusammenleben ihren <strong>in</strong>dividuellenInteressen unterordnen.Zwei Beispiele aus dem öffentlichen Leben sollen den Wert des Erziehungsziels„Respekt <strong>und</strong> Gehorsam” verdeutlichen. Da der Lehrer alsErziehungs- <strong>und</strong> Respektsperson betrachtet wird, wird er, sei es auf demLand oder <strong>in</strong> der Stadt, niemals mit dem Vor- oder Nachnamen, sondernmit „hocam” bzw. „ögretmenim” – „me<strong>in</strong> Lehrer” – angesprochen. 3Wenn der Lehrer den Klassenraum betritt, stehen alle Schüler auf <strong>und</strong>begrüßen ihn höflich; <strong>in</strong> Gegenwart des Lehrers rauchen die Schülernicht. Lehrkräfte genießen <strong>in</strong> praktisch allen muslimisch geprägtenGesellschaften e<strong>in</strong>e derart besondere Autorität, dass von den ElternErziehungsmaßnahmen <strong>in</strong> der Schule niemals <strong>in</strong> Frage gestellt werden.Bei Problemen wird die „Schuld” ausschließlich beim K<strong>in</strong>d gesucht<strong>und</strong> entsprechend wird von den Lehrkräften gefordert, alle Erziehungsproblemeeigenmächtig <strong>in</strong> den Griff zu bekommen.


46 47Mangel an „Respekt <strong>und</strong> Gehorsam” <strong>in</strong> der deutschen GesellschaftIm Migrationskontext gew<strong>in</strong>nen die Erziehungsziele „Respekt <strong>und</strong> Gehorsam”mehr Relevanz. Eltern vergleichen das Verhalten ihrer <strong>K<strong>in</strong>der</strong>mit dem der deutschen Peergroup <strong>und</strong> versuchen betont, Respekt vorAutoritäten e<strong>in</strong>zufordern, damit die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> nicht „e<strong>in</strong>gedeutscht” werden.Die meisten arabischen <strong>und</strong> türkischen Eltern teilen die Me<strong>in</strong>ung, dassdie deutschen <strong>Jugendliche</strong>n mit Älteren unhöflich, unfre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong>ohne Respekt umgehen. Die Bewertung der „deutschen” Erziehungszielebasiert meist auf oberflächlichen Beobachtungen <strong>und</strong> Vorurteilen.So werden die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> dom<strong>in</strong>anten Aspekte, wie Individualität,Selbstständigkeit, Eigenverantwortung <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere die gesellschaftlichakzeptierte „Rebellion” <strong>in</strong> der Lebensphase Jugend, als Bedrohungenwahrgenommen. Als unreflektierte subjektive Wahrnehmungen führendiese Bedrohungen dazu, dass die Eltern ihr Erziehungsziel „Respekt vorAutoritäten” viel rigider verfolgen als dies <strong>in</strong> den Herkunftskulturen derFall ist.Es ist durchaus zulässig, den von Soziologen entwickelten Term<strong>in</strong>us dersich selbst erfüllenden Prophezeiung zu gebrauchen: Aus Angst, dassdie eigenen <strong>K<strong>in</strong>der</strong> respektlos werden, wird ihnen weniger „Freiraum”gelassen, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überkomplexen Gesellschaft zu orientieren <strong>und</strong>selbstständig nach Bewältigungsmustern für ihre Lebenskonstellationzu suchen, wodurch Überforderungssituationen wahrsche<strong>in</strong>licher werden<strong>und</strong> damit auch Respektlosigkeit <strong>und</strong> Ungehorsam. Dies wiederum bestätigtaus der Perspektive vieler Migrantenfamilien, dass die (zu) offene„deutsche” Gesellschaft daran schuld sei, <strong>und</strong> führt dazu, dass nochstärker an den hergebrachten Werten <strong>und</strong> Traditionen festgehaltenwird, wodurch dieses Muster sich festigt <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>em schwer zu durchbrechendenMisstrauen auf beiden Seiten führt.Erziehung zur EhrenhaftigkeitDas Erziehungsziel „Ehrenhaftigkeit” spielt im Erziehungsalltag muslimischerEltern neben Erziehung zu „Respekt vor Autoritäten” e<strong>in</strong>e zentraleRolle. Den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n werden zwei Sachverhalte beigebracht: Erstens dieBeachtung der Grenze zwischen Innen- <strong>und</strong> Außenwelt <strong>und</strong> zweitens diegeschlechtsspezifische Ausrichtung der Ehre.Dem Ursprung nach trennt e<strong>in</strong>e klare Grenze den Bereich der Familie,das „Innen”, von der Außenwelt. Auch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> wird von denMigrantenfamilien stark darauf geachtet, diese Innen-Außen-Grenzenicht zu überschreiten. Vor allem den Jungen wird sehr früh vermittelt,auf etwaige Grenzüberschreitungen sofort <strong>und</strong> entschieden zu reagieren,z.B. ihre (jüngeren) Geschwister zu verteidigen, um nach außen e<strong>in</strong> geschlossenesBild zu vermitteln. Die Familie wird als E<strong>in</strong>heit konstruiert,so dass jedes Problem bei der Außendarstellung der Familie zu e<strong>in</strong>emkollektiven Problem der Familie wird. Konflikte <strong>in</strong> der Familie könnendurchaus existieren, allerd<strong>in</strong>gs müssen diese <strong>in</strong>nerhalb der Familie <strong>und</strong>nach außen unsichtbar bleiben. Diese Intimsphäre spielt <strong>in</strong> muslimischenGesellschaften e<strong>in</strong>e derart zentrale Rolle, dass sich bis heute – selbst <strong>in</strong>sozialistischen Diktaturen – der Staat aus dem Familienleben gänzlichheraushält. Entsprechend s<strong>in</strong>d Institutionen, die mit dem Jugendamtoder Beratungsstellen vergleichbar s<strong>in</strong>d, meist speziell auf Waisenk<strong>in</strong>der<strong>und</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mit traumatischen Kriegserfahrungen spezialisiert.Da <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nicht das Umfeld mit den sozialen Regelwerken existiert,wie beispielsweise <strong>in</strong> der Türkei, im Libanon oder <strong>in</strong> Marokko, <strong>und</strong>der Schutz der e<strong>in</strong>zelnen Familienmitglieder das oberste Pr<strong>in</strong>zip ist,sche<strong>in</strong>t dieses Erziehungsziel stärker betont zu werden als dies <strong>in</strong> derfamiliären Erziehung <strong>in</strong>nerhalb den Herkunftsgesellschaften notwendigwäre. E<strong>in</strong> Unterschied zu den Herkunftsgesellschaften besteht u.a. dar<strong>in</strong>,dass die sozialen Kontroll<strong>in</strong>stanzen, wie z.B. umfangreiche Familiennetzwerke,solidarische Nachbarschaftshilfe, stabile Dorfgeme<strong>in</strong>schaften,fehlen. Und aus der Sicht der Migrantenfamilien ersche<strong>in</strong>en ethnischdifferenzierte Stadtbezirke als durchaus s<strong>in</strong>nvoll, da hier genau jeneKontroll<strong>in</strong>stanzen wirken können, die der Familie Arbeit „abnehmen”.Was im mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs als „benachteiligte Wohnverhältnisse”klassifiziert wird, kann aus der Perspektive der „Benachteiligten”durchaus attraktiv se<strong>in</strong>.Das Erziehungsziel „Ehrenhaftigkeit” regelt nicht nur die Beziehung nach<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> außen, sondern es bestimmt auch das Verhältnis zwischenMann <strong>und</strong> Frau. Wenn vom Erziehungsziel Ehrenhaftigkeit gesprochenwird, bedeutet dies für den Mann <strong>und</strong> die Frau ganz Unterschiedliches.Ehrenhaftigkeit bedeutet für die Frau, dass sie bis zur Ehe ihre Jungfräulichkeitbewahrt <strong>und</strong> während der Ehe treu bleibt. Die Ehrenhaftigkeite<strong>in</strong>es Mannes hängt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie vom Verhalten se<strong>in</strong>er Frau ab. Ehreimpliziert, dass die Männer die Sexualität der Frauen (Ehefrauen, Töchter


48 49<strong>und</strong> Schwestern) kontrollieren. Namus (Ehre) verlangt von der Fraukorrekte Bekleidung sowie korrektes Verhalten im Umgang mit fremdenMännern. Weiterh<strong>in</strong> verlangt namus von der Frau, ke<strong>in</strong>e vor- oder außerehelichenBeziehungen e<strong>in</strong>zugehen. Verstößt sie dagegen, so muss derMann handeln, um se<strong>in</strong>e eigene Ehre wieder herzustellen. Im äußerstenFall verstößt der Mann se<strong>in</strong>e Frau bzw. die Familie ihre Tochter.Die beiden Elemente der Ehrenhaftigkeit, die Innen-Außen-Grenze <strong>und</strong>das Verhältnis zwischen Mann <strong>und</strong> Frau, ergänzen sich also <strong>und</strong> bildenden F<strong>und</strong>us e<strong>in</strong>er Lebensweise, die – abgesehen von Ehre – auch Ordnung<strong>und</strong> Berechenbarkeit garantiert. Aus dieser Berechenbarkeit generierenmuslimische Familien e<strong>in</strong> Gefühl von Zugehörigkeit.Erziehung zur ZusammengehörigkeitDas Erziehungsziel Zusammengehörigkeit – im Türkischen birlik veberaberlik – wird von den Eltern sehr stark betont <strong>und</strong> zielgerichtet andie <strong>K<strong>in</strong>der</strong> weitervermittelt. Wie beim Erziehungsziel Ehrenhaftigkeitdeutlich wurde, ist das Zusammenhalten <strong>in</strong>nerhalb der Familie vor allem<strong>in</strong> der Migration von zentraler Bedeutung, weil das <strong>in</strong> den Herkunftsgesellschaftenübliche stabile soziale Netzwerk <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nichtvorhanden ist. Das Erziehungsziel Zusammengehörigkeit hat beispielsweise<strong>in</strong> der Türkei ke<strong>in</strong>e zentrale Bedeutung (vgl. Kagitcibasi 1996).Dieses Erziehungsziel ist im Zuge der Migration entstanden, weil dieEltern dadurch die <strong>in</strong>nerfamiliäre B<strong>in</strong>dung, die sie <strong>in</strong> der Migration gefährdetsehen, verfestigen wollen.Die Betonung von Zugehörigkeit kann gewissermaßen als Ausgrenzungsmechanismuswirken, da bestehende Differenzen verstärkt werden. Dabeiwird die Zugehörigkeit auf zwei Ebenen dargestellt: e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Unterscheidungzwischen Familie <strong>und</strong> Nicht-Familie, zum anderen <strong>in</strong> der Unterscheidungzwischen ethnischer Community <strong>und</strong> den Anderen. Auch wenn„die Anderen” bzw. „die Deutschen” nicht negativ konnotiert werden,offenbart sich dadurch e<strong>in</strong>e klare Differenzierung, die von den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n<strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n als manifeste Tatsache wahrgenommen wird, da siee<strong>in</strong>e analoge Unterscheidung von der Mehrheitsgesellschaft täglich erleben.Erziehung zum Lernen <strong>und</strong> LeistungsstrebenDie Erziehung zum Lernen <strong>und</strong> zum Leistungsstreben hat historische <strong>und</strong>sozioökonomische Ursachen. In den türkischen Schulbüchern wurden<strong>und</strong> werden die Erfolge der Osmanen mit Leistung <strong>und</strong> Leistungsstrebender e<strong>in</strong>zelnen Bürger des Osmanischen Reiches begründet. 4 Es gibt vieleH<strong>in</strong>weise aus Überlieferungen, die darauf h<strong>in</strong>deuten, dass Diener mitLeistung <strong>und</strong> Fleiß <strong>in</strong> hohe Positionen gelangt s<strong>in</strong>d. Heute wird der Untergangdes Osmanischen Reiches damit begründet, dass man bei der Besetzungder Ämter nicht mehr das Pr<strong>in</strong>zip Leistung angewendet hatte.Dies wird seit Gründung der Republik immer wieder hervorgehoben,um die armen Bevölkerungsschichten zum Lernen <strong>und</strong> zur Leistung zumotivieren.Doch die eigentlichen Gründe für e<strong>in</strong>e ausgeprägte Lern- <strong>und</strong> Leistungsorientierungs<strong>in</strong>d eher sozioökonomischer Natur. Seit Ende der 1950er<strong>und</strong> Anfang der 1960er Jahre wurde <strong>in</strong> der Türkei die Industrialisierung<strong>und</strong> die Technisierung der Landwirtschaft vorangetrieben. Seit dieser Zeitwird den privatwirtschaftlichen Initiativen sowohl <strong>in</strong> der Landwirtschaftals auch <strong>in</strong> der Industrie Vorrang gegenüber dörflichen Kooperativene<strong>in</strong>geräumt. Davon haben die Groß<strong>in</strong>vestoren auf dem Land profitiert.Landflucht, weit verbreitete Armut <strong>und</strong> Massenarbeitslosigkeit warendie Folgen. Der Bevölkerungsteil, der unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen leidet,strebt zur Abhilfe nach Bildung <strong>und</strong> Leistung. Gerade diese Menschen,die von der Landflucht <strong>und</strong> B<strong>in</strong>nenmigration betroffen waren, s<strong>in</strong>d nach<strong>Deutschland</strong> gekommen, um bessere Lebensbed<strong>in</strong>gungen für ihre Familienzu ermöglichen. Da die Migranten sich hier beim Zugang zu höhererSchulbildung, besseren Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen, Ausbildungsmöglichkeitenetc. benachteiligt fühlen, gew<strong>in</strong>nt das Erziehungsziel Lernen <strong>und</strong> Leistungsstrebenan Bedeutung. Nur durch viel Lernen, Leistungsstreben<strong>und</strong> persönlichen Ehrgeiz s<strong>in</strong>d die Migranten türkischer Herkunft <strong>in</strong> derLage, zu höheren gesellschaftlichen Positionen zu gelangen, so die Argumentation.Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Eltern kaum <strong>in</strong> der Lage, ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> beider Lernentwicklung zu unterstützen. E<strong>in</strong>e Reihe von Studien belegensogar, dass die E<strong>in</strong>stellungen der Eltern e<strong>in</strong>er erfolgreichen Bildungskarriereentgegenstehen (hierzu ausführlich <strong>in</strong> Kapitel 5).


50 51Erziehung zur türkischen bzw. arabischen IdentitätDie Erziehung zum Nationalstolz wird <strong>in</strong> der Türkei sowie <strong>in</strong> den arabischenNationen vom Staat – <strong>in</strong>sbesondere von der Schule – übernommen.Je nach politischem Standpunkt wird dieses Erziehungsziel vonder jeweiligen Familie direkt unterstützt oder latent abgelehnt. In denkurdischen Familien werden z.B. die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> zu diesem Erziehungszielnicht ermutigt. In der Schule sollen h<strong>in</strong>gegen alle <strong>K<strong>in</strong>der</strong> bereits <strong>in</strong> derPrimarstufe zu guten <strong>und</strong> stolzen Patrioten erzogen werden. Bis aufwenige Ausnahmen ist die Unterrichtssprache <strong>in</strong> der Türkei Türkisch,den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n der ethnischen M<strong>in</strong>derheiten, <strong>in</strong>sbesondere den Kurden,ist es untersagt, ihre Muttersprache zu sprechen. Auf das ErziehungszielNationalstolz (also türkische bzw. arabische Identität) wird <strong>in</strong> denCurricula explizit verwiesen: Für den Bereich Gesellschaft <strong>und</strong> Staatdom<strong>in</strong>iert das ‚Richtziel’ Patriotismus, verb<strong>und</strong>en mit dem ‚Stolz, Sohne<strong>in</strong>es großen Volkes <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er ehrenvollen Geschichte’ zu se<strong>in</strong>. Da dieErziehung zur herkunftsspezifischen Identität <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nicht vonder Schule forciert wird, übernehmen die Eltern diesen Auftrag selbst –auch hier also e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Herkunftsgesellschaft unübliche Funktionder Familie. Der Motivation zu diesem Erziehungsziel liegt die Angst derEltern zugr<strong>und</strong>e, ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> würden sich von den türkischen Wert- <strong>und</strong>Normvorstellung entfernen: „Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> dürfen nicht vergessen, wohersie kommen”. Um die eigene Identität zu untermauern, sprechen dieEltern mit ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n die Herkunftssprache <strong>und</strong> verherrlichen die eigeneNation teilweise dramatisch. Heimaturlaube, verb<strong>und</strong>en mit Verwandtschaftsbesuchen,gehören zum jährlichen Sommerprogramm <strong>und</strong> derTürkischunterricht <strong>in</strong> den Schulen wird rege besucht, obwohl er auf freiwilligerBasis angeboten wird. Allerd<strong>in</strong>gs berichten <strong>Jugendliche</strong> häufig,dass die Erwartungen an die „Heimat”, die durch das <strong>in</strong> den Familiengezeichnete Bild der Herkunftsgesellschaft entstanden s<strong>in</strong>d, enttäuschtwerden. Die Idealisierung der Herkunft ist e<strong>in</strong>e typische Form des Umgangsmit der Migrationsgeschichte, führt bei dem Nachwuchs aber nichtselten zu Irritationen.Die Eltern <strong>und</strong> ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> fühlen sich durch den Zuzug von Spätaussiedlernbenachteiligt. Aus Sicht der Eltern bekommen die Spätaussiedlermehr Rechte, obwohl sie – im Gegensatz zu ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n – kaumDeutsch können. Als weiteren Gr<strong>und</strong> für den Rückzug <strong>in</strong> die türkischeIdentität kann das Scheitern der beruflichen <strong>und</strong> sozialen Integration<strong>in</strong> die hiesige Gesellschaft genannt werden. Und es s<strong>in</strong>d die Erfolgetürkischer Sportler, zum Beispiel im Fußball, mit denen sich die türkischen<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong>tensiv identifizieren (hierzu Kapitel 5).Erziehung zur religiösen IdentitätDie fünf Säulen des Islam – die zentralen religiösen Pflichten – haben <strong>in</strong>der arabischen <strong>und</strong> türkischen Bevölkerung e<strong>in</strong>en sehr unterschiedlichenStellenwert. Die offizielle türkische Statistik weist über 98 Prozent derBevölkerung als Muslime aus. Da seitens der türkischen Regierung ke<strong>in</strong>esystematischen Erhebungen vorliegen, wird <strong>in</strong> der Literatur die Zahl derAleviten geschätzt. Man muss davon ausgehen, dass e<strong>in</strong> Fünftel bis e<strong>in</strong>Viertel der türkischen Bevölkerung alevitischen Glaubens ist, d.h. dasssie den Islam anders <strong>in</strong>terpretieren als die Mehrheit der Muslime <strong>und</strong>viele Regeln des Islams nicht befolgen.Der Erhalt der religiösen Identität ist religiösen türkischen Eltern <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> besonders wichtig. Auch hier fällt die Schule als Erziehungs<strong>in</strong>stanzweg <strong>und</strong> die Angst, dass die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> ihrer Religion entfremdetwürden, ist groß. E<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er Religionsunterricht, wie er <strong>in</strong> deutschenSchulen angeboten wird, reicht türkischen Eltern nicht aus. Für die sunnitischenEltern geht es <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um das Vermitteln der islamischenPflichten. Weil diese Unterweisung <strong>in</strong> der Schule nicht gewährleistet wird,erfahren die Koranschulen, die meistens auch unter Kulturvere<strong>in</strong>en geführtwerden <strong>und</strong> oft <strong>in</strong> dunklen H<strong>in</strong>terhöfen untergebracht s<strong>in</strong>d, starkenZulauf.3.4. Religiöse PflichtenSeit Mitte der 1990er Jahre ist deutlich zu beobachten, dass die türkischen<strong>Jugendliche</strong>n, die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> geboren <strong>und</strong> aufgewachsen s<strong>in</strong>d,ihre türkische Identität selbstbewusster <strong>und</strong> selbstverständlicher nachaußen präsentieren. Die Gründe für das verstärkte Betonen der türkischenIdentität können <strong>in</strong> vier Punkten konkretisiert werden: Die ausländerfe<strong>in</strong>dlichenÜbergriffe auf türkische Migranten <strong>in</strong> den 1990er Jahrenhaben das Gefühl des Zusammenhalts <strong>in</strong>nerhalb der Geme<strong>in</strong>de verstärkt.Die religiösen Pflichten der sunnitischen Muslime s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>haltungder fünf Säulen des Islam; diese s<strong>in</strong>d sahada (die Annahme des Islamals Religion), salat (das täglich fünfmal zu verrichtende Ritualgebet),zakat (Almosensteuer), saum (das Fasten im Monat Ramadan) sowiehaddsch (die Wallfahrt nach Mekka). Im Folgenden werden die fünfSäulen skizziert.


52 53Glaubensbekenntnis (sahada): Die Annahme des islamischen Glaubensvollzieht sich mit dem Aussprechen des Glaubensbekenntnisses: „ashaduan la ilaha illa llah waashadu anna Muhammadan rasulullah” – <strong>in</strong>s Deutscheübersetzt: „Ich bezeuge, dass es ke<strong>in</strong>en Gott außer Allah gibt, <strong>und</strong>ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist” (vgl. Kreiser/Wielandt 1992, S. 132). Wer dieses Glaubensbekenntnis bei vollemBewusstse<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> Anwesenheit von Zeugen ausspricht, gilt als Muslim.Es ist ke<strong>in</strong> weiterer schriftlicher E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Glaubensgeme<strong>in</strong>schaftnotwendig.Beten (salat): Das wichtigste religiöse Ritual der Muslime ist das Beten.Jeder Muslim ist verpflichtet, fünfmal am Tag zu beten. Aufgr<strong>und</strong> derErwerbstätigkeit der Bevölkerung können nicht alle dieses Ritual e<strong>in</strong>halten.Aber m<strong>in</strong>destens das Freitagsgebet (mittags), das mit dem sonntäglichenKirchengang der Christen verglichen werden kann, soll e<strong>in</strong>gehaltenwerden. In den meisten muslimisch geprägten Gesellschaften istder Freitag – äquivalent zum Sonntag – der e<strong>in</strong>zige freie Tag der Woche.Wallfahrt (haddsch): Durch das koranische Gebot (vgl. Sure 3, 97) istjeder volljährige Muslim verpflichtet, m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Lebendie Wallfahrt nach Mekka zu verrichten, sofern er bzw. sie die f<strong>in</strong>anziellenMöglichkeiten hierzu hat.Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> werden <strong>in</strong> der Schule sehr früh zu diesen Pflichten erzogen.Darüber h<strong>in</strong>aus ist der Religionsunterricht an allen Primar- <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>arstufenbis zum Erwerb des Abiturs Pflichtfach. Der Inhalt des Religionsunterrichtsbesteht oft aus e<strong>in</strong>er Verherrlichung des Islam, aufdie Inhalte der anderen Religionen wird selten e<strong>in</strong>gegangen. Es kommtauch vor, dass während des Religionsunterrichts gebetet wird. VieleSchulen haben e<strong>in</strong>en Klassenraum <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Gebetsraum umgewandelt.Auch die M<strong>in</strong>derheiten müssen häufig an diesem vom Staat angeordnetenReligionsunterricht teilnehmen. E<strong>in</strong>e auf die Bedürfnisse der M<strong>in</strong>derheitenk<strong>in</strong>derbezogene Teilung des Religionsunterrichts – wie etwa <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>: Religionsunterricht für Katholiken, Protestanten, Muslime –gibt es <strong>in</strong> den meisten muslimischen Gesellschaften nicht.Die Almosensteuer (zakat): Almosenpflichtig ist jeder volljährige, ges<strong>und</strong>e<strong>und</strong> freie Muslim, dessen wirtschaftliche Lage e<strong>in</strong>e Abgabe erlaubt.Der Ertrag der Steuer ist für die Armen bestimmt. Sie wird <strong>in</strong> der religiösenLiteratur als verdienstvolles Werk des Muslims bezeichnet. Heutewird beispielsweise zum Opferfest e<strong>in</strong> Hammel geschlachtet <strong>und</strong> m<strong>in</strong>destense<strong>in</strong> Drittel des Fleisches an die Armen <strong>und</strong> Bedürftigen als Almosenverteilt. Die Almosen werden <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> Moscheen gesammelt.Fasten (saum): Das E<strong>in</strong>halten des Fastenmonats Ramadan wird <strong>in</strong> allenmuslimischen Gesellschaften streng e<strong>in</strong>gehalten. Es handelt sich wahrsche<strong>in</strong>lichum die <strong>in</strong> der Religionspraxis am umfangreichsten umgesetztereligiöse Pflicht. Die Gläubigen s<strong>in</strong>d verpflichtet, e<strong>in</strong>en Monat lang vomSonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang nicht zu essen, nicht zu tr<strong>in</strong>ken,nicht zu rauchen <strong>und</strong> auch ke<strong>in</strong>en Geschlechtsverkehr zu haben.Dabei s<strong>in</strong>d Sonnenaufgang <strong>und</strong> -untergang am jeweiligen Aufenthaltsortentscheidend – also abhängig von Jahreszeit <strong>und</strong> Breitengrad. Am Abend– zwischen Sonnenuntergang <strong>und</strong> Sonnenaufgang – wird geme<strong>in</strong>samgespeist. Der Ramadan wird nach e<strong>in</strong>em Monat mit dem vier Tage anhaltenden„id al-fitr” (Fest des Fastenbrechens) abgeschlossen. Im Türkischenwird das Fest auch als „seker bayrami” (Zuckerfest) bezeichnet.Besonderheiten bei AlevitenDie Aleviten unterscheiden sich von den Sunniten <strong>in</strong> der Türkei, aberauch <strong>in</strong> vielen arabischen Ländern durch e<strong>in</strong> eher freiheitliches Religionsverständnis.In den politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Ause<strong>in</strong>andersetzungenartikulieren sie sich mit aufklärerischen bis h<strong>in</strong> zu l<strong>in</strong>ksrevolutionärenPositionen (vgl. Vorhoff 1995, S. 3). Alamdar-Niemann (1992)def<strong>in</strong>iert die Stellung der Aleviten <strong>in</strong> der Türkei entsprechend folgendermaßen:„Der wesentliche Unterschied zwischen Sunniten <strong>und</strong> Alevitenliegt jedoch nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Tatsache, daß die Aleviten e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheitenstellung<strong>in</strong>nerhalb der türkischen Muslime e<strong>in</strong>nehmen: die Trennungsl<strong>in</strong>ieverläuft auf Gr<strong>und</strong> der Zugehörigkeit der Aleviten zu der schiitischenGlaubensrichtung des Islams.” (Alamdar-Niemann 1992, S. 266-267)Die Aleviten darf man jedoch nicht mit den überwiegend im Iran auftretendenSchiiten gleichsetzen. E<strong>in</strong> Teil der Aleviten versteht sich nichte<strong>in</strong>mal dem Islam zugehörig. Die Aleviten <strong>in</strong> der Türkei s<strong>in</strong>d im gesamtenLand zerstreut, aufgr<strong>und</strong> ihres M<strong>in</strong>derheitenstatus leben sie <strong>in</strong> der Regelzurückgezogen <strong>und</strong> viele geben öffentlich nicht zu, dass sie alevitischenGlaubens s<strong>in</strong>d. „Aleviten betonen im Unterschied zu sunnitischen Ansichtengerne, daß der Mensch nicht Sklave Gottes, sondern autonom<strong>und</strong> selbstverantwortlich sei. Zentral ist daher das Streben nach Selbst-


54 55erkenntnis <strong>und</strong> Selbstbeherrschung. Hieraus erklärt sich der hohe Stellenwert,der Bildung e<strong>in</strong>geräumt wird, sowie e<strong>in</strong>e große Aufgeschlossenheitgegenüber den Entwicklungen der Moderne.” (Vorhoff 1995, S. 7)Das ethische Ideal, re<strong>in</strong>en Herzens zu se<strong>in</strong>, ist ebenso wichtig wie Wissen<strong>und</strong> Erkenntnis. Es geht nicht darum, den Glauben <strong>in</strong> Gebetsfloskeln aufder Zunge zu tragen, sondern im Herzen <strong>und</strong> <strong>in</strong> den Taten gegenüber denMitmenschen zu zeigen (vgl. Vorhoff 1995). Folgende Merkmale fallen beiAleviten gr<strong>und</strong>sätzlich auf:Der Begriff der EhreE<strong>in</strong>ige wichtige Begrifflichkeiten, die das familiäre Zusammenleben jenach Familientyp auf unterschiedliche Art <strong>und</strong> Weise prägen <strong>und</strong> auch<strong>in</strong> der Praxis von zentraler Bedeutung s<strong>in</strong>d, sollen hier erläutert werden.Ehre be<strong>in</strong>haltet drei vone<strong>in</strong>ander untrennbare Werte. Die drei Bestandteile– seref, namus, <strong>und</strong> saygi – werden zunächst def<strong>in</strong>iert <strong>und</strong> erläutert,damit anschließend die Komplexität des Ehrbegriffes besser verstandenwerden kann.• Aleviten haben ke<strong>in</strong>e Moscheen, sondern Gebetshäuser.• Es herrscht größere Gleichberechtigung zwischen Mann <strong>und</strong> Frau.• Sie haben ke<strong>in</strong>e Vorbeter, sondern „Dedes”, <strong>in</strong>offizielle Vorstände derReligionsgeme<strong>in</strong>schaft.• Es gibt e<strong>in</strong>e heterodoxe, am mystischen Islam orientierte Inter-pretation des Islam (der Koran wird nicht wörtlich ausgelegt).Auch die alevitische M<strong>in</strong>derheit betont den Stellenwert der religiösenIdentität, macht aber diese Identität nicht von den fünf Säulen des Islamabhängig. Sie betonen verstärkt, dass die Vermittlung der religiösenWerte die Sache der Familie sei <strong>und</strong> im schulischen Kontext lediglichallgeme<strong>in</strong>e Informationen über alle Religionen, vom Christentum bis zumIslam, zu vermitteln seien.Es sollte deutlich geworden se<strong>in</strong>, dass die Form des Auslegens <strong>und</strong>des Auslebens islamischer Religiosität im H<strong>in</strong>blick auf die Vielfalt mitder christlichen Religion vergleichbar ist. Da <strong>in</strong> diesem Kontext e<strong>in</strong>ekomplexere Beschreibung des Islams <strong>und</strong> des religiösen Alltags derMuslime nicht möglich ist, sei allen Interessierten das Buch Der Islam<strong>und</strong> die westliche Welt von Abdel Theodor Khoury ans Herz gelegt. 53.5. Soziale Werte <strong>und</strong> die Rollen von Mann<strong>und</strong> FrauSeref = Ansehen: Neben dem Wert der Ehre e<strong>in</strong>er der am häufigstenvon türkischen Eltern <strong>und</strong> auch <strong>Jugendliche</strong>n verwendete Begriff. E<strong>in</strong>Interviewpartner von Pfluger-Sch<strong>in</strong>dlbeck (1989) def<strong>in</strong>iert seref folgerichtig:„[...] wenn e<strong>in</strong> Mann, e<strong>in</strong> Mensch, gegenüber se<strong>in</strong>en Mitmenschen,gegenüber se<strong>in</strong>er Umgebung gute Dienste leistet, z.B. ihnenhilft, ihnen <strong>in</strong> Notzeiten zur Seite steht, so erhöht sich das Ansehendieses Mannes. Solch ehrbare Männer werden serefli kisiler (Männermit Ehre, Ansehen) genannt. [...] Daneben gibt es Menschen, die dasEigentum der anderen Menschen nicht achten, deren namus verletzen,lügen, stehlen <strong>und</strong> schlecht über sie sprechen. Man nennt diese serefsiz<strong>in</strong>sanlar (Menschen ohne Ehre, Ansehen)” (Pfluger-Sch<strong>in</strong>dlbeck 1989,S. 47).In dem Zitat ist zwar von seref (Ansehen) des Mannes die Rede, allerd<strong>in</strong>gswird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Passage betont, dass seref auch für die Fraudie gleiche Bedeutung hat: „[...] es gibt bei Männern solche mit seref,bei Frauen solche mit seref <strong>und</strong> bei beiden solche ohne seref, d.h., dieseVergehen werden von Männern <strong>und</strong> Frauen begangen” (ebd.). Wie ausder Def<strong>in</strong>ition hervorgeht, kann sich der Wert von seref durch gute Tatenerhöhen <strong>und</strong> durch schlechte Taten verr<strong>in</strong>gern. Männer <strong>und</strong> Frauen habengleichermaßen seref <strong>und</strong> diese steht <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung zu namus. Zusammenfassendkann gesagt werden, dass seref wie namus mühsam durchgute Taten erarbeitet werden müssen.Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Funktionslogik traditionellermuslimischer Familien s<strong>in</strong>d die Zusammenhänge zwischen denwirksamen Werten <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Rollen von Mann <strong>und</strong>Frau. Zunächst wird der Begriff der Ehre beschrieben, um davon ausgehenddie Geschlechterrollen an den Funktionen von Vater <strong>und</strong> Mutterzu erläutern.Namus = Ehre: Werner Schiffauer (1983) unterteilt namus <strong>in</strong> zwei verschiedeneBereiche, Innen <strong>und</strong> Außen: „Dem Wert der Ehre (namus)unterliegt die Vorstellung e<strong>in</strong>er klaren Grenze, die Innen, den Bereichder Familie, vom Außen, der – männlichen – Öffentlichkeit des Dorfesoder der Stadt, scheidet. Die Ehre e<strong>in</strong>es Mannes ist beschmutzt, wenndiese Grenze überschritten wird, wenn jemand von außen e<strong>in</strong>en Ange-


56 57hörigen der Familie, womöglich e<strong>in</strong>e der Frauen, belästigt oder angreift.Als ehrlos (namussuz) gilt der Mann, der dann nicht bed<strong>in</strong>gungslos <strong>und</strong>entscheidend den Angehörigen verteidigt” (Schiffauer 1983, S. 65).Auf Beibehaltung dieser Grenze nach <strong>in</strong>nen <strong>und</strong> außen wird auch beiden türkischen Familien <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> großen Wert gelegt, woraufim vorherigen Beitrag verwiesen wurde. Ehre (namus) regelt nicht nurdie Beziehung nach <strong>in</strong>nen <strong>und</strong> außen, sondern sie bestimmt auch dasVerhältnis zwischen Mann <strong>und</strong> Frau. Wenn von namus gesprochenwird, bedeutet dies – wie bereits erläutert – für den Mann <strong>und</strong> die FrauUnterschiedliches. Namus bedeutet für die Frau, dass sie bis zur Eheihre Jungfräulichkeit wahrt <strong>und</strong> sich außerhalb der Ehe keusch verhält.Die namus e<strong>in</strong>es Mannes hängt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie vom Verhalten se<strong>in</strong>erFrau ab. Ehre im S<strong>in</strong>ne von namus impliziert, dass die Männer dieSexualität der Frauen (Ehefrauen, Töchter <strong>und</strong> Schwestern) kontrollieren.Pfluger-Sch<strong>in</strong>dlbeck beschreibt diese Beziehung folgendermaßen: „Vonder Frau verlangt die namus korrekte Bekleidung, korrektes Verhaltenim Umgang mit fremden Männern, ke<strong>in</strong>e vor- oder außereheliche Beziehungenusw. Handelt sie dem zuwider, so muß der Mann, um se<strong>in</strong>eeigene Ehre wieder herzustellen, sie im äußersten Fall verstoßen”(Pfluger-Sch<strong>in</strong>dlbeck 1989, S. 63).E<strong>in</strong> Mann kann se<strong>in</strong>e Ehre auch aus eigenem Verschulden verlieren, <strong>in</strong>demer, obwohl er Frau <strong>und</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong> hat, nach anderen (verheirateten)Frauen schaut. In muslimischen Gesellschaften ist das Urteil von Verwandten<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, aber auch von Bekannten <strong>und</strong> Nachbarn vongroßer Wichtigkeit. Die wesentliche Bedeutung für die Familienehre hatgerade nicht die <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>stellung <strong>und</strong> Selbstbestätigung der e<strong>in</strong>zelnenFamilienmitglieder, sondern das von außen, d.h. von der sozialen Umweltwahrgenommene Ersche<strong>in</strong>ungsbild. Konsequenz dieser Priorität ist, dassnicht die persönliche E<strong>in</strong>stellung gegenüber diesen Normen zählt, die sichja kaum kontrollieren lässt, sondern alle<strong>in</strong> die Handlung. Die Bewahrungder Regeln wird von der Dorfgeme<strong>in</strong>schaft oder <strong>in</strong> Großstädten (auch <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>) von der Nachbarschaft kontrolliert.saygi = Respekt, Achtung: E<strong>in</strong> anderer wichtiger Begriff <strong>in</strong> türkischenMigrantenfamilien ist der der Achtung (saygi). Die Verwandten dürfennicht alle<strong>in</strong>e mit dem Vornamen angesprochen werden, sondern mitOnkel, Tante oder großer Bruder. Diese Anreden werden <strong>in</strong> der Regelauch für ältere, fremde, nicht der Familie angehörende Personen verwendet.Die Ausführungen von Schiffauer (1983) bekräftigen diesen Sachverhalt:„Der Sohn schuldet dem Vater, die Frau dem Mann, der jüngere Bruderdem älteren Achtung. Sie kann ganz unterschiedlich bek<strong>und</strong>et werden:Der Höherstehende darf nicht mit dem Vornamen angesprochen, ihm darfnicht widersprochen werden, <strong>in</strong> der Öffentlichkeit muss man <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erGegenwart schweigen, man darf nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gegenwart rauchen oder(Alkohol) tr<strong>in</strong>ken” (Schiffauer 1983, S. 67).In der Erziehung spielen also Ehre, Ansehen, Respekt <strong>und</strong> Autorität e<strong>in</strong>eentscheidende Rolle. Gleichzeitig leben diese Werte von e<strong>in</strong>er ausgeprägtenAußenkontrolle der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> durch Erwachsene bzw. Ältere. DieseWerte s<strong>in</strong>d geschlechtsspezifisch differenziert, so dass daraus jene Merkmaleentspr<strong>in</strong>gen, die später – beispielsweise <strong>in</strong> der Schule – zu Problemenführen können: Jungen dürfen demnach toben, selbstbewusst auftretenusw., Mädchen sollen stiller se<strong>in</strong>, sich bescheiden geben usw. Inder Zeit der Adoleszenz ist es auch <strong>in</strong> muslimischen Ländern durchausüblich, dass <strong>Jugendliche</strong> über die Stränge schlagen. Dieses Fehlverhaltenzieht kaum größere Konsequenzen mit sich, wenn daraufh<strong>in</strong> der „falsche”Weg verlassen wird <strong>und</strong> die Traditionen, Werte <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere die bed<strong>in</strong>gungsloseLoyalität wieder ernst genommen werden.Vater <strong>und</strong> MutterDie Mutter hat die Funktion der Erzieher<strong>in</strong> <strong>und</strong> leitet den Haushalt. Sie istdafür verantwortlich, dass die Familie nicht ause<strong>in</strong>anderbricht <strong>und</strong> dasssowohl die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> als auch der Ehemann versorgt werden. Außerdem istsie dafür zuständig, die sozialen Kontakte der Familie, auch jene zu derVerwandtschaft im Herkunftsland, aufrechtzuerhalten. Das soziale Netzwerkbezieht sich dabei überwiegend auf die Verwandtschaft <strong>und</strong> dieNachbarschaft. Selten werden Fre<strong>und</strong>schaften über größere Entfernunggepflegt. Die Logik der Familie drückt sich hier auch deutlich aus: Es gehtum engen <strong>und</strong> auch sichtbaren Zusammenhalt <strong>und</strong> Zusammengehörigkeit.Die Mutter drückt dabei die zentralen Merkmale von Weiblichkeitaus, die <strong>in</strong> diesem traditionellen Kontext mit Fürsorge, Pflege <strong>und</strong> Wohlbef<strong>in</strong>denknapp umschrieben s<strong>in</strong>d. Sie ist für die Erziehung verantwortlich,d.h. ihr werden Vorwürfe gemacht, wenn das Verhalten der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>nicht den Erwartungen entspricht. Und dies gilt trotz der Tatsache, dasssie bei der Erziehung der Jungen nur teilweise die Hauptverantwortungträgt. Älteste Töchter übernehmen schon früh weite Teile der Mutterrollefür die jüngeren Geschwister.


58 59In konservativ-traditionellen Kreisen ist es <strong>und</strong>enkbar, dass e<strong>in</strong>e Fraue<strong>in</strong>e Scheidung anstrebt, weil sie dadurch nicht nur den Mann im Stichließe, sondern auch die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>. Die Erhaltung der Ehe ist das obersteGebot, etwaige Motive für e<strong>in</strong>e Scheidung s<strong>in</strong>d nachrangig. Gewaltanwendung,Missbrauch oder Ehebruch würden zwar gr<strong>und</strong>sätzlichals Gründe für e<strong>in</strong>e Scheidung akzeptiert. Aber diese werden von denFrauen selbst aus Schamgefühl nur selten angeführt.Der Vater ist das Familienoberhaupt. Se<strong>in</strong>e Funktion ist die des Präsidenten,der die Regierung nach außen darstellt <strong>und</strong> das letzte Wort nach<strong>in</strong>nen beansprucht. Er symbolisiert den traditionellen Ausdruck vonMännlichkeit: Er ist der Familienernährer <strong>und</strong> beschützt die Familie voräußeren E<strong>in</strong>flüssen. Er zeigt unentwegt Stärke <strong>und</strong> Dom<strong>in</strong>anz. DiesesErsche<strong>in</strong>ungsbild muss er auch dann aufrechterhalten, wenn er ratlos ist,also nicht weiß, wie auf e<strong>in</strong>e unbekannte Situation zu reagieren ist. Ermuss e<strong>in</strong>e schnelle Entscheidung treffen, die er mit Überzeugung vertritt<strong>und</strong> die von niemandem <strong>in</strong> Frage gestellt wird. Der Vater machtsich <strong>in</strong> der Erziehung rar, so dass se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> Erziehungsfragen vone<strong>in</strong>er erhöhten Priorität zeugt. Bei den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n leuchten dann alle Alarmsignale.Erst ab dem dritten Lebensjahr übernimmt er Aufgaben derErziehung von Jungen. Und diese übernehmen im Jugendalter Aufgabendes Vaters, allerd<strong>in</strong>gs nur dort, wo die Kontroll- <strong>und</strong> Schutzfunktion desVaters der Familie <strong>und</strong> den weiblichen Familienmitgliedern gegenübernicht wirken kann (beispielsweise <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Peergroup).Insgesamt steht die Kollektivität im Vordergr<strong>und</strong>. Das Familienbild istdurch Autorität <strong>und</strong> Respekt gekennzeichnet. Die traditionellen Wertes<strong>in</strong>d die zentrale Währung des familiären Lebens. Das wird auch <strong>in</strong> derBetrachtung der geschlechtsspezifischen Erziehung <strong>und</strong> der dar<strong>in</strong> sichtbarenArbeitsteilung zwischen Vater <strong>und</strong> Mutter deutlich.tragen für ihr Verhalten bzw. ihre Haltung ke<strong>in</strong>e Verantwortung. Diesist im Vorschulalter, zwischen drei <strong>und</strong> sechs Jahren, nur noch bed<strong>in</strong>gtder Fall. Das K<strong>in</strong>d erfährt die bis dah<strong>in</strong> schützende Familie nun auch alsstrafende Instanz. Mit der physischen <strong>und</strong> kognitiven Entwicklung desK<strong>in</strong>des verändert sich gleichzeitig das Verhalten der Eltern, das nun deutlichgeschlechtsspezifisch ausgerichtet ist.Jungenerziehung im VorschulalterDa sich der Junge zunächst – bis zur Pubertät – <strong>in</strong> der häuslichen Umgebungaufhält, s<strong>in</strong>d die wichtigsten Bezugspersonen die Mutter <strong>und</strong>gegebenenfalls die älteste Schwester. Bereits im Vorschulalter ist dasVerhältnis des Jungen zur Mutter bzw. zur Schwester zwiespältig: E<strong>in</strong>erseitsist es noch von körperlicher Zärtlichkeit geprägt, andererseits wirdvon beiden Seiten diese Körperlichkeit abgelehnt. Diese ambivalenteHaltung spiegelt sich ebenso <strong>in</strong> der Autorität von Mutter <strong>und</strong> Schwesterwider. Die kle<strong>in</strong>en Aufforderungen, wenn er z.B. die Mutter zum E<strong>in</strong>kaufenbegleiten, etwas aus der Küche holen oder se<strong>in</strong>e Geschwisterrufen soll, appellieren an den freien Willen des Jungen. Er soll ihnenzwar nachkommen, aber außer e<strong>in</strong>em Tadel geschieht ihm – sollte ersich verweigern – nichts. Diese Aufforderungen werden häufig von e<strong>in</strong>erArt von Vorlob begleitet. Um den Aufforderungen nachzukommen, wirdder Junge zwar von der Mutter ermahnt, sie lässt ihn jedoch gewähren<strong>und</strong> setzt ihre Autorität ihm gegenüber kaum durch. Dieses Gewährenlassenführt beim Jungen teilweise zur Verunsicherung h<strong>in</strong>sichtlich derAutorität se<strong>in</strong>er weiblichen Bezugspersonen <strong>und</strong> auf der Handlungsebenezu Provokationen diesen gegenüber. Es sei h<strong>in</strong>zugefügt, dass der Jungeim Extremfall auf se<strong>in</strong>e Mutter e<strong>in</strong>schlagen, sie treten <strong>und</strong> boxen kann,ohne mit ernsthafter Bestrafung rechnen zu müssen; er wird lediglichermahnt.3.6. Geschlechtsspezifische ErziehungEltern arabischer <strong>und</strong> türkischer Herkunft <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> teilen sich dieerzieherische Diszipl<strong>in</strong>ierung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> der Regel nach Geschlechtauf: Die Mutter unterweist die Tochter <strong>und</strong> der Vater den Sohn. Währendder Vater auch die Tochter diszipl<strong>in</strong>ieren kann <strong>und</strong> sie ihm gehorchenmuss, kann sich der Sohn den Anforderungen der Mutter widersetzen.Im frühk<strong>in</strong>dlichen Alter (von 0-3 Jahren) wird nicht unmittelbar zwischenden Geschlechtern unterschieden. Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>, sei es Mädchen oder Junge,In dieser Zeitspanne beg<strong>in</strong>nt der Vater, den Sohn zu unterweisen: Erweist ihn <strong>in</strong> den männlichen Aufgabenbereich e<strong>in</strong>; er achtet auf se<strong>in</strong>Verhalten, bestraft <strong>und</strong> lobt ihn. Im Gegensatz zur Mutter, deren Aufgabensich zunehmend auf Fürsorge sowie Rückhalt beschränken, wird derSohn vom Vater <strong>in</strong> allen Bereichen gefordert: „Während der Sohn denAnsprüchen des Vaters gerecht werden muß, bleibt die Beziehung zurMutter davon unbelastet, die zudem das Erziehungsmittel der körperlichenZüchtigung, wenn sie damit droht, auf den Vater überträgt <strong>und</strong>kaum selbst ausführt” (Pfluger-Sch<strong>in</strong>dlbeck 1989).


60 61Mädchenerziehung im VorschulalterIn der Vorschulphase hält sich das Mädchen <strong>in</strong> der unmittelbaren Näheder Mutter <strong>und</strong> der Schwester auf, die weiterh<strong>in</strong> die Hauptbezugspersonendes Mädchens s<strong>in</strong>d. Der Aufenthaltsort des Mädchens ändert sichnicht, der räumliche Bezug bleibt das Haus <strong>und</strong> die nähere Umgebung.Mädchen kommen mit anderen Haushalten <strong>und</strong> deren Familienmitgliedernerst dann <strong>in</strong> Kontakt, wenn sie von der Mutter zum Besuch beiVerwandten oder Nachbarn mitgenommen werden. Im Gegensatz zumJungen werden die Kontakte des Mädchens über die Mutter vermittelt<strong>und</strong> beziehen sich primär auf die Verwandtschaft sowie die Nachbarschaft.Während die Mutter den Jungen bei der Neuorientierung ammännlichen Geschlecht ohne Strenge unterstützt, wird der gleiche Prozessbeim Mädchen durch die Festlegung der weiblichen Geschlechterrollemit mütterlicher Rigidität begleitet. Hier muss das Mädchen denAufforderungen der Mutter zur Mithilfe im Haushalt folgen. Die Autoritätder Mutter ist unangreifbar <strong>und</strong> die Mutter bestraft das Mädchen, wennes nicht Gehorsam leistet. In dieser Phase führt die Tochter leichte Hausarbeitensporadisch aus.Weiterh<strong>in</strong> soll das Mädchen lernen, sich <strong>in</strong> Anwesenheit anderer ruhigzu verhalten <strong>und</strong> nicht zu sprechen, außer es wird etwas gefragt. DieMutter-Tochter-Beziehung ist kaum von körperlicher Zärtlichkeit geprägt,so dass das Mädchen selten von der Mutter auf den Schoß genommen<strong>und</strong> zärtlich umarmt <strong>und</strong> geküsst wird. Zudem wird jedem Mädchenpr<strong>in</strong>zipiell die Fürsorge für jüngere Geschwister übertragen; diese Verantwortungwird dem Jungen nicht übertragen. Wenn die Tochter dieseFürsorge nicht nach den Vorstellungen der Mutter erfüllt, bestraft dieMutter sie dafür. Die Autorität des Vaters besteht unangetastet <strong>und</strong> istaufgr<strong>und</strong> der relativ großen sozialen Distanz <strong>und</strong> den Pr<strong>in</strong>zipien der Achtungüber die der Mutter gestellt.Jungenerziehung ab dem SchulalterAuch wenn die Mutter <strong>und</strong> die ältere Schwester noch die Hauptbezugspersonendes Jungen s<strong>in</strong>d, wird die Zuordnung zum Vater forciert: DerJunge beg<strong>in</strong>nt z.B. den Vater zu begleiten. Außerhalb des Hauses suchtsich der Junge Fre<strong>und</strong>e, die ihm gleichwertig s<strong>in</strong>d. Der Junge erfährt hierdas Verhalten, das später für die Beziehung der Männer untere<strong>in</strong>andercharakteristisch ist. Der Junge lernt über die Orientierung am männlichenGeschlecht nicht nur das engere familiäre Umfeld, sondern auch dessennähere Umgebung kennen.Im mittleren Alter zwischen sechs <strong>und</strong> neun Jahren verfestigt sich diefamiliäre Erziehung, <strong>und</strong> weitere Differenzierungen der Rollenmusterwerden erlernt. Die Zuordnung des Jungen zum männlichen Geschlechtwird <strong>in</strong>tensiviert, die Hauptkontaktperson des Jungen wird der Vater.Durch diese ständige Begleitung des Vaters erlernt der Junge alle außerhäuslichenTätigkeiten.Die Rolle der Mutter konzentriert sich auf das körperliche Wohlbef<strong>in</strong>densowie auf den Bereich der Hygiene; die Beziehung ist somit weiterh<strong>in</strong>auf Fürsorge <strong>und</strong> Bedürfniserfüllung beschränkt. Die Mutter tritt erstdann als Erziehungsperson <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung, wenn sich der Junge im Hausaufhält. Im Gegensatz zur Autorität des Vaters bleibt jedes Urteil derMutter angreifbar.Mädchenerziehung ab dem SchulalterBei Konflikten zwischen Mutter <strong>und</strong> Tochter schaltet sich der Vater ofte<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem er den Konflikt durch e<strong>in</strong>en lauten Befehl beendet. In vielenFällen droht die Mutter dem Mädchen mit dem Vater, überträgt aber dieDiszipl<strong>in</strong>ierungsmaßnahmen nicht auf den Vater, sondern führt dieseselbst durch. In dieser Phase der Erziehung dehnt sich die Erziehungskompetenzder Mutter <strong>und</strong> der älteren Schwester auf alle Verhaltensbereichedes Mädchens aus. Dem Mädchen wird gelehrt, dass sie Verhaltensmuster,z.B. R<strong>in</strong>g- oder Boxkampf, die für Jungen relevant s<strong>in</strong>d, nichtbraucht. Während die Ehre die kämpferische Eigenschaft beim Jungenverlangt, so erfordert sie bei der Tochter Körperbeherrschung, die imZusammenhang mit Scham steht.Da der Vater sich aus der Erziehung der Tochter weitgehend heraushält,ist die Vater-Tochter-Beziehung fre<strong>und</strong>lich. Wenn zwischen Vater <strong>und</strong>Tochter direkte Interaktionen stattf<strong>in</strong>den, dann haben diese den Charaktervon kle<strong>in</strong>eren Hilfestellungen sowie von milden Korrekturen des Verhaltensder Tochter durch den Vater. Bei größeren Problemen mit demVerhalten der Tochter wird der Vater zunächst der Mutter gegenüber e<strong>in</strong>ekritische Position e<strong>in</strong>nehmen <strong>und</strong> erst dann, wenn die Mutter nicht <strong>in</strong> derLage ist, erfolgreich zu <strong>in</strong>tervenieren, wird der Vater energisch e<strong>in</strong>greifen.


62 63In der „mittleren K<strong>in</strong>dheit” bleibt die Tochter an das Haus geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong>führt meist die anfallenden kle<strong>in</strong>en Arbeiten aus (Geschirr spülen, dieMutter beim Kochen unterstützen etc.). Während die Tätigkeiten desJungen von ihm nur e<strong>in</strong>e zeitlich beschränkte Arbeitsleistung erfordern,zielen die Erwartungen an das Mädchen auf e<strong>in</strong>e ständige Bereitschaftzu Arbeit <strong>und</strong> Kooperation. Spätestens <strong>in</strong> der späten K<strong>in</strong>dheitsphasezwischen neun <strong>und</strong> zwölf Jahren sollte sowohl der Junge (Dom<strong>in</strong>anz,Männlichkeit oder Selbstbewusstse<strong>in</strong>) als auch das Mädchen (Schamhaftigkeit,Zurückhaltung, Gehorsamkeit <strong>und</strong> Ehrenhaftigkeit) se<strong>in</strong>e bzw.ihre Rolle <strong>in</strong> der Familienhierarchie erlernt <strong>und</strong> übernommen haben.Geschlechtsspezifische Zielvorstellungen3.7. Gewalt <strong>in</strong> der ErziehungEs ist allgeme<strong>in</strong> bekannt, dass je nach Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong> anderesVerständnis von Gewalt bzw. Gewaltanwendung vorherrscht. E<strong>in</strong>Handlungsrahmen, der beispielsweise für mitteleuropäische Verhältnisseals überzogen betrachtet werden kann, ist womöglich für Mittelmeerländerangemessen <strong>und</strong> legitim. „Menschliches Verhalten ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>engesellschaftlichen Kontext e<strong>in</strong>gebettet, der den Handlungs- <strong>und</strong> Verständnisrahmenabsteckt. Gesellschaftliche Ideologien legen fest, welcheHandlungen erlaubt oder gar erwünscht s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> begünstigen oder verh<strong>in</strong>derndamit auch die E<strong>in</strong>stellung von Aggression <strong>und</strong> Gewalt” (Bierhof/Wagner 1998, S. 4.).Die Hauptziele der Erziehung <strong>in</strong> die Geschlechterrollen s<strong>in</strong>d folgendermaßenzusammenzufassen: Die Jungen werden zum späteren Familienoberhaupt<strong>und</strong> Ernährer der Familie <strong>und</strong> das Mädchen zur späteren Hausfrau<strong>und</strong> Mutter erzogen. Im Gegensatz zum deutschen Erziehungsideal,<strong>in</strong> dem Mädchen dazu ertüchtigt werden sollen, sich selbst versorgenzu können <strong>und</strong> im Notfall sich auch selbst schützen zu können, deutentürkische Erziehungsziele sehr viel markanter auf e<strong>in</strong>e geschlechtsspezifische„Arbeitsteilung”. Das hat dann auch Folgen für die Problemstellungen<strong>in</strong> Beratungssituationen von jungen Frauen (vgl. El-Mafaalani/Toprak2010) <strong>und</strong> jungen Männern (vgl. Toprak/El-Mafaalani 2009).Wie bisher erkennbar wurde, ähneln die Erziehungspraktiken des Großteilsder <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebenden muslimischen Familien jenen Erziehungsformen,die vor über e<strong>in</strong>em Jahrh<strong>und</strong>ert auch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>üblich waren. Dementsprechend spielen Macht <strong>und</strong> Gewalt <strong>in</strong> der Erziehungarabischer <strong>und</strong> türkischer Familien häufig e<strong>in</strong>e besondere Rolle.Die Bestrafung von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n ist für viele traditionell-muslimische Elternoft e<strong>in</strong> gängiges Erziehungsmittel. Strafe dient <strong>in</strong> diesem Normengefügezum e<strong>in</strong>en der Verhaltenskorrektur <strong>und</strong> ist zum anderen e<strong>in</strong> Akt, um dieLoyalität den Eltern <strong>und</strong> Erwachsenen gegenüber wieder herzustellen.Denn Normabweichungen werden als Loyalitätsbruch wahrgenommen.Die an Lebensgewohnheiten <strong>und</strong> Traditionen der ländlich-prov<strong>in</strong>ziellenGebiete des Orients angelehnten Denkmuster können zum größten Teilnicht beibehalten werden, was häufig dazu führt, dass umso stärker anjenen mitgebrachten Werten festgehalten wird, die realisierbar ersche<strong>in</strong>en.Diese Erziehung <strong>in</strong> die Geschlechterrollen gleicht also eher e<strong>in</strong>erWunschvorstellung des traditionellen Migrantenmilieus <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>,als dass sie <strong>in</strong> dieser Form <strong>in</strong> der deutschen Gesellschaft umgesetztwerden könnten. Vielmehr modifizieren die <strong>Jugendliche</strong>n diese traditionellenFormen <strong>und</strong> entwickeln gewissermaßen „neue”, aber aus denalten abgeleitete Denkmuster <strong>und</strong> Orientierungen (vgl. Kapitel 4). Dieseveränderten Denkmuster entsprechen den Vorstellungen der Eltern nurnoch sehr bed<strong>in</strong>gt.Gewaltanwendung ist also e<strong>in</strong> verbreitetes Mittel, um e<strong>in</strong>em unerwünschtenVerhalten der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n zu begegnen (vgl.Krim<strong>in</strong>ologisches Forschungs<strong>in</strong>stitut 2002; Toprak 2004). Die Hauptgründefür Gewaltanwendung seitens der Eltern s<strong>in</strong>d:• die Überforderung bzw. Hilflosigkeit mit Erziehungsfragen,• Verstöße gegen die Erziehungsziele,• Bestrafung als Notwendigkeit <strong>in</strong> der Erziehung,• Wunsch nach mehr Diszipl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Ordnung <strong>und</strong>• mangelnde sprachlich-argumentative Durchsetzungs- <strong>und</strong>Überzeugungskraft (vgl. Toprak 2004).Für die pädagogische Arbeit mit muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n ist es vonentscheidender Bedeutung, dass die pädagogischen Fachkräfte Kenntnisseüber die Bestrafungspraktiken der Eltern besitzen. Dadurch könnendie Fachkräfte die Lebensbed<strong>in</strong>gungen der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> besser nachvollziehen<strong>und</strong> bewusster e<strong>in</strong>e gewaltfreie Erziehung fördern.


64 65Befragten Eltern ist es meistens nicht e<strong>in</strong>mal bewusst, dass sie Gewaltanwenden, wenn sie ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> bestrafen. Psychische Gewaltanwendung,wie z.B. „Androhung von Schlägen” oder „Anschreien, Beschimpfen,Beleidigen” ist <strong>in</strong> türkischen Familien sehr gängig, wird aber nichtals Gewaltanwendung verstanden. Eltern, die systematisch ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong>schlagen, gibt es <strong>in</strong> jedem Kulturkreis <strong>und</strong> <strong>in</strong> jedem Milieu. Es ist <strong>in</strong> diesemKontext wichtig zu betonen, dass es Misshandlungen von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n<strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n auch bei türkischstämmigen Eltern <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> gibt,dies aber nicht die Regel darstellt. Im Folgenden sollen die gängigstenBestrafungspraktiken vorgestellt werden.OhrfeigeOhrfeige – im Türkischen tokat – ist die gängigste Form der Bestrafung,die von körperlicher Gewaltanwendung <strong>und</strong> Züchtigung gekennzeichnetist. Der Stellenwert e<strong>in</strong>er tokat <strong>in</strong> der Erziehung ist zentral <strong>und</strong> wird nichtals Gewalt def<strong>in</strong>iert. Die meisten türkischen Eltern teilen die Me<strong>in</strong>ung,dass „e<strong>in</strong>, zwei Ohrfeigen <strong>in</strong> der Erziehung ke<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d schaden würden”.Die schädigende Bedeutung wird aber wie oft unterschätzt. Insbesonderepsychische Folgen häufiger physischer Strafen werden <strong>in</strong> traditionellenMilieus nicht erkannt. Es muss zudem hervorgehoben werden, dassh<strong>in</strong>ter der e<strong>in</strong>fachen Ohrfeige <strong>in</strong> der Regel ke<strong>in</strong>e Systematik liegt. Vielmehrresultiert diese Art von Gewaltanwendung <strong>in</strong> der Regel aus Hilflosigkeit<strong>und</strong> fehlenden Konfliktlösungsstrategien der Eltern. Hier kannalso durchaus von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>konsistenten Erziehungsverhalten gesprochenwerden.Androhung von SchlägenDie Androhung von Schlägen ist e<strong>in</strong>e Vorphase zur Ohrfeige <strong>und</strong> wirdsehr oft angewandt, um zunächst den Vollzug e<strong>in</strong>er Ohrfeige oder weitererSchläge zu verh<strong>in</strong>dern. Das Androhen von Schlägen hat meist e<strong>in</strong>enunverb<strong>in</strong>dlichen Charakter, weil es eher e<strong>in</strong>e Redensart ist, d.h. Schlägewerden unüberlegt, unverb<strong>in</strong>dlich <strong>und</strong> <strong>in</strong>flationär angedroht, ohne ernsthaftdah<strong>in</strong>ter zu stehen <strong>und</strong> unmittelbar konsequent e<strong>in</strong>zusetzen, wenndas K<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> Verhalten nicht korrigiert. Es s<strong>in</strong>d auch nonverbale Formender Gewaltandrohung möglich. Beispielsweise ist es <strong>in</strong> arabischen Familienweit verbreitet, dass der Vater se<strong>in</strong>en Hausschuh ablegt, ihn nebensich auf dem Boden liegen lässt <strong>und</strong> dabei dem K<strong>in</strong>d – <strong>in</strong> der Regel demSohn – <strong>in</strong> die Augen sieht. Damit wird alle<strong>in</strong> durch Körperhandlungen <strong>und</strong>Mimik signalisiert, dass – wenn das K<strong>in</strong>d nicht tut, was von ihm erwartetwird – „mit dem Pantoffel gleich etwas passiert”. Allerd<strong>in</strong>gs wird auchdiese Androhung meist nicht umgesetzt <strong>und</strong> das K<strong>in</strong>d wird „lediglich” angeschrien,wenn es trotzdem nicht tut, was es tun soll.Die <strong>in</strong>flationär angewendete Gewaltandrohung <strong>in</strong> der Erziehung ohneunmittelbare Konsequenz verliert den Bedrohungscharakter <strong>und</strong> die<strong>K<strong>in</strong>der</strong> gehen damit spielerisch um, ohne Angst zu haben. InkonsequentesHandeln <strong>in</strong> der <strong>in</strong>nerfamiliären Interaktion ist ohneh<strong>in</strong> für die <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong> lebenden türkischen Familien e<strong>in</strong> sehr ausgeprägtes Verhaltensmerkmal(vgl. Kagitcibasi 1996).Mit der „Heimat” drohen bzw. <strong>in</strong> das Herkunftsland br<strong>in</strong>genBei sehr großen Verstößen <strong>und</strong> Fehlverhalten wird den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n damitgedroht, <strong>in</strong> die Türkei zu Verwandten gebracht zu werden. E<strong>in</strong>e Übersiedlungder <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> die Türkei erfolgt zwar <strong>in</strong> den seltensten Fällen.Aber es gibt immer wieder Beispiele dafür, dass die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> zeitweise <strong>in</strong>die Türkei gebracht werden, um mehr Diszipl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Ordnung zu lernen.<strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>, die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> geboren <strong>und</strong> sozialisiert s<strong>in</strong>d,haben große Schwierigkeiten, sich <strong>in</strong> der Heimat der Eltern zurechtzuf<strong>in</strong>den,<strong>in</strong>sbesondere im schulischen Kontext, weil der Unterricht dortsehr autoritär <strong>und</strong> auf das Auswendiglernen ausgerichtet ist. Die Elterndrohen vorsätzlich, die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> die Türkei zu br<strong>in</strong>gen, um die Angst der<strong>K<strong>in</strong>der</strong> zu schüren, damit das gewünschte Verhalten erfolgt.Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> werden <strong>in</strong> der Tat auch <strong>in</strong> die Türkei gebracht, wenn es großeSchwierigkeiten <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> gibt, wie z.B. Straffälligkeit oder dasNichterreichen des gewünschten Bildungsabschlusses. Sie werden <strong>in</strong>der Regel wieder nach <strong>Deutschland</strong> geholt, um nicht das Aufenthaltsrechtzu gefährden. Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> sollen <strong>in</strong> vielen Fällen für immer <strong>in</strong> die Türkeigehen, aber wegen mangelnder Perspektiven <strong>in</strong> der Türkei kehren siewieder nach <strong>Deutschland</strong> zurück. Die Drohung mit der Heimat f<strong>in</strong>det auch<strong>in</strong> arabischen Familien statt, wird allerd<strong>in</strong>gs deutlich seltener umgesetzt.Bekannt s<strong>in</strong>d jene Fälle, <strong>in</strong> denen arabischstämmige junge Frauen e<strong>in</strong>enzu liberalen Lebensstil – <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> sexueller H<strong>in</strong>sicht – pflegten<strong>und</strong> deshalb zeitweise zu strengen Verwandten <strong>in</strong> die Heimat verbanntwurden.


66 67Beleidigen, Anschreien, BeschimpfenDas Beleidigen, Anschreien <strong>und</strong> Beschimpfen, nicht nur <strong>in</strong> Begleitungvon Ohrfeigen <strong>und</strong> Schlägen, s<strong>in</strong>d gängige Erziehungsmittel, um e<strong>in</strong>eVerhaltensänderung zu bewirken. Beleidigungen beziehen sich <strong>in</strong> denmeisten Fällen auf die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, also Ehre jugendlicherTöchter <strong>und</strong> Söhne. Spätestens <strong>in</strong> der Adoleszenz müssen die<strong>K<strong>in</strong>der</strong> ihre Rollen <strong>in</strong> der Gesellschaft erlernt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>genommen haben.Wenn die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> sich diesen Rollen widersetzen, werden sie als unehrenhafte<strong>K<strong>in</strong>der</strong> beschimpft. Mit dieser gezielten Beleidigung der Ehre wollendie Eltern auf e<strong>in</strong> vorbildliches Rollenverhalten <strong>in</strong> der Öffentlichkeit h<strong>in</strong>wirken.Und sie erreichen damit, dass sehr früh <strong>in</strong> der Sozialisation derEhrbegriff e<strong>in</strong>e Rolle spielt. Es wird nicht an die Vernunft appelliert <strong>und</strong>funktional bzw. überzeugend argumentiert, sondern es wird ausschließlichauf die eigenen Werte Bezug genommen. Diese Werte s<strong>in</strong>d – wiebereits ausgeführt wurde – geschlechtsspezifisch ausdifferenziert.Kontaktabbruch (anschweigen, ignorieren)Wenn die vier o.g. Maßnahmen nicht greifen, neigen viele Eltern dazu,ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> anzuschweigen, zu ignorieren, nicht anzusprechen bzw. nichtwahrzunehmen, um ihren Unmut über ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> zu demonstrieren.Diese psychologische Variante der Bestrafung ist ke<strong>in</strong>e gezielte Maßnahme,sondern resultiert <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie aus e<strong>in</strong>er extremen Hilflosigkeitder Eltern. Wenn die traditionellen Maßnahmen nicht greifen <strong>und</strong> dieverbalen Fähigkeiten der Eltern e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d, um ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mitArgumenten zu überzeugen, ignorieren die Eltern ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong>, weil sieüberfordert s<strong>in</strong>d. Diese subtile Bestrafung ist bei Eltern mit ger<strong>in</strong>gemBildungsniveau äußerst populär <strong>und</strong> wirksam, da die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> verunsicherts<strong>in</strong>d <strong>und</strong> den Dialog – häufig über die Mutter – suchen, denn ihnen istklar, dass die Eltern nun gekränkt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ausgehend von der großenBedeutung von Loyalität <strong>und</strong> Solidarität e<strong>in</strong> solcher Zustand äußerstprekär ist.3.8. ZusammenfassungDie Erziehungsziele <strong>in</strong> den Migrantenfamilien ersche<strong>in</strong>en traditionell <strong>und</strong>zum Teil archaisch. Sie werden im Migrationskontext stetig modifiziert.Dadurch verändert sich das Familienleben <strong>in</strong> jungen Familien – zum<strong>in</strong>destim Vergleich mit Eltern der ersten Generation.Die wichtigsten Erziehungsziele, die von Migranten der zweiten Generationauf ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> übertragen werden, s<strong>in</strong>d von zwei elementarenMotiven gekennzeichnet: der Zusammenhalt der Familie <strong>in</strong> der „Fremde”<strong>und</strong> die persönlichen Erfolge der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>. Da die Erziehung zur türkischenbzw. arabischen Identität sowie zur Religiosität dem persönlichen Fortkommenuntergeordnet wird, haben diese Werte, entgegen der öffentlichenMe<strong>in</strong>ung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>iger Studien, „nur” e<strong>in</strong>en sek<strong>und</strong>ären Charakter.Die für die trotzdem problematische Situation im H<strong>in</strong>blick auf erfolgreiche(Bildungs-)Karrieren der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> wirkenden Interdependenzen werdenim nächsten Kapitel erläutert. Denn auch wenn nicht von e<strong>in</strong>em homogenenErziehungsstil gesprochen werden kann, prägt der autoritäreErziehungsstil <strong>in</strong> arabisch- <strong>und</strong> türkeistämmigen Familien das Elternhandeln,wodurch im Wechselspiel mit den Erziehungsvorstellungen derdeutschen Mehrheitsgesellschaft, <strong>in</strong>sbesondere der Bildungs<strong>in</strong>stitutionen,„Irritationen” entstehen.Die Werte seref, namus <strong>und</strong> saygi – Ehre <strong>und</strong> Achtung – spielen <strong>in</strong> familiärenInteraktionen e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle, weil sie u.a. auch dieRollen der jeweiligen Familienmitglieder def<strong>in</strong>ieren. Diese Werte werdenzwar weitgehend, vor allem von Eltern, positiv bewertet, br<strong>in</strong>gen aberStress <strong>in</strong> der Familie mit sich, weil die Abweichungen sanktioniert werdenmüssen. In Familien, <strong>in</strong> denen beide Elternteile erwerbstätig s<strong>in</strong>d, dasBildungs- <strong>und</strong> Erwerbsniveau ger<strong>in</strong>g ist <strong>und</strong> mehrere <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> schlechtausgestatteten Wohnungen untergebracht s<strong>in</strong>d, werden die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong>der Regel härter sanktioniert. Eltern mit ger<strong>in</strong>gem Bildungsniveau <strong>und</strong>schlechten Sprachkenntnissen – auch <strong>in</strong> der Herkunftssprache – s<strong>in</strong>dnicht <strong>in</strong> der Lage, ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n Sachverhalte stichhaltig zu erläutern<strong>und</strong> zu begründen. Bei hartnäckigem Nachfragen der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> neigen dieseEltern aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus dazu, ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> u.a. mite<strong>in</strong>er Ohrfeige zu „bändigen”. Eltern mit hohem Bildungsniveau s<strong>in</strong>d eherdurch Medien <strong>und</strong> die Öffentlichkeit sensibilisiert, die Erziehung ihrer<strong>K<strong>in</strong>der</strong> offener zu gestalten, <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d bereit, auf Gewalt <strong>und</strong> Restriktionweitgehend zu verzichten. Die frühk<strong>in</strong>dliche bzw. vorschulische Erziehung<strong>in</strong>nerhalb der Familie wird von der überwiegenden Mehrheit der türkischenEltern nicht ernst genommen. In dieser Phase der Erziehungwerden die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> sehr wenig von ihren Eltern gefördert. Die vorschulischeErziehung besteht bei vielen lediglich aus Verboten <strong>und</strong> Tadeln,die wiederum nicht konsequent umgesetzt werden. Es entwickeln sichregelhaft dieselben <strong>in</strong>nerfamiliären Muster: Die Mutter verwöhnt denSohn <strong>und</strong> vernachlässigt emotional die Tochter. Der Vater kümmert sich


68 69erst ab dem dritten Lebensjahr um die Erziehung des Sohnes <strong>und</strong> vernachlässigt<strong>in</strong>tellektuell se<strong>in</strong>e Tochter. Die arabischen <strong>und</strong> türkischenTöchter lernen bereits <strong>in</strong> der Familie, frühzeitig Verantwortung zu übernehmen.E<strong>in</strong> solches Gefühl des Gebrauchtwerdens erfahren Jungenkaum. Ihre Verantwortung beschränkt sich weitgehend auf die Verteidigung<strong>und</strong> Kontrolle (der Ehre) der Schwestern <strong>und</strong> auf die Aufrechterhaltunge<strong>in</strong>es dom<strong>in</strong>anten Ersche<strong>in</strong>ungsbilds. Die Söhne erfahren <strong>in</strong>sgesamtmehr Freiraum, den sie mit ihren Fre<strong>und</strong>eskreisen ausleben. Und sielernen implizit, dass sie weibliche Autorität missachten können. Das istauch der Hauptgr<strong>und</strong>, warum sich (junge) Pädagog<strong>in</strong>nen gegenüberarabisch- <strong>und</strong> türkeistämmigen <strong>Jugendliche</strong>n häufig nicht durchsetzenkönnen.Es kann also festgehalten werden, dass die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em strengen<strong>und</strong> weitreichenden Regelwerk aufwachsen, welches autoritär begleitetwird. Dabei s<strong>in</strong>d die Eltern auf umfangreiche Kontrolle angewiesen –auch außerhalb der Familie. Dadurch wächst die ethnische Community<strong>in</strong> bestimmten Bezirken größerer Städte stark zusammen. Die Werte,die diesen Migranten wichtig s<strong>in</strong>d, können nur geme<strong>in</strong>schaftlich e<strong>in</strong>gehaltenwerden. Diese Geme<strong>in</strong>schaft führt dazu, dass <strong>in</strong> der Nachbarschaftsofort darüber geredet wird, wenn e<strong>in</strong> muslimisches Mädchen mit e<strong>in</strong>emJungen gesehen wurde. Dadurch wird die Ehre der Familie schnell <strong>in</strong>fragegestellt, wodurch sofort auf die Tochter e<strong>in</strong>gewirkt wird. Allerd<strong>in</strong>gs wirdnicht immer schnell <strong>und</strong> konsequent auf Fehlverhalten reagiert. Insbesonderedas elterliche Handeln den Jungen gegenüber ist durch Inkonsistenzgeprägt. E<strong>in</strong>e solche <strong>in</strong>konsistente Erziehung, bei der im Vorausnicht klar wird, welches Vergehen wie (<strong>und</strong> ob überhaupt) geahndet wird,führt zu Verunsicherung <strong>und</strong> letztlich dazu, dass die männlichen <strong>Jugendliche</strong>nkaum <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, sich auf Autoritätspersonen e<strong>in</strong>zustellen,ihr eigenes Handeln im Vorfeld e<strong>in</strong>zuschätzen, Risiken abzuwägen <strong>und</strong>selbstständig ihre Verhaltensweisen zu reflektieren. Selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortgeschrittenenAlter wird erst dann über begangene Fehltritte nachgedacht,wenn sie explizit <strong>und</strong> hart geahndet werden.H<strong>in</strong>zu kommen die bekannten Folgen e<strong>in</strong>er gewaltorientierten Erziehung,nämlich Vermeidungshandeln. E<strong>in</strong> solches Vermeidungshandeln ist dadurchgekennzeichnet, dass das bestrafte Verhalten nur so lange vermiedenwird, wie Kontrolle <strong>und</strong> harte Sanktionen zu erwarten s<strong>in</strong>d.Genau das ist <strong>in</strong> allen Bildungs<strong>in</strong>stitutionen nicht der Fall, was die Erziehungsarbeitenorm erschwert.Jungen haben also zu viele Freiräume <strong>und</strong> orientieren sich hauptsächlichan wertorientierten Männlichkeitsvorstellungen; Mädchen haben zu wenigFreiräume, können dies aber durch das vermittelte Bild von Weiblichkeit<strong>in</strong> ihre Identitätskonstruktion <strong>in</strong>tegrieren. Spätestens ab dem zwölftenLebensjahr werden die Peers (also die Gleichaltrigen) der Hauptbezugspunkt<strong>in</strong> der Sozialisation der <strong>Jugendliche</strong>n.Literaturtipps• Atabay, Ilhami (1998): Zwischen Tradition <strong>und</strong> Assimilation. Diezweite Generation türkischer Migranten <strong>in</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik<strong>Deutschland</strong>. Freiburg.• Pfluger-Sch<strong>in</strong>dlbeck, Ingrid (1989): „Achte die Älteren, liebe dieJüngeren”. Sozialisation türkischer <strong>K<strong>in</strong>der</strong>. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>.• Schiffauer, Werner (1987): Die Bauern von Subay. Das Leben <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em türkischen Dorf. Stuttgart.• Toprak, Ahmet (2002): „Auf Gottes Befehl <strong>und</strong> mit dem Worte des1|2|3|4|5|Propheten ...” Auswirkungen des Erziehungsstils auf die Partnerwahl<strong>und</strong> die Eheschließung türkischer Migranten der zweiten Generation <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>. Herbolzheim.Hiermit ist jeweils das Elternteil geme<strong>in</strong>t, das das gleiche Geschlecht hat wiedas befragte K<strong>in</strong>d. Wenn also e<strong>in</strong> Mädchen befragt wurde, wurde auch se<strong>in</strong>eMutter befragt, bei e<strong>in</strong>em Jungen der Vater.Arabisch: „mama” (Mutter), „baba” (Vater), „chale” bzw. „ameh” (Tantemütterlicher- bzw. väterlicherseits), „chalo” bzw. „amoh” (Onkel mütterlicherbzw.väterlicherseits), „achuih” (Bruder), „uchtih” (Schwester). Ältere Bekanntewerden ebenso nicht mit dem Vornamen angesprochen, sondern mit Onkel(„amoh”) oder Tante („ameh”).Arabisch: „istas” (Lehrer) bzw. „istase” (Lehrer<strong>in</strong>), ohne Vor- oder Nachnamezu erwähnen.Ähnliche Muster lassen sich <strong>in</strong> arabischen Schulbüchern <strong>in</strong> Bezug auf dieBlütezeit des arabischen Großreichs erkennen.Zusätzlich zu Khoury (2001) kann auch Heller/Mosbahi (1998) <strong>und</strong> Schneiders(2010) empfohlen werden.


714. Lebenswelt Peers <strong>und</strong> jugendspezifischeDenkmusterWie bereits angedeutet wurde, sehen die Eltern aus traditionell-muslimischenMilieus <strong>in</strong> Individualität ke<strong>in</strong> besondershervorzuhebendes Ideal. Sie betonen die Geme<strong>in</strong>schaft„Familie” <strong>und</strong> ordnen kollektive Interessen immer über <strong>in</strong>dividuelleBedürfnisse. Sie selbst haben sich stets an diesemPr<strong>in</strong>zip orientiert <strong>und</strong> damit häufig auf persönliche Ziele <strong>und</strong>Bedürfnisse verzichtet. Im Laufe des Sozialisationsprozesseserfahren die Heranwachsenden mehrfach, wie sehr auch sieselbst von diesem Zusammenhalt profitieren konnten. E<strong>in</strong>eTrennung von den Normen <strong>und</strong> Werten der Eltern kommte<strong>in</strong>em Bruch mit der arabischen bzw. türkischen Communitygleich, was mit großen Risiken verb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong> kann.Auf der e<strong>in</strong>en Seite steht also das Bedürfnis nach e<strong>in</strong>er ungewissen<strong>in</strong>dividuellen Entwicklung der Heranwachsenden;auf der anderen Seite steht das Kollektiv, stehen Solidarität<strong>und</strong> Loyalität – <strong>und</strong> nur solange man den traditionellen Pr<strong>in</strong>zipientreu bleibt, können auch die <strong>Jugendliche</strong>n von diesemZusammenhalt profitieren. Bei der Wahl zwischen Freiheit(also: Unsicherheit <strong>und</strong> Individualität) <strong>und</strong> Sicherheit (also:Orientierung <strong>und</strong> Kollektivität) fühlen sich <strong>Jugendliche</strong> häufigüberfordert <strong>und</strong> werden sich für den aus ihrer subjektivenPerspektive verme<strong>in</strong>tlich sicheren Weg entscheiden – wasdurchaus rational se<strong>in</strong> kann.Überforderungstendenzen, Orientierungslosigkeit <strong>und</strong> Des<strong>in</strong>tegration –ausgelöst durch verschärfte „Individualisierungszwänge” <strong>in</strong> der modernenGesellschaft – s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der sozialwissenschaftlichen Literatur gängigeBeschreibungen der Konflikte, mit denen alle <strong>Jugendliche</strong>n heute heranwachsen.Individualisierung geht e<strong>in</strong>her mit zunehmender Freiheit, aberauch abnehmender Sicherheit. Dabei wird betont, dass der Individualisierungsprozessfür <strong>Jugendliche</strong> nur dann positive Züge hat, „wenn dieseAblösung von B<strong>in</strong>dungen nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Vakuum mündet, sondern durchAnerkennungen als moderne Form der Integration ersetzt werden. Des<strong>in</strong>tegrationzeigt sich deshalb gerade <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anerkennungsvakuum;es ist e<strong>in</strong> Ausdruck emotionaler Des<strong>in</strong>tegration, die verunsichernd wirkenmuss. Bleibt Anerkennung aus, kann leicht e<strong>in</strong>e Entwicklung e<strong>in</strong>treten,die traditionelle Form der Integration durch B<strong>in</strong>dung wiederzubeleben”(Heitmeyer u.a. 1998, S. 59). Und für muslimische <strong>Jugendliche</strong> stellendie B<strong>in</strong>dungen zu ihren Communities e<strong>in</strong>en bedeutsamen Orientierungspunktdar, da die Chance, Anerkennung außerhalb dieses Kollektivszu erfahren, ungewiss ist bzw. als unwahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong>geschätzt wird.Weder <strong>in</strong> der Schule, noch <strong>in</strong> anderen Kontexten der Mehrheitsgesellschafterfahren sie Formen der Anerkennung, die mit ihrem Sozialisationsprozesskompatibel s<strong>in</strong>d.Es existieren also bei arabisch- <strong>und</strong> türkeistämmigen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong><strong>Jugendliche</strong>n zwei parallel laufende Anerkennungsmodi: E<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>mehrheitsgesellschaftlich gewünschtes Bild von Männlichkeit <strong>und</strong> Weiblichkeit,welches den <strong>Jugendliche</strong>n mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere<strong>in</strong> der Schule vermittelt wird, andererseits die beschriebenen Geschlechtsbilderdes Herkunftsmilieus. Dies stellt e<strong>in</strong>e enorme Herausforderungfür das e<strong>in</strong>zelne Individuum dar, denn es handelt sich um zweiunterschiedliche Identitäten, zwei verschiedene kulturelle Codes mit zweidivergierenden Geschlechtsrollenbildern, also im wörtlichen <strong>und</strong> metaphorischenS<strong>in</strong>ne um zwei Sprachen, bei denen sich die Heranwachsendenals Sprecher <strong>und</strong> Übersetzer zugleich üben müssen. Diese zu vollziehendenkomplexen Syntheseleistungen zwischen herkunfts- <strong>und</strong>aufnahmelandbezogenen Erwartungen werden um schichtspezifischeProblemstellungen verstärkt. Die Art, <strong>in</strong> der Jungen <strong>und</strong> Mädchen e<strong>in</strong>eMöglichkeit erhalten bzw. erkennen, Anerkennung <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Berufzu erfahren, bestimmt entscheidend mit, <strong>in</strong>wieweit sie die traditionellenDenk- <strong>und</strong> Handlungsmuster aufrechterhalten, verstärken oder den„deutschen Verhältnissen” angleichen. Mit jenen, die sich nicht <strong>in</strong> Schule<strong>und</strong> Beruf etablieren können, befasst sich das folgende Kapitel.


72 73Folgende Indizien können auf e<strong>in</strong>e Überbetonung traditioneller Männlichkeitsbilder<strong>und</strong> Wertvorstellungen h<strong>in</strong>weisen:• E<strong>in</strong>geschränkte verbale Fähigkeiten – schwach ausgeprägter Wortschatz<strong>und</strong> entsprechend e<strong>in</strong>geschränkte soziale Kompetenzen• Ger<strong>in</strong>ge Schul- bzw. Berufsbildung – <strong>in</strong>sbesondere bei Förder- <strong>und</strong>Hauptschülern sowie jenen Schülern, die sich im sogenannten Übergangssystemzwischen Schule <strong>und</strong> Ausbildung bzw. Beruf bef<strong>in</strong>den• Arbeitslosigkeit oder Tätigkeit als Hilfsarbeiter• Eigene Gewalterfahrungen – <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Familie <strong>und</strong> unterPeers• Schwaches Selbstwertgefühl – fehlende authentische Selbstsicherheit<strong>in</strong> unbekannten Situationen• Ke<strong>in</strong>e (eigenen) Hobbys – ke<strong>in</strong>e anregende außerschulische Betätigung,ke<strong>in</strong>e Mitgliedschaft <strong>in</strong> Sport- <strong>und</strong> Musikvere<strong>in</strong>en• Aufenthaltsmilieus – weder Staatsbürgerschaft noch unbefristete AufenthaltsgenehmigungDadurch kommen die <strong>Jugendliche</strong>n nur selten <strong>in</strong> direkten Kontakt mitder Mehrheitsgesellschaft, mit Gymnasiasten <strong>und</strong> Studenten, führenkaum reflektierende Gespräche, hören kaum andere Me<strong>in</strong>ungen <strong>und</strong>können sich entsprechend auch ke<strong>in</strong>e eigene Me<strong>in</strong>ung bilden, über- oderunterschätzen ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> haben dann überzogene bzw. diffuseZukunfts- <strong>und</strong> Berufsvorstellungen. Die Frustrationstoleranz ist kaumausgeprägt, so dass jeder Rückschlag zur Verwerfung der Ziele führt.Man beschäftigt sich dann überwiegend mit „Rumhängen”, wodurch sichdie prekäre Situation weiter verfestigt.Im Laufe des Jugendalters entwickeln sich dann eigene Regelwerke, diezwar aus den Wertvorstellungen der Eltern abgeleitet s<strong>in</strong>d, sich allerd<strong>in</strong>gs<strong>in</strong> Bezug auf Form <strong>und</strong> Intensität deutlich von der Tradition der Elterngenerationunterscheiden. Zunächst soll jedoch gezeigt werden, dasssich die <strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> bestimmten Bereichen auch weiterh<strong>in</strong> den Erwartungender Familie fügen.4.1. Loyalität gegenüber der FamilieSolidarität <strong>und</strong> Loyalität gegenüber den Eltern <strong>und</strong> Familienmitgliedernsowie gegenüber dem Fre<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d die wichtigsten Werte <strong>in</strong> den ethnischenCommunities <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Diese Werte werden im Kontextdes Migrationsprozesses stärker betont <strong>und</strong> verschärft, weil die Familiebzw. der Fre<strong>und</strong> die e<strong>in</strong>zigen Rückzugsgebiete s<strong>in</strong>d, ihnen darf une<strong>in</strong>geschränktvertraut werden. Den sozialen Institutionen (beispielsweiseSchule oder Jugendamt) misstrauen die Migranten auch noch <strong>in</strong> derdritten Generation, weil deren Funktion nicht richtig e<strong>in</strong>geschätzt wird.Solidarität, Loyalität <strong>und</strong> Zusammengehörigkeit <strong>in</strong>nerhalb der Familiebleiben unantastbar, auch wenn es <strong>in</strong>nerhalb der Familie immense Problemegibt, die ohne die Hilfe von außen nicht gelöst werden können.Sich mit den <strong>in</strong>ternen Problemen der Familie an die Beratungsstellenoder an das Jugendamt zu wenden, gilt als Verrat bzw. Loyalitätsbruch,weil das nach außen gerichtete Familienbild dadurch massiv beschädigtwird. Dieses Orientierungsmuster <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Konsequenzen sollen anhandvon zwei Fallbeispielen aus der Praxis präzisiert werden.Fallbeispiel ÜmitDer 17-jährige Ümit ist mehrfach durch Gewalt-, Ladendiebstahl- <strong>und</strong>Drogendelikte straffällig geworden. Während der Beratungsgesprächebei der Jugendgerichtshilfe stellt die zuständige Sozialpädagog<strong>in</strong> fest,dass Ümit auch viele Probleme im Elternhaus hat, wie z.B. Arbeitslosigkeitder Eltern, Alkoholprobleme des Vaters, beengte Wohnverhältnissesowie Schläge seitens des Vaters. Nach reiflicher Überlegung <strong>und</strong> <strong>in</strong> Absprachemit Ümit entscheidet die Sozialpädagog<strong>in</strong>, ihren Klienten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ersozialpädagogisch betreuten Wohngruppe unterzubr<strong>in</strong>gen. Alle Gesprächemit Ümit verlaufen positiv, weil er unbed<strong>in</strong>gt das Elternhaus verlassenmöchte, um eigenverantwortlich <strong>und</strong> selbstständig se<strong>in</strong> Leben zu regeln.Die Sozialpädagog<strong>in</strong> bestärkt Ümit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bestrebung <strong>und</strong> macht ihmMut, den Schritt zu gehen. Es muss „lediglich” e<strong>in</strong> abschließendes Gesprächmit den Eltern durchgeführt werden, weil sie die Erziehungsberechtigtens<strong>in</strong>d. Während des Gespräches, im Beise<strong>in</strong> der Pädagog<strong>in</strong><strong>und</strong> der Eltern, ist Ümit sehr ruhig, er vermeidet den Augenkontakt zuden beiden Elternteilen <strong>und</strong> blickt – immer den Kopf senkend – aufden Boden. Der Vater betont unermüdlich, dass sie als Eltern mit Ümitke<strong>in</strong>erlei Probleme hätten <strong>und</strong> dass die Familie <strong>in</strong>takt sei. Er versteheauch nicht, warum man se<strong>in</strong>en Sohn wegnimmt <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim steckt.


74 75Es gehe ihm zu Hause doch ganz gut, <strong>und</strong> er bekomme alles, was ermöchte. Die Pädagog<strong>in</strong> versucht zwar zu betonen, dass Ümit eigenverantwortlichentschieden hat, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Wohnheim zu gehen, f<strong>in</strong>det aberbeim Vater ke<strong>in</strong> Gehör. Das Gespräch wird hitziger <strong>und</strong> für die Sozialpädagog<strong>in</strong>unproduktiv, weil die Eltern nicht verstehen wollen, dass esfür Ümit besser wäre, von zu Hause wegzukommen. Nach e<strong>in</strong>er Weilemöchte die Pädagog<strong>in</strong> wissen, was Ümits Wunsch ist: Auf die Frage derPädagog<strong>in</strong>, ob er <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Wohnheim e<strong>in</strong>ziehen möchte, sagt Ümit „Ne<strong>in</strong>”.Den Blick auf den Boden richtend, betont Ümit, dass er sich zu Hausewohl fühle <strong>und</strong> dass er zu Hause ke<strong>in</strong>erlei Probleme habe, auch nichtmit den Eltern. Die Pädagog<strong>in</strong> ist zunächst sprachlos, weil Ümit sich ganzanders verhält als im E<strong>in</strong>zelgespräch. Er wirkt auf sie wie ausgewechselt<strong>und</strong> sie kann Ümits Verhalten <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Entscheidung nicht nachvollziehen.Sie betont zwar, dass er eigenständig <strong>und</strong> selbstbewusst wie imE<strong>in</strong>zelgespräch äußern soll, was er möchte, kann den Jungen aber nichtmehr überzeugen.Das Verhalten <strong>und</strong> die Wunschvorstellungen der Gesprächsbeteiligtenkönnen wie folgt <strong>in</strong>terpretiert werden: Für die Eltern, vor allem für denVater, ist es primär von Bedeutung, die Familie als <strong>in</strong>takt <strong>und</strong> funktionsfähignach außen darzustellen. Das Verhalten des Jungen, dass er sichder „Behörde” anvertraut <strong>und</strong> sich gegenüber den Eltern nicht loyal verhält,wird zwar verurteilt, aber nicht <strong>in</strong> der Öffentlichkeit betont. Die<strong>in</strong>ternen Probleme der Familie nach außen preiszugeben, wird als Loyalitäts-<strong>und</strong> Solidaritätsbruch <strong>in</strong>terpretiert, weil dieser Bruch die Familie,<strong>in</strong>sbesondere den Vater, <strong>in</strong> Erklärungsnot <strong>und</strong> Schwierigkeiten br<strong>in</strong>gt.Solidarität impliziert für die Eltern, dass das K<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e eigenen Wünsche<strong>und</strong> Vorstellungen denen der Geme<strong>in</strong>schaft – hier der Familie – unterordnet.Der Sohn der Familie kennt die Wünsche <strong>und</strong> die Vorstellungender Eltern. Der gesenkte Kopf <strong>und</strong> die Vermeidung des Blickkontaktsmit den Eltern während des Gespräches mit der Sozialpädagog<strong>in</strong> zeigene<strong>in</strong>deutig, dass er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma steckt. Die Wünsche <strong>und</strong> Erwartungender Eltern mit se<strong>in</strong>en eigenen <strong>und</strong> denen der Sozialpädagog<strong>in</strong> <strong>in</strong>E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen, fällt ihm sichtlich schwer. Auf der e<strong>in</strong>en Seite musser loyal gegenüber se<strong>in</strong>en Eltern bleiben, aber auch se<strong>in</strong> eigenes Bedürfnisnach Eigenverantwortung nicht aus den Augen verlieren. Als er sieht,dass ihm dieser Spagat aufgr<strong>und</strong> der Frage der Pädagog<strong>in</strong> nicht gel<strong>in</strong>gt,„entscheidet” er sich für die Loyalität gegenüber den Eltern.Dass e<strong>in</strong> junger Mann nach mehr Eigenverantwortung <strong>und</strong> Selbstständigkeitstrebt, ist für die deutsche, akademisch ausgebildete Sozialpädagog<strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit. Schließlich besteht ihr Auftrag als Pädagog<strong>in</strong><strong>und</strong> Vertreter<strong>in</strong> der Institution dar<strong>in</strong>, junge Menschen zur Selbstständigkeit<strong>und</strong> Eigenverantwortlichkeit zu ermuntern. Die Pädagog<strong>in</strong>fühlt sich durch die Vorgespräche mit Ümit schließlich bestärkt. ÜmitsVerhalten im Gespräch versetzt sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Schockzustand, weil sienicht nachvollziehen kann, warum Ümit se<strong>in</strong>e eigenen Wünsche denVorstellungen der Eltern unterordnet. Weiterh<strong>in</strong> beschuldigt die Pädagog<strong>in</strong>die Eltern, <strong>in</strong>sbesondere den Vater, Druck auf se<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d auszuüben<strong>und</strong> damit se<strong>in</strong>e Selbstständigkeit e<strong>in</strong>zuschränken. Sie betont, dass dieEntwicklung zur Selbstständigkeit <strong>in</strong> diesem Alter außerordentlich wichtigsei <strong>und</strong> dass sie stolz auf ihren Sohn se<strong>in</strong> müssten, da er bereits so weitsei.Wie bereits mehrfach angedeutet wurde, sehen die Eltern dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> besondershervorzuhebendes Ideal. Sie betonen die Geme<strong>in</strong>schaft „Familie”<strong>und</strong> ordnen kollektive Interessen immer über <strong>in</strong>dividuelle Bedürfnisse.Unabhängig davon, dass Ümit natürlich weiß, wie se<strong>in</strong>e Eltern denken<strong>und</strong> dass sie von ihm erwarten, se<strong>in</strong>e Bedürfnisse denen der Familieunterzuordnen, s<strong>in</strong>d auch für Ümit die Werte Loyalität <strong>und</strong> Solidaritätvon großer Bedeutung. Im Laufe se<strong>in</strong>es Sozialisationsprozesses hat ermehrfach erfahren, wie sehr auch er selbst von diesem Zusammenhaltprofitieren konnte. Die Trennung von den Eltern kommt zudem e<strong>in</strong>emBruch mit der türkischen Community gleich, was mit großen Risiken fürihn verb<strong>und</strong>en ist. Dieser Risiken wird er sich <strong>in</strong> der Situation mit derSozialpädagog<strong>in</strong> <strong>und</strong> den Eltern bewusst: Auf der e<strong>in</strong>en Seite steht e<strong>in</strong>eFachkraft, die ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen Entwicklung professionell unterstützenmöchte; auf der anderen Seite se<strong>in</strong>e Eltern, die alles für ihn tunwürden, solange er der Familie <strong>und</strong> den traditionellen Pr<strong>in</strong>zipien treubleibt. Bei der Wahl zwischen <strong>in</strong>dividueller Freiheit <strong>und</strong> kollektiver Sicherheitfühlt er sich überfordert <strong>und</strong> wird sich – aus se<strong>in</strong>er Sicht rational –für den „sicheren” Weg entscheiden.Fallbeispiel HavvaHavva ist e<strong>in</strong>e 17-jährige Schüler<strong>in</strong>, die auf e<strong>in</strong>er Gesamtschule denHauptschulabschluss erworben hat. Daraufh<strong>in</strong> hat sie an e<strong>in</strong>em Berufskollegmit dem Schwerpunkt „Wirtschaft <strong>und</strong> Verwaltung” das Berufsgr<strong>und</strong>schuljahrerfolgreich mit der Mittleren Reife abgeschlossen. Sie


76 77ist e<strong>in</strong>e ruhige, zurückhaltende <strong>und</strong> diszipl<strong>in</strong>ierte junge Frau. Ihre Liebl<strong>in</strong>gsfächers<strong>in</strong>d Mathematik <strong>und</strong> Rechnungswesen. Daher wurde ihr beiBerufsberatungsgesprächen mehrfach nahegelegt, e<strong>in</strong>e kaufmännischeAusbildung anzustreben. Ihre Klassenlehrer<strong>in</strong> will ihr frühzeitig dabeihelfen, Bewerbungen zu schreiben. Allerd<strong>in</strong>gs offenbart sich der Lehrer<strong>in</strong>e<strong>in</strong> besonderes Problem: Havva trägt e<strong>in</strong> Kopftuch <strong>und</strong> ist nicht willens,es bei der Arbeit abzulegen. Nach e<strong>in</strong>igem Nachhaken respektiert dieLehrkraft ihre Haltung <strong>und</strong> unterstützt sie dabei, herauszubekommen,welche Ausbildungsbetriebe das Tragen e<strong>in</strong>es Kopftuchs akzeptieren.Die Kontaktaufnahme der Lehrer<strong>in</strong> mit den Betrieben sowie der Kompromiss,e<strong>in</strong> modisches Kopftuch (im Hip Hop-Stil) zu tragen, habendas Unerwartete möglich gemacht: Havva hat gleich zwei Angebote –als E<strong>in</strong>zelhandels- <strong>und</strong> als Bürokauffrau.Die Freude über diesen Erfolg währt allerd<strong>in</strong>gs nicht lange. Havva teiltihrer Lehrer<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige Tage später mit, dass sie es sich anders überlegthätte. Sie möchte ke<strong>in</strong>es der Angebote wahrnehmen. Die Lehrer<strong>in</strong> zeigtsich überrascht <strong>und</strong> sucht das Gespräch mit ihrer Schüler<strong>in</strong>. Nach e<strong>in</strong>igerZeit äußert sich Havva klar <strong>und</strong> deutlich: Nach wie vor will sie die Ausbildungsstelleannehmen, aber ihre Familie, allen voran ihr Vater, unterstütztdiese Entscheidung nicht. Obwohl Havva der Lehrer<strong>in</strong> sagt, dasssich ihr Vater nicht umstimmen lässt, vere<strong>in</strong>bart sie e<strong>in</strong> Beratungsgesprächmit den Eltern.Während des Gesprächs ist Havva sehr ruhig, sie vermeidet den Blickkontaktzu den Eltern <strong>und</strong> starrt mit gesenktem Kopf auf den Boden.Die Lehrer<strong>in</strong> erläutert den Eltern hier zum ersten Mal den gesamtenAblauf der Berufswahl <strong>und</strong> des Bewerbungsprozesses. Der Vater betont,dass sie als Eltern nur das Beste für ihre Tochter wollen <strong>und</strong> dass e<strong>in</strong>esolche Ausbildung nichts für ihre Tochter sei. Sie habe ganz andereNeigungen <strong>und</strong> Talente. Er habe ihr bereits e<strong>in</strong>e Arbeitsstelle besorgt,bei der sie sogar mehr verdiene als <strong>in</strong> der kaufmännischen Ausbildung:als Aushilfe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pflegeheim. Die Lehrer<strong>in</strong> betont, dass Havva daskaufmännische Berufsfeld <strong>in</strong> mehreren Beratungsgesprächen empfohlenwurde <strong>und</strong> dass sie sich mit diesen Tätigkeiten eher identifizieren könne.Zudem müsse sie das Kopftuch nicht ablegen. Als der Vater nun gereizterreagiert, spricht die Pädagog<strong>in</strong> Havva selbst an: „Havva, was sagst dudazu?” Havva guckt kurz ihre Eltern, dann die Pädagog<strong>in</strong> an, senkt denKopf <strong>und</strong> antwortet: „Ne<strong>in</strong>, ich will diese Ausbildung nicht mehr!”.Die Pädagog<strong>in</strong> ist zunächst sprachlos, weil sich Havva ganz anders verhältals im E<strong>in</strong>zelgespräch. Sie wirkt auf sie wie ausgewechselt <strong>und</strong> siekann Havvas Verhalten <strong>und</strong> ihre Entscheidung nicht nachvollziehen. DieLehrer<strong>in</strong> betont zwar, dass Havva eigenständig <strong>und</strong> selbstbewusst wieim E<strong>in</strong>zelgespräch äußern soll, was sie möchte, kann das Mädchen abernicht mehr überzeugen.Das beachtliche Engagement der Lehrkraft hatte ke<strong>in</strong>en Erfolg. Manerkennt auch an diesem Beispiel, dass hier zwei Denkwelten aufe<strong>in</strong>andertreffen,die von Havva nicht synchronisiert werden können. Auch sie entscheidetsich – mit denselben Motiven wie Ümit – der Familie zu folgen.4.2. E<strong>in</strong>e Frage der Ehre: Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong>MännlichkeitDie Fallbeispiele zeigen, dass sich die <strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> Anwesenheit ihrerEltern vollständig den Erwartungen der Eltern anpassen. Dieses Verhaltenist deshalb erstaunlich, weil sie es ke<strong>in</strong>eswegs immer tun. Ümit weiste<strong>in</strong>e enorme krim<strong>in</strong>elle Karriere auf <strong>und</strong> zeigt sich auch der Sozialpädagog<strong>in</strong>gegenüber offen – aus Sicht der Eltern gilt dies als illoyal. Havvawill ebenfalls e<strong>in</strong>en eigenen Weg gehen. Dieses widersprüchliche Verhaltenist bei vielen jungen Männern <strong>und</strong> Frauen zu beobachten. Das kannzunächst darauf zurückgeführt werden, dass Jungen <strong>und</strong> Mädchen wahrnehmen,wie schwer es ist, das Leben der Eltern zu leben. Sie merken,dass es heute kaum noch möglich ist, die Werte <strong>und</strong> den Lebensstil derFamilie aufrechtzuerhalten. Dabei halten sie jedoch an e<strong>in</strong>igen Denkfigurenfest <strong>und</strong> formen diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong> umfeldadäquates Format um. Insbesonderejunge Männer zeigen abweichende Verhaltensmuster, die alsjugendspezifische Spielarten traditioneller Wertvorstellungen zu verstehens<strong>in</strong>d.Der Begriff der Ehre spielt hier weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Er bildetgewissermaßen die Basis der Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster der <strong>Jugendliche</strong>n.Insbesondere <strong>in</strong> problematischen Kontexten, also bei benachteiligten<strong>und</strong> krim<strong>in</strong>ellen <strong>Jugendliche</strong>n, wird aggressives Verhalten mit derEhre begründet <strong>und</strong> gerechtfertigt. Dabei hängt der Ehrbegriff – wie auchbei der familiären Erziehung – mit Loyalität <strong>und</strong> Geschlechterrollen zusammen.H<strong>in</strong>zu kommt e<strong>in</strong>e extreme Form der Fre<strong>und</strong>schaft. Im Folgendenwerden die jugendspezifischen Charakteristika dieser Begriffe skizziert.


78 79Fre<strong>und</strong>schaftNicht selten wird von <strong>Jugendliche</strong>n ihr Verhalten mit ihrem Verständnisvon Fre<strong>und</strong>schaft gerechtfertigt. Sie setzen sich für den Fre<strong>und</strong> e<strong>in</strong>, auchauf die Gefahr h<strong>in</strong>, selbst verletzt zu werden. Diese bed<strong>in</strong>gungslose Solidaritätbedeutet auch, dem Fre<strong>und</strong>, ohne die Situation zu h<strong>in</strong>terfragen,Hilfe zu leisten. Sie ist e<strong>in</strong>e tief verankerte Verhaltensnorm, über dienicht nachgedacht <strong>und</strong> die auch nicht <strong>in</strong> Frage gestellt wird. Es wird alsonicht lange darüber gesprochen, was passiert ist <strong>und</strong> wie man das Problemlösen könnte. Wenn nachgedacht <strong>und</strong> nachgefragt würde, wärenicht nur die Fre<strong>und</strong>schaft, sondern auch die Ehre <strong>und</strong> Männlichkeit des<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> Frage gestellt. Ehre <strong>und</strong> Männlichkeit s<strong>in</strong>d Begriffe, dietürkei- <strong>und</strong> arabischstämmige jugendliche Straftäter immer wieder artikulieren.Die Solidarität <strong>und</strong> Loyalität <strong>in</strong>nerhalb der Familie wird alsobei <strong>Jugendliche</strong>n auf ihren Fre<strong>und</strong>eskreis ausgeweitet. Loyalität <strong>in</strong> derGruppe bzw. unter Fre<strong>und</strong>en spielt e<strong>in</strong>e große <strong>und</strong> ganz zentrale Rolle<strong>und</strong> dem Begriff der Fre<strong>und</strong>schaft wird e<strong>in</strong>e entscheidende Bedeutungzugesprochen. Fre<strong>und</strong>e tun alles füre<strong>in</strong>ander: Es wird geteilt, was manhat, wie z.B. Geld, Essen, Kleidung etc. Massenschlägereien können deshalbzu Stande kommen, weil der Fre<strong>und</strong> nicht alle<strong>in</strong> gelassen werdendarf. Hierzu e<strong>in</strong> Fallbeispiel e<strong>in</strong>er Massenschlägerei:zu e<strong>in</strong>er verbalen Ause<strong>in</strong>andersetzung. Die Betreuer<strong>in</strong> geht dazwischen<strong>und</strong> beruhigt die Gemüter. Da aber die beiden danach das Problem wie„richtige Männer” lösen wollten, verabredeten sie sich an dem genanntenOrt. Wie dieser kle<strong>in</strong>e Disput zwischen zwei <strong>Jugendliche</strong>n so endenkonnte, wurde anhand von Gerichtsverhandlungen, die ausführlich analysiertwurden, sowie zahlreicher Interviews rekonstruiert. Alle beteiligtenJugendrichter haben <strong>in</strong> den Verhandlungen darauf Wert gelegt, denwahren Gr<strong>und</strong> dieser Schlägerei zu erfahren. Viele <strong>Jugendliche</strong> habenzu Protokoll gegeben, dass sie eigentlich nicht so genau wussten, umwas es sich handelte. Sie haben lediglich erfahren, dass e<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> vone<strong>in</strong>em guten Fre<strong>und</strong> Hilfe braucht, <strong>und</strong> dass „die Albaner” Problememachen würden. Dazu auch zwei Interviewausschnitte:„Ich weiß nicht mehr genau wer, aber e<strong>in</strong>er hat gesagt, dass die Albanerden Osman angemacht haben. Ich hab auch gehört, ne, dass sie sicham Stachus verabredet haben. (...) Alle haben gesagt, wir müssen auchh<strong>in</strong>gehen. (...) Ja, weil die Albaner kommen doch nicht alle<strong>in</strong>e, ne. Manmuss doch den Fre<strong>und</strong> helfen. (...) Ne<strong>in</strong>, ich wusste auch nicht, was derGr<strong>und</strong> war. Ich hab gehört, er braucht Hilfe. Ich hab nicht gefragt. (...)Ja, weil, wie soll ich sagen, man wird ausgelacht. Fre<strong>und</strong>en muss manhelfen, egal was passiert ist.” (Suat)Im Januar des Jahres 1998 ereignete sich e<strong>in</strong>e Massenschlägerei <strong>in</strong> derMünchner Fußgängerzone (Stachus) zwischen <strong>Jugendliche</strong>n türkischer<strong>und</strong> albanischer Herkunft. An dieser verabredeten Schlägerei nahmennach offiziellen Angaben 35, nach <strong>in</strong>offiziellen Angaben weit über fünfzig<strong>Jugendliche</strong> teil. Obwohl die Polizei das erfuhr <strong>und</strong> die Polizeizentrale nurwenige h<strong>und</strong>ert Meter von dem Ort der Schlägerei entfernt war, konntenicht verh<strong>in</strong>dert werden, dass e<strong>in</strong> <strong>Jugendliche</strong>r starb <strong>und</strong> mehrere zumTeil schwer verletzt wurden. Die damaligen Schlagzeilen reichten von„Bandenkrieg zwischen rivalisierende Gruppen”, „Krieg <strong>in</strong> München”bis zu „Macht um die bessere Position <strong>in</strong> München”. Darüber h<strong>in</strong>auswurden neben härteren Strafen für die Täter auch über ausländerrechtlicheKonsequenzen nachgedacht. Was war aber wirklich passiert? Manmag nicht glauben, dass diese Massenschlägerei e<strong>in</strong>en sehr simplen<strong>und</strong> gleichzeitig absurden Gr<strong>und</strong> hatte, nämlich den Wette<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>esKickerspiels: Zwei <strong>Jugendliche</strong>, der e<strong>in</strong>e türkischer, der andere albanischerAbstammung, spielen <strong>in</strong> der Münchner Volkshochschule <strong>in</strong> derPause Kicker. Der Verlierer dieses Spiels soll dem Gew<strong>in</strong>ner e<strong>in</strong> Bierspendieren. Der Verlierer löst se<strong>in</strong>en Wette<strong>in</strong>satz nicht e<strong>in</strong>, <strong>und</strong> es kommt„Ich war auch <strong>in</strong> dieser Schule. Ich habe das im Unterricht erfahren,dass der Osman sich mit dem Albaner treffen will. (...) Wir haben alleTürken <strong>in</strong> der Schule gefragt, ne. Danach haben wir die Leute angerufen.Alle sollten kommen. (...) Warum, warum? Du kennst die Albaner, diekommen nicht alle<strong>in</strong>. Wenn man sich am Stachus treffen will, dann willman doch nicht reden. Da fliegen die Fetzen. (...) Der Gr<strong>und</strong> war egal.Wenn du Fre<strong>und</strong> hast, ja, ne, musst nicht fragen, sondern helfen.”(Bilal)Diese überzogene Solidarität, dem Fre<strong>und</strong> helfen zu wollen, hat sichbei beiden Seiten <strong>in</strong> der Stadt so schnell verbreitet, dass sich mehr alsfünfzig <strong>Jugendliche</strong> im Münchner Innenstadt-Gebiet getroffen haben.Das Missverständnis, die kle<strong>in</strong>e Diskussion <strong>und</strong> das Verabreden amStachus wurden von beiden Seiten so sehr hochgepuscht, dass die beidenKontrahenten nicht e<strong>in</strong>mal den Hauch e<strong>in</strong>er Chance hatten, das„Problem” mit anderen Mitteln zu lösen, außer e<strong>in</strong>er Massenschlägerei.


80 81Die Fre<strong>und</strong>schaft ist eng <strong>und</strong> <strong>in</strong>tensiv, sie kann aber auch abrupt beendetwerden <strong>und</strong> <strong>in</strong>s Gegenteil umschlagen. Sie gilt <strong>in</strong>sbesondere dann alsverletzt, wenn die Mutter <strong>und</strong> andere weibliche Familienmitglieder beschimpft,beleidigt oder auch nur „unsittlich” angeschaut werden, wenndie Männlichkeit oder die Potenz angezweifelt werden <strong>und</strong> wenn abfälligeÄußerungen gegenüber der nationalen Herkunft oder der Religion, aberauch gegenüber der eigenen Vorstellung von Männlichkeit gemachtwerden.„Also, für richtige Fre<strong>und</strong>e tue ich alles. Wenn e<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> Scheißeam Hals hat, helfe ich ihm, <strong>und</strong> ich tue alles, damit er da wieder rauskommt. Ich teile alles mit ihm, wenn er nichts hat; ich teile sogar me<strong>in</strong>Brot mit ihm. (...) Aber wenn er h<strong>in</strong>ter me<strong>in</strong>em Rücken me<strong>in</strong>e Schwesteranmacht oder aber me<strong>in</strong>e Schwäger<strong>in</strong>, dann kenne ich ke<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>emehr. Den gibt es für mich nicht mehr. Ich schlage ihn so, dass er dieAugen wieder im Krankenhaus aufmacht. (...) Oder sagen wir mal,er redet über mich schlecht, ne. Oder er sagt ich b<strong>in</strong> schwul, ne. Dannhaue ich ihn. Es ist mir egal, ob er me<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> ist. Richtiger Fre<strong>und</strong>macht das nicht.” (Orhan)EhreDer Begriff Ehre (namus) klärt ursprünglich die Beziehung zwischenMann <strong>und</strong> Frau sowie die Grenzen nach <strong>in</strong>nen <strong>und</strong> außen (vgl. hierzuauch Schiffauer 1983). E<strong>in</strong> Mann gilt als ehrlos, wenn se<strong>in</strong>e Frau, Familieoder Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> beleidigt oder belästigt wird <strong>und</strong> er nicht extrem <strong>und</strong>empf<strong>in</strong>dlich darauf reagiert. Derjenige Mann gilt als ehrenhaft, derse<strong>in</strong>e Frau verteidigen kann, Stärke <strong>und</strong> Selbstbewusstse<strong>in</strong> zeigt <strong>und</strong>die äußere Sicherheit se<strong>in</strong>er Familie garantiert (vgl. Schiffauer 1983).Gel<strong>in</strong>gt ihm das nicht, dann ist er ehrlos (namussuz). E<strong>in</strong>e Frau, diefremdgeht, befleckt damit nicht nur die eigene Ehre, sondern auch dieihres Partners, weil der Mann nicht Mann genug war, sie davon abzuhalten.E<strong>in</strong> ehrenhafter Mann steht zu se<strong>in</strong>em Wort („erek adam sözünütutar” = „e<strong>in</strong> Mann hält se<strong>in</strong> Wort”). Er muss dies klar <strong>und</strong> offen tun<strong>und</strong> darf niemals mit „vielleicht” oder „kann se<strong>in</strong>” ausweichen, weil dieseAntworten nur von e<strong>in</strong>er Frau zu erwarten s<strong>in</strong>d. Darüber h<strong>in</strong>aus musse<strong>in</strong> ehrenhafter Mann <strong>in</strong> der Lage <strong>und</strong> willens se<strong>in</strong>, zu kämpfen, wenner dazu herausgefordert wird. Die Eigenschaften e<strong>in</strong>es ehrenhaftenMannes s<strong>in</strong>d Virilität, Stärke <strong>und</strong> Härte. Er muss <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, aufjede Herausforderung <strong>und</strong> Beleidigung, die se<strong>in</strong>e Ehre betrifft, zu reagieren<strong>und</strong> darf sich nicht versöhnlich zeigen. Hier ist also festzuhalten,dass auch der Begriff der Ehre nicht mehr nur auf die Familie, sondernauf den Fre<strong>und</strong>eskreis ausgeweitet wird. Ehre wird <strong>in</strong> der Peergroup zue<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>schaftsprojekt.MännlichkeitFür das Verständnis der Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster der Heranwachsendenspielt zuletzt auch der Begriff der Männlichkeit e<strong>in</strong>e hervorzuhebendeRolle. <strong>Muslimische</strong> Jungen werden zu körperlicher <strong>und</strong> geistiger Stärke,Dom<strong>in</strong>anz <strong>und</strong> selbstbewusstem Auftreten, <strong>in</strong>sbesondere im H<strong>in</strong>blickauf die Übernahme von männlichen Rollenmustern, erzogen. Wenne<strong>in</strong> <strong>Jugendliche</strong>r diese Eigenschaften nicht zeigt, wird er als Frau <strong>und</strong>Schwächl<strong>in</strong>g bezeichnet. Wenn e<strong>in</strong> Mann zu homosexuellen MännernKontakt aufnimmt, wird er als unmännlich <strong>und</strong> Schande begriffen, weiler – aus diesem Geschlechtsbegriff heraus – e<strong>in</strong>e Frauenrolle übernommenhat, die sich mit der traditionellen Männerrolle nicht vere<strong>in</strong>barenlässt. Auch fre<strong>und</strong>schaftliche Beziehungen zu homosexuellen Männernwerden nicht toleriert. Jungen treten im Gegensatz zu Mädchen sehrdom<strong>in</strong>ant <strong>und</strong> selbstbewusst auf. E<strong>in</strong> Junge muss <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, zuentscheiden, was für die später gegründete Familie das „Richtige” <strong>und</strong>„Vorteilhafte” ist. Dies kann er u.a. dadurch unter Beweis stellen, dasser se<strong>in</strong>e Position selbstbewusst verteidigt <strong>und</strong> auf Me<strong>in</strong>ungen, die vonaußen an ihn herangetragen werden, ke<strong>in</strong>e Rücksicht nimmt. Dies könnteihm sonst als Schwäche ausgelegt werden, was als zutiefst weiblich gilt.„Was e<strong>in</strong>en richtigen Mann ausmacht, willst du von mir wissen. Natürlich!E<strong>in</strong> richtiger Mann muss stark se<strong>in</strong>, weißt du. (...) Er darf nicht we<strong>in</strong>en,ne. Männer dürfen nicht we<strong>in</strong>en. Wenn du Schläge bekommst <strong>und</strong>we<strong>in</strong>st, ne, dann bist du doch ke<strong>in</strong> richtiger Mann. (...) du musst immerstark se<strong>in</strong>, ne.” (Gökhan)„Wenn du ke<strong>in</strong>e Schläge bekommen hast, bist du dann doch ke<strong>in</strong> Mann.(...) Ja warum, warum, weil es so ist, Mann. E<strong>in</strong> richtiger Mann mussSchläge bekommen, damit er auch weiß, ne, es tut weh, ne. Und wennjemand was macht, ne, dann kannst du auch schlagen.” (Suat)Ausgeprägte Männlichkeit, bezogen auf Solidarität <strong>und</strong> Loyalität <strong>in</strong>nerhalbdes Fre<strong>und</strong>eskreises, <strong>und</strong> die bed<strong>in</strong>gungslose Verteidigung derweiblichen Familienmitglieder werden gerade dann rigide gehandhabt,


82 83wenn die gesellschaftliche Anerkennung ausbleibt. Insbesondere gewaltbereite<strong>Jugendliche</strong> verfolgen e<strong>in</strong> Lebenskonzept, das e<strong>in</strong>en speziellenWerte- <strong>und</strong> Normenkodex betont. Männliche <strong>Jugendliche</strong> türkischer <strong>und</strong>arabischer Herkunft, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der dritten Generation, wachsen mitbestimmten Vorstellungen von „Männlichkeit”, „Fre<strong>und</strong>schaft” <strong>und</strong> „Ehre”sowie „Solidarität” <strong>und</strong> „Loyalität” auf <strong>und</strong> def<strong>in</strong>ieren über diese Begriffeihre Identität (vgl. Baier/Pfeiffer 2007; Simon 2008; Toprak 2006). DerBegriff der Ehre ist dabei zentral <strong>und</strong> überlagert alle anderen. So istman nur als ehrhafter Mann e<strong>in</strong> „richtiger” Mann, nur als solidarischer<strong>und</strong> loyaler Fre<strong>und</strong> e<strong>in</strong> ehrhafter Mann <strong>und</strong> nur dann e<strong>in</strong> ehrhafter Mann,wenn die weiblichen Familienmitglieder verteidigt <strong>und</strong> ggf. kontrolliertwerden. Bei straffälligen <strong>Jugendliche</strong>n wird immer wieder festgestellt,dass sie aufgr<strong>und</strong> ihres Ehrbegriffes zu Straftaten bereit s<strong>in</strong>d.Ehre impliziert <strong>in</strong> dieser orthodoxen Ausprägung, dass die Männer dieSexualität ihrer Fre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen, Ehefrauen, Töchter <strong>und</strong> Schwestern kontrollieren,diese Kontrolle „erfolgreich” ist <strong>und</strong> damit die Ehre der Familiegewahrt bleibt. Dementsprechend werden Beleidigungen der Mutter,Schwester oder Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> sowie Andeutungen bezüglich e<strong>in</strong>er homosexuellenOrientierung zu gereiztem, unter Umständen aggressivemVerhalten des Beleidigten sowie se<strong>in</strong>er Fre<strong>und</strong>e führen. Ähnliches istzu erwarten, wenn abfällige Äußerungen gegenüber der nationalenHerkunft oder der Religion aber auch gegenüber dieser Vorstellung vonMännlichkeit gemacht würden. Diese Reaktionen s<strong>in</strong>d umso bemerkenswerter,wenn man bedenkt, dass diese <strong>Jugendliche</strong>n der dritten <strong>und</strong>vierten Generation weder ihre Herkunftsländer noch ihre Religion gutkennen <strong>und</strong> zudem vielfach weder <strong>in</strong> der Lage noch willens s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>klassischer autoritärer Familienernährer zu se<strong>in</strong>. <strong>Jugendliche</strong> mit ger<strong>in</strong>gerBildung, wenig beruflichem Prestige <strong>und</strong> mangelndem Selbstwertgefühlklammern sich an diese Verhaltensnormen deutlich stärker als beruflich<strong>und</strong> sozial etablierte Migranten. Wenn man die <strong>Jugendliche</strong>n mit denWelten konfrontiert, die zwischen Anspruch (selbst e<strong>in</strong> Familienernährerzu se<strong>in</strong>) <strong>und</strong> Realität (Arbeits- bzw. Ausbildungslosigkeit) liegen, führtdas nicht selten zu massiver Gereiztheit. Das Zusammenkommen vone<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Selbstwertgefühl <strong>und</strong> e<strong>in</strong>geschränkten sozialen Fähigkeitenführt auch dazu, dass e<strong>in</strong> „schiefes” oder „doofes” Angucken zue<strong>in</strong>er Schlägerei führen kann.Aus den Ausführungen wird deutlich, dass die Verteidigung der weiblichenFamilienmitglieder als e<strong>in</strong>e wichtige Anforderung an die männlichenFamilienmitglieder herangetragen wird. Während selbstbewusste<strong>und</strong> offene <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> der dritten <strong>und</strong> vierten Generation sich vondiesen spezifischen Normen befreien <strong>und</strong> sich beispielsweise über ihrStudium oder ihren Beruf def<strong>in</strong>ieren, klammern sich <strong>Jugendliche</strong> mitwenig Selbstwertgefühl <strong>und</strong> ger<strong>in</strong>ger Bildung bzw. Prestige <strong>in</strong> extremerWeise an diese Werte <strong>und</strong> betonen diese rigider <strong>und</strong> aggressiver alsbeispielsweise noch die Elterngenerationen. Denn sie sollen Stärkezeigen, besonders se<strong>in</strong>, große Anerkennung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en guten Statushaben. Dieses Erziehungsideal kollidiert mit der Realität, wie sie dieseJungen bereits früh erfahren. Wenn sie weder <strong>in</strong> der Schule noch <strong>in</strong>Bereichen wie Sport oder Musik „besondere” Fähigkeiten attestiert bekommen,werden andere Formen der Anerkennung gesucht, die dannhäufig mit der Intention der Eltern wenig geme<strong>in</strong>sam haben. Diejenigen,die ke<strong>in</strong>e andere „ehrende” Aufgabe haben <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e anderen Formenvon Anerkennung erleben, können <strong>und</strong> werden diese letzte Möglichkeitergreifen: empf<strong>in</strong>dlich <strong>und</strong> gewalttätig ihre Ehre verteidigen.4.3. Peers <strong>und</strong> GewaltGewalt zeichnet sich im Vergleich zu anderen Konfliktlösungen dadurchaus, dass e<strong>in</strong> subjektiv empf<strong>und</strong>ener verkürzter Zeithorizont <strong>und</strong> e<strong>in</strong>verengter Pool von Handlungsoptionen vorliegen. 1 Oder andersherum:Für friedliche Konfliktlösungen braucht man Zeit <strong>und</strong> Kompetenz (<strong>in</strong>sbesonderesprachliche Kompetenz). Und: Man muss etwas zu verlierenhaben. Nimmt man an, Menschen handeln rational, würde jeder Entscheidungfür oder gegen Gewalt e<strong>in</strong> Abwägen von Kosten <strong>und</strong> Nutzene<strong>in</strong>er Gewalttat vorausgehen: Was br<strong>in</strong>gt mir e<strong>in</strong>e gewalttätige Ause<strong>in</strong>andersetzung<strong>und</strong> was setze ich aufs Spiel? Nun leuchtet unmittelbar e<strong>in</strong>,dass e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> rationales Menschenbild se<strong>in</strong>e Tücken hat. Es soll nur zudem Zweck bemüht werden, zu zeigen, welche entscheidenden Faktorengewaltbereites Verhalten aus e<strong>in</strong>er subjektiven Perspektive begünstigen:(1) wenig Zeit bzw. ke<strong>in</strong> Handlungsspielraum, (2) e<strong>in</strong>geschränkte Handlungsmöglichkeiten<strong>und</strong> fehlende soziale bzw. kognitive Kompetenzenfür kommunikative Konfliktlösungen <strong>und</strong> (3) ke<strong>in</strong> Risikobewusstse<strong>in</strong>, weildie Gewaltanwendung rational ersche<strong>in</strong>t. Diese drei Faktoren könnennicht über längere Zeit vollständig ausgeschaltet werden, weshalb auch<strong>in</strong> <strong>in</strong>sgesamt friedlichen Gesellschaften Gewalt regelmäßig auftritt.Beispielsweise kann Alkohol- bzw. Drogenkonsum zu e<strong>in</strong>er kurzfristigen


84 85Verschärfung aller drei Faktoren führen. Besonders problematisch wirde<strong>in</strong> Zustand dann, wenn e<strong>in</strong>e mehr oder weniger große Gruppe vonMenschen unter Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen aufwächst, die langfristigalle Faktoren kritisch ersche<strong>in</strong>en lassen. Zusammenfassend könnenPerspektivlosigkeit aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es niedrigen Bildungsniveaus <strong>und</strong> e<strong>in</strong>geschränktersozialer <strong>und</strong> kognitiver Fähigkeiten, das e<strong>in</strong>seitige Wahrnehmenaggressiver Aspekte <strong>in</strong> „ambivalenten Botschaften” <strong>und</strong> dasspezifische Kommunikationsverhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konfliktfall als Nährbodenfür Gewalt benannt werden.Diese Perspektivlosigkeit teilen <strong>in</strong> den meisten Jugendgangs alle Mitglieder.Sie verfügen über e<strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>ges formales Bildungsniveau<strong>und</strong> restriktive verbale Fähigkeiten. Daher herrschen <strong>in</strong> diesen Jugendgruppene<strong>in</strong> sehr aggressiver <strong>und</strong> e<strong>in</strong>facher Sprachstil sowie grobe Umgangsformen.Es wird gewissermaßen aus der Not e<strong>in</strong>e Tugend gemacht:Alle Merkmale, die die Perspektivlosigkeit begründen, werden besondersbetont. Die jungen Männer wechseln permanent zwischen den beidenExtremen Langeweile <strong>und</strong> „Action”: E<strong>in</strong>erseits wird viel „abgehangen”<strong>und</strong> Zeit totgeschlagen, andererseits wird schlagartig – bei der kle<strong>in</strong>stenProvokation – aggressiv gehandelt. E<strong>in</strong> „falscher” Blick, e<strong>in</strong>e ironischeAussage oder e<strong>in</strong> lautes Lachen – also ambivalente Botschaften – könnenscharfe Reaktionen hervorrufen. Die <strong>Jugendliche</strong>n sehen <strong>in</strong> solchenAktionen persönliche Angriffe, fühlen sich unwohl, wissen nicht, wiesie darauf reagieren sollen <strong>und</strong> haben im Laufe der Zeit gelernt, sofort(also präventiv) darauf zu reagieren – mit Gewalt. Sie lernen dabei,dass Gewalt „funktioniert”, denn, wer sie e<strong>in</strong>mal „schief” angeguckt hat,wird dies nicht wieder tun, <strong>und</strong> das Unwohlgefühl wird nicht wiederholterfahren. Und was ihnen sonst selten gel<strong>in</strong>gt, nämlich kurzfristig zu„agieren” <strong>und</strong> unmittelbar „Erfolge” zu erleben, kann <strong>in</strong> diesen Jugendgruppenrelativ „e<strong>in</strong>fach” gel<strong>in</strong>gen. Sie haben nicht viel zu verlieren –im Pr<strong>in</strong>zip nur den Respekt, den andere ihnen zeigen. Diese Form vonRespekt basiert auf Gewalt <strong>und</strong> kann entsprechend auch nur durch Gewaltaufrechterhalten werden. Diese massive Gewaltneigung entwickeltsich im Kontext mit Gleichaltrigen <strong>und</strong> wird zu e<strong>in</strong>er wichtigen Instanzfür Status <strong>und</strong> Anerkennung <strong>in</strong>nerhalb bestimmter Peergruppen.Peergruppen spielen bei der Sozialisation im Jugendalter die größte Rolle.<strong>Jugendliche</strong> nichtdeutscher Herkunft, vor allem die Jungen, messenden <strong>in</strong>formellen Peergruppen, wie auch bei deutschen <strong>Jugendliche</strong>n zubeobachten ist, e<strong>in</strong>e besondere Bedeutung zu. Bei muslimischen <strong>Jugendliche</strong>ntritt der Prozess der Gruppenbildung verstärkt <strong>und</strong> verfrüht auf,da zur gesellschaftlichen auch die kulturelle Umorientierung h<strong>in</strong>zukommt.Das ist deshalb der Fall, weil die Widersprüche der eigenen Situationdurch Bed<strong>in</strong>gungen wie Arbeitslosigkeit, schlechte Voraussetzungen fürdas Berufsleben sowie Diskrim<strong>in</strong>ierung vehementer erlebt werden <strong>und</strong>die Eltern oft nicht <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, Identifikationsmöglichkeiten für e<strong>in</strong>eangemessene Lebensweise <strong>und</strong> Zukunftsorientierung zu bieten. In ersterL<strong>in</strong>ie spielen für türkische <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong>tra-ethnische <strong>in</strong>formelle Gruppene<strong>in</strong>e bedeutende Rolle, weil <strong>in</strong> ihnen nicht nur nach Orientierung gesucht,sondern auch Identitätsarbeit geleistet werden kann.„Ich hab immer ausländische Fre<strong>und</strong>e, ne. Schau mal <strong>in</strong> diesem Kurs,ne, wenn hier Deutsche wären, wäre bestimmt scheiße gelaufen. (...).Schau, wir alle verstehen uns doch sehr gut. Alle s<strong>in</strong>d doch sofortFre<strong>und</strong>e. Wenn Deutsche da wären, das wäre nicht gut. (...) Die s<strong>in</strong>dkomisch. Man kann denen nicht trauen. Andere Ausländer s<strong>in</strong>d auchcool. (...) Ja, die Jugos s<strong>in</strong>d cool, die Albaner s<strong>in</strong>d auch jetzt cool. Ja,die Deutschen, mit denen verstehe ich mich nicht. Die haben andereProbleme. Denen ist es egal, wenn jemand die Mutter beleidigt <strong>und</strong> soweiter, was weiß ich Mann, die s<strong>in</strong>d endkomisch.” (Gökhan)Problematisch wird es, wenn e<strong>in</strong> großes Machtgefälle <strong>in</strong>nerhalb derGruppe herrscht. Dann erhöht sich die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass die<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> die Rolle als Opfer oder Täter von Gewalt kommen.Wer sich nicht konsequent zur Wehr setzt, wird immer wieder von demjenigengeschlagen, der se<strong>in</strong>e Stärke <strong>und</strong> Macht demonstrieren will.Jeder muss sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen Gruppe bewähren. Gewaltausübung istdann häufig die anerkannte Demonstration der Stärke <strong>und</strong> Dom<strong>in</strong>anz.Das wichtigste Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> der Gruppe spiegelt sich im Begriff der „Anmache”wider: „Jemanden ‚anmachen’ oder selbst ‚angemacht’ zu werden,gehört zu den Gr<strong>und</strong>mustern, mit denen die <strong>Jugendliche</strong>n die Entstehunggewaltförmiger Konfliktsituation beschreiben. […] Zu den Formender ‚Anmache’ gehört etwa ‚der Blick’, wenn jemand ‚schief’ oder‚dumm’ angeguckt wird. E<strong>in</strong> ‚falscher Blick’, d.h. e<strong>in</strong> Blick der fixiert oderdurchbohrt <strong>und</strong> sich so des Gegenübers ‚bemächtigt’ zählt bereits als‚Anmache’” (Tertilt 1996, S. 206 f.). Jedes neue Mitglied <strong>in</strong> der Gruppewird zunächst <strong>in</strong> der von Tertilt (1996) beschriebenen Form provoziert,um herauszuf<strong>in</strong>den <strong>und</strong> zu testen, ob er oder sie <strong>in</strong> der Lage <strong>und</strong> Positionist, sich gegen die „Anmache” zu wehren. In diesem Kontext bedeutetdies die körperliche Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Kontrahenten. Sich <strong>in</strong> kör-


86 87perliche Ause<strong>in</strong>andersetzungen zu begeben, bedeutet nicht nur Gewaltanwendung,sondern vor allem Gewalterfahrung. Wer sich entschieden<strong>und</strong> selbstbewusst verteidigt <strong>und</strong> auch Gewalt anwendet, wird <strong>in</strong> derGruppe hoch angesehen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Stellung <strong>in</strong> der Gruppe steigt – selbstdann, wenn er das Duell verliert.„Ich war noch kle<strong>in</strong>. (...) Ich weiß nicht so genau, vielleicht 13 oder 14.Wir haben uns <strong>in</strong> Freizeitheim getroffen, ne. Da war so e<strong>in</strong>e Clique. (...)Ich hab mich mit denen gut verstanden. (...) Es waren nur Türken. Dere<strong>in</strong>e, der war älter, ne. Ich sag mal 16. Der hat mich immer geschlagen.Er wollte cool se<strong>in</strong>. (...) Irgendwann haben mich die anderen ausgelacht<strong>und</strong> immer verarscht, ne. E<strong>in</strong>mal habe ich zurückgeschlagen. Alle habenmich respektiert. Dann hat mich, weißt du, ne, niemand mehr verarscht.Sonst wirst du immer geschlagen.” (Gökhan)Deviantes <strong>und</strong> del<strong>in</strong>quentes Verhalten <strong>in</strong>nerhalb von Peergruppen kommtbesonders dadurch zustande, dass die <strong>Jugendliche</strong>n häufig zu spät zuverantwortungsvollen Aufgaben <strong>in</strong> unserer Gesellschaft herangezogenwerden (vgl. Moffitt 1993). Ohne Aufgaben, die ihr Selbstwertgefühl<strong>und</strong> ihre Anerkennung steigern können, müssen sie sich Herausforderungenschaffen: So lässt sich auch die Beobachtung erklären, dass es<strong>Jugendliche</strong> gibt, die gewalttätige Ause<strong>in</strong>andersetzungen aktiv suchen.Sie stellen sich <strong>in</strong> den Weg, provozieren, beschimpfen <strong>und</strong> demonstrierenMacht <strong>und</strong> Überlegenheit – <strong>und</strong> sie generieren dadurch entweder unmittelbar„Respekt” (wenn nämlich der von ihnen Provozierte nachgiebig ist)oder sie können sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kampf bewähren.Im Jugendalter müssen verschiedene Herausforderungen bewältigtwerden: e<strong>in</strong> Schulabschluss, Berufs- <strong>und</strong> Partnerwahl <strong>und</strong> der Abnabelungsprozessvom Elternhaus. Diese Übergänge – oder die Identitätsentwicklung– vollziehen sich je nach Kultur, Tradition <strong>und</strong> Religionunterschiedlich <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d von verschiedenen Kontrollorientierungen abhängig.Es gibt e<strong>in</strong>e primäre <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e sek<strong>und</strong>äre Kontrollorientierung.Primäre Kontrolle ist der Versuch, die gegebenen Realitäten so zu verändern<strong>und</strong> zu bee<strong>in</strong>flussen, dass sie mit den eigenen Zielen <strong>und</strong>Wünschen übere<strong>in</strong>stimmen. Die sek<strong>und</strong>äre Kontrolle ist der Versuch,eigene Ziele <strong>und</strong> Wünsche den gegebenen Bed<strong>in</strong>gungen anzupassen(vgl. Essau/Trommsdorf 1995, S. 211f.). Bei der primären Kontrollewerden die Umweltgegebenheiten durch persönliche Aktivität, Dom<strong>in</strong>anz<strong>und</strong> andere E<strong>in</strong>flussversuche geändert. Bei der sek<strong>und</strong>ären Kontrollewerden h<strong>in</strong>gegen die eigenen Ziele, die Individualität <strong>und</strong> Autonomieden Gegebenheiten der Umwelt untergeordnet. Bei Kulturen mit hoherBewertung von Autonomie <strong>und</strong> Individualität wird e<strong>in</strong>e primäre Kontrolleerwartet <strong>und</strong> bei gruppen- <strong>und</strong> sozialorientierten Kulturen, die mehrWert auf Gruppenharmonie <strong>und</strong> Anpassung an Gruppenziele legen, diesek<strong>und</strong>äre Kontrolle beobachtet. Es ist anzunehmen, dass bei den meistenmuslimischen <strong>Jugendliche</strong>n die sek<strong>und</strong>äre Kontrolle e<strong>in</strong>e besonderswichtige Rolle spielt, weil die Erziehung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> der Familie <strong>in</strong> derRegel auf kollektive Orientierungen ausgerichtet ist: Übernahme vonGeschlechts- <strong>und</strong> Familienrollen, soziale Normen sowie Vermittlung vonAutoritätsbeziehungen. Wenn sowohl im familiären Kontext als auch <strong>in</strong>der Peergroup die Erfahrung gemacht wird, dass Konflikte mit Gewaltgelöst werden, kann sich sehr schnell e<strong>in</strong> Zustand etablieren, bei demalternative Konfliktlösungsstrategien, die auf Konsens oder Me<strong>in</strong>ungsaustauschbasieren, abgelehnt werden, weil diese dann als Ausdruckvon Schwäche wahrgenommen werden. Dann hilft es häufig auch nicht,<strong>in</strong> der pädagogischen Arbeit mit Appellen <strong>und</strong> Argumenten gegen Gewaltzu <strong>in</strong>tervenieren.Es kann sehr deutlich festgestellt werden, dass <strong>Jugendliche</strong>, die Gewaltanwenden, zuvor häufig selbst Opfer von Gewalt waren (vgl. Krim<strong>in</strong>ologischesForschungs<strong>in</strong>stitut 2002). Dabei kann die Gewalterfahrungsowohl <strong>in</strong> der Familie als auch im Bereich der Peers gemacht wordense<strong>in</strong>. Und auch Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungen können Gewalt fördern <strong>und</strong>reaktives Diskrim<strong>in</strong>ierungshandeln verstärken.4.4. Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungenDie Werte der Eltern werden also modifiziert, weil sie ihre Funktion <strong>in</strong>dem Lebensumfeld der <strong>Jugendliche</strong>n, <strong>in</strong>sbesondere der jungen Männer,nicht mehr erfüllen können. Dabei führen Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungendazu, dass sich muslimische <strong>Jugendliche</strong> kaum an die mehrheitsgesellschaftlichenWerte annähern, sondern vielmehr eigene entwickeln bzw.die traditionellen weiterentwickeln.Öffentlicher <strong>und</strong> privater RaumDiskrim<strong>in</strong>ierung als Ungleichbehandlung prägt den Alltag der meistenmuslimischen <strong>Jugendliche</strong>n bzw. jungen Erwachsenen. Die Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungender Migranten können <strong>in</strong> zwei Bereiche unterteilt


88 89werden: Erstens Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungen im „öffentlichen Raum”,also beispielsweise bei Behördengängen, der Wohnungssuche, amArbeitsplatz, <strong>in</strong> der Schule oder bei Kontakten mit der Polizei, <strong>und</strong> zweitensDiskrim<strong>in</strong>ierungserfahrung im „privaten Bereich”, worunter deutscheJugendgruppen, Discos, Nachbarschaft, Supermärkte, Sportvere<strong>in</strong>esowie Jugendzentren gefasst werden (vgl. Heitmeyer u.a. 1997). Imöffentlichen Raum fühlen sich muslimische <strong>Jugendliche</strong> etwas stärkerbenachteiligt als im privaten Bereich (vgl. Toprak 2001). Andererseitsweist die Analyse des Anzeigeverhaltens gegenüber den <strong>Jugendliche</strong>nmit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Richtung. Jünschke (2003)stellt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Untersuchung fest, dass 90 Prozent aller Anzeigen gegen<strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> aus der Bevölkerung kommen,während nur knapp zehn Prozent auf polizeiliche Kontrolltätigkeit zurückzuführens<strong>in</strong>d (vgl. Jünschke 2003). Das <strong>in</strong> der öffentlichen Me<strong>in</strong>ungverankerte Vorurteil, jugendliche Migrant<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Migranten seienkrim<strong>in</strong>eller, verb<strong>und</strong>en mit dem Nichtvorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>formellenLösungsvorgangs des Problems (also ohne die Polizei bzw. Justiz e<strong>in</strong>zuschalten)mit den Betroffenen oder deren Eltern trägt dazu bei, dassdie jugendlichen Migrant<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Migranten schneller angezeigt werdenals ihre deutschen Altersgenossen.Aus den Ausführungen von Jünschke (2003) wird darüber h<strong>in</strong>aus deutlich,dass die Polizeibeamt<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> -beamten <strong>und</strong> die privaten Kaufhausdetektiv<strong>in</strong>nen<strong>und</strong> -detektive <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>, deren Elternaus den Ländern r<strong>und</strong> um das Mittelmeer kommen, häufiger kontrollierenals alle anderen.Insbesondere <strong>Jugendliche</strong> ohne deutsche Staatsbürgerschaft machenhäufig Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungen. Denn über jede Anzeige gegenMenschen ohne e<strong>in</strong>en deutschen bzw. EU-Pass wird die zuständigeAusländerbehörde seitens der Staatsanwaltschaft bzw. der Polizei <strong>in</strong>formiert,unabhängig davon, was aus dieser Anzeige wird. Etwa die Hälfteder Anzeigen wird von der Staatsanwaltschaft nicht weiter verfolgt (vgl.Jünschke 2003). Das Melden der Anzeigen an die Ausländerbehördehat aber für <strong>Jugendliche</strong> ohne e<strong>in</strong>en deutschen Pass gravierende Folgen,weil sie e<strong>in</strong>e Aufenthalts- <strong>und</strong> Arbeitserlaubnis beantragen müssen <strong>und</strong>diese nicht ausgestellt werden, wenn e<strong>in</strong> Verfahren offen ist.Im privaten Bereich werden die Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungen häufigdeshalb nicht so <strong>in</strong>tensiv gespürt, weil <strong>in</strong> diesem Bereich die Berührungspunktezur deutschen Umwelt an Intensität verlieren. Ohne e<strong>in</strong> WortDeutsch sprechen zu müssen, können die arabischen <strong>und</strong> türkischenMigranten <strong>in</strong> deutschen Großstädten wohnen, <strong>in</strong> verschiedenen orientalischenSupermärkten e<strong>in</strong>kaufen, sich <strong>in</strong> verschiedenen ethnischorientiertenSportvere<strong>in</strong>en betätigen, <strong>in</strong> neu gegründeten Kultur- <strong>und</strong>Jugendzentren ihre Freizeit mit Landsleuten verbr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> am Abendbeispielsweise e<strong>in</strong>e türkische Disco, <strong>in</strong> der fast ausschließlich türkischeMusik gespielt wird, aufsuchen. Der hohe Wert h<strong>in</strong>sichtlich der Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungenbei Behörden kommt dadurch zustande, dassdie arabischen <strong>und</strong> türkischen Migranten häufiger Kontakt zu Behördenhaben als privaten Kontakt zu Deutschen. Zudem erwarten die <strong>Jugendliche</strong>nvon den öffentlichen Institutionen eher Neutralität als <strong>in</strong> privatenKontexten.Das Krim<strong>in</strong>ologische Forschungs<strong>in</strong>stitut Niedersachen stellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Untersuchung,<strong>in</strong> der <strong>Jugendliche</strong> der neunten Klasse aller Schulgattungennach ihrer Gewalterfahrung befragt werden, fest, dass das Anzeigen<strong>Jugendliche</strong>r mit ausländischem Aussehen häufiger ist als das Anzeigene<strong>in</strong>heimischer deutscher <strong>Jugendliche</strong>r: „Wie schon 1998 […] zeigt sichauch im Jahr 2000, dass jugendliche Opfer Delikte von Tätern ihnenfremd ersche<strong>in</strong>ender Ethnien mit 24,5 Prozent etwa zu e<strong>in</strong>em Sechstelhäufiger anzeigen als dann, wenn die Täter ihrer eigenen ethnischenGruppe angehören” (Krim<strong>in</strong>ologisches Forschungs<strong>in</strong>stitut Niedersachsen2002, S. 28 f.).Offene <strong>und</strong> latente Diskrim<strong>in</strong>ierungDabei kann e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierungshandlung identifizierbar (also offen)oder verdeckt (also latent) se<strong>in</strong>. Offene Formen der Diskrim<strong>in</strong>ierungf<strong>in</strong>den beispielsweise durch fremdenfe<strong>in</strong>dliche Beleidigungen <strong>und</strong> rassistischeÜbergriffe statt. Häufig werden <strong>Jugendliche</strong>, <strong>in</strong>sbesondere jungeMänner, von Disco-Besuchen ausgeschlossen. Dabei wird direkt oder<strong>in</strong>direkt deutlich gemacht, dass „Ausländer” hier nicht erwünscht seien.Zudem hat sich e<strong>in</strong>e Form der Kommunikation etabliert, die durch e<strong>in</strong>e„Wir-Sie-Rhetorik” latent ausgrenzt (vgl. Badawia 2005, S. 208 ff.).Insbesondere die latente Ausgrenzung erweist sich aus Sicht türkei<strong>und</strong>arabischstämmiger <strong>Jugendliche</strong>r als besonders problematisch oderzum<strong>in</strong>dest erklärungsbedürftig (ähnlich auch Bohnsack 2003). Es sche<strong>in</strong>t


90 91so zu se<strong>in</strong>, dass die unausgesprochene Skepsis viel stärker irritiertals offen ausgesprochene Distanzierungen. Wenn beispielsweise ältereMenschen mit ängstlichem bzw. irritiertem Gesichtsausdruck den jungenMigranten gegenüberstehen, fühlen sich die <strong>Jugendliche</strong>n selbst unwohl,da sie diese Wahrnehmung nicht e<strong>in</strong>ordnen können <strong>und</strong> dadurch weiterverunsichert werden. Gleiches gilt, wenn sich zwei junge Männer <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em öffentlichen Raum (Bus, Wartezimmer etc.) auf Arabisch oderTürkisch unterhalten. Mit skeptischen Blicken können junge Menschennur schlecht umgehen, denn sie wissen nicht, was solche nonverbalenÄußerungen genau bedeuten <strong>und</strong> wie man sich diesen gegenüber zurWehr setzen kann. Nicht nur aus dieser Perspektive ist e<strong>in</strong>e offene Diskussionvon allen Parteien wünschenswert – Missverständnisse, Skepsis<strong>und</strong> Furcht können nur über e<strong>in</strong>en kommunikativen Austausch erkannt<strong>und</strong> bearbeitet werden.Andere Formen der Diskrim<strong>in</strong>ierung, wie beispielsweise im Zusammenhangvon Bildungslaufbahn <strong>und</strong> Berufse<strong>in</strong>stieg, werden von den <strong>Jugendliche</strong>nhäufig wahrgenommen, bleiben allerd<strong>in</strong>gs abstrakt <strong>und</strong> diffus.Wissenschaftlich wurden solche Benachteiligungen jedoch deutlich nachgewiesen(vgl. Gomolla/Radtke 2002; Auernheimer 2003). Es ist h<strong>in</strong>zuzufügen,dass auch muslimische <strong>Jugendliche</strong>, die akzentfrei Deutschsprechen <strong>und</strong> die durch ihr allgeme<strong>in</strong>es Ersche<strong>in</strong>ungsbild e<strong>in</strong>e kulturelleNähe erkennen lassen, viel seltener benachteiligt werden. Häufig werdenhochqualifizierte <strong>und</strong> gut <strong>in</strong>tegrierte junge Menschen „positiv diskrim<strong>in</strong>iert”.Dies bedeutet, dass sie besonders gut bewertet <strong>und</strong> bevorzugtwerden.Anders als die ersten Generationen der Zugewanderten, die sich selbstals „Gäste” verstanden <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e umfassende Teilhabe erwarteten,streben deren Nachkommen danach, dazuzugehören. Sie wollen Anerkennung<strong>und</strong> Erfolg <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>. Dort, wo Menschen mit vielfacherDiskrim<strong>in</strong>ierungserfahrung <strong>in</strong> der Mehrheit s<strong>in</strong>d, steigt die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,dass sie selbst zu Diskrim<strong>in</strong>atoren werden. Die Diskrim<strong>in</strong>ierungkommt gewissermaßen zurück. Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> ist das Phänomender „Deutschenfe<strong>in</strong>dlichkeit” zu verstehen. 2 Deutschenfe<strong>in</strong>dlichkeitkann <strong>in</strong> den meisten Fällen nicht als Ideologie bzw. Faschismus betrachtetwerden. Die gängigen Beleidigungen auf Schulhöfen hängen häufigmit der Nationalität, beispielsweise über das Essen (Kartoffelfresser fürDeutsche, Knoblauchfresser für Türken, Froschfresser für Franzosen,Sushifresser für Japaner usw.) oder mit der Religion <strong>und</strong> anderen kulturellen„Merkmalen” zusammen. Ohne das Thema der Deutschenfe<strong>in</strong>dlichkeitherunterspielen zu wollen, ist anzumerken, dass dabei die reaktiveDimension dieses Problems betrachtet werden muss. In Interviews mitverschiedenen türkei- <strong>und</strong> arabischstämmigen jungen Menschen ausunterschiedlichen Städten wurde immer wieder von denselben Beleidigungenberichtet. 3 Es handelt sich bei beiden Formen – Deutschenfe<strong>in</strong>dlichkeit<strong>und</strong> Fremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit – entweder um rassistische Tendenzenoder um e<strong>in</strong>e Form des Mobb<strong>in</strong>gs. Aus unserer Perspektive wäre es angebrachter,von e<strong>in</strong>er Form des Mobb<strong>in</strong>gs auszugehen: Wer sich nichtwehrt bzw. sich nicht wehren kann, wird gemobbt – <strong>und</strong> das hängt <strong>in</strong>der Schule von der Schülerstruktur <strong>und</strong> den Mehrheitsverhältnissen ab.Allerd<strong>in</strong>gs gibt es zweifelsfrei extremistische Tendenzen bei muslimischen<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.4.5. Rassismus, Antisemitismus, F<strong>und</strong>amentalismusDass auch Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, <strong>in</strong>sbesondere arabisch<strong>und</strong>türkeistämmige <strong>Jugendliche</strong>, nicht frei von antisemitischen <strong>und</strong>rassistischen Vorurteilen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>stellungen s<strong>in</strong>d, hat sich <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>erst <strong>in</strong> jüngster Vergangenheit durchgesetzt. Dabei sche<strong>in</strong>t es schwerzu fallen, <strong>in</strong> der Öffentlichkeit von Rechtsextremismus bei Zuwanderernzu sprechen. Dies mag dar<strong>in</strong> begründet se<strong>in</strong>, dass rechtsextreme Haltungenfür gewöhnlich sehr eng mit dem deutschen Nationalsozialismusverknüpft werden. Trotz der Schwierigkeit, diese Thematik knapp zusammenzufassen– was angesichts der enormen Heterogenität dieser„Gruppe” nur schemenhaft gel<strong>in</strong>gen kann – soll im Folgenden versuchtwerden, e<strong>in</strong>en Überblick zu geben. Betont sei dabei, dass kaum wissenschaftlichf<strong>und</strong>iertes Wissen über die Verbreitung von antisemitischenHaltungen <strong>in</strong> der muslimischen Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> vorliegt.Dennoch kann der Import kurdisch-türkischer <strong>und</strong> arabisch-israelischerKonflikte durch Zuwanderung nach <strong>Deutschland</strong> beobachtet werden(vgl. Tibi 2003). Diese Problematik geht e<strong>in</strong>her mit der Konstruktion vonDifferenz zwischen den M<strong>in</strong>derheiten-Communities <strong>und</strong> den europäischenMehrheitsgesellschaften. Dabei wird es nicht ohne Weiteres gel<strong>in</strong>gen,diese Aspekte <strong>in</strong>nerhalb der „allgeme<strong>in</strong>en” Thematik – also zwischenAusländerfe<strong>in</strong>dlichkeit, Antisemitismus <strong>und</strong> Nationalsozialismus – zupositionieren. <strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> beziehen sich aufe<strong>in</strong>en realen Konflikt, entweder <strong>in</strong> ihrer Herkunftsregion oder <strong>in</strong> Bezugauf Erfahrungen mit Ausländerfe<strong>in</strong>dlichkeit bzw. Des<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>.


92 93Muslimisch-rechtsextremen Organisationen wird <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> erst<strong>in</strong> jüngster Vergangenheit die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Türkische<strong>und</strong> arabische ultra-rechtsnationalistische Organisationen verbreitenauch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> offensiv rechtsextreme Positionen – die„Grauen Wölfe” zählen zu den bekannteren Beispielen hierfür. Dabeiwerden die Konflikte aus der Heimatregion <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> weiter ausgetragen.Für e<strong>in</strong>ige türkische Organisationen ist dies verb<strong>und</strong>en „mite<strong>in</strong>em ausgeprägten Rassismus, der sich gegen alle nicht-türkischenBevölkerungsteile richtet, vor allem gegen Kurden, Armenier <strong>und</strong> andereM<strong>in</strong>derheiten” (Bozay 2010, S. 317). Dabei bedienen sich die Organisationenklassischer rechtsextremer Ideologienbildung. Bozay (2005)hat e<strong>in</strong>e Reihe von Interviews <strong>und</strong> Gruppendiskussionen mit Vertreterntürkischer Organisationen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> geführt, <strong>in</strong> denen er durchwege<strong>in</strong>e Rhetorik erkennt, die kaum von jener der „deutschen” Rechten abweicht.Beispielsweise betont e<strong>in</strong> führendes Organisationsmitglied dieZiele der Organisation folgendermaßen: „Sie [geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d die türkeistämmigen<strong>Jugendliche</strong>n] sollen vom Dreck der Straße befreit <strong>und</strong> fürihre eigenen Traditionen, Werte <strong>und</strong> für ihre türkisch-nationale Identitätzurückgewonnen werden” (Bozay 2005, S. 308). Als Ergebnis diesernationalistischen Ideologie darf <strong>in</strong> den Räumlichkeiten dieser Organisationneben dem Türkischen ke<strong>in</strong>e andere Sprache gesprochen werden –selbst dann nicht, wenn die entsprechenden Sprachkenntnisse derDeutsch-Türken recht mäßig s<strong>in</strong>d. Die Orientierung an Re<strong>in</strong>heit <strong>und</strong>E<strong>in</strong>deutigkeit birgt gewisse Attraktivität für <strong>Jugendliche</strong> – auch hier kanne<strong>in</strong>e offensichtliche Parallele zum „klassischen” Rechtsextremismus festgestelltwerden. E<strong>in</strong>e weitere Parallele bilden die gesellschaftlichen Handlungsfelderdieser Organisationen: Sie engagieren sich <strong>in</strong> der Bildungs-,Eltern-, Frauen- <strong>und</strong> Jugendarbeit. Fijakowski formuliert die potenzielleGefahr folgendermaßen: „Aus Selbstorganisation können Selbstausgrenzung<strong>und</strong> Befestigung von Ethnostratifikation entstehen, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Eskalationsprozess wechselseitiger Lieferung von Distanzierungsgründenzwischen altansässiger Mehrheit <strong>und</strong> neuanlangenden M<strong>in</strong>derheiten”(Fijakowski 1999, S. 214). Diese Distanzierungsgründe werdenvon rechtsextremen, aber auch von f<strong>und</strong>amentalistischen Gruppierungenexplizit zum Programm gemacht.Dieses Vorgehen der Organisationen korrespondiert mit der Tendenz bei<strong>Jugendliche</strong>n türkischer <strong>und</strong> arabischer Herkunft, sich zunehmend zure-ethnisieren bzw. zu re-nationalisieren. Sie wenden sich entsprechendethnisch-nationalistischen Organisationen zu. Davon sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong>sbesonderejene betroffen zu se<strong>in</strong>, die es schwer haben, <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong>esichere Existenz aufzubauen. Das Fremdse<strong>in</strong> wird <strong>in</strong> diesem Kontext<strong>in</strong> besonderem Maße betont. Allerd<strong>in</strong>gs wird dabei das Umdeutenvon Frustration (aufgr<strong>und</strong> wahrgenommener Benachteiligung) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e„ethnische” Stärke aktiv betrieben. Zuhälter, Prostituierte, Drogenabhängige<strong>und</strong> Dealer könnten demnach per se ke<strong>in</strong>e Türken bzw. Araber se<strong>in</strong>,sie s<strong>in</strong>d „verdeutscht”. Entsprechend s<strong>in</strong>d Familie, Islam <strong>und</strong> Nation„<strong>in</strong> der Fremde” schützenswerte D<strong>in</strong>ge <strong>und</strong> müssen gegen E<strong>in</strong>griffeverteidigt werden. Hierfür bilden die beschriebenen Begriffe Ehre <strong>und</strong>Stolz die zentralen Kategorien: Die <strong>Jugendliche</strong>n s<strong>in</strong>d stolz, Türken bzw.Araber zu se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Angriff auf Familie, Islam oder Nation wäre ausihrer Sicht gleichzusetzen mit e<strong>in</strong>em Angriff auf die persönliche Ehre.Das sche<strong>in</strong>t für männliche <strong>Jugendliche</strong> der zweiten <strong>und</strong> dritten Generationdeutlich stärkere Bedeutung zu haben als dies bei der Elterngenerationder Fall war, grenzen diese Elemente doch weiter von der Mehrheitsgesellschaftab. Solidarität <strong>und</strong> Loyalität gegenüber Familie, Fre<strong>und</strong>en<strong>und</strong> der eigenen Kultur s<strong>in</strong>d die wichtigsten Werte <strong>in</strong> der traditionellenmuslimischen Community. Diese Werte erzeugen Vertrauen <strong>und</strong> werdenim Kontext des Migrationsprozesses stärker betont <strong>und</strong> verschärft. DieseWerte werden von den <strong>Jugendliche</strong>n als emanzipatorisch empf<strong>und</strong>en,dynamisieren allerd<strong>in</strong>gs den Prozess des Ausschließens <strong>und</strong> Selbstausschließens.„Fremdethnisierung durch die Mehrheitsgesellschaft wirddurch zusätzliche reaktive Selbstethnisierung als Verb<strong>in</strong>dung identitärerSelbsterhaltung mit <strong>in</strong>strumenteller Machtausweitung zu e<strong>in</strong>em hochexplosivenGemisch, wenn Angst vor Ausschluss mit Überzeugungender Überlegenheit (durch kollektive Stärke etwa bei Jugendgruppen oderreligiösem F<strong>und</strong>amentalismus) e<strong>in</strong>hergeht” (Heitmeyer 2004, S. 646).Diese Entwicklungen zur Selbstethnisierung verlaufen parallel zu e<strong>in</strong>emZuwachs antisemitischer E<strong>in</strong>stellungen.Dabei schien die muslimische Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lange Zeitkaum zugänglich für antisemitische Muster zu se<strong>in</strong>. Erst <strong>in</strong> den letztenJahren sche<strong>in</strong>t sich hier etwas zu verschieben. Im Vergleich zu den„klassischen” E<strong>in</strong>wanderungsländern wie Frankreich, Großbritannien,Belgien <strong>und</strong> den Niederlanden s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>en „islamisierten Antisemitismus”(vgl. Kiefer 2007) motivierte Gewalttaten <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nochvergleichsweise selten. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d entsprechende antisemitischeDispositionen <strong>und</strong> verbale Übergriffe vielfach beschrieben worden(vgl. Wetzel 2010). Erfahrungen im Ankunftsland begünstigen häufig


94 95die Entwicklung von Antisemitismus bei E<strong>in</strong>wanderern (vgl. Holz 2006).Dazu gehören die beschriebenen Diskrim<strong>in</strong>ierungs- <strong>und</strong> Ausgrenzungserfahrungen,aber auch die Tatsache, dass <strong>in</strong> Problemschulen dasgängige Schimpfwort „Jude” – mit verschiedenen Wortzusätzen – herkunftsübergreifendvon Schülern gebraucht wird.Von Schulen <strong>und</strong> Jugende<strong>in</strong>richtungen wird von e<strong>in</strong>em erheblichen Zuwachsantisemitischer Ansichten bei muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n berichtet.Allerd<strong>in</strong>gs stehen empirische Untersuchungen zu Verbreitung <strong>und</strong>Ausmaß antisemitischer Dispositionen bei <strong>Jugendliche</strong>n mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>nach wie vor aus (vgl. Holz/Kiefer 2010). Das ist geradedeshalb so bedauerlich, weil sich die Strategien <strong>und</strong> Konzepte der Bildungsarbeitdeutlich anderen Herausforderungen zu stellen haben alsdies <strong>in</strong> Bezug auf den „deutschen” Antisemitismus der Fall ist, denn diemuslimischen <strong>Jugendliche</strong>n berufen sich auf e<strong>in</strong>en realen Konflikt, vondem sie sich betroffen fühlen.Antisemitismus <strong>und</strong> der Nahost-Konflikt15,7 Prozent der muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n stimmten der Aussage„Menschen jüdischen Glaubens s<strong>in</strong>d überheblich <strong>und</strong> geldgierig” zu,woh<strong>in</strong>gegen nur 7,4 Prozent der nicht-muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> nur 5,7 Prozent der nicht-muslimischen E<strong>in</strong>heimischendieser Me<strong>in</strong>ung waren (vgl. Brettfeld/Wetzel 2007, S. 275).Diese „klassischen” antisemitischen Stereotype s<strong>in</strong>d immer noch vorhanden,sche<strong>in</strong>en allerd<strong>in</strong>gs weit weniger verbreitet zu se<strong>in</strong> als manvermuten könnte. Ebenso selten ist e<strong>in</strong> religiös begründeter Antisemitismus– die muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n kennen ihre Religion <strong>in</strong> der Regelnicht gut. E<strong>in</strong>e viel größere Rolle als der Islam spielen identitäre Begründungszusammenhänge,die mit Herkunft <strong>und</strong> Nation verknüpft s<strong>in</strong>d(vgl. Fréville/Harms/Karakayali 2010). Antisemitische Äußerungen ersche<strong>in</strong>enmeist im Kontext globaler politischer Verhältnisse <strong>und</strong> Ungerechtigkeiten.So kam es seit der zweiten Intifada im Jahre 2000 zue<strong>in</strong>em deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle <strong>in</strong> weiten Teilen Europas(vgl. Niehoff 2010). Der „alte” europäische Antisemitismus, der <strong>in</strong>die islamische Welt exportiert wurde, wird heute an die verändertenweltgeschichtlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen angepasst, mit e<strong>in</strong>er islamischenSemantik versehen – aber nicht mit dem Islam begründet – <strong>und</strong>kehrt nun über die E<strong>in</strong>wanderer als „neuer” Antisemitismus nach Europazurück (vgl. Holz 2005).Zur Aktualisierung klassischer antisemitischer Strategien gehören <strong>in</strong>sbesondereVerschwörungstheorien, wonach von der <strong>in</strong>ternationalenjüdischen Bevölkerung das deutsche Fernsehen, die USA oder gar diegesamte Welt kontrolliert werden. So kursieren Ideen, die die jüdischenMachthaber sowohl für die Anschläge vom 11. September 2001 als auchfür den Tsunami 2004 <strong>in</strong> Thailand verantwortlich machen.Der Nahost-Konflikt bildet heute die exponierte Projektionsfläche fürallgeme<strong>in</strong>e Frustration <strong>und</strong> Ressentiments gegen Israel <strong>und</strong> „die Juden”.Gleichzeitig sche<strong>in</strong>en viele muslimische <strong>Jugendliche</strong> wenig f<strong>und</strong>iertesWissen über den Nahost-Konflikt zu haben (vgl. Arnold 2009). Geradedeshalb sollte sich jede pädagogische Intervention dieser neuen Ersche<strong>in</strong>ungsformvon Antisemitismus stellen, denn die unterrichtliche Ause<strong>in</strong>andersetzungmit dem deutschen Nationalsozialismus oder der neuendeutschen Rechten wird bei muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n kaum Anknüpfungspunktebieten, da sie sich nicht mit der deutschen Geschichte identifizierenkönnen bzw. wollen. Erst durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte Herangehensweise,die aus verschiedenen Richtungen das Thema erschließt, könnenhier Brücken zwischen verschiedenen „Adressaten” herkunftsübergreifendgeschlagen werden. So könnten <strong>in</strong> unterschiedlichen Themenschwerpunktenwie „Identität <strong>und</strong> Gesellschaft”, „Migration <strong>und</strong> Integration”,„Globalisierung” <strong>und</strong> „Nahost-Konflikt” antisemitische Muster durchleuchtetwerden. Hierbei sollten <strong>in</strong>sbesondere die Motive <strong>und</strong> die Funktionsbzw.Wirkungsweise dieser E<strong>in</strong>stellungen betrachtet werden.Es muss natürlich beachtet werden, dass durchaus Unterschiede beispielsweisezwischen arabisch-, türkisch- <strong>und</strong> kurdischstämmigen<strong>Jugendliche</strong>n bestehen: Während Kurdischstämmige häufig (aufgr<strong>und</strong>der eigenen bzw. familiären Unterdrückungsgeschichte) mit Juden <strong>und</strong>der Gründung ihres eigenen Staates allen Widerständen zum Trotzsympathisieren, äußern sich bei Arabischstämmigen die E<strong>in</strong>stellungengegenüber jüdischen Menschen <strong>und</strong> Israel häufiger <strong>in</strong> Hasstiraden gegenIsrael <strong>und</strong> alle Juden. Viele nicht-arabische migrantische <strong>Jugendliche</strong>solidarisieren sich nicht selten mit dieser Israel- <strong>und</strong> Judenfe<strong>in</strong>dlichkeit<strong>und</strong> sehen die „kollektive Ehre” der Araber bzw. der Muslime bedroht(vgl. Müller 2008). Antisemitische E<strong>in</strong>stellungen treten durchaus zusammenmit anderen Ungleichwertigkeitsideologien auf, beispielsweise mite<strong>in</strong>er generellen Ablehnung anderer Kulturen sowie e<strong>in</strong>er tendenziellsexistischen <strong>und</strong> homophoben Haltung (vgl. Fréville/Harms/Karakayali2010). Dabei sche<strong>in</strong>en hauptsächlich männliche <strong>Jugendliche</strong> ihre anti-


96 97semitischen Ansichten zu verbalisieren, wobei über die geschlechterspezifischenUnterschiede wenig bekannt ist.Funktion von Antisemitismus, F<strong>und</strong>amentalismus <strong>und</strong>VerschwörungstheorienAntisemitische E<strong>in</strong>stellungen bieten den <strong>Jugendliche</strong>n e<strong>in</strong>e starke <strong>und</strong>sichere Orientierung <strong>in</strong> beschleunigten <strong>und</strong> ambivalenten Zeiten. Diee<strong>in</strong>fache Antwort auf komplexe Fragen – „die Juden s<strong>in</strong>d schuld” – bietetnicht nur Sicherheit, sondern vermag es auch, die eigenen Ohnmachtsgefühlezu legitimieren <strong>und</strong> zu verfestigen, da damit e<strong>in</strong>e „Lösung” desProblems präsentiert wird, für die man sich nicht selbst verantwortlichfühlt <strong>und</strong> die man auch nicht selbst verändern kann. Die antisemitischeIdeologie vermag es, be<strong>in</strong>ahe alle Facetten der Widersprüchlichkeitender Moderne zu erklären: Kapitalismus- bzw. Globalisierungskritik, dieE<strong>in</strong>seitigkeit der (deutschen) Medien, die Erosion der Familie, Arbeitslosigkeitetc.Die fehlende Selbstverständlichkeit von Zusammengehörigkeit <strong>und</strong> Zuordnungverführt gewissermaßen zu Zusammengehörigkeitskonstruktionen,die sich <strong>in</strong> den Dimensionen von gut <strong>und</strong> böse bzw. richtig <strong>und</strong>falsch konstituieren (vgl. Tietze 2010). Diese E<strong>in</strong>stellungen werden häufigunreflektiert von Eltern, Peers, religiösen <strong>und</strong> kulturellen Organisationen,Medien oder auch von der Mehrheitsgesellschaft übernommen. Dabeis<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere die prekäre ökonomische <strong>und</strong> soziale Situation der<strong>Jugendliche</strong>n, die Integrationsprobleme sowie die fehlende Chancengleichheitwichtige (<strong>und</strong> <strong>in</strong> der pädagogischen Arbeit zu thematisierende)Aspekte. „Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> kann Antisemitismus die Funktionhaben, eigene, von der Mehrheitsgesellschaft ausgehende Diskrim<strong>in</strong>ierungs-<strong>und</strong> Ausgrenzungserfahrungen durch die Abwertung <strong>und</strong> Ausgrenzunganderer – hier: der Juden/Jüd<strong>in</strong>nen – zu kompensieren” (Fréville/Harms/Karakayali 2010, S. 193). Der Nahost-Konflikt kann entsprechendauch als Projektionsfläche für Marg<strong>in</strong>alisierungserfahrungen der muslimischen<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> der deutschen Mehrheitsgesellschaft dienen.„Persönlich erfahrene Diskrim<strong>in</strong>ierung, Perspektivlosigkeit <strong>und</strong> Deprivationkönnen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Identitätssuche münden, die durch die Konstruktione<strong>in</strong>er ethnisch f<strong>und</strong>ierten muslimischen Identität befriedigt werden kann.E<strong>in</strong> negatives Judenbild kann identitätsstiftend wirken bzw. Zugehörigkeiten<strong>und</strong> Nicht-Zugehörigkeiten verb<strong>in</strong>dlich machen” (Niehoff 2010).Der Rückbezug auf e<strong>in</strong>en „realen” Konflikt, der (un-)mittelbare Betroffenheiterzeugt, führt zu e<strong>in</strong>er ernstzunehmenden „Opferkonkurrenz”(vgl. Niehoff 2010; Fréville/Harms/Karakayali 2010). Die <strong>Jugendliche</strong>nfragen sich, warum die Diskussion um Integrationsprobleme von Migranten<strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Medien e<strong>in</strong>e solche Rolle e<strong>in</strong>nimmt, aber die eigenenDiskrim<strong>in</strong>ierungserfahrungen übersehen werden; warum der Holocauste<strong>in</strong>e solch dom<strong>in</strong>ante Stellung <strong>in</strong> den Lehrplänen <strong>und</strong> Medien e<strong>in</strong>nimmt,aber die türkische, arabische oder muslimische Geschichte – <strong>und</strong> auchdie Vertreibung der Paläst<strong>in</strong>enser – weniger berücksichtigt wird; warumAntisemitismus e<strong>in</strong> besondere Rolle spielt, die zunehmende Islamophobiejedoch nicht; warum Fremdsprachen als enorm wichtig angesehen werden,aber Arabisch oder Türkisch offensichtlich weniger bedeutungsvollzu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>en usw.Aufgr<strong>und</strong> dieser wahrgenommenen E<strong>in</strong>seitigkeit der deutschen Schulen<strong>und</strong> Medien greifen viele <strong>Jugendliche</strong> auf Massenmedien zurück, <strong>in</strong> denen„ihre” Interessen stärker Berücksichtigung f<strong>in</strong>den. Satellitenfernsehen<strong>und</strong> das Internet führen dann zum <strong>in</strong>ternationalen Austausch antisemitistischerProgramme bzw. Informationen (vgl. Niehoff 2010), teilweiseauch <strong>in</strong> Kooperation zwischen nationalistischen, rechtsextremen <strong>und</strong>muslimischen Organisationen. Wie stark diese Medien von muslimischen<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> konsumiert werden, ist allerd<strong>in</strong>gs auchweitgehend unbekannt (vgl. Holz/Kiefer 2010). In diesem Zusammenhangspielt antisemitische Musik, <strong>in</strong>sbesondere Rap-Musik, ebenso e<strong>in</strong>ezunehmende Rolle (vgl. Buschbom 2007, S. 26). Dieser lebensweltlicheErfahrungsraum der <strong>Jugendliche</strong>n, der sich häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er forciertenOpferrolle ausdrückt, muss <strong>in</strong> der pädagogischen Arbeit thematisiert<strong>und</strong> reflektiert werden.Häufig wird von e<strong>in</strong>er zunehmenden Islamisierung der <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><strong>und</strong> Europa lebenden Migranten gesprochen – meist wird dies durch denAusdruck „Kopftuchmädchen” verdeutlicht. Die Motive für das Tragendieses religiösen Symbols sollen im Folgenden analysiert werden.4.6. Das KopftuchGr<strong>und</strong>sätzlich gibt es bei der aktiven Ausübung religiöser Rituale <strong>und</strong>traditioneller Bräuche große Unterschiede bei Muslimen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.Es kann nicht von e<strong>in</strong>er homogenen islamischen Gruppe gesprochenwerden. Wenn vom Islam bzw. von der Religionspraxis der türkischen


98 99<strong>und</strong> arabischen Bevölkerungsgruppen gesprochen wird, werden zweiGedanken damit <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht: (1.) das Kopftuch der Frauenbzw. der Mädchen <strong>in</strong> der Öffentlichkeit, <strong>in</strong>sbesondere im deutschenSchulalltag, <strong>und</strong> (2.) die muslimischen Männer, die ihre Frauen unterdrücken<strong>und</strong> gewaltbereit s<strong>in</strong>d – bis zu dem extremsten Ausmaß: derEhrenmord. Streng genommen werden diese Punkte sowohl von denmuslimischen Migranten als auch von der Mehrheitsgesellschaft fürunterschiedliche Zwecke <strong>in</strong>strumentalisiert. Im Folgenden sollen dasTragen des Kopftuches <strong>und</strong> anschließend die Formen der Eheschließungsowie das Phänomen des Ehrenmordes näher betrachtet werden.Das Kopftuch ist für die deutsche Gesellschaft an sich ke<strong>in</strong> fremdes bzw.unbekanntes Kleidungsstück. In vielen Gegenden, wie z.B. <strong>in</strong> Bayern,tragen oft ältere Frauen auf dem Markt oder zum Kirchgang e<strong>in</strong> Kopftuch.Was an der Diskussion neu ist, ist der Umgang mit dem Kopftuchbei arabischen <strong>und</strong> türkischen Mädchen <strong>und</strong> Frauen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>.Im traditionalistisch-ländlichen Kontext ist das Tragen des Kopftuches,<strong>in</strong>sbesondere für ältere Frauen e<strong>in</strong>e Selbstverständlichkeit <strong>und</strong> wird auchvielerorts nicht mit religiösen E<strong>in</strong>stellungen begründet.„Kleidungsordnungen basieren sowohl <strong>in</strong> der christlichen wie jüdischenoder islamischen Kultur auf patriarchalischen Mustern, auf Versuchender Machtausübung, denen sich Frauen beugen mußten, sich beugten,denen sie Widerstand entgegensetzten oder die sie ver<strong>in</strong>nerlichten. DasKopftuch ist traditionelles Kleidungsstück, das dazu gehört, wenn Frauenim katholischen Spanien oder im protestantischen Franken <strong>in</strong> die Kirchegehen, das <strong>in</strong> anatolischen Dörfern, je nach B<strong>in</strong>dungsart e<strong>in</strong>e eigeneSprache spricht, das ältere Aussiedler<strong>in</strong>nen als Teil ihrer Identität nichtablegen wollen.” (Franger 1999, S. 14f.)In deutschen Schulen werden die türkischen Mädchen <strong>in</strong> vier Lebenssituationen,<strong>in</strong> denen sie mit der deutschen Umwelt bzw. im Schüler-Lehrer-Verhältnis <strong>in</strong> Konflikt kommen, als Außenseiter dargestellt: beim Tragendes Kopftuches, bei der Verweigerung der Teilnahme an Sportunterricht<strong>und</strong> Klassenfahrten, bei der Ablehnung von Sexualunterricht <strong>und</strong> bei derForm der Eheschließung. Diese vier Aspekte hängen eng mite<strong>in</strong>anderzusammen. 4Sobald muslimische Mädchen <strong>in</strong> der Schule e<strong>in</strong> Kopftuch tragen, kanndas als Zeichen für e<strong>in</strong>e religiöse Orientierung <strong>und</strong> als Ausdruck der Zugehörigkeitzu e<strong>in</strong>er religiösen Gruppe gesehen werden. Das Motiv fürdas Tragen des Kopftuches wird allerd<strong>in</strong>gs meist <strong>in</strong> zweierlei Richtungengesucht: E<strong>in</strong>erseits wird davon ausgegangen, dass das Kopftuch von denEltern verordnet bzw. den Mädchen aufgezwungen wird; oder andererseitswird es als Gr<strong>und</strong>haltung von Mädchen, Frauen bzw. Familien <strong>in</strong>terpretiert,die sich zum Islam bekennen <strong>und</strong> das Kopftuch als (politisches)Kampfmittel e<strong>in</strong>setzen.Dass viele „Gastarbeiter<strong>in</strong>nen” der ersten Generation das Kopftuch ausGewohnheit, Tradition oder als Schutz vor Wettere<strong>in</strong>flüssen tragen, istallgeme<strong>in</strong> wenig bekannt. Im Türkischen wird hier lexikalisch zwischenbasörtü oder esarp <strong>und</strong> türban unterschieden. Bei basörtü/esarp fällt<strong>in</strong>s Auge, dass das Kopftuch sehr locker getragen wird. Die Kopfhaut oderdie Haare werden dabei sichtbar. Die Frauen, die das Kopftuch <strong>in</strong> dieserForm tragen, bezeichnen sich als nicht religiös, wenig religiös oder alsnicht praktizierende Muslime. In vielen Fällen wird das Kopftuch aberauch aus religiöser Überzeugung getragen. Dann dürfen weder die Kopfhautnoch die Haare sichtbar se<strong>in</strong>. Aus diesem Gr<strong>und</strong> tragen die Frauene<strong>in</strong> Kopftuch im B<strong>in</strong>destil des türban, der die Haare vor dem öffentlichenBlick schützt. Der türban wird nicht nur aus religiösen, sondern auch auspolitischen Gründen getragen. Der türban dient <strong>in</strong> bestimmten Milieus alspolitisches Symbol, um den Islam <strong>in</strong> der Gesellschaft sichtbar zu machen.In der Diskussion um das Kopftuch (geme<strong>in</strong>t wird damit praktisch immerder türban) wird vielfach übersehen, dass es sich bei den Träger<strong>in</strong>nen ume<strong>in</strong>e sehr heterogene Gruppe handelt. 5Im kritischen Diskurs über das Kopftuch ist also praktisch nie das Kleidungsstückgeme<strong>in</strong>t, sondern vielmehr e<strong>in</strong>e über viele Generationenumkämpfte Rolle der Frau. Es ist also durchaus nachvollziehbar, dassdie Idee, Religion sei etwas Privates, dazu führt, dass nicht das „StückStoff” selbst, sondern se<strong>in</strong>e implizite öffentliche Symbolhaftigkeit <strong>und</strong>se<strong>in</strong>e explizite kollektive Organisation des Geschlechterverhältnisses zue<strong>in</strong>em Problem wird. Aus dieser Perspektive handelt es sich <strong>in</strong> der Tatum mehr als die Frage: Trage ich e<strong>in</strong>e Kopfbedeckung oder nicht? Eshandelt sich gewissermaßen um e<strong>in</strong> Medium zur Konstruktion sozialerOrdnung, das öffentlich diskutiert werden muss. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es <strong>in</strong>pädagogischen Kontexten kaum Anschlussmöglichkeiten an diese Überlegungen.Denn unseres Erachtens tragen muslimische Mädchen das


100 101Kopftuch <strong>in</strong> der Regel auf eigenen Wunsch, um e<strong>in</strong>erseits ihre religiöseZugehörigkeit zu verdeutlichen, <strong>und</strong> andererseits wollen sie öffentlichzeigen, dass sie die muslimische Bedeutung von Körperlichkeit <strong>und</strong> ihremuslimisch-weibliche Identität gegenüber dem deutschen Umfeld aufrechterhaltenwollen. Allerd<strong>in</strong>gs besteht damit auch e<strong>in</strong> deutlicher Zusammenhangzwischen dem Tragen des Kopftuchs <strong>und</strong> der geschlechtsspezifischenErziehung: Da Mädchen nicht dazu ermutigt werden, sichselbstbewusst <strong>und</strong> aktiv zu verteidigen, ist es naheliegend, dass dieMädchen freiwillig die kulturell vorgeformte passive Schutzfunktion desKopftuchs <strong>in</strong> Anspruch nehmen. Bei jeder Diskussion um das Kopftuchsollte die komplexe Verschränkung zwischen Religion <strong>und</strong> Erziehungszielbeachtet werden: Wer Mädchen <strong>und</strong> Frauen (aus gut geme<strong>in</strong>ten Gründen)vor dem Kopftuch schützen will, muss beachten, dass man ihnen(aus ihrer Sicht) den Schutz entzieht. In e<strong>in</strong>er komplexen Gesellschaftbieten Tradition <strong>und</strong> Kopftuch Orientierung <strong>und</strong> Anerkennung. Und zudembietet es die Möglichkeit, sich zu unterscheiden <strong>und</strong> der eigenenHerkunft e<strong>in</strong>e sichtbare Notiz zu geben. Daher wird es teilweise mitemanzipatorischer Absicht getragen, also mit dem Ziel, sichtbar, selbstbewusst<strong>und</strong> ohne E<strong>in</strong>flussnahme der Eltern die eigenen Lebensidealezu vertreten. 6 Der kritische Diskurs zu Kopftuch <strong>und</strong> Frauenrechten,<strong>in</strong>sbesondere aus fem<strong>in</strong>istischen Richtungen, wird hier eher zu jugendlichemTrotz führen als dass damit etwas erreicht würde.Anders sieht es aus, wenn <strong>K<strong>in</strong>der</strong> e<strong>in</strong> Kopftuch tragen. Hier ist dasTableau der Motive nicht so differenziert wie bei Erwachsenen. Diejungen Mädchen werden zum Tragen des Kopftuches offensiv animiertoder gar gezwungen – selten imitieren sie die eigene Mutter. Wehrensich die Mädchen im E<strong>in</strong>zelfall gegen den Zwang, e<strong>in</strong> Kopftuch zu tragen,wird entweder subtiler Druck ausgeübt oder aber Gewalt angewendet.Es gibt Anzeichen dafür, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Familien <strong>und</strong> Milieus die Mädchensehr früh an das Kopftuch herangeführt werden, um sie vor äußerenE<strong>in</strong>flüssen, wie z.B. frühe Partnerschaft <strong>und</strong> Sexualität, zu schützen.In muslimischen Gesellschaften ist es üblich, dass die Kopfbedeckungfrühestens ab der Menarche – dem Zeitpunkt der ersten Menstruation –empfohlen wird.Die Diskussion über die umstrittene religiöse Notwendigkeit <strong>und</strong> die fragwürdigearchaische Tradition des Kopftuchs führt <strong>in</strong> pädagogischen Kontextennicht weiter. Man weiß sehr genau, dass tradierte Verhaltensmusternur sehr bed<strong>in</strong>gt über rationale Argumentationen bee<strong>in</strong>flusst odergar erschüttert werden können. Vielmehr ist die Ebene des Erlebensausschlaggebend. E<strong>in</strong>e nachholende Modernisierung kann nicht gelehrtwerden, sie entwickelt sich <strong>in</strong> funktionalen (bzw. s<strong>in</strong>nvollen) Kontexten.Häufig haben die <strong>Jugendliche</strong>n kaum Kenntnisse über ihre Religion <strong>und</strong>können entsprechend auch nicht über den Islam reflektieren. Vielmehrhaben hier die Religionsgelehrten, die <strong>in</strong> der Regel außerhalb <strong>Deutschland</strong>ssozialisiert <strong>und</strong> ausgebildet wurden, e<strong>in</strong>en großen E<strong>in</strong>fluss aufdie religiöse Haltung vieler religiöser <strong>Jugendliche</strong>r. Dies ist e<strong>in</strong> Bereich,<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e politische E<strong>in</strong>flussnahme möglich ist: Die Ausbildung derImame <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> wurde lange Zeit kläglich vernachlässigt, wirdallerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> jüngster Vergangenheit als wichtiges Themenfeld entdeckt.Mit dem Kopftuch werden auch Zwangsehe <strong>und</strong> Ehrenmorde <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dunggebracht. Es sei betont, dass alle drei Phänomene sehr selten auftreten.Sowohl der Anteil der Kopftuch tragenden Mädchen <strong>und</strong> jungenFrauen als auch die Fallzahlen von Zwangsehe <strong>und</strong> Ehrenmord s<strong>in</strong>dger<strong>in</strong>g. Dennoch: Diese Phänomene f<strong>in</strong>den statt. Daher werden sie imFolgenden thematisiert.4.7. Formen der EheschliessungVerschiedene Formen der Eheschließung müssen zw<strong>in</strong>gend unterschiedenwerden. Denn während die Zwangsverheiratung, also die durchsubtilen oder offensichtlichen Druck bzw. durch Gewaltandrohung <strong>und</strong>-anwendung herbeigeführte Eheschließung, <strong>in</strong> großen Teilen der muslimischenCommunity abgelehnt wird, f<strong>in</strong>det die Form der arrangiertenEhe, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> ihrer postmodernen Ausprägung, zuweilen breitenZuspruch. Selbstverständlich kann bei muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n auchdie Form der romantischen Liebe den Auslöser für e<strong>in</strong>e Eheschließungdarstellen, allerd<strong>in</strong>gs werden wir uns im Folgenden auf die klassische<strong>und</strong> postmoderne arrangierte Ehe sowie die Zwangsehe beschränken.Die arrangierte Ehe: klassische <strong>und</strong> postmoderne ArrangementsWichtig ist hier zu betonen, dass die arrangierte Eheschließung nur mitder Zustimmung <strong>und</strong> der freien Willenserklärung beider Parteien erfolgt.


102 103E<strong>in</strong>e klassische arrangierte Ehe läuft üblicherweise wie folgt ab:• E<strong>in</strong> junger Mann im heiratsfähigen Alter wird vom Vater oder derMutter gefragt, ob er sich Gedanken darüber gemacht hat, wen erheiraten will. Wenn der Sohn sich bereits entschieden hat, teilt erse<strong>in</strong>e Entscheidung der Mutter mit, damit die Familie als Brautwerberum die Hand des Mädchens anhalten kann. Wenn sich der Sohn nochnicht entschieden hat, beg<strong>in</strong>nt die Familie (Mutter, Schwester, Omaoder Tante), e<strong>in</strong>e geeignete Braut für ihn zu suchen. In dieser Phaseder Brautschau – im Türkischen görücü usulü – werden zuerst Mädchenaus der Nachbarschaft, dem Bekanntenkreis <strong>und</strong> der Verwandtschaftmit demselben Glauben <strong>in</strong> Erwägung gezogen (vgl. Gartmann 1981,67f.). Es werden Mädchen bevorzugt, die im sozialen Umfeld e<strong>in</strong>enguten Ruf genießen, d.h. das Mädchen soll ehrhaft se<strong>in</strong>, darf also nichtverlobt oder mit e<strong>in</strong>em Mann befre<strong>und</strong>et se<strong>in</strong>, muss sich gegenüberälteren Personen <strong>und</strong> Gästen respektvoll verhalten, soll fleißig <strong>und</strong> zurückhaltendse<strong>in</strong> <strong>und</strong> e<strong>in</strong> fre<strong>und</strong>liches Wesen haben. Wenn e<strong>in</strong>e solchejunge Frau gef<strong>und</strong>en wurde, wird Kontakt mit ihrer Familie aufgenommen.• Wenn die Familie des Mädchens <strong>in</strong> Absprache mit der Tochter geneigtist, der Hochzeit zuzustimmen oder zum<strong>in</strong>dest nicht abgeneigt ist,sagt sie der Familie des potenziellen zukünftigen Ehegatten „BesuchenSie uns doch e<strong>in</strong> anderes Mal” oder „Wir müssen noch etwas darübernachdenken”. In dieser Zeit stellen die Eltern des Mädchens Nachforschungenüber den jungen Mann <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Familie an. Wichtig istjetzt, dass die Familie <strong>und</strong> der Sohn e<strong>in</strong> gutes Ansehen <strong>in</strong> der Nachbarschaft<strong>und</strong> Bekanntschaft genießen, der junge Mann ke<strong>in</strong>e schlechtenGewohnheiten (starkes Rauchen, Alkoholkonsum, Glücksspieleetc.) hat <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Arbeit bzw. e<strong>in</strong>em angesehenen Beruf nachgeht,damit er se<strong>in</strong>e zukünftige Familie ernähren kann. E<strong>in</strong>e Ablehnungder Familie des Mädchens erfolgt mit den Worten „Es gibt <strong>in</strong> unseremHaus ke<strong>in</strong> Mädchen zu vergeben” oder „Me<strong>in</strong> Kopf stimmt nicht zu”(vgl. ebd. <strong>und</strong> Schiffauer 1987, S. 16f.). Das Ansehen der Familie desjungen Mannes erleidet durch e<strong>in</strong>e Absage ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>buße; sie suchtdann selbstbewusst nach e<strong>in</strong>er anderen für die Familie <strong>in</strong> Frage kommendenBrautkandidat<strong>in</strong>.• Wenn die Familie des Mannes von e<strong>in</strong>em bestimmten Mädchen e<strong>in</strong>enangenehmen E<strong>in</strong>druck gewonnen hat, ihre Nachforschungen über dasMädchen positiv ausgefallen s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die Eltern des Mädchens auchihre Zustimmung erteilt haben, d. h. die Brautschau erfolgreich war,wird entschieden, als Brautwerber (dünürcü) zu den Eltern des Mädchenszu gehen – hier erstmals geme<strong>in</strong>sam mit dem Sohn. Bevoralso die Familie des Mannes das Haus des Mädchens besucht, wird dieFamilie des Mädchens e<strong>in</strong>ige Tage vorher über den Besuch benachrichtigt.• Der Mann <strong>und</strong> die Frau können sich sehen <strong>und</strong> auch unterhalten, allerd<strong>in</strong>gsnur <strong>in</strong> Anwesenheit anderer Familienangehöriger. Wenn dieTochter <strong>und</strong> ihre Eltern der Eheschließung zugestimmt haben, wird dieTochter den Brautwerbern versprochen. Ab diesem Zeitpunkt ist diePhase der Brautwerbung beendet. Alle Vere<strong>in</strong>barungen zwischen denbeiden Familien zu dem Brautpreis 7 <strong>und</strong> der Festlegung des Hochzeitsterm<strong>in</strong>swerden nach diesem Versprechen getroffen. Das zukünftigePaar kann sich <strong>in</strong> Anwesenheit anderer Familienmitglieder gegenseitigbesuchen, plant <strong>und</strong> bereitet die Hochzeitsfeier geme<strong>in</strong>sam vor <strong>und</strong>erledigt E<strong>in</strong>käufe für den Hochzeitsabend bzw. für die Hochzeitstage.Der Anstoß zur Eheschließung kann durchaus auch von der Frau ausgehen:Wenn e<strong>in</strong>e junge Frau ihren zukünftigen Ehemann eigenständigkennenlernt <strong>und</strong> sich mit ihm über e<strong>in</strong>e Heirat e<strong>in</strong>igt, wird sie diesesVorhaben gegenüber ihrem Vater aus Respekt nicht erwähnen (vgl.Gartmann 1981, S. 72f.). Die Tochter weiht dann zuerst ihre ältereSchwester, dann die Mutter e<strong>in</strong>. Hier wird bereits kritisch geprüft, wiees zu dem Kennenlernen kam. F<strong>in</strong>det der Auserwählte die Zustimmungder Mutter, teilt sie die Entscheidung ihrem Mann mit, damit die Familiedes Jungen offiziell mit der Brautwerbung beg<strong>in</strong>nen kann. Daraufh<strong>in</strong>werden alle oben genannten Prozesse e<strong>in</strong>gehalten – nach außen wirdes also immer so aussehen, als hätte die Familie des zukünftigen Ehemannesdie Eheschließung angestoßen. Stößt die Wahl der Tochter h<strong>in</strong>gegenaus bestimmten Gründen bei der Mutter auf Ablehnung, versuchtsie, ihre Tochter umzustimmen. Auch hier wird mit äußeren Gegebenheitenargumentiert, wie z.B. „Er hat ke<strong>in</strong>e gute Arbeit”, „Er hat schlechteEigenschaften” (z.B. Alkoholkonsum) oder „Er hat nicht unserenGlauben!”. Lässt sich das Mädchen davon nicht umstimmen, werdender Vater <strong>und</strong> die anderen männlichen Familienmitglieder über dasVorhaben der Tochter <strong>in</strong> Kenntnis gesetzt. Danach können der jungen


104 105Frau im Extremfall rigide Sanktionen, wie z.B. Hausarrest oder dieZwangsverheiratung mit e<strong>in</strong>em anderen Mann, auferlegt werden.lag <strong>und</strong> somit e<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>schaft nur <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Verlobung geduldetwerden kann.Die klassische arrangierte Ehe f<strong>in</strong>det immer seltener statt (vgl. Toprak2010). Dass e<strong>in</strong>e Ehe <strong>in</strong> die Wege geleitet wird, bei der sich die jungenLeute vorher überhaupt nicht kennen, wird es <strong>in</strong> der Zukunft wohl auchimmer seltener geben. Heute werden junge Paare <strong>in</strong> der Regel von Familienmitgliedernunverb<strong>in</strong>dlich mite<strong>in</strong>ander bekannt gemacht, <strong>in</strong> der Hoffnung,dass sie sich gut verstehen <strong>und</strong> dann heiraten wollen. Unverb<strong>in</strong>dlichheißt aber, dass gr<strong>und</strong>sätzlich beide Optionen offenstehen. DieseForm der Eheschließung, die man als postmodern arrangierte Ehe bezeichnenkann, ist selbst <strong>in</strong> konservativen Kreisen die üblichere. ImFolgenden wird e<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong>en möglichen Ablauf e<strong>in</strong>er postmodernenarrangierten Ehe dargestellt:„Sagen wir mal so: Wir hatten fast drei Monate Zeit gehabt, ich hätteetwas länger Zeit gebraucht. Aber das war voll okay. Denn ich kenneviele Mädchen, die ihre Männer vielleicht zwei Mal vor der Hochzeitgesehen haben. Me<strong>in</strong>e Eltern haben mir gesagt, ich soll mich entscheiden.Dann habe ich ‚ja’ gesagt”.Die Verlobung wird im engsten Familienkreis gefeiert <strong>und</strong> die beidenkönnen nun offiziell als Paar auftreten. Yas<strong>in</strong> formuliert es so:„Ich war froh, dass Gül Ja sagte, dann war ja offiziell <strong>und</strong> wir konntenuns noch mehr sehen. Und ich konnte sie als me<strong>in</strong>e Verlobte vorstellen”.Nachdem Yas<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Berufsausbildung abgeschlossen hat, bemühtsich die Mutter darum, ihn zu verheiraten, <strong>in</strong>dem sie ihm Mädchenaus der Nachbarschaft <strong>und</strong> aus dem Bekanntenkreis vorschlägt, die fürdie Familie <strong>in</strong> Frage kommen. Als der Sohn e<strong>in</strong>em Vorschlag zustimmt,nimmt die Mutter Kontakt zu der Familie des Mädchens namens Gül auf<strong>und</strong> erläutert das Anliegen. Gül beschreibt dies wie folgt:„Ja, dann hat me<strong>in</strong>e Mutter mich gefragt, ob der Yas<strong>in</strong> für mich alsEhemann <strong>in</strong> Frage kommen würde. Sie hat auch gesagt, ich muss nichtsofort mit ihm heiraten. Ich kann ihn auch besser kennenlernen. Ichkannte ihn schon vom Sehen, aber nicht so gut.”In Übere<strong>in</strong>stimmung mit Gül beschließt die Familie, dass die jungenLeute sich treffen sollen, um sich etwas besser kennenzulernen. IhreZustimmung zu e<strong>in</strong>em Treffen kann noch nicht dah<strong>in</strong>gehend <strong>in</strong>terpretiertwerden, dass sie ihn auch heiraten möchte, ihre diesbezügliche Entscheidungsteht noch aus.„Ich wollte ihn e<strong>in</strong>fach kennenlernen. Ich fand ihn ja nett. Also, wenner e<strong>in</strong> Idiot wäre, hätte ich ihn niemals getroffen, um später zu heiraten.Das habe ich auch me<strong>in</strong>er Muter vorher gesagt”.Nachdem sie sich näher kennengelernt <strong>und</strong> auch angefre<strong>und</strong>et hatten,mussten sie sich sehr bald verloben, da das vordr<strong>in</strong>gliche Anliegen derEltern – <strong>in</strong>sbesondere der Eltern des Mädchens – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er EheschließungAuch die Verlobungsphase dient dem besseren Kennenlernen, dieseZeitspanne darf maximal e<strong>in</strong> Jahr betragen. Gül betont <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderenPassage, dass sie durch die Eheschließung nach eigenem Wunsch mehrFreiheiten <strong>und</strong> Autonomie bekommen wird:„Es ist schon schwer e<strong>in</strong>en Mann zu f<strong>in</strong>den, der nett ist <strong>und</strong> nicht soeifersüchtig. Bei Yas<strong>in</strong> hatte ich das Gefühl, er ist der Richtige. Ich wollteauch von me<strong>in</strong>en Eltern weg <strong>und</strong> me<strong>in</strong> eigenes Leben selbst bestimmen.Ich wusste, dass das mit ihm klappen würde <strong>und</strong> es hat geklappt”.Diese Form der Eheschließung unterscheidet sich sehr von der traditionellenForm der arrangierten Ehe nach dem Vorbild der Brautschau <strong>und</strong>kann wie folgt zusammengefasst werden:• Das Arrangement der Eheschließung wird <strong>in</strong> Absprache mit beiden<strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> Familien getroffen. Das bedeutet, e<strong>in</strong>e überraschendeBrautwerbung oder Brautschau für die Tochter, die sie u.U. unterDruck setzen könnte, ist bei dieser Form ausgeschlossen. E<strong>in</strong>schränkendmuss allerd<strong>in</strong>gs h<strong>in</strong>zugefügt werden, dass die Eltern, vor allemdie der Tochter, e<strong>in</strong>em Arrangement, <strong>in</strong> dem sich auch die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>sehen <strong>und</strong> treffen, nur zustimmen, wenn die Familie <strong>und</strong> der zukünftigePartner bekannt s<strong>in</strong>d (beispielsweise aus Nachbarschaft oder Bekanntenkreis).Vertrauen spielt <strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong>e entscheidendeRolle, denn Eltern möchten ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em Mannbzw. e<strong>in</strong>er Frau verheiraten, den/die sie gut kennen. Die Eheschließung


106 107ist also nicht nur e<strong>in</strong>e private Angelegenheit zweier Heiratswilliger,sondern <strong>in</strong>sbesondere auch e<strong>in</strong> Bündnis zwischen zwei Familien.• Die postmoderne arrangierte Form der Eheschließung hat im Vergleichzur klassischen arrangierten Eheschließung mehrere Vorteile für die<strong>K<strong>in</strong>der</strong>. Denn beide bekommen die Gelegenheit, über e<strong>in</strong>en „längeren”Zeitraum mite<strong>in</strong>ander zu reden, geme<strong>in</strong>sam Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bekanntezu treffen <strong>und</strong> herauszuf<strong>in</strong>den, ob sie zue<strong>in</strong>ander passen. Sie könnenselbst entscheiden, ob sie die Ehe mit dem betreffenden Partner e<strong>in</strong>gehenmöchten oder nicht; die Option, nach e<strong>in</strong>er gewissen Zeit abzulehnen,ist e<strong>in</strong> wichtiges Merkmal. Im Falle, dass e<strong>in</strong>er der beiden sichgegen die Ehe entscheidet, wird dies als e<strong>in</strong>vernehmliche Übere<strong>in</strong>kunftbeider verkündet, damit ke<strong>in</strong>es der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e der Familien ihrGesicht verliert.• Vor allem die jungen Frauen profitieren von der postmodernen arrangiertenEheschließung, weil sie nach e<strong>in</strong>er Phase des Kennenlernensselbst entscheiden können, ob sie zustimmen wollen. Durch diese Formerhoffen sich die jungen Mädchen mehr Freiheiten <strong>und</strong> Autonomie.Wenn sie e<strong>in</strong>en Mann aus der eigenen Community heiraten, von demsie überzeugt s<strong>in</strong>d, können sie sich den Wunsch nach mehr Freiheit<strong>und</strong> Autonomie besser erfüllen. Für die meisten Frauen kommt nur e<strong>in</strong>Mann aus der eigenen ethnischen Gruppe <strong>in</strong> Frage (vgl. Boos-Nünn<strong>in</strong>g/Karakasoglu 2006, S. 271f.).• Lehnt e<strong>in</strong> Mädchen mehrere Arrangements (also mehrere Männer) ab,kann das das Ansehen der Familie <strong>in</strong> der Öffentlichkeit beschädigen.Aus diesem Gr<strong>und</strong> überprüft die Familie der potenziellen Braut imVoraus sehr genau, ob e<strong>in</strong>e Zustimmung der Tochter wahrsche<strong>in</strong>lichersche<strong>in</strong>t oder nicht.Dieses „modernisierte” Verfahren der arrangierten Eheschließung ist <strong>in</strong>bestimmten Milieus gesellschaftlich hoch anerkannt – auch von <strong>Jugendliche</strong>n.Unter dem Motto „verlobt (verliebt) verheiratet” wird hier alsoder heute <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> übliche Prozess der Eheschließung deutlichbeschleunigt <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Reihenfolge etwas verändert. Der erste notwendigeSchritt der Liebesehe „verliebt” wird bei der postmodernen arrangiertenEhe um „verlobt” ersetzt. Liebe ist nicht ausgeschlossen, kannsich <strong>in</strong> der längeren Verlobungsphase entwickeln, ist aber nicht notwendig.Wenn beispielsweise e<strong>in</strong> wohlhabender junger Mann, bei dem auchdie oben genannten Voraussetzungen gegeben s<strong>in</strong>d, um die Hand derTochter anhält, versuchen die Familienmitglieder, <strong>in</strong>sbesondere aber dieMutter, das Mädchen mit suggestiven Bemerkungen wie „Er hat e<strong>in</strong>enguten Beruf!”, „Er verdient viel!” oder „Dort wird es dir gut gehen” zue<strong>in</strong>er Entscheidung zu drängen. Der wichtigste Aspekt für e<strong>in</strong>e moderneEhe, nämlich die Liebe, hat <strong>in</strong> dieser Argumentation ke<strong>in</strong>en Platz. Wennsich die Tochter nicht freiwillig bereit erklärt, den von den Eltern präferiertenMann zu heiraten, kann es vorkommen, dass es zu e<strong>in</strong>er Zwangsverheiratungkommt.ZwangsheiratNeben der klassischen <strong>und</strong> postmodernen arrangierten Ehe gibt es dieForm der Zwangsverheiratung, die <strong>in</strong> der deutschen Öffentlichkeit kontrovers<strong>und</strong> emotional diskutiert wird. Häufig wird <strong>in</strong> der öffentlichenWahrnehmung die arrangierte Ehe mit der Zwangsverheiratung gleichgesetzt.Auch e<strong>in</strong>ige wissenschaftliche Beiträge unterscheiden nichtzwischen den verschiedenen Formen (vgl. Kelek 2007, S. 93ff.), währenddie Abgrenzung <strong>in</strong> anderen Beiträgen essenziell ist (Straßburger 2007,S. 73f.). Hier zeigt sich, wie schwer diese Grenze zu ziehen ist, dennhäufig ist der Übergang zwischen der arrangierten Ehe <strong>und</strong> der Zwangsehefließend. Wie oben beschrieben wurde, kann die freie Willensentscheidungder Brautleute manipuliert werden. Auch kommt es vor, dasse<strong>in</strong>e arrangierte Ehe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zwangsverheiratung endet, wenn die negativeEntscheidung der Tochter bzw. des Sohnes nicht akzeptiert wird.Aber sowohl <strong>in</strong> den Herkunftsländern als auch <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> müssendie heiratswilligen Paare e<strong>in</strong>er Eheschließung formal zustimmen. Erstdurch die Zustimmung <strong>und</strong> später durch die Unterschriften der Betroffenenwird besiegelt, was auf die freiwillige <strong>und</strong> mündige Entscheidungder Ehepaare zurückzuführen ist. Bei e<strong>in</strong>er Zwangsverheiratung wird die„freie” Willenserklärung stark manipuliert.E<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition zum Thema Zwangsverheiratung sche<strong>in</strong>t bei vielen Wissenschaftlern<strong>und</strong> Praktikern Konsens zu f<strong>in</strong>den: „Im Gegensatz zurarrangierten Ehe, die auf der freiwilligen Zustimmung beider Ehegattenberuht, liegt Zwangsheirat dann vor, wenn die Betroffene sich zur Ehegezwungen fühlt. Zwar spielt die Familie auch bei der arrangierten Ehee<strong>in</strong>e zentrale Rolle, trotzdem haben die Heiratskandidaten das letzteWort” (Rahel Volz, zit. nach Straßburger 2007, S. 74f.). Die Def<strong>in</strong>ition


108 109sche<strong>in</strong>t zwar e<strong>in</strong>deutig zu se<strong>in</strong>, problematisch bleibt aber die Frage,<strong>in</strong>wiefern die Heiratskandidaten frei ihren Willen äußern können, wennder Druck zu groß ist. Andererseits ist es auch kontraproduktiv, jedenicht eigenständig zustande gekommene Ehe zu verdächtigen, e<strong>in</strong>eZwangsheirat zu se<strong>in</strong> (vgl. Straßburger 2007, S. 75f.). Denn vielfachkonnte gezeigt werden, dass sowohl die klassische arrangierte Ehe alsauch die postmoderne arrangierte Ehe bei den Mädchen <strong>und</strong> jungenFrauen große Zustimmung f<strong>in</strong>den. E<strong>in</strong> wichtiger Aspekt bei der Zwangsverheiratungs<strong>in</strong>d die Motive der Eltern. Die Sichtung der e<strong>in</strong>schlägigenLiteratur ergab vier zentrale Motive für die Zwangsverheiratung, welchejedoch auch bei arrangierten Ehen e<strong>in</strong>e Rolle spielen können. Es spielenneben sozialen <strong>und</strong> religiösen Aspekten vor allem wirtschaftliche Interessen<strong>und</strong> die Tradition/Ehre e<strong>in</strong>e wichtige Rolle.Seit dem 17. März 2011 ist e<strong>in</strong> Gesetz zur Vermeidung von Zwangsheirat<strong>in</strong> Kraft getreten. § 277 des Art. 4 des Strafgesetzbuches sieht bei Nötigungzur E<strong>in</strong>gehung e<strong>in</strong>er Ehe e<strong>in</strong>e Freiheitsstrafe von sechs Monaten biszu fünf Jahren vor.Gründe für die Ablehnung e<strong>in</strong>er Ehe durch die Familie• Die Entscheidung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> wird abgelehnt <strong>und</strong> die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> werdengezwungen, jemanden aus dem Heimatland zu heiraten, wenn damite<strong>in</strong>em/e<strong>in</strong>er Bekannten die Migration nach <strong>Deutschland</strong> ermöglichtwerden kann.E<strong>in</strong>e wichtige Erkenntnis ist, dass e<strong>in</strong>ige Eltern die praktizierte Form derEheschließung als arrangierte Ehe bezeichnen, obwohl es sich – nach denhier vorgestellten Begriffsverständnissen – um e<strong>in</strong>e Zwangsverheiratunghandelt. Die Trennl<strong>in</strong>ie zwischen freiwillig <strong>und</strong> erzwungen kann <strong>in</strong> manchenMigrantenkreisen flexibel variiert werden.4.8. EhrenmordDie Chronologie e<strong>in</strong>es vor e<strong>in</strong>igen Jahren von e<strong>in</strong>em <strong>Jugendliche</strong>n begangenenVersuchs e<strong>in</strong>es Ehrenmordes kann die „<strong>in</strong>nere Logik” e<strong>in</strong>es solchenVerbrechens verdeutlichen: 9• Die junge Frau verlässt den Ehemann <strong>und</strong> bricht mit ihrer Familie, <strong>in</strong>demsie nicht <strong>in</strong>s Elternhaus zurückkehrt, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Großstadtselbstständig lebt.Die Gründe für die Ablehnung e<strong>in</strong>es bestimmten Ehepartners durch dieFamilie können folgendermaßen zusammengefasst werden:• Da die Verheiratung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> auch als Bündnis zwischen zwei Familiengesehen wird, wollen die Eltern, dass ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> den Ehepartneraus e<strong>in</strong>er ihnen bekannten Familie wählen.• Dieses Verhalten der Tochter wird im näheren Umfeld, <strong>in</strong>sbesondereim Verwandtenkreis <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Nachbarschaft, ausnahmslos abgelehnt,aber <strong>in</strong>tern zunächst geduldet. Um Härte, Unnachgiebigkeit <strong>und</strong> Kompromisslosigkeitzu demonstrieren, wird die Tochter vom Vater öffentlichverstoßen. Er verbietet allen Familienmitgliedern den persönlichen<strong>und</strong> telefonischen Kontakt mit ihr.• Die Eltern lehnen die Entscheidung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> ab, wenn sie dieTochter bzw. den Sohn mit e<strong>in</strong>em/e<strong>in</strong>er Verwandten 8 oder e<strong>in</strong>em/e<strong>in</strong>erBekannten verheiraten wollen.• Der Vater demonstriert damit Stärke <strong>und</strong> gew<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> der Öffentlichkeitan Ansehen <strong>und</strong> Respekt, <strong>in</strong>dem er auf diese Weise das Fehlverhaltender Tochter offiziell missbilligt.• Reiche Eltern lehnen oft die Wahl ihrer <strong>K<strong>in</strong>der</strong> ab, wenn sie die andereFamilie als nicht adäquat <strong>in</strong> Bezug auf Wohlstand <strong>und</strong> Sozialstatus e<strong>in</strong>schätzen.• Wenn jemand alevitischen Glaubens e<strong>in</strong>en Partner sunnitischen Glaubens(oder umgekehrt) heiraten möchte, s<strong>in</strong>d die Ablehnung <strong>und</strong> derWiderstand der Eltern am stärksten.• Dem Vater <strong>und</strong> anderen Familienmitgliedern kommen Wahrheiten <strong>und</strong>Halbwahrheiten über den Lebensstil der Tochter zu Ohren. Diese Gerüchtewerden nicht überprüft, sondern alle<strong>in</strong> der Umstand, dass sieexistieren <strong>und</strong> die Familie mit negativen „Schlagzeilen” <strong>in</strong> der Öffentlichkeitsteht, zählt.• Der Vater gerät von allen Seiten unter Druck <strong>und</strong> Zugzwang, weil dieTochter ihr Verhalten nicht ändert <strong>und</strong> ihre Verstöße fortlaufend an ihnherangetragen werden.


110 111• Andere Familienmitglieder <strong>und</strong> enge Verwandte beraten geme<strong>in</strong>samdarüber, was für e<strong>in</strong>e Maßnahme ergriffen werden muss, um die Familienehrewiederherzustellen sowie den Gerüchten e<strong>in</strong> Ende zu bereiten.In e<strong>in</strong>er solchen R<strong>und</strong>e wird meistens der Vater unter Druck gesetzt,bis e<strong>in</strong>e „adäquate” Maßnahme, <strong>in</strong> diesem Falle der Mordanschlag,ergriffen wird.• Häufig wird die Ausführung der Tat an die m<strong>in</strong>derjährigen (männlichen)Familienmitglieder delegiert, weil bekannt ist, dass das deutsche Strafrechtfür <strong>Jugendliche</strong> mildere Strafen vorsieht. Entscheidend ist nicht,welches männliche Familienmitglied den Anschlag verübt, sondern dassdie Familie reagiert. Die Strafe, die der Täter auf sich nimmt, muss imS<strong>in</strong>ne der „Schadensbegrenzung” so ger<strong>in</strong>g wie möglich ausfallen.• Der m<strong>in</strong>derjährige junge Mann schildert se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke nach derGerichtsverhandlung folgendermaßen: „Nach der Verhandlung (…)konnte ich sofort gehen. Alle waren da, me<strong>in</strong> Bruder, me<strong>in</strong>e Mutter,die Verwandten, alle. Nur me<strong>in</strong> Vater war nicht da, er war <strong>in</strong> der Arbeit.(…) Die haben alle applaudiert, als ich gehen konnte. (…) alle habenmich gegrüßt. Die haben gesagt‚ hast du gut gemacht. Du hast dieEhre eurer Familie gerettet. Du hast es gemacht, das ist wichtig <strong>und</strong>so weiter. Alle hatten Respekt vor mir. Me<strong>in</strong> Vater hat auch gesagt, ichb<strong>in</strong> stolz auf dich, Junge (…) Das war damals schon cool, wenn alleRespekt vor dir haben”.Zwei Gründe legitimieren diesen extremen Schritt aus der Sicht dermännlichen Familienmitglieder:• Der m<strong>in</strong>derjährige Bruder wird unter Druck gesetzt. Ihm wird suggeriert,dass er als Märtyrer der Familie <strong>in</strong> die Geschichte e<strong>in</strong>gehen wird,wenn er sich für die Familie aufopfert. Der Bruder wird dazu gebracht,die Tat zu begehen, <strong>in</strong> dem ihm suggeriert wird, dass se<strong>in</strong>e „Liebl<strong>in</strong>gsschwester”nicht nur die Ehre der Familie, sondern auch se<strong>in</strong>e Liebe<strong>und</strong> se<strong>in</strong> Vertrauen mit Füßen getreten habe. Beides habe sie durchihr Verhalten zerstört <strong>und</strong> könne nur mit rigider <strong>und</strong> entschlossenerAhndung wiederhergestellt werden.• Dem m<strong>in</strong>derjährigen Bruder bleibt kaum Spielraum für e<strong>in</strong>e eigeneEntscheidung. Sie wird vom Kollektiv bzw. vom Vater bestimmt <strong>und</strong>vorgegeben. Weigert er sich, diesen Beschluss <strong>in</strong> die Tat umzusetzen,schadet er nicht nur sich selbst, sondern e<strong>in</strong> weiteres Mal se<strong>in</strong>em Vater,dem <strong>in</strong> diesem Fall erneut e<strong>in</strong>s se<strong>in</strong>er <strong>K<strong>in</strong>der</strong> Gehorsam <strong>und</strong> Loyalitätverweigern würde. Die Relation zwischen dem Fehlverhalten <strong>und</strong> demStrafmaß wird nur mit dem aktuellen Verhalten der Tochter (unehelichesexuelle Beziehung zu Männern) begründet. Die Tochter rechtfertigtdamit aus der Perspektive der Familie e<strong>in</strong>en Mordanschlag, der dannauch umgesetzt wurde.• Der Mordanschlag missglückt, die Schwester überlebt. Der Junge wirdwegen schwerer Körperverletzung zu e<strong>in</strong>er Bewährungsstrafe verurteilt.Dies liegt u.a. daran, dass die Aussage der Schwester ke<strong>in</strong>e Verurteilungwegen versuchten Mordes zuließ. Selbst <strong>in</strong> dieser Situationhält die Schwester zu ihrem Bruder.1. In konservativ-patriarchalischen Familienstrukturen steht es der Fraunicht zu, ihren Mann zu verlassen. Die traditionelle Rolle der Fraubesteht dar<strong>in</strong>, das Funktionieren der Familie zu gewähren.2. Wird aber die Ehe trotzdem geschieden, weil der Mann se<strong>in</strong>e Frauverlässt, muss die Frau wieder zu ihren Eltern zurückkehren. Denn nure<strong>in</strong>e verheiratete Frau darf ihr Elternhaus verlassen.3. Sexuelle Kontakte zu Männern s<strong>in</strong>d ausschließlich <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er vonden Eltern akzeptierten Ehe zulässig.4.9. ZusammenfassungZwangsehe <strong>und</strong> Ehrenmorde s<strong>in</strong>d vor etwa 200 Jahren auch <strong>in</strong> Europa<strong>und</strong> Nordamerika nicht unüblich gewesen. Sie treten <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>praktisch nur dann auf, wenn e<strong>in</strong>e extrem archaisch-traditionelle Gr<strong>und</strong>haltungmit benachteiligten Lebensumständen zusammentrifft. Diewesentliche Problematik besteht dar<strong>in</strong>, dass sich perspektivlose Jungenden Vorstellungen <strong>und</strong> Werten der Elterngeneration beugen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrenJugendgruppen weiterentwickeln. Die größte Anerkennung – nämlichdie Eltern stolz zu machen – können junge Männer durch e<strong>in</strong>e Familiengründungerreichen. Dafür benötigen sie allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen,mit dem sie die Familie ernähren können. Zudem ist die e<strong>in</strong>zige von denEltern akzeptierte Form von Romantik <strong>und</strong> Sexualität jene, die <strong>in</strong>nerhalbe<strong>in</strong>er anerkannten Ehe stattf<strong>in</strong>det. Wenn diese jungen Männer ke<strong>in</strong>eAussicht auf e<strong>in</strong>en guten Beruf – <strong>und</strong> damit auf e<strong>in</strong>e Eheschließung <strong>in</strong>


112 113<strong>Deutschland</strong> – haben, werden sie sich anderen Formen der Anerkennungzuwenden. Sie verteidigen dann mit aller Macht die Ehre der Familie,kontrollieren <strong>in</strong> extremer Weise die weiblichen Familienmitglieder <strong>und</strong>etablieren <strong>in</strong> ihren Fre<strong>und</strong>eskreisen e<strong>in</strong>en Verhaltenskodex, der mit e<strong>in</strong>ermachohaft-dom<strong>in</strong>anten Männlichkeitsvorstellung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er teilweiseenormen Gewaltneigung zusammenhängt. Zudem werden sie eher e<strong>in</strong>Mädchen aus dem Herkunftsland heiraten, da die <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> aufgewachsenenmuslimischen jungen Frauen relativ hohe Erwartungen anden Status des Mannes stellen <strong>und</strong> tendenziell emanzipierter s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gsneigen die Mädchen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> zu e<strong>in</strong>er arrangierten Ehe, dasie sich zum e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Ehe nicht selten mehr Freiheiten versprechenals <strong>in</strong> ihren Familien <strong>und</strong> zum anderen durch die familiäre Kontrolle kaumauf anderen Wegen potenzielle Partner kennenlernen können <strong>und</strong> zudemhäufig auch die Ehre der Familie erhalten wollen.Es sollte deutlich geworden se<strong>in</strong>, dass die Jungen die zentrale Schnittstelles<strong>in</strong>d: Sie neigen e<strong>in</strong>erseits eher zu extremen Haltungen <strong>und</strong> Handlungen<strong>und</strong> sie stellen andererseits auch für die Förderung bzw. E<strong>in</strong>schränkungenvon Frauenrechten die zentrale Instanz dar – <strong>in</strong>sbesondereweil sie Bräute aus ihren Herkunftsländern importieren <strong>und</strong> damitimmer wieder neue „erste Generationen” <strong>in</strong> prekären Soziallagen entstehen.Wenn man also muslimischen Jungen <strong>und</strong> jungen Männern e<strong>in</strong>ePerspektive gibt, ihnen also e<strong>in</strong>en guten Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft <strong>in</strong> Aussichtstellt, dann verbessert man damit gleichzeitig die Situation derMädchen – <strong>und</strong> zwar beträchtlich. Unserer E<strong>in</strong>sicht nach führt kaum e<strong>in</strong>Weg daran vorbei, die benachteiligten muslimischen Jungen stärker <strong>in</strong>sZentrum präventiver pädagogischer Bemühungen zu rücken.Die Konzentration auf Jungen <strong>und</strong> junge Männer ist dabei nicht nurwegen der zentralen Rolle der Männer von Bedeutung, sondern <strong>in</strong>sbesondereauch deshalb, weil sie im Bildungssystem die ungünstigstenVoraussetzungen mitbr<strong>in</strong>gen. Wie <strong>in</strong> den nächsten Kapiteln deutlichwerden wird, ist die Erziehungspraktik, die wenige Freiräume lässt,für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Schullaufbahn <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> deutlich „günstiger”.Daher schneiden muslimische Mädchen deutlich besser ab als ihreBrüder. Während die Mädchen von allen Außene<strong>in</strong>flüssen abgeschirmtwerden, müssen sich die Jungen mit allen Widersprüchlichkeiten <strong>und</strong>Herausforderungen im K<strong>in</strong>des- <strong>und</strong> Jugendalter selbstständig ause<strong>in</strong>andersetzen.Sie werden kaum kontrolliert <strong>und</strong> damit auch nicht unterstützt.Alle jungen Menschen wollen e<strong>in</strong>e Orientierung <strong>und</strong> haben das Bedürfnis,gebraucht zu werden. Sie möchten auf der „richtigen Seite” stehen. Esist dabei zu beachten, dass das, was sie können, entscheidend prägt,was sie wollen. Wollen <strong>und</strong> Können s<strong>in</strong>d häufig nur analytisch trennbar –<strong>in</strong> der Praxis s<strong>in</strong>d diese beiden Modi so stark verschränkt, dass Ursache<strong>und</strong> Wirkung nicht zu unterscheiden s<strong>in</strong>d. Wenn sie mehrfach erleben,dass sie gewisse D<strong>in</strong>ge nicht beherrschen, dann werden diese für sie anBedeutung verlieren. Die Schule ist von diesem Bedeutungsverlust sehrhäufig am stärksten betroffen.Literaturtipps• B<strong>und</strong>schuh, Stephan / Jagusch, Birgit / Mai, Hanna (Hrsg.) (2009):Facebook, Fun <strong>und</strong> Ramadan. Lebenslagen muslimischer Jugend-licher. Düsseldorf.• Tertilt, Hermann (1996): Turkish Power Boys. Ethnographie e<strong>in</strong>erJugendbande. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>.• Toprak, Ahmet (2010): Integrationsunwillige Muslime? E<strong>in</strong> Milieu-1|2|3|4|5|6|bericht. Freiburg.Hierbei werden selbstverständlich pathologische Gewalttaten außer Achtgelassen.Hierunter werden Beleidigungen <strong>und</strong> Übergriffe von <strong>Jugendliche</strong>n mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>auf deutschstämmige <strong>Jugendliche</strong> – <strong>und</strong> zwar nur deshalb,weil sie „Deutsche” s<strong>in</strong>d – verstanden.Immer wieder wurden die Beleidigungen „Teppichknüpfer”, „Knoblauchfresser”<strong>und</strong> „Mullah” genannt.Die anderen Konfliktsituationen (Klassenfahrten, Sport-, Schwimm- <strong>und</strong>Sexualunterricht) können bei Toprak (2010) ausführlich nachgelesen werden.Dass aber die Träger<strong>in</strong>nen des türban öffentlich selbstbewusst e<strong>in</strong>en Mannküssen, ist e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutig neue <strong>und</strong> überraschende Entwicklung, die sowohl<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> als auch <strong>in</strong> muslimischen Gesellschaften immer häufiger beschriebenwird.Die Funktion der Unterscheidung ist äußerst komplex. Sie kann mit der Färbungder Haare (wie bei Punks) oder der schwarzen Schm<strong>in</strong>ke (bei Gothicsoder Emos) verglichen werden. Dieses Motiv ist <strong>in</strong>sbesondere dann gegeben,wenn die Tochter e<strong>in</strong> Kopftuch trägt, während ihre eigene Mutter dies nicht tut.Und diese Konstellation ist nicht selten.


1147|8|9|Früher gab es den sogenannten Brautpreis, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen traditionellenKontexten auch heute noch üblich ist.Die Ehe zwischen Verwandten (z.B. zwischen Cous<strong>in</strong> <strong>und</strong> Cous<strong>in</strong>e) hat e<strong>in</strong>elange Tradition <strong>und</strong> war auch <strong>in</strong> Europa weit verbreitet. Aber auch <strong>in</strong> muslimischenGesellschaften wird sie immer stärker abgelehnt oder verliert zunehmendan Bedeutung.Hierzu ausführlich Toprak (2006, 2010).5. Lebenswelt SchuleAlle bisher beschriebenen Problembeschreibungen schlagensich <strong>in</strong> der Schule <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong>tagese<strong>in</strong>richtungen nieder.Die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n erleben <strong>in</strong> Familie <strong>und</strong> PeergroupsAnerkennungsmodi <strong>und</strong> Regelwerke, die mit jenender Schule nur schwer <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen s<strong>in</strong>d. In derFamilie dürfen Jungen toben <strong>und</strong> lebhaft se<strong>in</strong>, müssen sichnicht an viele Regeln halten <strong>und</strong> werden – wenn es aus derSicht der Eltern nötig ersche<strong>in</strong>t – energisch <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emautoritären Stil gemäßigt. Sie werden zudem kaum fürverantwortungsvolle Aufgaben vorbereitet. In der Schulesollen sie still sitzen <strong>und</strong> zuhören, selbstständig Aufgabenerledigen, sich an teilweise unbekannte Umgangsformen<strong>und</strong> ungewohnte Regeln halten, die Autorität der Lehrkraftakzeptieren, ohne dass die Lehrkraft autoritär ist, bei RegelverstößenE<strong>in</strong>sicht zeigen <strong>und</strong> ihr Verhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kommunikativen,auf Nachsicht ausgerichteten Prozess verbessern.Nicht nur, aber <strong>in</strong>sbesondere auch bei weiblichen Lehrkräftenkann es zu Verhaltensproblemen kommen. DiesenErwartungen werden Mädchen viel eher gerecht, da sie sichauch zu Hause zurückhaltend, vorsichtig, diszipl<strong>in</strong>iert <strong>und</strong>verantwortungsbewusst verhalten sollen.Allerd<strong>in</strong>gs wird <strong>in</strong> der Schule auch erwartet, dass sich die<strong>K<strong>in</strong>der</strong> durch aktive Beteiligung <strong>in</strong> das Unterrichtsgeschehene<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen. Hier haben die Mädchen häufig gewisse Hemmungen,da von ihnen <strong>in</strong> der Familie stets e<strong>in</strong> schüchternes<strong>und</strong> nachgiebiges Verhalten erwartet wird. Sich <strong>in</strong> der Schule


116 117voll e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen, selbstbewusst die eigene Me<strong>in</strong>ung zu vertreten <strong>und</strong>auch gegenüber männlichen Lehrkräften <strong>und</strong> Mitschülern e<strong>in</strong>e gleichwertigeRolle e<strong>in</strong>zunehmen, gel<strong>in</strong>gt nicht problemlos. Entsprechend kannes nicht überraschen, dass es bei Jungen <strong>und</strong> Mädchen zu Orientierungsproblemenkommt.Dies liegt u.a. auch daran, dass <strong>in</strong> der Schule der Schwerpunkt auf Bildunggesetzt wird <strong>und</strong> der Bereich Erziehung eher sek<strong>und</strong>är ist. Daherwird häufig von e<strong>in</strong>er Mittelschichtorientierung im Schulsystem gesprochen,womit geme<strong>in</strong>t wird, dass man sich an den Erziehungspraktiken<strong>in</strong> „typischen” deutschen Mittelschichtfamilien orientiert <strong>und</strong> diese dannauch voraussetzt. Zugespitzt ausgedrückt: Die Schule erwartet also fertigerzogene kle<strong>in</strong>e Menschen, die nur noch gebildet werden müssen. Hierbeiwird übersehen, dass e<strong>in</strong> erfolgreiches Durchlaufen des Schulsystemsnicht nur mit Talent <strong>und</strong> Fleiß zusammenhängt, sondern ganz besondersauch damit, dass man sich <strong>in</strong> der Schule wohl <strong>und</strong> verstanden fühlt <strong>und</strong>dass man sich an gewissen Ankern orientieren kann. Im Folgenden wirddies verdeutlicht, <strong>in</strong>dem die Bedeutung der Schule aus der Perspektiveder <strong>Jugendliche</strong>n <strong>und</strong> ihrer Familien differenziert betrachtet wird, umanschließend die Bedeutung von Berufsausbildung <strong>und</strong> die Entwicklungvon Berufswünschen zu erläutern.5.1. Zur Bedeutung der Schule bei <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n<strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>nMurat, e<strong>in</strong> heute 21-jähriger Berufsschüler, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er frühen Jugendphasehäufig auffällig geworden war, erzählt im folgenden Interviewauszugrückblickend über se<strong>in</strong>e Orientierungsprobleme:„Me<strong>in</strong>e Familie lebte <strong>in</strong> ihrer eigenen Welt. Wenn man zu Hause nichtgemacht hat, was me<strong>in</strong> Vater gesagt hat, gab’s richtig Ärger. Wir lebtenwie <strong>in</strong> der Türkei. (…) Da wurde viel gebrüllt, da gab’s immer Action.Aber da war ich eigentlich immer nur zum Essen <strong>und</strong> Schlafen. Sonstwar ich <strong>in</strong> der Schule oder mit me<strong>in</strong>en Jungs unterwegs. (…) Me<strong>in</strong> Vaterhat immer gefragt, ob alles <strong>in</strong> der Schule gut läuft, ich habe gesagt:Klar, läuft alles. Das war’s. Me<strong>in</strong>e Eltern fanden Schule wichtig, aber diehatten überhaupt ke<strong>in</strong>e Ahnung, was da los war. (…) Wenn ich Scheißegebaut habe <strong>und</strong> me<strong>in</strong> Vater <strong>in</strong> die Schule kommen musste, musste ichübersetzen. Da habe ich immer irgendwas erzählt, auf jeden Fall hattedas nix mit dem zu tun, was die Lehrer<strong>in</strong> gesagt hat. (…) In der Schulewar das immer so komisch, ich wusste gar nicht, was die von mir wollten.Das hat für mich ke<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n gemacht. (…) Wir haben eigentlich niedas gemacht, was wir sollten. Die Lehrer wussten auch nicht, was die mituns machen sollten. Das war so, für uns war das so, wir s<strong>in</strong>d da e<strong>in</strong>fachso h<strong>in</strong>gegangen, zu den Deutschen, <strong>und</strong> nach der Schule waren wir <strong>in</strong>unserer Straße <strong>und</strong> haben nur Scheiße gemacht. Das war e<strong>in</strong>e Pflichtveranstaltung,sonst nichts. (…) Und später, so mit 15 oder 16, warenwir ne richtige Gang. Wenn e<strong>in</strong>er Probleme hatte, haben alle mitgemacht.Da hat man sich richtig stark gefühlt, ke<strong>in</strong>er konnte e<strong>in</strong>em was. Das warfür uns das echte Leben. (…) Aber wir hatten zu oft Stress mit der Polizei,haben Leute abgezogen <strong>und</strong> so (…).”Gülcien ist Murats 19-jährige jüngere Schwester. Die Abiturient<strong>in</strong> – diee<strong>in</strong> Jura-Studium aufnehmen wird – gibt Schule <strong>und</strong> Bildung e<strong>in</strong>e ganzandere Bedeutung:„Zu Hause war’s voll anstrengend. Da musste ich me<strong>in</strong>er Mutter mitallem helfen. Die Schule war ganz anders. Ich fand, die Schule wardas Beste. Am Anfang auf der Realschule war das komisch. Die Lehrerhaben e<strong>in</strong> voll ernst genommen, man musste voll viel machen <strong>und</strong>selbstständig auch. Ich hab alles gemacht, was der Lehrer gesagt hat.Und da hat man immer Lob bekommen. Das war ungewohnt. Zu Hausewar es immer so, man war froh, wenn man nicht auffällt. Dann hat manalles richtig gemacht. Aber da sagt niemand ‚gut gemacht’. Entwederman macht alles gut <strong>und</strong> das ist dann selbstverständlich oder man fälltauf <strong>und</strong> das bedeutet dann immer Ärger. Me<strong>in</strong>e Eltern haben sich immernur für me<strong>in</strong>e Brüder <strong>in</strong>teressiert. Die hatten oft Probleme, dann mussteich me<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Bruder für die Schule helfen. (…) Als ich als Jahrgangsstufenbestevon der Realschule auf’s Gymnasium wechselte, habendie Verwandten <strong>und</strong> Bekannten das erste Mal gelobt. Aber das war auchtypisch. Die ham nicht gesagt, bor super, dass du die Beste bist. Allehaben darüber gesprochen, dass ich e<strong>in</strong> Vorbild b<strong>in</strong>, weil ich gut b<strong>in</strong> <strong>und</strong>Kopftuch trage. Das Wichtige war Kopftuch. (…) Auf Gymnasium habeich das Kopftuch weggelegt. Das gab ke<strong>in</strong>en großen Ärger, aber e<strong>in</strong> Vorbildwar ich nicht mehr. Verrückt, oder?”Aus beiden Erzählungen wird E<strong>in</strong>iges deutlich, was die strukturellenWidersprüche zwischen den Lebenswelten Schule <strong>und</strong> Familie sichtbarwerden lässt:


118 119• Murat <strong>und</strong> Gülcien berichten über starke Differenzerfahrung. „ZuHause” funktioniert das Leben deutlich anders als <strong>in</strong> der Schule. Dashäusliche Umfeld ist durch Autorität gekennzeichnet, die sich je nachGeschlecht anders ausdrückt. Während Murat kaum zu Hause war,viele Freiräume hatte <strong>und</strong> die Schule als Pflichtveranstaltung bei „denDeutschen” bezeichnet, bietet die Schule für Gülcien e<strong>in</strong>en gewissenFreiraum, woh<strong>in</strong>gegen die Lebenswelt Familie durch Pflichten gekennzeichnetwird. Der primäre Bezugspunkt, also der Ort für Anerkennung,ist für den Jungen die Jugendgang <strong>und</strong> für das Mädchen die Schule.Hier erkennt man bereits, dass man von diesen beiden Geschwisternganz unterschiedliche Motivationen erwarten kann.• In beiden Fällen wird die Notwendigkeit von Schule ganz unterschiedlich<strong>in</strong>terpretiert. Während Murat gar nicht versteht, was die Lehrkräftevon ihm wollen, tut Gülcien alles, was die Lehrkraft von ihr erwartet.Hier wird e<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Soziologie vielfach beschriebenes Muster erkennbar.<strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> aus unteren Schichten betonen die D<strong>in</strong>ge,die aus ihrer Perspektive „nützlich” ersche<strong>in</strong>en. Dabei spielen bei Muratausschließlich die D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>e Rolle, deren Anwendbarkeit sich unmittelbarerschließt. Was er nicht versteht, spielt für ihn ke<strong>in</strong>e Rolle. Ihmwurde immer die Freiheit überlassen, selbst zu entscheiden, was ertun möchte. Gülcien h<strong>in</strong>gegen hat gelernt, dass Pflichterfüllung <strong>und</strong>Ordentlichkeit e<strong>in</strong>e wichtige <strong>und</strong> damit auch notwendige Gr<strong>und</strong>e<strong>in</strong>stellungdarstellen. Sie sollte immer Erwartungen erfüllen <strong>und</strong> tut diesselbstverständlich auch <strong>in</strong> der Schule. Sie ist nicht deshalb erfolgreich<strong>in</strong> der Schule, weil ihre Eltern Druck ausgeübt haben oder sie direktgefördert haben, sondern weil die Erwartungen, die <strong>in</strong> ihrem familiärenUmfeld an sie gerichtet wurden, mit jenen <strong>in</strong> der Schule kompatibelwaren – zum<strong>in</strong>dest nach e<strong>in</strong>er gewissen Verunsicherungsphase.• Murat wurde kaum kontrolliert oder unterstützt. Dadurch entwickeltsich bei ihm e<strong>in</strong>e Haltung, die durch Kurzfristigkeit geprägt ist. Wasnicht direkt „S<strong>in</strong>n macht” <strong>und</strong> gleichzeitig auch unmittelbar Erfolgebietet, wird vermieden. Das Aufschieben von Bedürfnissen <strong>und</strong> dasKontrollieren von Affekten wurden von Murat nie gelernt. Die für e<strong>in</strong>elangfristige Zielverfolgung notwendigen Kompetenzen wie Frustrations-<strong>und</strong> Ambiguitätstoleranz s<strong>in</strong>d bei ihm derart schwach entwickelt, dassihm e<strong>in</strong>e erfolgreiche Schullaufbahn sehr erschwert wird <strong>und</strong> er Formender Anerkennung sucht, die auch kurzfristig erreichbar ersche<strong>in</strong>en. Das„Abziehen” – also das Bestehlen meist von anderen <strong>Jugendliche</strong>n – isthierbei vollkommen kompatibel mit der unterentwickelten Bedürfnis<strong>und</strong>Affektkontrolle – wenn man etwas sieht, was man haben will, dannnimmt man es sich. Gülcien, deren Tagesablauf durch Regelmäßigkeit,E<strong>in</strong>schränkungen <strong>und</strong> Pflichten geprägt ist, folgt den Lehrkräften <strong>und</strong>erlebt die Förderung von Selbstständigkeit <strong>und</strong> das Lob als bestärkend.Sie muss fortwährend eigene Bedürfnisse aufschieben <strong>und</strong> entwickelte<strong>in</strong>e langfristige Lerndiszipl<strong>in</strong>. Sie lernt die Anerkennung <strong>in</strong> der Schulezu schätzen <strong>und</strong> kompensiert dadurch die fehlende Wertschätzung <strong>in</strong>der Familie. Gülcien erfährt zu Hause, dass sie ihren Brüdern <strong>in</strong> kognitivenKompetenzen voraus ist. Sie hilft ihrem jüngeren Bruder beiSchulaufgaben. Auch wenn die Unterstützung des Bruders zur Pflichtwird, stellt sie doch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte Anerkennung dar.• Während Murat kaum verantwortungsvolle Aufgaben <strong>in</strong> der Familiezugeteilt bekommt <strong>und</strong> dadurch se<strong>in</strong>en Selbstwert <strong>in</strong> der Jugendganggeneriert, leidet Gülcien offensichtlich daran, dass nicht ihre Leistungenim Haushalt <strong>und</strong> auch nicht direkt die schulischen Leistungen honoriertwerden, sondern die Tatsache, dass sie e<strong>in</strong> Kopftuch trägt <strong>und</strong> trotzdemerfolgreich ist. Ihre Potenziale werden nicht <strong>in</strong> der Form erkannt,wie sie sich das wünscht, wodurch sie den Anerkennungsmodus derSchule <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong> stellt <strong>und</strong> später darauf verzichtet, <strong>in</strong> derBekanntschaft als „Vorbild” zu gelten. Interessant ist, dass die beidenGeschwister das familiäre Leben ganz unterschiedlich beschreiben:Für Murat ist es – obwohl auch er die autoritäre Dom<strong>in</strong>anz des Vatererwähnt – chaotisch, weil für ihn ke<strong>in</strong>e klaren Regeln gelten; für se<strong>in</strong>eSchwester Gülcien ist es sehr geordnet, da sie mit e<strong>in</strong>em strengenRegelwerk aufwächst. Gülcien kann sich anderen Regelwerken (beispielsweise<strong>in</strong> der Schule) anpassen. Murat gel<strong>in</strong>gt dies <strong>in</strong> der Schulenicht. Er orientiert sich an den Verhaltensweisen <strong>in</strong> der Gruppe von<strong>Jugendliche</strong>n mit gleichen Lebensbed<strong>in</strong>gungen. Dort entwickeln dieJungen Regeln, die mit ihrem Männlichkeitskonzept vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d <strong>und</strong>ihnen Action bieten <strong>und</strong> Bedeutung geben.Wie aus dem Vergleich der Geschwister deutlich wird, liegen hier ganzunterschiedliche Problemlagen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Familie vor. Entsprechendmuss die <strong>in</strong>dividuelle Förderung <strong>in</strong> diesen beiden Fällen ganz unterschiedlichaussehen, <strong>in</strong>sbesondere im H<strong>in</strong>blick auf Geschlechterunterschiede.Jungen dürfen <strong>in</strong> der Familie toben <strong>und</strong> müssen kaum strengeRegeln e<strong>in</strong>halten, wodurch <strong>in</strong> der Schule gewisse Probleme entstehen.Mädchen müssen ordentlich, diszipl<strong>in</strong>iert, pflicht- <strong>und</strong> verantwortungs-


120 121bewusst se<strong>in</strong> <strong>und</strong> erledigen e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Tätigkeiten im Haushalt,wodurch sie den Erwartungen <strong>in</strong> der Schule besser gerecht werdenkönnen. Allerd<strong>in</strong>gs haben sie e<strong>in</strong>geschränkte Möglichkeiten, ihre Talente<strong>und</strong> Fähigkeiten voll auszuschöpfen. Hier<strong>in</strong> liegt unseres Erachtens e<strong>in</strong>egroße Herausforderung, da sich die pädagogische Arbeit <strong>in</strong> den Institutionenzunehmend dah<strong>in</strong>gehend gewandelt hat, kaum genderspezifischdifferenzierte Angebote zu machen. Hierauf wird <strong>in</strong> Kapitel 6 dezidierte<strong>in</strong>gegangen. Ähnlich wie <strong>in</strong> vielen Unterschichtmilieus konkurriertdie Schule mit vielen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, die dasmaterialistische, erlebnis- <strong>und</strong> konsumorientierte Bedürfnis sozial benachteiligterMenschen befriedigen können. Dieser allgeme<strong>in</strong>e Aspektwird ebenfalls <strong>in</strong> Kapitel 6 erläutert.5.2. Zur Bedeutung von Bildung <strong>in</strong> den FamilienAuch vierzig Jahre nach der Migration nach <strong>Deutschland</strong> ist es zu beobachten,dass sich die muslimische Migranten im komplizierten Schul<strong>und</strong>dualen Ausbildungssystem nicht ausreichend auskennen. Die Elternvergleichen das Schulsystem mit dem <strong>in</strong> ihren Herkunftsländern. Diedortigen Schulsysteme s<strong>in</strong>d kaum differenziert <strong>und</strong> damit auch für Laienleicht zu überblicken: Im Gegensatz zum deutschen System s<strong>in</strong>d siestufenförmig aufgebaut, d.h. der kont<strong>in</strong>uierliche Besuch e<strong>in</strong>er Gr<strong>und</strong>schule,e<strong>in</strong>er Mittelschule <strong>und</strong> anschließend – für e<strong>in</strong>ige Schüler – e<strong>in</strong>esdreijährigen Gymnasiums führen zum Erwerb der allgeme<strong>in</strong>en Hochschulreife.Mehrere Schultypen gibt es nicht. Tabelle 3 zeigt beispielhaft dastürkische Schulsystem.Die Mittelschulen <strong>und</strong> die Gymnasien können <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>bildenden,<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en berufsbildenden <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en technischen Zweig untergliedertwerden. Im Anschluss an den erfolgreichen Abschluss der Mittelschulekann e<strong>in</strong> Gymnasium besucht werden. Der Abschluss des allgeme<strong>in</strong>bildendenGymnasiums <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e obligatorische Hochschulprüfung 1ermöglichen den Zugang zur Hochschule; der Abschluss des berufsbildendenoder technischen Gymnasiums eröffnet dagegen nur unter bestimmtenVoraussetzungen den Zugang zur Hochschule (vgl. Zentrum fürTürkeistudien 1994). Weiterh<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> der Türkei zu beobachten, dass dieEltern sich sehr selten <strong>in</strong> die schulischen Angelegenheiten e<strong>in</strong>mischen.Dort herrscht die allgeme<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung, dass die Schule <strong>und</strong> die Lehrer dase<strong>in</strong>zig Richtige <strong>und</strong> Angemessene tun werden, <strong>und</strong> alle Entscheidungenwerden mit großem Respekt angenommen. E<strong>in</strong> Widersprechen ist nichtTabelle 3 : Aufbau des türkischen SchulsystemsAlter Klasse Schultyp17-X ---- UniversitätHochschulaufnahmeprüfung14-1711-146-111110987654321Quelle: Toprak, 2002, S. 24Sek<strong>und</strong>arstufe II (ymnasium – lise)Sek<strong>und</strong>arstufe I (Mittelschule – ortaokul)Primarstufe (Gr<strong>und</strong>schule – illokul)angemessen <strong>und</strong> wird als Kompetenzenüberschreitung der Eltern <strong>in</strong>terpretiert.Deshalb werden die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> auch <strong>in</strong> Prov<strong>in</strong>zen <strong>und</strong> <strong>in</strong> den Randgebietender Großstädte mit dem H<strong>in</strong>weis an den Lehrer, eti sen<strong>in</strong> kemigibenim 2 , e<strong>in</strong>geschult.Traditionell haben die Schule als Institution <strong>und</strong> der Lehrerberuf bei denmuslimischen Migranten e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert <strong>und</strong> werden als e<strong>in</strong>eder wichtigsten Erziehungs<strong>in</strong>stanzen neben der Familie gesehen. Auchhier werden die praktischen Erfahrungen aus der Türkei auf das System<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> projiziert: Die Eltern erwarten von der Schule bzw. vonden Lehrern, dass sie sich nicht nur den schulischen Belangen der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>widmen, sondern die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> auch bei deviantem Verhalten bestrafen.Sich <strong>in</strong> die schulischen Angelegenheiten e<strong>in</strong>zumischen, f<strong>in</strong>den die Elternunangemessen <strong>und</strong> unhöflich; das ist auch – neben den Sprachproblemen– der Hauptgr<strong>und</strong> für die Abst<strong>in</strong>enz <strong>in</strong> den Elternsprechst<strong>und</strong>en.Die von uns befragten Migranten s<strong>in</strong>d der Me<strong>in</strong>ung, dass die Schule bzw.der Lehrer rigider <strong>und</strong> restriktiver auf Regelbrüche reagieren soll. E<strong>in</strong>igeschließen dabei auch nicht aus, im Extremfall den Schüler zu schlagen,um ihn zu diszipl<strong>in</strong>ieren. Den Schülern werden sehr viele Freiräume gestattet,womit vor allem <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> der Adoleszenz nicht umgehenkönnen. Das Übernehmen von Verantwortung, das erwartete kommuni-


122 123kative Durchsetzungsvermögen <strong>und</strong> die Förderung von Individualitäterfolgt aus Sicht der Eltern <strong>in</strong> der Schule viel zu früh, weil die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> gewisseEntscheidungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Alternicht treffen <strong>und</strong> reflektieren können. Fehler <strong>und</strong> Frustrationen seien dadurchvorprogrammiert. E<strong>in</strong> exemplarisches Beispiel dafür ist das Interviewmit dem Ingenieur <strong>und</strong> Vater Ismet:„Individualität, was die Lehrer immer wieder fordern <strong>und</strong> fördern, aberwas ist mit Geme<strong>in</strong>schaft, Nachbarschaft, Aufe<strong>in</strong>ander-angewiesen-se<strong>in</strong>,nachbarschaftliches Engagement <strong>und</strong> so weiter. Die Christen, das s<strong>in</strong>ddoch auch die Lehrer, reden von der Nächstenliebe, tun aber das Gegenteil.Wie soll e<strong>in</strong> Dritt- oder Viertklässler wissen, ob er Arzt oder Dachdeckerwerden will. 3 (…) Man muss nicht immer die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> verstehen,wenn das K<strong>in</strong>d Blöds<strong>in</strong>n macht. Man muss das K<strong>in</strong>d auch bestrafen,ohne dem K<strong>in</strong>d tausend Gründe dafür zu nennen. Dann ist der Wert derBestrafung aus me<strong>in</strong>er Sicht nicht mehr gewährleistet. Die erwarten vone<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d, das Mist baut, auch noch E<strong>in</strong>sicht. Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>sichtigwäre, würde es doch diesen Fehler nicht machen. Ich verstehe nicht, wasdas Ganze eigentlich soll.”Folgende Erwartungen haben muslimische Eltern an die Erziehungspraxis<strong>in</strong> der Schule:• Dem K<strong>in</strong>d sollen klare Grenzen gesetzt werden. Die Erwartung, <strong>K<strong>in</strong>der</strong>sollen bestimmte D<strong>in</strong>ge selbstständig erledigen, kooperativ mit anderenzusammenarbeiten <strong>und</strong> selbst e<strong>in</strong>sichtig se<strong>in</strong>, ist aus der Perspektiveder Eltern unverständlich.• Dem K<strong>in</strong>d sollen nicht zu viele Entscheidungs- <strong>und</strong> Handlungsspiel-räume überlassen werden, d.h., dass die Lehrkraft entscheiden soll,was das Richtige für jedes K<strong>in</strong>d ist. Das Vertrauen <strong>in</strong> den Lehrer istgrößer als <strong>in</strong> das K<strong>in</strong>d.• E<strong>in</strong>e klare Rollenaufteilung zwischen Schule <strong>und</strong> Familie, was bedeutet,dass die Schule eigenverantwortlich Entscheidungen treffen soll <strong>und</strong>nicht bei jeder Angelegenheit die Schüler bzw. deren Eltern mite<strong>in</strong>-bezieht.• Die Eltern erwarten zudem, dass die Lehrer mehr Respekt, Diszipl<strong>in</strong><strong>und</strong> Ordnung von den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n bzw. Schülern e<strong>in</strong>fordern. Die Rolle desLehrers wird seitens der Eltern als zu liberal e<strong>in</strong>geschätzt, was die<strong>Jugendliche</strong>n häufig überfordert. Denn, wie im Kapitel 3 ausführlichbeschrieben wurde, ist das wichtigste Erziehungsziel der Eltern Respektvor Autoritäten. Respekt vor Autoritäten kann nur dann umgesetztwerden, wenn Ordnung <strong>und</strong> Diszipl<strong>in</strong> vorhanden s<strong>in</strong>d. Diese zwei unterschiedlichenKonzepte – e<strong>in</strong>erseits die Restriktion im Elternhaus,andererseits die Liberalität <strong>in</strong> der Schule – von „Umgang mit Autoritäten”führen dazu, dass die türkischen <strong>Jugendliche</strong>n – vor allem dieJungen – im Umgang mit Lehrern überzogene Verhaltensweisen anden Tag legen. Dies soll anhand e<strong>in</strong>es Interviewauszuges mit Arzu,Jurist<strong>in</strong> <strong>und</strong> Mutter von zwei <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n, präzisiert werden:„Wir versuchen, wie ich eben bereits auszuführen versucht habe, den<strong>K<strong>in</strong>der</strong>n gewisse Werte, wovon wir überzeugt s<strong>in</strong>d, zu vermitteln. (…)Dazu gehört zum Beispiel, dass man ältere Menschen, Onkel, Tanten,Großeltern <strong>und</strong> so weiter mit Respekt begegnet; nett, fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong>zurückhaltend zu se<strong>in</strong>. Das kann man eigentlich <strong>in</strong> Deutsch nicht sogut beschreiben. E<strong>in</strong> Ausdruck im Türkischen br<strong>in</strong>gt das Ganze ausme<strong>in</strong>er Sicht auf den Punkt: Büyüklere karsi saygili olmak 4 . Egal,wie viele Generationen wir <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> leben werden, gewisseWertvorstellungen dürfen wir e<strong>in</strong>fach nicht über Bord werfen. (…)Das Ganze klappt aus me<strong>in</strong>er Sicht <strong>in</strong> der Familie ganz gut. Was miroft Kopfschmerzen macht, ist die Situation <strong>in</strong> der Schule. Viele <strong>K<strong>in</strong>der</strong>können den Anforderungen der Eltern <strong>und</strong> die Anforderungen derLehrer nicht mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>den. (…) Ich me<strong>in</strong>e damit Folgendes:Wir br<strong>in</strong>gen den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n bei, Respekt vor älteren Menschen zu haben –dazu gehören selbstverständlich auch die Lehrer – <strong>und</strong> die Lehrerfordern das von den Schülern nicht, sie s<strong>in</strong>d natürlich aufgr<strong>und</strong> ihrerAusbildung auf Konsens <strong>und</strong> Demokratie fixiert. Wenn natürlich diesebeiden Gr<strong>und</strong>ideen aufe<strong>in</strong>ander prallen, haben die kle<strong>in</strong>en <strong>K<strong>in</strong>der</strong>Schwierigkeiten, zu unterscheiden. (…) Weil viele Jungen <strong>in</strong> Anwesenheitder Väter schweigen müssen, s<strong>in</strong>d sie umso frecher, wenn siee<strong>in</strong>en Lehrer treffen, der sie aussprechen lässt. (…) Was die Lösungist? Die Lösung ist, die Lehrer müssten für mehr Diszipl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Ordnungsorgen, dann hätten wir viele dieser Probleme <strong>in</strong> der Schule nicht.”


124 125Man erkennt hier also sehr deutlich, dass diese Werte im H<strong>in</strong>blick aufdie Erziehung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> – <strong>in</strong>sbesondere Respekt vor Autoritäten – auch<strong>in</strong> Akademikerfamilien vorliegen. Die Eltern bemängeln, dass die Schulenicht „am selben Strang” zieht wie die Familie. Hier liegt gewissermaßendas Gegenstück dessen vor, was von Lehrern häufig bemängelt wird,nämlich dass die Familien gewisse erzieherische „Vorleistungen” nichtvollbr<strong>in</strong>gen, die für die Schule wichtig wären: nämlich Selbstständigkeit.Respekt <strong>und</strong> Achtung vor Autoritätspersonen <strong>und</strong> älteren Menschen s<strong>in</strong>d<strong>in</strong> den Familien die wichtigsten <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Schule eher sek<strong>und</strong>äre Erziehungsziele– andersherum sieht es mit dem Ziel der Selbstständigkeitaus. Diese konkurrierenden Erziehungsideale machen Elternarbeit notwendig(Kapitel 7).Während also muslimische Arbeiter- <strong>und</strong> Akademikerfamilien <strong>in</strong> Bezugauf die Erziehungsideale ähnliche Präferenzen aufweisen, zeigen sichzwischen den beiden Gruppen sehr deutliche Unterschiede im Bildungsverständnis.Unserer Ansicht nach muss die Bedeutung von Bildung<strong>und</strong> Schule sehr differenziert betrachtet werden. Wenn man Eltern egalwelcher sozialen <strong>und</strong> kulturellen Herkunft fragt, welche Bedeutung sieBildung beimessen, wird das Ergebnis relativ ähnlich se<strong>in</strong>: Natürlich istBildung wichtig! Wenn man Arzt oder Anwalt werden will, dann mussman gut <strong>in</strong> der Schule se<strong>in</strong> <strong>und</strong> studieren. Das weiß jeder. Bei genauererBetrachtung erkennt man dennoch deutliche Unterschiede. Denn esmuss betrachtet werden, welche Vorstellung von Bildung vorliegt <strong>und</strong>was konkret für die Bildung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> getan wird. Insbesondere imtraditionellen muslimischen Arbeitermilieu ist e<strong>in</strong> eigens<strong>in</strong>niger Bildungsbegriffetabliert: Wer schlecht <strong>in</strong> der Schule ist, hat ke<strong>in</strong> Talent <strong>und</strong> musse<strong>in</strong> Handwerk lernen. Entsprechend könne man kaum etwas dagegentun, wenn Leistungsrückstände erkannt werden. Es liegt also e<strong>in</strong> „natürliches”Verständnis von Bildung vor, bei dem die Veranlagung die entscheidendeRolle spielt <strong>und</strong> die familiäre E<strong>in</strong>flussnahme sehr begrenztist. Die Bedeutung präventiver <strong>und</strong> frühk<strong>in</strong>dlicher Förderung wird entsprechendnicht erkannt <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der Familie auch nicht statt, weshalbauch die frühk<strong>in</strong>dlichen Erziehungse<strong>in</strong>richtungen kaum (regelmäßig)aufgesucht werden. Dieses Bildungsverständnis ist besonders deshalbverheerend, weil bereits im vierten Schuljahr e<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>legende Entscheidungansteht – nämlich der Übergang auf die differenzierte Sek<strong>und</strong>arstufe1 (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>heitlichen Schulsystem wäre es nicht ganz soverheerend, da e<strong>in</strong> größerer Zeitraum bis zu gr<strong>und</strong>legenden Differenzierungenbesteht). E<strong>in</strong>e andere Variante – die häufig bei jenen Eltern derzweiten Generation, die also selbst die Schule <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> durchlaufenhaben, zu beobachten ist – kann auf folgende Formel reduziert werden:In <strong>Deutschland</strong> haben unsere <strong>K<strong>in</strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e Chance. Beide Variantenlassen erkennen, dass die Schulen relativ wenig „Unterstützung” durchdie Eltern erwarten können. Dabei geht es also um das Zustandekommenvon erfolgreichen Bildungskarrieren: Sollte e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d – aus welchen Gründenauch immer – gut durch die Schule kommen, wird es auch dabeiunterstützt, zu studieren; allerd<strong>in</strong>gs werden nicht im Voraus Anstrengungenunternommen, das K<strong>in</strong>d zu fördern. Die herausragende Bedeutungvon Musikunterricht, Sport, Kunst <strong>und</strong> Kultur für die frühe Förderung von<strong>K<strong>in</strong>der</strong>n wird von den Eltern kaum erkannt.Das entscheidende Dilemma, dem sich jede systematische Förderungstellen muss, hängt weniger mit den <strong>in</strong>nerunterrichtlichen Lernprozessenim engeren S<strong>in</strong>ne zusammen, sondern eher mit den Widersprüchenzwischen der Funktionslogik der Schule <strong>und</strong> der Erziehungslogik derFamilie. Während die Logik der Schule auf Kompetenzen wie Selbstständigkeit,Selbstdiszipl<strong>in</strong>, Selbstmotivation, Individualität <strong>und</strong> Kooperation<strong>und</strong> damit nicht nur kognitivistisch ausgerichtet ist, verfolgt die Familiee<strong>in</strong>e Logik, bei der Kollektivität, Kontrolle <strong>und</strong> Gehorsam im Vordergr<strong>und</strong>stehen. Diese beiden Lebenswelten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Tat unterschiedlicheWelten mit sehr verschiedenen Funktionsweisen – <strong>und</strong> beide Pole beanspruchenfür sich, das richtige Ideal zu vertreten. Dadurch geraten die<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> teilweise enorm widersprüchliche Situationen. Entsprechendlegen <strong>in</strong>sbesondere Jungen ihre Schwerpunkte auf die Lebensweltder Peers, da hier Widersprüchlichkeiten kaum vorhanden s<strong>in</strong>d bzw. dieWidersprüchlichkeiten aufgelöst werden, <strong>in</strong>dem die Aspekte aus beidenWelten übernommen werden, die als nützlich e<strong>in</strong>geordnet werden. DieSuche nach Kollektivität <strong>und</strong> Hierarchie, das Bedürfnis nach Stärke <strong>und</strong>Erfolg sowie nach Konsum <strong>und</strong> Action werden hier erfüllt.5.3. Berufsausbildung <strong>und</strong> Berufs<strong>in</strong>teressenDa die Bildungssysteme der Türkei <strong>und</strong> auch arabische Staaten das hierbekannte duale Ausbildungssystem nicht kennen, hat das Studium <strong>in</strong>muslimischen Gesellschaften e<strong>in</strong>en sehr hohen Stellenwert, bed<strong>in</strong>gt auchdadurch, dass nur sehr wenige ausgewählte junge Menschen studierendürfen. In der Türkei werden beispielsweise handwerkliche Berufe unterAnweisung e<strong>in</strong>es Meisters <strong>in</strong> den Betrieben gelernt, ohne dafür die ausreichendentheoretischen Inputs <strong>in</strong> der Schule zu erhalten. Diesen Weg


126 127gehen die Eltern <strong>und</strong> ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> nicht aus freien Stücken, sondern nachfünfjähriger – seit 2000 achtjähriger – Schulpflicht aus f<strong>in</strong>anziellen Gründen,weil sie sich die hohen Schul- <strong>und</strong> Studienkosten nicht leisten können.Da die alternativen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zu e<strong>in</strong>em Studium schlechts<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die betrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten im Handwerk <strong>in</strong>der Gesellschaft ke<strong>in</strong>en hohen Stellenwert genießen, ist die Aufnahmee<strong>in</strong>es Studiums, unabhängig von der Fachrichtung, <strong>in</strong> den muslimischenStaaten umso wichtiger.Trotz der sehr langen Aufenthaltsdauer <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> der leichtverbesserten Schulabschlüsse der Migrantenjugendlichen s<strong>in</strong>d sie ausunterschiedlichen Gründen <strong>in</strong> der Berufsausbildung unterrepräsentiert(vgl. Haugg 1997; Beauftragter der B<strong>und</strong>esregierung 2002). Die Berufsausbildungder Migrantenjugendlichen, vor allem aber die der arabisch<strong>und</strong> türkeistämmigen <strong>Jugendliche</strong>n, konzentriert sich auf e<strong>in</strong>ige wenigeBerufe, deren Zukunfts- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>kommenssicherheit als ger<strong>in</strong>g bzw.ungewiss e<strong>in</strong>zustufen s<strong>in</strong>d. Die Berufswahl der Migrantenjugendlichenkonzentriert sich auf weniger zukunftsträchtige Branchen oder ger<strong>in</strong>gbezahlte Tätigkeiten. In den Berufen mit höherem Attraktivitätsgrad fürden <strong>Jugendliche</strong>n, wie z.B. Bank- oder Versicherungskaufmann, ist dieAusbildungsbeteiligung mit zwei bis drei Prozent weit unter dem Durchschnitt.Das heißt aber nicht, muslimische <strong>Jugendliche</strong> würden sichnur für wenige Berufe <strong>in</strong>teressieren. Den Ausführungen von Attia, Aziz,Marburger <strong>und</strong> Menge (2000) kann entnommen werden, dass dieserZustand nicht alle<strong>in</strong> mit Interessen <strong>und</strong> Wünschen der <strong>Jugendliche</strong>n zusammenhängt,sondern auch mit Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen, die ihnennur <strong>in</strong> wenigen Berufen geboten werden.In handwerklichen Berufen (<strong>in</strong>sbesondere bei jungen Männern) sowie<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fachen Dienstleistungsbranchen, wie Friseur/<strong>in</strong>, Verkäufer/<strong>in</strong> oderArzthelfer/<strong>in</strong> (bei jungen Frauen), s<strong>in</strong>d muslimische <strong>Jugendliche</strong> starkvertreten. 5 Diese Berufe haben bei muslimischen Migranten relativ wenigPrestige, <strong>in</strong>sbesondere deshalb, weil sie mit schweren körperlichenArbeitsbed<strong>in</strong>gungen verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d. In diesen Bereichen ermöglichen dieüberschaubaren Zugangsvoraussetzungen die Beteiligung der <strong>Jugendliche</strong>n.Weil viele Eltern wiederum die Erfahrungen aus ihren Herkunftsländernauf <strong>Deutschland</strong> übertragen, können sie gerade bei diesen Berufennicht nachvollziehen, warum Auszubildende so oft <strong>in</strong> die Schule <strong>und</strong>auch so viele Prüfungen ablegen müssen. Der Berufsschule wird nichtviel Bedeutung beigemessen. Die Eltern favorisieren eher die Variante„Lernen am Modell” mit sehr wenig Theorie <strong>und</strong> viel Praxis. Daher wirdhäufig selbst <strong>in</strong> den Betrieben, die von arabisch- oder türkischstämmigenSelbstständigen geführt werden, die schulische Ausbildung als „nichtbesonders wichtig” e<strong>in</strong>gestuft. Die Leistung im Betrieb ist entscheidend –bei der Abschlussprüfung gilt das Motto: „Hauptsache bestehen”.Die Gründe für die ger<strong>in</strong>ge Beteiligung der türkischen <strong>Jugendliche</strong>n anAusbildungsberufen können <strong>in</strong> vier Punkten zusammengefasst werden:Zunächst seien die fehlenden schulischen Voraussetzungen genannt,da viele Betriebe nur noch Realschülern <strong>und</strong> Gymnasiasten e<strong>in</strong>en Ausbildungsvertraganbieten. Zweitens gibt es Firmen, die bevorzugt deutscheBewerber e<strong>in</strong>stellen, was <strong>in</strong>sbesondere an den weit verbreiteten Vorbehaltengegenüber muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n liegt. Drittens brechenmuslimische <strong>Jugendliche</strong> häufiger e<strong>in</strong>e angefangene Lehre ab als deutsche<strong>Jugendliche</strong>. In e<strong>in</strong>igen Fällen brechen <strong>Jugendliche</strong> ihre Lehre abbzw. beg<strong>in</strong>nen diese gar nicht erst, weil sie heiraten wollen. Das gilt nichtnur für muslimische Mädchen, weil sie beispielsweise schwanger werden,sondern auch für junge Männer, da sie mit der ger<strong>in</strong>gen Ausbildungsvergütungdie Familie nicht versorgen können. Andere Gründe für dasAbbrechen der Ausbildung können e<strong>in</strong>erseits sprachliche Kompetenzense<strong>in</strong>, die für die Fachtheorie <strong>in</strong> der Berufsschule nicht ausreichen, obwohldie meisten hier geboren <strong>und</strong> aufgewachsen s<strong>in</strong>d; andererseits kanndie betriebliche Atmosphäre den Abbruch hervorrufen: die <strong>Jugendliche</strong>nfühlen sich <strong>in</strong> den Betrieben nicht wohl.5.4. ZusammenfassungE<strong>in</strong> Unwohlfühlen im Alltag prägt weitgehend die Entscheidungsf<strong>in</strong>dungbei den <strong>Jugendliche</strong>n. Auch die Entwicklung von Berufs<strong>in</strong>teressen <strong>und</strong>-wünschen orientiert sich häufig an den Erfahrungen <strong>in</strong> der Schule. Die<strong>Jugendliche</strong>n erleben Differenzerfahrungen als irritierend <strong>und</strong> meidennach Möglichkeit Situationen, <strong>in</strong> denen solche zu erwarten s<strong>in</strong>d. DieseDifferenzerfahrungen kommen häufig dadurch zustande, dass die Regelwerke<strong>in</strong> Familie <strong>und</strong> Schule sehr widersprüchlich s<strong>in</strong>d. In der Familiewird Gehorsam, Kollektivität <strong>und</strong> Loyalität gegenüber den traditionellenWerten erwartet, <strong>in</strong> der Schule Selbstdiszipl<strong>in</strong>, Individualität <strong>und</strong> Selbstständigkeit.Die Umgangsformen, die gesamte Atmosphäre <strong>und</strong> diegr<strong>und</strong>legenden Logiken unterscheiden sich <strong>in</strong> Schule <strong>und</strong> Familie derart,dass sich viele <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> der Schule permanent unwohl fühlen.Daher streben sie danach, so schnell wie möglich die Schulzeit bzw.


128 129Lernphasen zu beenden. Gewisse Bildungswege werden dann ausgeschlossen,obwohl sie möglich wären. Dies kann <strong>in</strong> Bezug auf die Ablehnunge<strong>in</strong>es Studiums trotz e<strong>in</strong>er Hochschulzugangsberechtigung derFall se<strong>in</strong>, aber auch, wenn ke<strong>in</strong>e Ausbildung gewählt <strong>und</strong> stattdessene<strong>in</strong>e Tätigkeit als Hilfsarbeiter aufgenommen wird.In der pädagogischen Arbeit mit den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n müsstenalso die gesamten Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enenhabituellen Muster berücksichtigt werden, was unweigerlich dazu führt,dass bei der Förderung im Bildungssystem der Fokus stärker auf Erziehung,E<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> Orientierung gelegt werden müsste.Häufig s<strong>in</strong>d die Berufswünsche unrealistisch bzw. extrem ambitioniert,oder aber zu niedrig e<strong>in</strong>gestuft. Da die <strong>Jugendliche</strong>n erleben, dass siesich selbst relativ stark ändern müssten, um erfolgreich zu se<strong>in</strong>, träumensie von Berufen, <strong>in</strong> denen sie sche<strong>in</strong>bar „sie selbst” bleiben können.Das gilt <strong>in</strong> zwei Bereichen ganz besonders: Sportler <strong>und</strong> Musiker. Siehaben diese Berufswünsche, weil sie glauben, dass <strong>in</strong> diesen Bereichenihre Haltung, ihr Lebensstil <strong>und</strong> die Loyalität gegenüber der Familie mitErfolg <strong>und</strong> umfassender Anerkennung vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d. Es geht dabe<strong>in</strong>icht nur um monetären Reichtum, denn dann könnten sie auch andereBerufe wählen, die wohlhabend machen (beispielsweise <strong>in</strong> Wirtschaft,Politik oder Wissenschaft). Nicht nur das erforderliche Studium stellte<strong>in</strong>e Barriere dar. Es wäre nicht zw<strong>in</strong>gend „anstrengender” als die Mühen,die man auf sich nehmen muss, um Fußballprofi oder Musiker zu werden– nach dem Studium wären die Jobaussichten allerd<strong>in</strong>gs besser als dieWahrsche<strong>in</strong>lichkeit, beispielsweise bei e<strong>in</strong>er Cast<strong>in</strong>gshow zu gew<strong>in</strong>nen.Vielmehr orientieren sich die <strong>Jugendliche</strong>n an Berufen, die aus ihrerPerspektive e<strong>in</strong>e gewisse „soziale Nähe” zu ihren Lebense<strong>in</strong>stellungenaufweisen. Die Denkweisen, die Umgangsformen, der Sprachstil <strong>und</strong> dasgesamte Ersche<strong>in</strong>ungsbild erfolgreicher Top-Anwälte, Manager, Politiker<strong>und</strong> auch Wissenschaftler bieten ke<strong>in</strong>e Anknüpfungspunkte für die Heranwachsenden.Kurz: Der Habitus, wie er <strong>in</strong> höheren sozialen Positionenerforderlich ist, weist e<strong>in</strong>e enorme soziale (<strong>und</strong> kulturelle) Distanz zujenem der <strong>Jugendliche</strong>n auf. Auch dem Schulsystem wird häufig vorgeworfen,dass es mittelschichtorientiert sei. Das heißt, dass <strong>in</strong> den Bildungse<strong>in</strong>richtungenstrukturell vorausgesetzt wird, dass die <strong>K<strong>in</strong>der</strong><strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n im Elternhaus gewisse Basics mitbekommen haben,die dann <strong>in</strong> der Schule nicht mehr systematisch gefördert werden. Insbesondere<strong>in</strong> Bezug auf Motivation, Umgangsformen <strong>und</strong> Diszipl<strong>in</strong> – alsoim Bereich Erziehung – sowie auf sprachliche Entwicklung werden Fähigkeitenvorausgesetzt, wie sie <strong>in</strong> der „typischen” Mittelschichtfamilie „mitgegeben”werden. Dadurch s<strong>in</strong>d <strong>K<strong>in</strong>der</strong> aus „bildungsfernen” Familienenorm benachteiligt – <strong>in</strong> besonderem Maße, wenn sie aus kulturell andersartigenKontexten stammen.Literaturtipps• El-Mafaalani, Alad<strong>in</strong> (2011): Vom Arbeiterk<strong>in</strong>d zum Akademiker.Biographische Rekonstruktionen überw<strong>und</strong>ener Ungleichheit. In:Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Transnationale Vergesellschaftung.Verhandlungen des 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft fürSoziologie <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2010. Wiesbaden.• Hamburger, Franz / Badawia, Tarek / Hummrich, Merle (Hrsg.)(2005): Migration <strong>und</strong> Bildung. Über das Verständnis von Anerkennung<strong>und</strong> Zumutung <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>wanderungsgesellschaft. Wiesbaden.• K<strong>in</strong>g, Vera / Koller, Hans-Christoph (Hrsg.) (2009): Adoleszenz –1|2|3|4|5|Migration – Bildung. Bildungsprozesse <strong>Jugendliche</strong>r <strong>und</strong> jungerErwachsener mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Wiesbaden.Für jedes Fach, das an der Universität oder an der Fachhochschule studiertwerden kann, gibt es e<strong>in</strong> bestimmtes Kont<strong>in</strong>gent. Die Bewerberzahlen s<strong>in</strong>dso hoch, dass das Kont<strong>in</strong>gent nicht ausreicht. Deshalb wird jährlich e<strong>in</strong>e Hochschulaufnahmeprüfungzentral im gesamten Land durchgeführt. Um e<strong>in</strong>enStudienplatz bewerben sich h<strong>und</strong>erte Abiturienten. Nur jeder vierte Bewerber,der an dieser Prüfung teilnimmt, schafft den Zugang zur Hochschule.Wörtliche Übersetzung: „Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir”. Mit dieserAussage br<strong>in</strong>gen die Eltern zum Ausdruck, dass der Lehrer <strong>in</strong> Fragen der Erziehungalle Freiheiten <strong>in</strong>ne hat.Der Interviewpartner me<strong>in</strong>t die frühe Selektion <strong>in</strong> Hauptschule, Realschule <strong>und</strong>Gymnasium.„Respekt vor Autoritäten”.Die geschlechtsspezifische Erziehung <strong>in</strong> den Familien führt bei muslimischen<strong>Jugendliche</strong>n zu e<strong>in</strong>er deutlich stärkeren geschlechtsspezifischen Differenzierungder Berufswahl als bei deutschstämmigen Altersgenossen.


131den vorausgegangenen Kapiteln vorgestellt. Hier soll es darum gehen,verschiedene pädagogische <strong>und</strong> bildungspolitische Konsequenzen zuziehen. Dabei geht es nicht um normative Forderungen, sondern – imGegenteil – um funktionale Notwendigkeiten.6. Konsequenzen für diepädagogische PraxisBildung ist die zentrale Integrationsdimension, auch weilsie allen weiteren biografischen Etappen vorgeschaltet ist.Dies sche<strong>in</strong>t mittlerweile allen politischen Akteuren klar zuwerden. Es ist die Rede von Bildungsoffensiven, von e<strong>in</strong>erzukünftigen „Bildungsrepublik <strong>Deutschland</strong>” oder auch von„Bildung als beste Sozialpolitik”. Damit gew<strong>in</strong>nen die Erziehungs-<strong>und</strong> Bildungs<strong>in</strong>stitutionen enorm an Bedeutung.Die schwierigen Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen muslimischer<strong>Jugendliche</strong>r <strong>in</strong> Familie <strong>und</strong> Wohnumfeld können letztlichnur <strong>in</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong>tagese<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> Schulen kompensiertwerden. Sprachdefizite <strong>in</strong> den Familien können genausowenig wie die Erziehungspraktiken der Eltern unmittelbarbee<strong>in</strong>flusst werden. Die Werte <strong>und</strong> der Lebensstil der Familiesowie die schlechten Sprachkenntnisse der Eltern müssenals gegeben betrachtet werden. Die durchaus nachvollziehbareForderung, <strong>in</strong> den Familien solle Deutsch gesprochenwerden, erweist sich bei genauerer Betrachtung der Problemlageals wenig erfolgversprechend. 1Vielmehr müssen Wege gesucht werden, diesen Problemlagendurch Förderangebote <strong>in</strong> der frühk<strong>in</strong>dlichen Erziehung<strong>und</strong> <strong>in</strong> den Schulen zu begegnen. Ohne die Berücksichtigungder komplexen Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen dieserKlientel kann dies nicht gel<strong>in</strong>gen. Dezidierte Analysen zuden Lebenswelten der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n wurden <strong>in</strong>Soziale Ungleichheit ist im deutschen Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssysteme<strong>in</strong>e zentrale Herausforderung. Die Potenziale vieler Bevölkerungsteilewerden im Bildungswesen nur unzureichend ausgeschöpft. E<strong>in</strong>e sozialeÖffnung der Strukturen wird jedoch von weiten Teilen der Bevölkerungnicht befürwortet – zu viele Privilegien stünden zur Disposition. Allerd<strong>in</strong>gskönnen Bildungsarmut <strong>und</strong> Wohlfahrtsstaat nicht auf Dauer parallel bestehen.Auf Dauer lassen sich auch ke<strong>in</strong>e Stellvertreter-Diskussionen zuDemografie-, Migranten- <strong>und</strong> Hartz IV-Problematiken führen, ohne dieThemen Bildung <strong>und</strong> Bildungsgerechtigkeit <strong>in</strong> den Mittelpunkt zu rücken.Es s<strong>in</strong>d heute die ökonomischen Argumente, die für e<strong>in</strong>e soziale Öffnungsprechen:• Fachkräftemangel: Es fehlen <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> Akademiker, <strong>in</strong>sbeson-dere Ingenieure <strong>und</strong> Naturwissenschaftler. Dieser Mangel könntedurch Migranten abgedeckt werden, weil sie sich viel stärker an MINT-Fächern 2 orientieren. An die Illusion, man könne den Fachkräftemangeldurch die Zuwanderung Hochqualifizierter befriedigen, glauben diepolitischen Akteure kaum noch.• Steigende Kosten: Es entstehen durch Unterqualifizierung <strong>und</strong> Bildungsarmutenorme Kosten: e<strong>in</strong>erseits durch Nachqualifizierung <strong>und</strong>berufsvorbereitende Maßnahmen (also durch e<strong>in</strong>e verlängerte Schul-/Ausbildungszeit), andererseits durch die deutlich erhöhte Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitfür dauerhafte Sozialtransferabhängigkeit. Zudem ist deutlichnachweisbar, dass e<strong>in</strong> niedriges Bildungsniveau mit erhöhten Kostenim Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong> mit e<strong>in</strong>em höheren Krim<strong>in</strong>alitätsrisiko zusammenhängt.• S<strong>in</strong>kende E<strong>in</strong>nahmen: Durch verlängerte Schul- <strong>und</strong> Ausbildungszeitensowie Sozialhilfeabhängigkeit entstehen nicht nur unmittelbar Kosten,sondern es entgehen dem Fiskus auch E<strong>in</strong>nahmen im Steuerhaushalt<strong>und</strong> <strong>in</strong> den Sozialversicherungen. Der Sozialstaat leidet <strong>in</strong>sbesonderedaran, dass durch Arbeitslosigkeit nicht nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zahler wegfällt, sonderngleichzeitig e<strong>in</strong> Transferbezieher h<strong>in</strong>zukommt.


132 133• Wissensgesellschaft <strong>und</strong> Vollbeschäftigung: E<strong>in</strong>e Gesellschaft, die e<strong>in</strong>eder weltweit führenden Nationen ist, wird ihren Wohlstand auf Dauernur erhalten können, wenn sie <strong>in</strong> die Zukunft <strong>in</strong>vestiert. Durch dendemografischen Wandel wird es nicht mehr ausreichen, e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>enTeil e<strong>in</strong>es Jahrgangs zu High Potentials auszubilden. Der Zustandder Vollbeschäftigung wird – anders als viele Ökonomen <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlerprognostiziert haben – <strong>in</strong> absehbarer Zeit möglich se<strong>in</strong>.Die Hürde für Vollbeschäftigung wäre selbstgemacht: nämlich dann,wenn die offenen Stellen wegen Qualifikationsdefiziten nicht durchdie „freien” Arbeitskräfte besetzt werden können. Wissen <strong>und</strong> Kompetenzensche<strong>in</strong>en die Währung des zukünftigen Arbeitsmarktes zu se<strong>in</strong>.Lebenslanges Lernen wird betont, aber das gr<strong>und</strong>ständige Lernen <strong>in</strong>der K<strong>in</strong>dheits- <strong>und</strong> Jugendphase bleibt zentral.Diesen allgeme<strong>in</strong>en strukturellen Aspekten des Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystemswidmet sich der erste Abschnitt dieses Kapitels. Daraufh<strong>in</strong>werden Möglichkeiten auf der organisationalen Ebene erläutert.Hier stehen <strong>in</strong>sbesondere jene Aspekte im Vordergr<strong>und</strong>, die die e<strong>in</strong>zelneSchule als Organisation gestalten kann, um <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong>dividuellzu fördern. In diesen beiden Abschnitten wird es um allgeme<strong>in</strong>eZusammenhänge gehen, von denen alle <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n profitierenwürden. Zuletzt geht es um die konkrete pädagogische Arbeit mitder Zielgruppe der muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n. Denn erst auf der Ebeneder Interaktion werden zielgruppenspezifische Maßnahmen wirksam.6.1. Die strukturelle Ebene: Erziehungs- <strong>und</strong>Bildungssystem• Soziale Nachhaltigkeit: Häufig geht <strong>in</strong> der öffentlichen Diskussion unter,dass das Bildungssystem nicht nur die zukünftigen Beitragszahler <strong>und</strong>Arbeitskräfte ausbildet, sondern auch die Bürger, Demokraten <strong>und</strong>Eltern von morgen. Alle Versäumnisse werden also nicht nur monetäreKonsequenzen haben, sondern können sich auch dauerhaft auf die politischeKultur auswirken.Diese Zusammenfassung zeigt, dass es ökonomisch <strong>und</strong> kulturell vongrößter Relevanz ist, die Potenziale aller <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebenden <strong>K<strong>in</strong>der</strong><strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n zu fokussieren. Die häufig propagierte Elitenförderungist dabei nicht unwichtig, aber auch nicht vordergründig. Vordergründigist e<strong>in</strong>e breite <strong>und</strong> <strong>in</strong>tensive Förderung <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit, damit die Elitenförderungauch tatsächlich e<strong>in</strong>e Talentförderung ist <strong>und</strong> nicht die sozialeHerkunft ausschlaggebend bleibt. Die Perspektivlosigkeit der meisten<strong>Jugendliche</strong>n, die auf Förder- oder Hauptschulen s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die ke<strong>in</strong>enSchulabschluss bzw. Ausbildungsplatz erhalten, wird langfristig zu e<strong>in</strong>emProblem. Jeder Mensch braucht Anerkennung <strong>und</strong> wird die Formen derAnerkennung annehmen, die im sozialen Umfeld gültig s<strong>in</strong>d. Die Tatsache,dass diese Schulformen sozial sehr homogen s<strong>in</strong>d, verschärft dieprekäre Lage der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n. Wenn sowohl <strong>in</strong> der Schuleals auch im Stadtteil sozial homogene (Unterschicht-)Strukturen vorherrschen,verfestigen sich Lebenskonstellationen, die dann als Parallelgesellschaft<strong>in</strong>terpretiert werden können. Die soziale Durchmischungist <strong>in</strong>sbesondere deshalb so wichtig, weil <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> <strong>in</strong> derSchule nicht nur von Lehrkräften lernen, sondern <strong>in</strong> besonderem Maßevon den Mitschülern. Die Schülerstruktur ist also als soziale Ressourceanzusehen.Die Problematik des deutschen Schulsystems zeigt sich aus der makroperspektivischenBetrachtung <strong>in</strong> zweierlei H<strong>in</strong>sicht: Zum e<strong>in</strong>en wird e<strong>in</strong>evertikale Benachteiligung von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n aus bildungsfernenFamilien bzw. mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> deutlich, zum anderenist zu erkennen, dass horizontale Benachteiligungen durch unterschiedlichebildungspolitische Zielsetzungen auf Länder- <strong>und</strong> Kommunalebenebestehen. Beide Formen der Ungleichheit verstärken sich wechselseitig<strong>und</strong> führen dazu, dass beispielsweise <strong>in</strong> kompetenzstarken Ländern wieBayern <strong>und</strong> Baden-Württemberg, <strong>in</strong> denen Abschlüsse restriktiver vergebenwerden, der Zugang zu e<strong>in</strong>em höheren Abschluss stärker sozialselektiert wird als dies <strong>in</strong> anderen B<strong>und</strong>esländern der Fall ist (vgl. Ditton2008). 3 Gleichzeitig wird <strong>in</strong> den B<strong>und</strong>esländern, die sozial Benachteiligtenden Zugang zum Abitur stärker ermöglichen (bspw. NRW oder Berl<strong>in</strong>),diese Durchlässigkeit mit dem Preis e<strong>in</strong>er enormen Marg<strong>in</strong>alisierung derHauptschule als „Restschule” bezahlt, was Hauptschulen zunehmendzu sozialen Brennpunkten werden lässt. Die föderalen Schulsystemebef<strong>in</strong>den sich also (mit wenigen Ausnahmen) <strong>in</strong> dem Dilemma, entwederauf vergleichsweise hohem Kompetenzniveau relativ wenige Hochschulzugangsberechtigungenzu vergeben oder auf relativ ger<strong>in</strong>gem Kompetenzniveaue<strong>in</strong>en deutlich größeren Anteil an Hochschulzugangsberechtigungenzu erzeugen.Die b<strong>und</strong>eslandspezifische Bildungspolitik zeigt sich beispielsweise ander Häufigkeit von Klassenwiederholungen im B<strong>und</strong>esländervergleich:Während <strong>in</strong> Schleswig-Holste<strong>in</strong> 43,0 Prozent der 15-Jährigen m<strong>in</strong>destense<strong>in</strong>mal sitzen geblieben s<strong>in</strong>d, liegt der Vergleichswert für Brandenburg


134 135bei 14,5 Prozent (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2003; Krohne/Tillmann2006). Ebenso variiert der Anteil an Sonderschülern je nachB<strong>und</strong>esland teilweise um e<strong>in</strong> Vielfaches (vgl. Allmend<strong>in</strong>ger/Helbig 2008).Diese ungleichen Verteilungen lassen sich nicht alle<strong>in</strong> durch unterschiedlicheKompetenzniveaus erklären, sondern s<strong>in</strong>d vielmehr Resultat föderalorganisierter Schulpolitik(en).Innerhalb der B<strong>und</strong>esländer bestehen weitere regionale Unterschiede.Für das Ruhrgebiet steht der „Sozialäquator” (die Autobahn 40) beispielhaftfür solche Disparitäten (vgl. Terpoorten 2007). Sowohl Bildungsbeteiligungals auch andere Indikatoren wie die Ges<strong>und</strong>heit der dortlebenden <strong>K<strong>in</strong>der</strong> unterscheiden sich zwischen dem Norden <strong>und</strong> demSüden des Ruhrgebiets enorm. Schulen s<strong>in</strong>d unmittelbar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sozialenRaum <strong>in</strong>tegriert, der die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Schulen <strong>und</strong>die Chancen der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> wesentlich determ<strong>in</strong>iert. Am Beispiel des Ruhrgebietslassen sich die Schnittstellen zwischen Bildungs- <strong>und</strong> Stadtbzw.Regionalpolitik beispielhaft zeigen. Die lokale Schullandschaftspielt e<strong>in</strong>e nicht zu unterschätzende Rolle, wenn man bedenkt, dassSchulempfehlungen nicht unwesentlich durch die Kapazitäten der unterschiedlichenSchultypen vor Ort bee<strong>in</strong>flusst werden. So betonen Gomolla<strong>und</strong> Radtke (2002, S. 126): „Wenn es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitpunkt oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emStadtteil relativ weniger Plätze an Hauptschulen, dafür relativ mehran Realschulen <strong>und</strong> Gymnasien gibt, erhöht sich ohne jedes Zutun desSchülers se<strong>in</strong>e Chance auf e<strong>in</strong>en qualifizierten Schulabschluss – <strong>und</strong>umgekehrt.”Der e<strong>in</strong>mal bestrittene Bildungsweg im selektiven System ist dabei nachträglichkaum noch revidierbar. Etwa 90 Prozent der Schüler verbleiben,trotz der formalen Möglichkeit e<strong>in</strong>es Schulwechsels, <strong>in</strong> der Schulform, dienach der Gr<strong>und</strong>schule vorgesehen bzw. gewählt wurde. In den wenigenFällen, <strong>in</strong> denen es zu e<strong>in</strong>em Wechsel kommt, handelt es sich meist ume<strong>in</strong>en Abstieg, nicht selten zur Haupt- oder Sonderschule. Wenn vonnachträglicher Durchlässigkeit die Rede ist, so muss heute konstatiertwerden, dass es sich empirisch betrachtet um Korrekturen „nach unten”handelt (vgl. Bellenberg u.a. 2004, S. 81). 4Die Strukturen des Bildungswesens s<strong>in</strong>d das Erbe des Industriezeitalters.Selbst führende Ökonomen bezeichnen diese Strukturen als Überbleibselder „Drei-Klassen-Gesellschaft” (beispielsweise S<strong>in</strong>n 2006). Beigenauerer Betrachtung stellt man fest, dass es e<strong>in</strong>en starken Systemerhaltungstriebzu geben sche<strong>in</strong>t. Bei jeder Öffnung der Strukturenwurde differenziert, statt zu vere<strong>in</strong>heitlichen: Es gibt e<strong>in</strong>e kaum zuüberschauende Vielzahl von Schwerpunkten an Sonderschulen, vonberuflichen Bildungsgängen (<strong>in</strong>sbesondere im Übergangssektor), vonMöglichkeiten, Schulabschlüsse nachzuholen, von Hochschulformen<strong>und</strong> -zugängen, von rechtlichen Bestimmungen <strong>und</strong> Lehrplänen usw. 5Entsprechend weist die F<strong>in</strong>anzierung e<strong>in</strong>e diffuse Logik auf. Gegen jedewissenschaftliche Erkenntnis s<strong>in</strong>d die Ausgaben für die Sek<strong>und</strong>arstufe II<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> am höchsten <strong>und</strong> über dem OECD-Durchschnitt, wäh-rend die Primarstufe (sowie die elementare Bildung) im Vergleich mitdem OECD-Durchschnitt deutlich unterf<strong>in</strong>anziert ist (vgl. Tabelle 4). E<strong>in</strong>e„Überf<strong>in</strong>anzierung” f<strong>in</strong>det also lediglich <strong>in</strong> den Bildungsphasen statt, <strong>in</strong>denen nicht mehr alle Lernenden von den Ausgaben profitieren können.Tabelle 4: Ausgaben für Bildung je SchülerIn 2006(In PPP-US-Dollar <strong>und</strong> prozentuale Abweichungen im Vergleich zu<strong>Deutschland</strong>)PrimarbereichSek<strong>und</strong>arstufe ISek<strong>und</strong>arstufe II(allgeme<strong>in</strong>bildendeSchulen)Hochschule(ohne Forschung)<strong>Deutschland</strong> 5.548 6.851 9.557 8.534OECD-Durchschnitt6.741 + 22 % 7.598 + 11 % 8.746 - 8 % 8.970 + 5 %Schweden 8.338 + 50 % 9.020 + 32 % 9.247 - 3 % 9.402 + 10 %Datenquelle: OECD 2010Bei e<strong>in</strong>er differenzierten Betrachtung der Ausgaben für die verschiedenenFormen der Sek<strong>und</strong>arstufe I stellt man fest, dass die Ausgaben fürdie Förder- <strong>und</strong> Hauptschulen am höchsten s<strong>in</strong>d (vgl. Tabelle 5). Diesekaum bekannte Tatsache steht <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em angemessenen Verhältnis zuden Ergebnissen dieser Schulformen. Und die Ausgaben für die beruflichenBildungsgänge des Übergangssystems, also jenes Sektors, <strong>in</strong>dem <strong>Jugendliche</strong> ohne Ausbildungsplatz nachqualifiziert werden, liegendeutlich darüber (vgl. Tabelle 6). Das Berufsorientierungsjahr, welcheshauptsächlich von Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schülern besucht wird, die denHauptschulabschluss nachholen wollen, übertrifft bei den jährlichenPro-Kopf-Ausgaben alle anderen deutschen Bildungsgänge. Gleichzeitighaben die <strong>Jugendliche</strong>n nach dieser Nachqualifizierung häufig kaumbessere Arbeitsmarktchancen (vgl. Bojanowski 2008). Alle Versäumnissean allgeme<strong>in</strong> bildenden Schulen erzeugen langfristig hohe Kosten.


136 137Tabelle 5: Ausgaben pro Schüler nach Schulform <strong>in</strong> der Sek<strong>und</strong>arstufe I(<strong>in</strong> €)Förderschulen Hauptschulen Gymnasien Realschulen13.100 6.000 5.600 4.600Datenquelle: Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2010Tabelle 6: Ausgaben pro Schüler nach Verlassen der allgeme<strong>in</strong> bildendenSchule (<strong>in</strong> €)BerufsvorbereitungsjahrBerufs-Fachhochschulefachschule UniversitätDuales System(nur öff. Ausgaben)6.900 5.800 5.700 5.300 2.200Datenquelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008Zusammenfassend lässt sich also festhalten: E<strong>in</strong>erseits ist e<strong>in</strong> „Matthäus-Effekt” erkennbar – „wer hat, dem wird gegeben” –, andererseits flie-ßen die Ressourcen <strong>in</strong> die Kompensation chronisch etablierter Defizite(Haupt-, Förderschulen <strong>und</strong> Übergangssystem). Die im Bildungswesendom<strong>in</strong>ierende „Theorie der Förderung” besteht also <strong>in</strong> der fortwähren-den Selektion <strong>und</strong> nicht der frühzeitigen Förderung bzw. Prävention. Wirkönnen also nicht nur e<strong>in</strong>e Unterf<strong>in</strong>anzierung, sondern <strong>in</strong>sbesondere e<strong>in</strong>estrukturelle Fehlf<strong>in</strong>anzierung konstatieren.Dies zeigt sich auch dar<strong>in</strong>, dass es kaum e<strong>in</strong>en OECD-Staat gibt, <strong>in</strong>dem Klassenwiederholungen so frühzeitig <strong>und</strong> häufig stattf<strong>in</strong>den wiehierzulande. Dabei zeigen nationale <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternationale Studien, dassdas Sitzenbleiben ke<strong>in</strong>e positiven Effekte für Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüleraufweist – weder für die Wiederholenden noch für die <strong>in</strong> der Klasse Verbleibenden.Ganz im Gegenteil: Die Leistungen derjenigen, die „e<strong>in</strong>eEhrenr<strong>und</strong>e drehen”, werden <strong>in</strong> der Regel schlechter (vgl. Krohne/Tillmann2006) <strong>und</strong> Klassenwiederholungen kosten gleichzeitig etwa e<strong>in</strong>eMilliarde Euro im Jahr (vgl. Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2003/04; Fre<strong>in</strong>/Möller 2005). 6 Verheerend s<strong>in</strong>d die strukturellen Anreize für Klassenwiederholungen:Während den Schulen für die <strong>in</strong>dividuelle Förderungkaum umfassende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, erhöhtsich das Budget e<strong>in</strong>er Schule durch Klassenwiederholungen teilweisedeutlich. Denn die personellen <strong>und</strong> materiellen Ressourcen e<strong>in</strong>er Schuleberechnen sich fast ausschließlich auf der Gr<strong>und</strong>lage der Schülerzahl.Diese wiederum wird durch Klassenwiederholungen (künstlich) erhöht.Würde e<strong>in</strong>e Schule mit Mühe <strong>und</strong> Engagement die Förderung von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n<strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n fokussieren <strong>und</strong> Klassenwiederholungen vollständigvermeiden, würde sie mit Ressourcenkürzungen „belohnt” <strong>und</strong> müssteim weiteren Verlauf mit weniger Personal die gleichen Anstrengungenvollbr<strong>in</strong>gen.Zuletzt sei auf e<strong>in</strong>en weiteren Stützpfeiler der Systemerhaltung h<strong>in</strong>gewiesen:die Klassengröße. Schnell f<strong>in</strong>den Politiker Zustimmung, wennsie kle<strong>in</strong>ere Klassen versprechen – <strong>und</strong> wenn sie dieses Versprechenwahrmachen, entstehen enorme Kosten. Dabei belegt ke<strong>in</strong>e Studie –auch nicht <strong>in</strong>ternational vergleichende wie PISA, IGLU oder TIMSS –dass die Klassengröße e<strong>in</strong>en bedeutenden E<strong>in</strong>fluss auf die Lern- <strong>und</strong>Leistungsentwicklung von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n hat (vgl. auchBrahm 2003; Wößmann 2003). Vielmehr s<strong>in</strong>d Schülerzusammensetzung<strong>und</strong> Unterrichtsform ausschlaggebend, wobei diese beiden Faktorendurch das beschriebene System determ<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Die bestehendenStrukturen fördern e<strong>in</strong>e Mentalität, nach der die Lehrkraft immer denrichtigen Unterricht macht <strong>und</strong> nur die falschen Schüler hat – <strong>und</strong> e<strong>in</strong>ebessere Lehrer-Schüler-Relation ändert an diesem Systemfehler nichts(vgl. hierzu ausführlich El-Mafaalani 2010a).Die gesamten Anreizstrukturen, <strong>in</strong>sbesondere die gängige Beförderungspraxis,laufen e<strong>in</strong>em migrations- <strong>und</strong> ungleichheitssensiblen Engagementzuwider. Die zentralen Pflichten e<strong>in</strong>er Schule <strong>und</strong> damit auch e<strong>in</strong>er Lehrkraftliegen <strong>in</strong> der Erfüllung <strong>in</strong>putorientierter Vorgaben (Lehrpläne, Richtl<strong>in</strong>ien,Rahmenvorgaben etc.). Entsprechend hat die Beförderungspraxiswenige Bezüge zur professionellen pädagogischen Performanz, die wederauf allgeme<strong>in</strong>e noch auf ungleichheitsbezogene Standards h<strong>in</strong> bewertetwerden kann, da die Qualität der pädagogischen Arbeit e<strong>in</strong>er Lehrkraftgar nicht festgestellt wird. Beförderungen werden <strong>in</strong> der Regel mit besonderenLeistungen im Bereich Schulverwaltung <strong>und</strong> -organisation ausgesprochen.Es existieren ke<strong>in</strong>erlei Anreize zur systematischen Förderungvon benachteiligten <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n, denn weder die Besoldungnoch e<strong>in</strong>e Beförderung, weder Anerkennung noch Unterstützung s<strong>in</strong>dhierfür vorgesehen. Das Thema Benachteiligtenförderung hängt vom persönlichenEngagement <strong>und</strong> von den Kompetenzen der e<strong>in</strong>zelnen Lehrkraftab <strong>und</strong> wird <strong>in</strong>stitutionell nicht gestützt oder honoriert, was e<strong>in</strong>er migrations-<strong>und</strong> ungleichheitssensiblen Professionalisierung entgegensteht.


138 139In der Gesamtbetrachtung sche<strong>in</strong>t es <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong>e besondersausgeprägte Neigung zur Homogenisierung, Differenzierung, Ordnung<strong>und</strong> Normalisierung zu geben. Daraus erwachsen auf der e<strong>in</strong>en Seite<strong>in</strong>sgesamt überkomplexe, stark differenzierende <strong>und</strong> offensichtlich <strong>in</strong>effiziente<strong>in</strong>stitutionelle Strukturen <strong>und</strong> auf der anderen Seite unterkomplexe,kaum differenzierende <strong>und</strong> <strong>in</strong>effektive Lehr-Lern-Prozesse.Genau das Gegenteil wäre wichtig: Auf der Prozessebene müsste Ungleichesungleich behandelt werden, müssten Stärken <strong>und</strong> Potenzialemit unterschiedlichen Lernwegen <strong>und</strong> Methoden ausgeschöpft werden;auf der Strukturebene sollten (so lange wie möglich) alle gleich behandeltwerden. Komplexe Prozesse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>fachen Strukturen. Für die Koord<strong>in</strong>ationkomplexer Prozesse müssten Schulen mehr Verantwortungübernehmen <strong>und</strong> Eigen<strong>in</strong>itiative zeigen, was allerd<strong>in</strong>gs (teilweise) durchdie Strukturen determ<strong>in</strong>iert wird. Dennoch ist es möglich auf der Ebeneder Organisation e<strong>in</strong>iges zu verbessern.6.2. Die Ebene der Organisation: Schule <strong>und</strong>SchulentwicklungIn <strong>Deutschland</strong> werden Schulen noch immer als Institutionen der Wissensvermittlunggesehen, wobei jedem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> prognostizierbaresPotenzial unterstellt wird. Entsprechend werden Schüler bis heute differenziert<strong>und</strong> <strong>in</strong> verschiedene Schulformen gesteckt, <strong>in</strong> denen dann e<strong>in</strong>normierter Input angeboten wird. Bei Abweichungen von der Leistungserwartungwird <strong>in</strong> Form von Klassenwiederholung oder Schulwechselnachjustiert. Dass das Lernen nicht l<strong>in</strong>ear ist, sondern sich höchst <strong>in</strong>dividuell<strong>und</strong> dynamisch entwickelt, ist e<strong>in</strong>e bekannte Erkenntnis, auf diejedoch weder die Strukturen noch die Organisationen e<strong>in</strong>gestellt s<strong>in</strong>d.Insbesondere die Lerngeschw<strong>in</strong>digkeit <strong>und</strong> die Lernmethoden könnennicht normiert werden. Daher wird heute die <strong>in</strong>dividuelle Förderungjedes K<strong>in</strong>des <strong>und</strong> jedes <strong>Jugendliche</strong>n als zentrale Herausforderung erkannt.Dieser Herausforderung müssen sich letztlich die Schulen selbststellen. Dies gel<strong>in</strong>gt jedoch nur, wenn sich Schulen nicht mehr als re<strong>in</strong>eBildungs<strong>in</strong>stitutionen verstehen, sondern den gesetzlichen Bildungs<strong>und</strong>Erziehungsauftrag wahrnehmen. Die Tatsache, dass an Schulen dieLehrkräfte praktisch die e<strong>in</strong>zigen Professionellen darstellen, zeigt bereitsdeutlich, dass das gesamte System davon ausgeht, dass die Erziehung<strong>in</strong> den Familien stattf<strong>in</strong>det bzw. stattf<strong>in</strong>den muss. Es führt ke<strong>in</strong> Wegdaran vorbei, dass Sonder- <strong>und</strong> Sozialpädagogen sowie Psychologen diepädagogische Arbeit an allen Schulen – auch Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> Gymnasien– bereichern. Diese Professionen sollten nicht (nur) als Experten fürProblemfälle verstanden werden, sondern <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> die präventiveArbeit systematisch <strong>in</strong>tegriert werden. Wie aus den vorausgegangenenKapiteln deutlich wurde, gründen sich die Probleme der benachteiligten<strong>Jugendliche</strong>n nicht <strong>in</strong> der re<strong>in</strong>en Lernleistung, sondern <strong>in</strong> den komplexenRahmenbed<strong>in</strong>gungen – oder genauer: <strong>in</strong> den außerschulischen Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen.Viele D<strong>in</strong>ge, die im Unterricht vorausgesetzt werden,wurden bei vielen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n nicht h<strong>in</strong>reichend gefördert. Daher bedarf ese<strong>in</strong>er strukturierten erzieherischen Vorgehensweise, die die Individualität<strong>und</strong> den Kontext des E<strong>in</strong>zelfalls erkennt <strong>und</strong> zielgesteuert begleitet.Die Diagnose <strong>und</strong> Bewertung der <strong>in</strong>dividuellen Lernentwicklung <strong>und</strong> des<strong>in</strong>dividuellen Lernbedarfs ist zentraler Bestandteil jeder Förderung, <strong>in</strong>sbesonderebei der Arbeit mit benachteiligten <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n.Vordergründiges Ziel müsste es se<strong>in</strong>, basierend auf der Diagnose derLernvoraussetzungen, <strong>in</strong>dividuelle Lernformen <strong>und</strong> -pläne zu gestalten,die jeden Schüler e<strong>in</strong>beziehen <strong>und</strong> die Verschiedenheit <strong>in</strong> den Fähigkeiten,Interessen <strong>und</strong> Lebenskontexten nicht als Problem, sondern alsPotenzial sehen (vgl. Schleicher 2007). Der e<strong>in</strong>zelne Schüler <strong>und</strong> damitdas Lernen selbst müssen hier im Fokus stehen. Dafür s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Vielzahlvon Kenntnissen erforderlich, beispielsweise über die jeweiligenSchulbiographien <strong>und</strong> die Lebenssituationen der Lernenden, über <strong>in</strong>dividuelleLernziele <strong>und</strong> Lerntypen, über besondere Ängste, über spezifischeDenk- <strong>und</strong> Handlungsmuster, über zu berücksichtigende Stärken <strong>und</strong>Schwächen (vgl. Voß 2005). Dieser Austausch ist mehr als gewöhnlicheschulische Interaktion. Es handelt sich vielmehr um e<strong>in</strong> bewusstes <strong>und</strong>zielgesteuertes Handeln mit dem erkennbaren Willen, den „anderen”kennenzulernen, als Individuum wahrzunehmen <strong>und</strong> zu respektieren.Statt der gängigen Selektions<strong>in</strong>strumente sollten Maßnahmen ergriffenwerden, die die Diversität anerkennen <strong>und</strong> für den Lernerfolg nutzen.Aus dieser Perspektive wird ersichtlich, dass die e<strong>in</strong>zelne Lehrkraft, die<strong>in</strong> der Regel dutzende Schüler betreut, vor e<strong>in</strong>er kaum zu bewältigendenAufgabe steht. Es werden Veränderungen notwendig, die sowohl dasUnterrichtsgeschehen als auch die Personal- <strong>und</strong> Organisationsentwicklungbetreffen, um schulumfassende Konzepte für den Umgang mit Vielfalt<strong>und</strong> Ungleichheit zu entwickeln, welche nicht alle<strong>in</strong> auf das Engagement<strong>und</strong> die Kompetenzen e<strong>in</strong>zelner Lehrkräfte basieren (vgl. Abbildung1). Zentrale Herausforderung ist vielmehr die Synchronisation von E<strong>in</strong>zelhandlungen<strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Komplementierung des vorhandenen persönlichenE<strong>in</strong>satzes durch unterstützende Strukturen.


140 141Abbildung 1: Trias der Schulentwicklung• Diagnose der Lernvoraussetzungen• Kooperative <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuelleLernformen• praxisnahe Lernformen• Lerntagebücher, Schüler-Portfolios• kulturelle Vielfalt beiden Unterrichtsthemenbeachten• …SchulentwicklungUnterricht Organisation PersonalOrganisationsentwicklung• Schulische Organisation<strong>und</strong> Dokumentation allerProzesse des Umgangsmit Vielfalt (Prozessmanagement)• Evaluations- <strong>und</strong> Kooperationskultur• Zusammenarbeit zwischenLehrkräften <strong>und</strong>ggf. Sozialarbeitern <strong>und</strong>Psychologen• Leitbild (Diversity alsNormalfall)• Schulprogramm (Öffnungder Schule für alle Zielgruppen)• …• Aus-/Weiterbildung derLehrkräfte <strong>in</strong> Bezug auf<strong>in</strong>dividuelle Förderung,pädagogische Diagnostik,<strong>in</strong>terkulturelle Kompetenz• schul<strong>in</strong>terne Fortbildungen• Verständigungs- <strong>und</strong>konfrontationsorientierteTra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs• pädagogische Kräfte mitMigrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>• …Individuelle Förderung orientiert sich an e<strong>in</strong>er gezielten Ungleichbehandlungvon Ungleichen. Die Orientierung an homogenen Lerngruppen wirddurch die pädagogische Herausforderung ersetzt, Diversität als Normalfallschulischen Alltags zu begreifen (vgl. Prengel 1993). Leitbild <strong>und</strong> Schulprogrammsollten dieser Idee verpflichtet se<strong>in</strong>. Diese schwerwiegendenWandlungen s<strong>in</strong>d abhängig von vielschichtigen Kommunikationsprozessen,die es zu organisieren, dokumentieren <strong>und</strong> evaluieren gilt.Die schulische Organisation aller Prozesse des Umgangs mit Vielfalt istdie zentrale Herausforderung für e<strong>in</strong>en dauerhaften Erfolg im Umgangmit Heterogenität (vgl. Hameyer 2006). E<strong>in</strong> Prozessmanagement-Konzeptmuss <strong>in</strong>nerhalb der e<strong>in</strong>zelnen Schule konkretisiert werden, um lokalenBesonderheiten Rechnung tragen zu können. In Abbildung 2 wird e<strong>in</strong>eAuswahl an Instrumenten angeboten, die je nach Bed<strong>in</strong>gungen variierbar<strong>und</strong> komb<strong>in</strong>ierbar s<strong>in</strong>d (vgl. ausführlich El-Mafaalani 2010a). Das wichtigsteElement ist dabei das Schüler-Lehrer-Gespräch, welches bereits zuBeg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Schuljahres geführt werden sollte. Es gewährleistet erstens,dass sich der Schüler als Individuum wahrgenommen, akzeptiert <strong>und</strong>wertgeschätzt fühlt, dass zweitens Informationen bezüglich des sozialenUmfelds, der <strong>in</strong>dividuellen Stärken <strong>und</strong> Schwächen, des Selbstbildes<strong>und</strong> der Ressourcen gesammelt werden können, welche ansonstenerst sehr spät oder u.U. gar nicht erkannt werden, <strong>und</strong> drittens, dassLehrende <strong>und</strong> Lernende geme<strong>in</strong>sam Ziele formulieren, die es geme<strong>in</strong>samzu erreichen gilt (vgl. dazu ausführlich Lutz 2006). Dieses persönlicheGespräch ist gerade <strong>in</strong> der Förderung benachteiligter <strong>Jugendliche</strong>rvon großer Bedeutung, da negative Erfahrungen bzw. Irritationen <strong>in</strong> derSchule festgestellt <strong>und</strong> berücksichtigt werden können.Abbildung 2: Phasen <strong>und</strong> Elemente Individueller FörderungBeobachtenLernstandstestSelbstbeobachtungsbogenfür SchülerSchüler-PortfolioSchüler-Lehrer-GesprächBeobachtungsbogenfür LehrkräfteKompetenzrasterProzessmanagement „Individuelle Förderung”AuswertenKlassenkonferenzSchüler-Lehrer-GesprächElterngesprächUmsetzenUnterrichtsentwicklungLern/-FörderplänePortfolioarbeitLerntagebücherWochenplanarbeitkooperativeLernformenEvaluierenSchüler-Lehrer-GesprächFörderkonferenzLern/-FörderpläneKompetenzrasterUm e<strong>in</strong>e sorgfältige Beobachtung <strong>und</strong> daran anschließend e<strong>in</strong>e systematischeFörderung zu gewährleisten, sollten alle Schritte – auch die Gespräche– dokumentiert <strong>und</strong> allen Beteiligten transparent gemacht werden.Anregungen für die Anfertigung von geeigneten Dokumenten verschiedenerFördermaßnahmen wurden <strong>in</strong> vielen Projekten erarbeitet(vgl. Koch/Kortenbusch 2007; Förster u.a. 2006; Hessisches Kultusm<strong>in</strong>isterium2007).UnterrichtsentwicklungDie Fähigkeiten, Ängste <strong>und</strong> Vorerfahrungen der Schüler können <strong>in</strong>der Unterrichtsgestaltung von allen Lehrkräften berücksichtigt werden.Kooperative <strong>und</strong> praxisnahe Lernformen, bei denen sich die Schüleruntere<strong>in</strong>ander austauschen <strong>und</strong> damit ihre <strong>in</strong>dividuellen Potenziale e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>genkönnen, rücken <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong>. Zusätzlich zum geme<strong>in</strong>samenLernen werden <strong>in</strong>dividualisierte Fördermaßnahmen erforderlich,


142 143bei denen jeder Schüler eigene Ziele verfolgen <strong>und</strong> an <strong>in</strong>dividuellenStärken <strong>und</strong> Schwächen arbeiten kann. Als geeignete Instrumentezur konstruktiven Unterstützung <strong>in</strong>dividueller Lernprozesse können u.a.das Schüler-Portfolio oder <strong>in</strong>dividuelle Lernpläne genannt werden. Siedienen der Reflexion von <strong>in</strong>dividuellen Lernprozessen <strong>und</strong> damit zumAusbau der Stärken sowie zum Abbau der Schwächen (zur Verknüpfungvon <strong>in</strong>dividualisierten <strong>und</strong> kooperativen Lernformen <strong>in</strong> kulturell heterogenenKlassen vgl. El-Mafaalani 2009).Sowohl bei der Zusammensetzung von Kle<strong>in</strong>gruppen als auch bei derthematischen Gestaltung des Unterrichts sollten die kulturelle Vielfaltsowie die Vorlieben <strong>und</strong> Lernvoraussetzungen der Lernenden berücksichtigtwerden, damit sich die Schüler<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Schüler aktiv e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>genkönnen. Hierfür wird die Reflexion über die Rollen von Lehrkräften <strong>und</strong>Lernenden erforderlich. Entscheidend ersche<strong>in</strong>t es, e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>darüber zu schaffen, dass die Lernentwicklung <strong>in</strong> der Verantwortungaller Beteiligten liegt. Dafür müssen Lehrkräfte ihr Rollenverständnis vonder re<strong>in</strong>en Wissensvermittlung <strong>und</strong> Leistungsbewertung h<strong>in</strong> zu Beratung<strong>und</strong> Lernbegleitung verschieben (Eschelmüller 2008). Gleichzeitig müssendie Lernenden aus der bisher eher passiven Rolle zum aktiven Mitgestaltenermutigt werden. Der Schlüssel dazu ist e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierlicheKommunikation <strong>und</strong> Kooperation zwischen den Lernenden <strong>und</strong> den Lehrenden,aber auch unter den Lehrkräften selbst. E<strong>in</strong>e Zusammenarbeitzwischen Lehrkräften <strong>und</strong> Sozialarbeitern bzw. Schulpsychologen wärehier wünschenswert, liegt aber nicht immer im Bereich des Möglichen.Jede Schule – von der Gr<strong>und</strong>schule bis zum Berufskolleg – wird <strong>in</strong> Zukunftstärker als bisher im Bereich „Erziehung” Aufgaben übernehmenmüssen. Dies gilt sowohl für den Unterricht als auch für außerunterrichtlicheprofessionelle Angebote (wie AGs <strong>und</strong> Ganztagsprogramme).Personalentwicklungerkennbar, dass sich Schulen verstärkt mit Fragen des Umgangs mitheterogenen Lerngruppen <strong>und</strong> mit Diversität der Lernenden als Normalfallbeschäftigen müssen. Erfolgreiche Schulen gehen davon aus, dassjedes K<strong>in</strong>d gefördert werden will – unabhängig davon, ob se<strong>in</strong> derzeitigesVerhalten diese Annahme rechtfertigt. 7 Die erforderliche Akzeptanz füre<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividualisierte Benachteiligtenförderung kann durch kooperativeArbeit im Kollegium geschaffen werden, um geme<strong>in</strong>sam Lösungswege fürdie Herausforderungen zu f<strong>in</strong>den. Pädagogische Tage <strong>und</strong> schul<strong>in</strong>terneFortbildungen bieten hierfür e<strong>in</strong>en geeigneten Rahmen.Nichtsdestotrotz muss die Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung der Lehrkräfte aufpädagogische Diagnostik, <strong>in</strong>dividuelle Förderung <strong>und</strong> <strong>in</strong>terkulturelleKompetenz forciert werden. Gerade Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Bezug auf Gesprächsführung<strong>und</strong> Konfliktmanagement werden von Lehrkräften häufig verlangt.Leider haben sich erste Versuche, Standards für e<strong>in</strong>en „Diversity-Professional” 8 zu erfassen, nicht etabliert (vgl. Kimmelmann 2009). DerPersonalentwicklung kommt im Zusammenhang mit Diversity Managementbzw. Diversity Education e<strong>in</strong>e zentrale Rolle zu. Die Möglichkeiten,pädagogische Kräfte mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> zu rekrutieren, ersche<strong>in</strong>enangesichts des entsprechenden Lehramtstudierendenanteils (ca.zwei Prozent) als e<strong>in</strong>e auf absehbare Zeit wenig ertragreiche Alternative.Zudem ist die Personalerweiterung durch schulsozialpädagogische <strong>und</strong>-psychologische Fachkräfte erforderlich, was allerd<strong>in</strong>gs nur sehr bed<strong>in</strong>gt<strong>in</strong>nerhalb des Handlungsspielraums der E<strong>in</strong>zelschule liegt. Insgesamtwerden <strong>in</strong> der gesamten Lehramtsausbildung <strong>in</strong>terkulturelle <strong>und</strong> ungleichheitssensibleKompetenzen fast vollständig ausgeblendet.Während der Schwerpunkt bisher auf den standarisierbaren Prozessen<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Schule lag, wird sich der nächste Abschnitt den nichtstandardisierbaren Prozessen auf der Ebene der Interaktion widmen.E<strong>in</strong> zentraler Aspekt für die Förderung von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n auszugewanderten Familien ist die generelle Geisteshaltung der Pädagogen,die statt „Lernen im Gleichschritt” die <strong>in</strong>dividuellen Stärken <strong>und</strong> Fähigkeitender Lernenden <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong> stellen.E<strong>in</strong> von vielen Lehrkräften vorgebrachtes Argument ist das Des<strong>in</strong>teresseder „anderen” Seite. So wird häufig darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die meistenSchüler nicht gefördert werden wollen (vgl. Solzbacher 2008). Hier wird


144 145Tabelle 7: Standardisierbarkeit e<strong>in</strong>zelner SchritteStandardisierbarKriterien zur Beobachtung, Bewertung<strong>und</strong> Evaluation des LernfortschrittsVerfahren zur Diagnose des Lernstands,zur Beurteilung <strong>und</strong> Evaluation desLernfortschrittsDokumentation <strong>und</strong> Term<strong>in</strong>ierunge<strong>in</strong>zelner ProzessschritteVerwaltung von SchülerdatenNicht standardisierbarLehr-Lern-ArrangementsEntscheidung über konkrete <strong>in</strong>dividuelleFördermaßnahmenPädagogisches F<strong>in</strong>gerspitzengefühlLehrer-Schüler-Interaktion6.3. Die Ebene der Interaktion: Unterricht <strong>und</strong>BeratungsgesprächeDie nicht standardisierbaren Prozesse f<strong>in</strong>den letztlich <strong>in</strong> der konkretenpädagogischen Interaktion statt. Die besondere Herausforderung liegtdar<strong>in</strong>, sich auf die Klientel e<strong>in</strong>zustellen. Jeder junge Mensch hat unterschiedlicheErfahrungsräume <strong>und</strong> Denkmuster, die e<strong>in</strong>e normierte pädagogischePraxis erschweren. Daraus lassen sich bestimmte Optionen ableiten,die die pädagogische Praxis unterstützen. Diese s<strong>in</strong>d jedoch nichtals Rezeptwissen zu verstehen, sondern vordergründig als Reflexions-<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lagenwissen. Die folgenden Aspekte werden im Folgendenfokussiert.Daher werden auch kommunikative Sensibilität <strong>und</strong> konfrontative Gesprächsführungerläutert. Abschließend wird die besondere Bedeutungkünstlerischer, kultureller <strong>und</strong> sportlicher Angebote für die Erziehungdargestellt.Reflexion der eigenen Vorurteile <strong>und</strong> pädagogischen Gr<strong>und</strong>annahmenZunächst sollte unmissverständlich herausgestellt werden, dass esvöllig normal ist, dass sich Menschen – also auch Pädagogen – <strong>in</strong> bestimmtenSituationen wohl fühlen <strong>und</strong> <strong>in</strong> anderen nicht. Entsprechendempf<strong>in</strong>det man besondere Sympathien bzw. Antipathie für bestimmteMenschen – also auch für <strong>K<strong>in</strong>der</strong>. Dies zu leugnen wäre nicht nur absurd,sondern auch kontraproduktiv. Denn e<strong>in</strong>zig die Reflexion über persönlichePräferenzen <strong>und</strong> Empf<strong>in</strong>dungen ermöglicht e<strong>in</strong>e professionelleArbeit. Da die meisten Lehrkräfte aus der deutschen Mittelschicht rekrutiertwerden, ergibt sich e<strong>in</strong>e doppelte Herausforderung. Diejenigen<strong>K<strong>in</strong>der</strong>, die ähnliche Lebensvoraussetzungen <strong>und</strong> Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungenaufweisen wie die meisten Lehrkräfte, verfügen über e<strong>in</strong>e gewissesoziale Nähe. Diese soziale Nähe drückt sich <strong>in</strong> den Umgangsformen,der (Selbst-)Diszipl<strong>in</strong>, der Köperhaltung <strong>und</strong> der Mentalität aus. Unddiese Nähe erzeugt tendenziell auch Verb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> Vertrauen. Obman jemanden mag oder nicht, hängt <strong>in</strong> besonderem Maße von derimpliziten, nonverbalen Kommunikation ab.E<strong>in</strong>e besondere Bedeutung, <strong>in</strong>sbesondere im Kontext <strong>in</strong>terkulturellerpädagogischer Sett<strong>in</strong>gs, kommt der Reflexion der Haltung des Pädagogenzu. Eigene Vorurteile <strong>und</strong> Erfahrungen gehören genauso dazuwie pädagogische Gr<strong>und</strong>annahmen <strong>und</strong> das eigene Rollenbild.Ressourcenorientiertes Arbeiten ist die Basis jeder Förderung. DieseGr<strong>und</strong>annahme liegt dem Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem zwar zugr<strong>und</strong>e,jedoch wird von e<strong>in</strong>er normierten Vorerziehung <strong>in</strong> der Familie ausgegangen,die jener e<strong>in</strong>er deutschen Mittelschichtfamilie entspricht <strong>und</strong>nur sehr bed<strong>in</strong>gt auf benachteiligte muslimische <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>übertragen werden kann.In diesem Zusammenhang spielt auch <strong>in</strong>terkulturelle Kompetenz e<strong>in</strong>ebesondere Rolle. Um <strong>K<strong>in</strong>der</strong> mit unterschiedlichen, kulturell geprägtenWertvorstellungen erziehen <strong>und</strong> bilden zu können, ist es zunächst notwendig,sie zu verstehen, um daraufh<strong>in</strong> ressourcenorientiert zu fördern.Andersherum bedeutet dies, dass <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> aus unterenSchichten auf die Lehrkräfte häufiger „ungewohnt” wirken. Dies verstärktsich, wenn es sich um <strong>K<strong>in</strong>der</strong> handelt, die aus unteren Schichtenstammen <strong>und</strong> zusätzlich e<strong>in</strong>e andere kulturelle Herkunft aufweisen.Die <strong>in</strong> den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen Irritationen <strong>und</strong>Unwohlse<strong>in</strong>gefühle beschränken sich also ke<strong>in</strong>eswegs nur auf die <strong>K<strong>in</strong>der</strong><strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n, sondern können durchaus auch bei Pädagogen vorliegen.Nun weiß man sehr genau, dass Rout<strong>in</strong>e <strong>und</strong> Vertrautheit Vertrauenstiften <strong>und</strong> dass ungewohnte Situationen <strong>und</strong> Verhaltensweiseneher zu Misstrauen führen. Vertrauen provoziert wiederum wechselseitigesVertrauen <strong>und</strong> Misstrauen erzeugt Misstrauen auf der anderenSeite. Die Irritationen können sich also wechselseitig verstärken <strong>und</strong>führen u.U. zu e<strong>in</strong>er „Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung”. 9 DieserKreislauf kann durch Transparenz, persönliche Offenheit <strong>und</strong> Reflexiondurchbrochen werden.


146 147Zunächst ist festzuhalten, dass es die professionelle Fachkraft ist, die<strong>in</strong> der Interaktion mit <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n den „ersten Schritt”machen muss. 10 Die weitverbreitete Vorstellung, die Familien könntendie Probleme lösen, wenn sie nur wollten, führt genauso schnell zu allgeme<strong>in</strong>erZustimmung wie die Andeutung, es handle sich um e<strong>in</strong> pädagogischnicht lösbares Problem. Tatsächlich können sich die Eltern nursehr schwierig von eigenen Wertvorstellungen <strong>und</strong> Handlungsrout<strong>in</strong>entrennen. Und auch die pädagogische E<strong>in</strong>flussnahme ist unter den gegebenenstrukturellen <strong>und</strong> organisatorischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>deutigbegrenzt. Und dennoch ist e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>flussnahme möglich, wenn diePädagogen auf die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> deren Eltern zugehen <strong>und</strong> wenn die Reflexion<strong>und</strong> Kommunikation <strong>in</strong> folgenden Bereichen umfassend stattf<strong>in</strong>det:• Br<strong>in</strong>gschuld der Familie: Dass die Erziehungsarbeit der Eltern e<strong>in</strong>ennicht zu unterschätzenden Beitrag für den schulischen Erfolg desK<strong>in</strong>des hat, ist unbestritten. Dennoch liegt genau <strong>in</strong> der vorausgesetztenMitarbeit der Eltern am Lernerfolg e<strong>in</strong> zentrales Problem – sozialeUngleichheit wird über Erziehung <strong>und</strong> Sozialisation „weitervererbt”.In den Familien können weder Sprach- noch Verhaltensprobleme eigenständiggelöst werden. Wenn man Unterstützung von den Eltern be-nötigt, müssen die Eltern zunächst unterstützt werden (siehe Kapitel„Elternarbeit”).• Jedes K<strong>in</strong>d will bzw. wird lernen: „Man kann sich Mühe geben, wieman will, man wird nicht verh<strong>in</strong>dern können, dass <strong>K<strong>in</strong>der</strong> lernen”.Dieser <strong>in</strong> vielen Varianten geläufige pädagogische Leitsatz deutetdarauf h<strong>in</strong>, dass <strong>K<strong>in</strong>der</strong> gar nicht anders können, als zu lernen. Pädagogenhaben lediglich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss darauf, was <strong>und</strong> wie gelernt wird.E<strong>in</strong>e k<strong>in</strong>dzentrierte Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass man davonausgeht, dass jedes K<strong>in</strong>d lernen will. Sollten Lern- bzw. Leistungsrückständevorliegen, muss danach gefragt werden, wor<strong>in</strong> die hemmendenFaktoren liegen. Weder das „Aufgeben” e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des noch e<strong>in</strong>e falscheRücksichtnahme durch die Senkung des Anspruchs s<strong>in</strong>d die folgerichtigenSchlüsse, sondern die <strong>in</strong>dividuelle Diagnose <strong>und</strong> Förderung, wasauch Erziehungsaufgaben be<strong>in</strong>haltet. Jedes Lernen ist kontextualisiert,was bedeutet, dass jedes Wissen <strong>und</strong> jede Fähigkeit, die neu erlerntwird bzw. werden soll, auf bereits Vorhandenem aufbauen muss.Liegen nicht Vorwissen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>fähigkeiten vor, die zum Erlernene<strong>in</strong>es vorgegebenen Stoffs erforderlich s<strong>in</strong>d, wird der Lernprozess <strong>in</strong>effektivbzw. blockiert. Fehlen also gewisse „Zwischenstücke” oder„Gr<strong>und</strong>lagen”, wird das gewünschte Lernergebnis nicht erreicht. Insbesonderemuslimische <strong>K<strong>in</strong>der</strong> erleben unterschiedliche, teilweisewidersprüchliche Kontexte <strong>und</strong> Regelwerke, wodurch erzieherische Hilfehäufig zentraler ist als beispielsweise Nachhilfe oder Zusatzunterricht.• Haltung gegenüber Andersartigkeit: Es ist nicht notwendig, e<strong>in</strong> „<strong>in</strong>terkulturellerTyp” zu se<strong>in</strong>, um pädagogisch professionell agieren zukönnen. E<strong>in</strong> falsch verstandener Kulturrelativismus nach dem Motto„die s<strong>in</strong>d halt so, lassen wir sie, wie sie s<strong>in</strong>d” ist h<strong>in</strong>gegen äußerstkontraproduktiv. Von zentraler Bedeutung ist die Reflexion über dieeigene Haltung gegenüber dem Fremden, was unmittelbar auch dieReflexion über das Eigene – also die eigene Kultur – impliziert. Wass<strong>in</strong>d die ‚mir’ wichtigen Werte? Was muss ich vom Anderen erwartenkönnen? Wo liegen Grenzen, deren Überschreitung ich nicht ertrage?Diese Fragen s<strong>in</strong>d wichtig. Genauso wichtig ist es, diese transparentgegenüber Eltern <strong>und</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n zu artikulieren <strong>und</strong> ggf. erzieherischeUnterstützungsleistungen anzubieten. Die Reflexion über diese zentralenWerte sollte dazu führen, genau diese <strong>in</strong> der pädagogischen Arbeitgezielt zu fördern, <strong>und</strong> nicht durch das Voraussetzen derselben, „Rückschläge”zu provozieren.• Fremdheitserfahrungen: Die Häufung von negativen Fremdheitserfahrungen<strong>in</strong> der Arbeit mit <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n kann zu enormemStress führen. Wir haben <strong>in</strong> vielen Interviews <strong>und</strong> Beratungsgesprächenmit Pädagogen <strong>in</strong> Schulen <strong>und</strong> Behörden festgestellt, dass Fremdheitserfahrungenhäufig so lange unreflektiert bleiben, bis sich latenteFremdenfe<strong>in</strong>dlichkeit bzw. offene Resignation manifestiert. Reflexion<strong>und</strong> Kommunikation s<strong>in</strong>d unumgängliche Begleiter pädagogischerArbeit. Regelmäßige, offene Gespräche zwischen Lehrkräften bzw.Fachkräften f<strong>in</strong>den häufig kaum statt. Insbesondere Führungskräftesollten hier auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter e<strong>in</strong>gehen.Es ist also wenig förderlich, nach dem Schuldigen zu suchen, das Problemzu ignorieren oder das Problem als unlösbar zu kategorisieren. Ziel- <strong>und</strong>Prozessorientierung s<strong>in</strong>d mittlerweile Modeworte geworden. Dennochist der Gr<strong>und</strong>gedanke richtig: Was ist das Ziel? Und wie kommt mandorth<strong>in</strong>? In jedem Fall wird „Erziehung” bei den Antworten auf dieseFragen e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Dabei impliziert der Begriff Erziehung ke<strong>in</strong>eswegsautoritäre Vorgehensweisen. Vielmehr ist e<strong>in</strong>e ressourcenorientierteErziehung die erfolgversprechende Strategie.


148 149Ressourcenorientierte Arbeit: Thematisierung der Probleme<strong>und</strong> E<strong>in</strong>beziehung der WerteIn der konkreten Arbeit mit dieser Zielgruppe ist es zu empfehlen,ressourcenorientiert zu arbeiten. Der mittlerweile alltagstaugliche klassischepädagogische Gr<strong>und</strong>satz „das K<strong>in</strong>d dort abholen, wo es geradesteht” wird <strong>in</strong>sbesondere bei benachteiligten muslimischen <strong>Jugendliche</strong>nkaum umgesetzt. In der Regel beschränkt sich Förderung auf FörderoderZusatzunterricht, um sprachliche Defizite auszugleichen. So wichtigauch solche Maßnahmen s<strong>in</strong>d, sie müssen um e<strong>in</strong>e ressourcenorientierteZugangsweise ergänzt werden.Hier sollten also nicht nur die Schwächen der Zielgruppe im Vordergr<strong>und</strong>stehen, sondern ihre Stärken. Insbesondere die durchaus positivenWerte wie Solidarität <strong>und</strong> Loyalität können e<strong>in</strong>en Ansatzpunkt bieten,e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Nenner zu f<strong>in</strong>den. In verschiedenen Fallstudienkonnte festgestellt werden, dass e<strong>in</strong> positiver Umgang mit Vielfalt, dieÜbertragung von verantwortungsvollen Aufgaben <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e positiveKommunikations- <strong>und</strong> Fehlerkultur zum e<strong>in</strong>en die Klassengeme<strong>in</strong>schaftstärken <strong>und</strong> das Engagement von benachteiligten <strong>Jugendliche</strong>n fördern(vgl. El-Mafaalani 2010b). Um die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n zu motivieren,ist es ferner s<strong>in</strong>nvoll, ihnen gute Vorbilder aus der muslimischenCommunity aufzuzeigen. Gerade die beschriebenen Unsicherheiten beimHerauslösen aus den traditionellen Mustern fallen deutlich schwächer <strong>in</strong>sGewicht, wenn es Erfolgsgeschichten gibt, an denen man sich orientierenkann.Während die Pädagogen bzw. die Institutionen die Werte „Eigenverantwortung”<strong>und</strong> „Selbstständigkeit” fördern, kommen die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong><strong>Jugendliche</strong>n mit muslimischem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> mit den Werten „Solidarität/Loyalität”<strong>und</strong> „Gehorsam/Unterordnung” <strong>in</strong> die Institutionen. Viele<strong>Jugendliche</strong> operieren sehr stark mit traditionellen Männlichkeitsbildern<strong>und</strong> extremen Formen von Fre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> Ehre. Wenn die Jungen<strong>und</strong> die jungen Männer danach gefragt werden, welche Bedeutung dieseWerte haben, können viele dazu ke<strong>in</strong>e Stellung beziehen. Diese Begriffewerden unreflektiert übernommen, ohne sich z.B. mit dem tiefen S<strong>in</strong>nder Ehre ause<strong>in</strong>ander gesetzt zu haben. Diese Folklore des Halbwissensist auch bei vielen Lehrkräften <strong>und</strong> Sozialarbeitern verbreitet. Damit die<strong>Jugendliche</strong>n diese Werte reflektieren <strong>und</strong> h<strong>in</strong>terfragen lernen, muss <strong>in</strong>der Schule, <strong>in</strong> Bildungse<strong>in</strong>richtungen oder <strong>in</strong> der Jugendarbeit diesesThema auf die Tagesordnung kommen. Dadurch können Pädagogen <strong>und</strong><strong>Jugendliche</strong> vone<strong>in</strong>ander lernen <strong>und</strong> ihre Vorurteile revidieren oder <strong>in</strong>Frage stellen. Die nachmittäglichen Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaften oder Ganztagsschulprogrammekönnten um <strong>in</strong>terkulturelle Angebote ergänzt werden,bei denen beispielsweise Integrations- <strong>und</strong> Identitätsprobleme sowiediese Differenzen <strong>in</strong> den Traditionen <strong>und</strong> Werten ausgiebig diskutiertwerden können.Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong> <strong>in</strong>terkulturelles LernenIn der Literatur werden sehr viele <strong>und</strong> unterschiedliche Def<strong>in</strong>itionen derInterkulturellen Kompetenz diskutiert. Knapp-Potthoff def<strong>in</strong>iert diesenBegriff folgendermaßen: Interkulturelle Kompetenz „ist die Fähigkeit,mit Mitgliedern fremder Kommunikationsgeme<strong>in</strong>schaften (Kulturen)ebenso erfolgreich Verständigung zu erreichen, wie denen der eigenen,dabei die im e<strong>in</strong>zelnen nicht genau vorhersehbaren, durch Fremdheitverursachten Probleme durch Kompetenzstrategien zu bewältigen <strong>und</strong>neue Kommunikationsgeme<strong>in</strong>schaften aufzubauen” (Knapp-Potthof 1997,S. 196f.). H<strong>in</strong>z-Rommel, e<strong>in</strong> Verfechter des Begriffs, def<strong>in</strong>iert ihn ähnlich:„Interkulturelle Kompetenz wird hier verstanden als die Fähigkeit, angemessen<strong>und</strong> erfolgreich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fremdkulturellen Umgebung oder mitAngehörigen anderer Kulturen zu kommunizieren” (H<strong>in</strong>z-Rommel 1996,S. 20f.).In der Regel wird die Person als <strong>in</strong>terkulturell kompetent beschrieben,die <strong>in</strong> der Lage ist, die kognitiven Kompetenzen mit den Handlungskompetenzenzu verzahnen. Was verbirgt sich aber h<strong>in</strong>ter diesen abstraktenBegriffen? H<strong>in</strong>ter dem Begriff <strong>in</strong>terkulturelle Handlungskompetenz f<strong>in</strong>densich – nach Gaitanides (2008) – folgende Kompetenzen:• Empathie ist die Bereitschaft <strong>und</strong> die Fähigkeit zur E<strong>in</strong>fühlung <strong>in</strong>Menschen anderer kultureller Herkunft.• Rollendistanz ist e<strong>in</strong>erseits die dezentrierte kulturelle <strong>und</strong> sozialeSelbstwahrnehmungsfähigkeit <strong>und</strong> andererseits die Fähigkeit zur E<strong>in</strong>nahmeder anderen Perspektive <strong>und</strong> Relativierung der eigenen Sichtweise.• Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Ungewissheit, Unsicherheit,Fremdheit, Nichtwissen <strong>und</strong> Mehrdeutigkeiten auszuhalten, die Neugier<strong>und</strong> die Offenheit gegenüber dem Unbekannten, das Respektierenanderer Me<strong>in</strong>ungen <strong>und</strong> die Abgrenzungs- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit.


150 151• Kommunikative Kompetenz ist die Sprach-, Dialog- <strong>und</strong> Aushandlungsfähigkeitsowie Verständigungsorientierung.Unter <strong>in</strong>terkulturellen kognitiven Kompetenzen versteht Gaitanidesfolgende Bereiche:Hypothesen der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>, <strong>Jugendliche</strong>n <strong>und</strong> deren Eltern vollständig zuverstehen – auch die Lektüre dieses Buchs dient lediglich der Weiterentwicklungkognitiver <strong>in</strong>terkultureller Kompetenz.Kommunikation: Missverständnisse <strong>und</strong> Gel<strong>in</strong>gensbed<strong>in</strong>gungen• Kenntnisse über Herkunftsgesellschaften, Herkunftssprachen <strong>und</strong>eigene Auslandserfahrungen,• Kenntnisse über geschichtliche Prägungen, politische/sozio-ökonomischeStrukturen, kulturelle Standards <strong>und</strong> spezifische kollektiveIdentitätsprobleme der Mehrheitsgesellschaft des E<strong>in</strong>wanderungslandes,• Kenntnisse über Struktur <strong>und</strong> Entwicklung, über Ursachen <strong>und</strong> Folgenvon Migrationsprozessen,• Kenntnisse über das migrationsspezifische Versorgungsnetz <strong>und</strong> überdie spezifischen Zugangsbarrieren zu den Regelangeboten der sozialen<strong>und</strong> psychosozialen Dienste,• Kenntnisse über die B<strong>in</strong>nendifferenzierung der E<strong>in</strong>wanderergruppenbzw. deren Schichtung,• Kenntnisse über den rechtlichen, politischen <strong>und</strong> sozialen Status derMigranten,• Kenntnisse über Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>und</strong> Ursachen von Vorurteils-bereitschaft <strong>und</strong> Rassismus,• Kenntnisse über theoretische Prämissen, Strategien <strong>und</strong> Methoden<strong>in</strong>terkulturellen Lernens <strong>und</strong> antirassistischer Arbeit.Interkulturelle Kompetenz wird also als e<strong>in</strong> Anforderungsprofil beschrieben,das sowohl kognitive Kompetenzen als auch Handlungskompetenzenverb<strong>in</strong>det. Der Erwerb der kognitiven Kompetenzen reicht für sich nichtaus. Im Gegenteil: „Die Ansammlung von Wissensbeständen über dieZielgruppe alle<strong>in</strong> – ohne die Ausbildung von Handlungskompetenz –kann sogar kontraproduktiv se<strong>in</strong>” (ebd., S. 10f.). Vielmehr ist es notwendig,dass sich pädagogische Fachkräfte darüber h<strong>in</strong>aus Handlungskompetenzenaneignen.Aufgr<strong>und</strong> der traditionellen Erziehungsziele muslimischer Eltern spielenAspekte wie Autorität <strong>und</strong> Respekt e<strong>in</strong>e besondere Rolle, <strong>in</strong>sbesonderezwischen den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> dem Vater. Die Körpersprache ist hier unteranderem von entscheidender Bedeutung. Während die deutschen<strong>Jugendliche</strong>n <strong>in</strong> der Erziehung ermuntert werden, selbstbewusst <strong>und</strong>selbstständig zu se<strong>in</strong>, wird bei den muslimischen <strong>Jugendliche</strong>n Loyalität<strong>und</strong> Gehorsam gegenüber den Erziehungsberechtigten gefördert <strong>und</strong>gefordert. Gehorsamkeit gegenüber den Erziehungsberechtigten impliziert,dass <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> genau das tun, was der Erziehungsberechtigtevon ihnen verlangt, <strong>und</strong> zwar ohne Widerrede. Dabei wirde<strong>in</strong>e Verhaltensweise gegenüber Autoritätspersonen häufig missverstanden.E<strong>in</strong>er höhergestellten Person nicht direkt <strong>in</strong> die Augen zu schauen<strong>und</strong> stattdessen den Blick auf den Boden zu richten, ist e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der muslimischenKultur typische Verhaltensnorm. Denn e<strong>in</strong> direkter Augenkontaktbedeutet „gleiche Augenhöhe” <strong>und</strong> wird von den Eltern als Aufsässigkeit<strong>und</strong> Provokation <strong>in</strong>terpretiert. Wird e<strong>in</strong> <strong>Jugendliche</strong>r <strong>in</strong> dieserForm von gleichaltrigen <strong>Jugendliche</strong>n angeschaut, wird dies daher häufigals „Anmache” <strong>in</strong>terpretiert. Der Blickkontakt, wie er <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> überden Augenkontakt üblich ist, wird <strong>in</strong> der Familie nicht erlernt. Wenn e<strong>in</strong>K<strong>in</strong>d mit muslimischem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> beispielsweise während e<strong>in</strong>es Gesprächesmit e<strong>in</strong>em deutschen Pädagogen die Augen nach unten richtet,ist das <strong>in</strong> der Regel ke<strong>in</strong>e Demonstration des Des<strong>in</strong>teresses, sonderndas Zusammenprallen zweier unterschiedlicher Erziehungskonzepte:Der <strong>Jugendliche</strong> demonstriert mit auf dem Boden gerichteten BlickRespekt <strong>und</strong> erkennt damit die Autorität des Pädagogen an. Wenn derPädagoge auf dieses Verhalten erwidert: „Schau mich an, wenn ich mitdir rede”, dann führt dies u.U. zu e<strong>in</strong>er zusätzlichen Irritation, die dannvon dem eigentlichen Gesprächsziel „ablenkt”.Um muslimische <strong>Jugendliche</strong> <strong>und</strong> ihre Eltern bei Erziehungsfragen gezielt<strong>und</strong> adäquat beraten zu können, sollten die Fachkräfte entsprechendgeschult werden. Der Besuch e<strong>in</strong>es Wochenendsem<strong>in</strong>ars im Bereichder „<strong>in</strong>terkulturellen Kompetenz” geht zwar <strong>in</strong> die richtige Richtung,reicht aber bei Weitem nicht aus, um die H<strong>in</strong>tergründe <strong>und</strong> die kognitivenDamit ist nicht geme<strong>in</strong>t, dass man den Blickkontakt nicht trotzdem fördernsollte, sondern dass man – im Gegenteil – dies nur dann fördernkann, wenn man die H<strong>in</strong>tergründe für das Verhalten kennt. Der <strong>Jugendliche</strong>hat ggf. e<strong>in</strong>e Regel gebrochen, die für ihn ungewohnt war, die nicht<strong>in</strong> für ihn verständlicher Weise sanktioniert wird <strong>und</strong> se<strong>in</strong> – aus se<strong>in</strong>er


152 153Sicht – respektvolles Verhalten wird nicht anerkannt. Wie sich dieseSchwierigkeiten <strong>und</strong> Irritationen aus der Sicht e<strong>in</strong>es <strong>Jugendliche</strong>ndarstellen, lässt sich an folgendem Fallbeispiel (Mehmet, 13 Jahre,Gymnasiast) zeigen:„Immer was anderes, die ham manchmal nett mit e<strong>in</strong>em geredet,manchmal, wie wenn man e<strong>in</strong> Schwerverbrecher ist. Und immersagen die ‚Halt dich an die Regeln’ oder ‚Gib dir mehr Mühe’ <strong>und</strong> so.Ich hab nix verstanden. (…) Me<strong>in</strong>e Mutter hat immer gesagt: ‚Du musstimmer Respekt haben vor Lehrer, als ob das de<strong>in</strong> Vater ist’. Aber dasgeht nicht. Das geht so nicht. Die wollen ja, dass ich was sage, alsodie wollen echt Antworten hören. Bei me<strong>in</strong>em Vater darfst du nichtantworten. (…) Wenn ich <strong>in</strong> der Schule so mache wie zu Hause, dannb<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> Schleimer. Das will der Lehrer nicht, so e<strong>in</strong>en Respekt.”Verständigung auch durch KonfrontationVerständigung funktioniert im Pr<strong>in</strong>zip nur dann, wenn entweder geme<strong>in</strong>sameWerte geteilt werden oder wenn über Abweichungen kommuniziertwird. Verständigung kann entsprechend über e<strong>in</strong>e Konfrontation erfolgen.E<strong>in</strong> Dialogbeispiel aus dem Kontext der Schule soll darstellen, wie e<strong>in</strong>konfrontatives Gespräch (schon im Kle<strong>in</strong>en) aussehen kann. Ali ersche<strong>in</strong>tzu spät zum Unterricht:Ali: Guten Morgen, Frau Müller! Entschuldigung, ich habe den Busverpasst. Er ist vor me<strong>in</strong>er Nase weggefahren.Frau Müller: Moment, wann musstest du hier se<strong>in</strong>?Ali: Ja, um acht Uhr.Frau Müller: Wie spät ist es jetzt?Ali: Ja, wie? … Ich weiß nicht.Frau Müller: Dann schau mal auf die Uhr.Ali: Ja, es ist 8 Uhr 30.Frau Müller: Wie oft fährt de<strong>in</strong> Bus?Ali: Ja, ich habe den Bus verpasst.Frau Müller: Ich habe dich gefragt, wie oft de<strong>in</strong> Bus fährt.Ali: Der ist vor me<strong>in</strong>er Nase wegge…Frau Müller: Du sollst me<strong>in</strong>e Frage beantworten.Ali: Ja, halt <strong>in</strong> 10 M<strong>in</strong>uten.Frau Müller: Und warum bist du e<strong>in</strong>e ganze halbe St<strong>und</strong>e verspätet?Ali: Ja, weil ich den Bus verpasst habe.Frau Müller: Der Bus fährt alle 10 M<strong>in</strong>uten, <strong>und</strong> du bist e<strong>in</strong>e halbe St<strong>und</strong>espäter dran. Das stimmt also so nicht.Ali: Ja, ich habe zu spät das Haus verlassen, <strong>und</strong>…Frau Müller: Beim nächsten Mal verlässt du das Haus rechtzeitig, damitdu pünktlich <strong>in</strong> die Schule kommst. Warum hast du so spät das Hausverlassen?Ali: Ja, ich musste frühstücken.Frau Müller: Dann musst du früher aufstehen, um zu frühstücken. Dassdu zu spät kommst, ist de<strong>in</strong>e Schuld. Daran ist nicht der Bus schuld <strong>und</strong>auch nicht das Frühstück. Rechtzeitig aufstehen <strong>und</strong> rechtzeitig das Hausverlassen.Basierend auf dem Dialog ist Folgendes zu beachten: Am Ende des Gesprächsist es zu empfehlen, dass die Lehrkraft e<strong>in</strong>e Konsequenz für dieÜberschreitung – hier das verspätete Ersche<strong>in</strong>en – ausspricht <strong>und</strong> <strong>in</strong> dieTat umsetzt. Voraussetzung ist, dass den Schülern vorher erklärt wordenist, dass Regelverstöße gewisse Konsequenzen haben. Dies sollte sehrdeutlich <strong>und</strong> nachvollziehbar kommuniziert werden <strong>und</strong> auch verme<strong>in</strong>tlicheSelbstverständlichkeiten sollten explizit erläutert werden, dennviele dieser Selbstverständlichkeiten s<strong>in</strong>d den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n ke<strong>in</strong>eswegs klar.Beispielsweise können im häuslichen Alltag immer wieder die gleichenRegelverstöße begangen werden, was bei e<strong>in</strong>em darauf folgendenrespektvollen Verhalten gegenüber den Eltern vergeben wird. InsbesonderePünktlichkeit spielt bei muslimischen Familien nur e<strong>in</strong>e sek<strong>und</strong>äreRolle. Regelbrüche müssen also Konsequenzen nach sich ziehen, welchestimmig <strong>und</strong> angemessen se<strong>in</strong> sollten. Im Idealfall werden diese vonallen Lehrkräften <strong>in</strong> gleicher Weise durchgeführt. Diese Art der punktgenauenKonfrontation wird von muslimischen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>ngut angenommen, weil das Fehlverhalten im Mittelpunkt steht <strong>und</strong> persönlicheMerkmale irrelevant s<strong>in</strong>d. Das Individuum wird nicht abgelehnt,vielmehr stellt die Konfrontation e<strong>in</strong>e Form des Ernstnehmens dar.Wichtig ist dabei, dass diese Regeln für alle <strong>in</strong> gleicher Weise gelten.Ali wird höchstwahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> den nächsten Tagen bzw. Wochen wiederzu spät kommen. Aber er wird die Begründung, dass er den Bus verpassthat, nicht mehr vorbr<strong>in</strong>gen. Er wird sicherlich andere Gründe für se<strong>in</strong>eVerspätung f<strong>in</strong>den <strong>und</strong> versuchen, diese auch den Lehrkräften überzeugendzu erklären. Die Lehrkraft muss dann erneut konfrontieren <strong>und</strong>nicht nachgeben, weil die betroffenen <strong>K<strong>in</strong>der</strong> die Grenzen auslotenwollen. Die Vorteile der Konfrontation <strong>in</strong> dieser Form können wie folgt


154 155zusammengefasst werden: Ali lernt unmittelbar, dass er Frau Müller nichtfolgenlos erf<strong>und</strong>ene D<strong>in</strong>ge erzählen kann, weil diese h<strong>in</strong>terfragt <strong>und</strong> aufihre Richtigkeit h<strong>in</strong> überprüft werden. Das bedeutet, dass Frau Müller Ali<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Geschichte ernst nimmt <strong>und</strong> nicht oberflächlich abhandelt. Soerreicht man e<strong>in</strong> für die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> anschlussfähiges autoritäres Verhalten,ohne die Eltern zu imitieren.Allerd<strong>in</strong>gs: Nicht immer ist Konfrontation die passende Reaktion auf Fehlverhalten.Sollte e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d hartnäckig <strong>und</strong> glaubhaft erläutern, dass derBus e<strong>in</strong>e Verspätung hatte, muss man das zunächst akzeptieren. Dadurchzeigt man dem K<strong>in</strong>d, dass man se<strong>in</strong>e Aussagen ernst nimmt. Bei unglaubhaftenHäufungen ist dies jedoch zu h<strong>in</strong>terfragen. Das K<strong>in</strong>d lerntdadurch, dass es Vertrauen verschenkt.Im Falle von Ali kann es se<strong>in</strong>, dass er zu spät kommt, weil er se<strong>in</strong> Frühstückselbst vorbereiten muss. Es kommt <strong>in</strong> vielen Familien vor, dassdie Eltern sehr früh arbeiten müssen <strong>und</strong> die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> morgens auf sichgestellt s<strong>in</strong>d. Sollte dies der Fall se<strong>in</strong>, empfiehlt es sich, mit den ElternGespräche zu führen <strong>und</strong> mit ihnen Absprachen zu treffen. Alle<strong>in</strong>e dieKonfrontation löst nämlich ke<strong>in</strong>e tiefgreifenden Probleme! Hier benötigtdas K<strong>in</strong>d Unterstützung. Auch diese gehört flankierend zur Konfrontation.Um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob es sich um ernste (familiäre)Schwierigkeiten handelt, sollte Frau Müller mit Ali e<strong>in</strong> persönlichesGespräch führen. Hier sollte klar werden, dass sie sich für ihren Schüler<strong>in</strong>teressiert, aber auch, dass sie Regelverstöße nicht dulden kann. Derexplizite H<strong>in</strong>weis darauf, dass sie ihm gerne Hilfestellungen anbietet,müsste dann mit e<strong>in</strong>er (Ziel-)Vere<strong>in</strong>barung (bspw. bezüglich der nächstenWoche) komb<strong>in</strong>iert werden, bei der Ali selbst die Konsequenz für e<strong>in</strong>enwiederholten Regelverstoß festlegt. Es kann auch durchaus hilfreich se<strong>in</strong>,wenn Frau Müller zugibt, überhaupt ke<strong>in</strong>e Vorstellungen davon zu haben,wie Alis Alltag aussieht, <strong>und</strong> sich <strong>in</strong>teressiert <strong>und</strong> wertschätzend mit ihmdarüber unterhält. Solche Gespräche können nachweislich viel bewirken –unabhängig von der kulturellen Herkunft (vgl. El-Mafaalani 2009).• Kenntnisse der Interkulturellen Kompetenz: Unüberlegte <strong>und</strong> vonstereotypen Vorurteilen geprägte Konfrontationen, wie z.B. „Bei euch<strong>in</strong> der Türkei...” oder „Der Islam erlaubt dir nicht zu schlagen”, könnenverletzend, kränkend <strong>und</strong> schließlich kontraproduktiv wirken. Auf dieAbwertung der kulturellen Wertvorstellungen reagieren viele muslimische<strong>Jugendliche</strong> sehr gereizt, fühlen sich nicht verstanden <strong>und</strong> ernstgenommen. Da die Konfrontative Pädagogik auf der Sachebene ansetzt,wird auf suggestive Fragen <strong>und</strong> stereotype Annahmen verzichtet.Vielmehr sollte gefragt werden, wie es zu Hause abläuft oder welcheRolle die Religion spielt. Was der Schüler sagt, kann die Gr<strong>und</strong>lage füre<strong>in</strong> Gespräch se<strong>in</strong>. Die Fachkraft sollte sich ferner darüber im Klarense<strong>in</strong>, welches Verhalten wirklich „abweichend” ist <strong>und</strong> entsprechend„verändert” werden sollte, <strong>und</strong> wann es sich lediglich um „persönliche”Vorlieben der Fachkraft handelt. Die Pädagogen sollten entsprechendüber <strong>in</strong>terkulturelle Kompetenz verfügen, aber auch entschieden dienotwendigen Regeln <strong>und</strong> Werte verfolgen. Bedauerlicherweise kommtbeispielsweise bei der Ausbildung von Lehrkräften <strong>und</strong> selbst bei Anti-Aggressivitäts-Tra<strong>in</strong>ern „Interkulturelle Kompetenz” als Qualitätsstandardnicht vor, obwohl bekannt ist, dass <strong>in</strong> Ballungszentren e<strong>in</strong> Großteilder Schülerschaft bzw. der Teilnehmer solcher Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>hat.• Konfrontative Haltung: Die konfrontative Methode ist weder für jeden<strong>Jugendliche</strong>n noch für jede pädagogische Fachkraft geeignet. Für<strong>Jugendliche</strong>, die ruhig <strong>und</strong> schüchtern s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> die Konfrontation nichtsuchen, ist die Methode ebenso wenig geeignet wie für Pädagogen, diediese Methode nicht ver<strong>in</strong>nerlicht haben. Die Fachkräfte müssen ihreHaltung <strong>in</strong> Bezug auf diesen Ansatz überprüfen <strong>und</strong> ggf. die Haltungder konfrontativen Gesprächsführung <strong>in</strong> den Fortbildungen e<strong>in</strong>üben,bevor sie den Ansatz bei <strong>Jugendliche</strong>n anwenden. Die Erfahrungen <strong>in</strong>den Fortbildungen mit Multiplikatoren zeigen, dass die methodischeUmstellung viele Übungse<strong>in</strong>heiten <strong>und</strong> gewisse zeitliche Ressourcen <strong>in</strong>Anspruch nimmt.Der konfrontative Ansatz sollte unbed<strong>in</strong>gt durch ressourcenorientierteMaßnahmen flankiert werden, die die Stärken des <strong>Jugendliche</strong>n hervorheben,loben oder durch Sensibilität gegenüber den persönlichen, sozialen<strong>und</strong> migrationsspezifischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen E<strong>in</strong>fühlsamkeitsignalisieren. Folgende Punkte stellen die Fachkräfte, die die konfrontativeGesprächsführung anwenden, vor besondere Herausforderungen<strong>und</strong> müssen beachtet werden:• Erfahrung: <strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> bef<strong>in</strong>den sich häufig<strong>in</strong> derart orientierungslosen <strong>in</strong>neren Zuständen, dass der E<strong>in</strong>satz vonKonfrontation gegebenenfalls anders dosiert werden muss, als <strong>in</strong> derArbeit mit e<strong>in</strong>er anderen Klientel. Denn es kann durchaus se<strong>in</strong>, dasssich e<strong>in</strong> <strong>Jugendliche</strong>r <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Identitätskrise bef<strong>in</strong>det. Diese kann ause<strong>in</strong>er Überforderung aufgr<strong>und</strong> der beschriebenen widersprüchlichen


156 157Erwartungen <strong>in</strong> Familie <strong>und</strong> Schule entstehen. In e<strong>in</strong>em solchen Zustandsollte von der Konfrontation Abstand genommen <strong>und</strong> stattdessendas offene Gespräch gesucht werden. Hierfür s<strong>in</strong>d genaues Beobachten<strong>und</strong> F<strong>in</strong>gerspitzengefühl erforderlich. Zudem ist zu beachten, dass sichder konfrontative Stil nicht für jeden <strong>Jugendliche</strong>n eignet. Beispielsweisesollten die <strong>Jugendliche</strong>n über e<strong>in</strong>e gewisse kognitive <strong>und</strong> psychischeStabilität verfügen, um die Konfrontation richtig zu verstehen.Insbesondere bei psychisch labilen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n ist Vorsichtgeboten.• Regelbruch: Die Methode wird primär e<strong>in</strong>gesetzt, wenn e<strong>in</strong>e Regeloder e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>barung nicht e<strong>in</strong>gehalten wird. Die Regeln müssendaher transparent dargelegt <strong>und</strong> unmissverständlich formuliert se<strong>in</strong>.Die Regeln müssen entsprechend auch für alle gelten. Dem Gefühl„bei mir als Türke schaut man ganz genau h<strong>in</strong>, bei anderen drücktman auch gerne mal e<strong>in</strong> Auge zu” muss entgegengewirkt werden.Hierfür ist es für die Lehrkraft ggf. erforderlich, sich über die eigenenVorurteile im Klaren zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> diese ggf. zu kontrollieren.• Konfrontation (auch) als Prävention: Bei sehr vielen <strong>Jugendliche</strong>n istes pädagogisch legitim, die konfrontative Methode auch ohne akutenAnlass e<strong>in</strong>zusetzen, weil viele arabische <strong>und</strong> türkische Jungen dieKonfrontation suchen <strong>und</strong> die Grenzen der Pädagogen ausloten möchten.Wird die Grenze sehr früh <strong>und</strong> konsequent gesetzt, ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitger<strong>in</strong>g, dass es zu massiven Grenzüberschreitungen<strong>und</strong> Eskalationen kommt. Häufig werden strenge <strong>und</strong> gleichzeitig faireFachkräfte von den <strong>Jugendliche</strong>n bevorzugt. Murat hat dies wie folgtformuliert: „Ich mag diese Lehrer nicht, die sagen: Mach doch, denkdoch mal nach, sei selbstständig, sei kreativ. Und dann helfen die garnicht. Dann macht man irgendwas <strong>und</strong> man steht da, wie e<strong>in</strong> Dummkopf.Manche Lehrer haben dann nur noch den Kopf geschüttelt <strong>und</strong>manche haben sogar gesagt: das ist doch schon ganz gut. So wasBescheuertes, ich wusste genau, dass das Schrott war. (…) Ich hattee<strong>in</strong>en coolen Lehrer, der war knallhart. Hart aber fair. Man wusstegenau, was man machen soll, <strong>und</strong> man wusste genau, was passiert,wenn man es nicht gemacht hat. Wenn man Fragen hatte, hat derimmer geholfen. Aber wenn der gemerkt hat, dass man sich ke<strong>in</strong>eMühe gegeben hat, dann g<strong>in</strong>g die Post ab.”Wer mit Methoden der Konfrontativen Pädagogik <strong>Jugendliche</strong> migrationssensibel,also unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Lebensumstände<strong>und</strong> besonderen Ressourcen, fördern will, damit sie ihr Leben <strong>und</strong> ihreZukunft im S<strong>in</strong>ne des Gesetzes <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er liberalen Gesellschaft gestaltenkönnen, kommt nicht umh<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Brücke zu schlagen zwischen denmigrationsspezifischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> den Zielen der Institutionen.Analog zu e<strong>in</strong>em Architekten, der für die Konstruktion e<strong>in</strong>erBrücke die Distanz <strong>und</strong> Beschaffenheiten beider (Ufer-)Seiten analysiert,bevor er mit der konkreten Arbeit beg<strong>in</strong>nt, ist die Vorbereitung <strong>und</strong> dasH<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>wissen auch <strong>in</strong> der pädagogischen Arbeit von f<strong>und</strong>amentalerBedeutung. Konfrontation ist also latent immer auch e<strong>in</strong>e Form der Verständigungbzw. e<strong>in</strong> erster Schritt zur Verständigung. Dabei sei betont:Was dem Architekten das Gesetz der Schwerkraft, ist dem Pädagogendas deutsche Recht. Das Motto muss lauten: Gr<strong>und</strong>sätzlich gleicheRegeln, aber nach Notwendigkeit e<strong>in</strong> anderer Zugang <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e andereUmsetzung! Das bedeutet, die besonderen Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen<strong>Jugendliche</strong> mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> aufwachsen, immer im H<strong>in</strong>terkopfzu behalten. Insbesondere die identifikativen Krisen aufgr<strong>und</strong> der kulturellen<strong>und</strong> sozialschichtbezogenen Herkunft stellen für sie Belastungendar, die zusätzlich zu den adoleszenz- <strong>und</strong> geschlechtsspezifischenProblemlagen die Jugendphase erschweren. Die Konfrontation solltealso als Sprungbrett für Verständigung gesehen werden. Da nicht jedeLehrkraft e<strong>in</strong>e konfrontative Perspektive befürwortet, wird im Folgendene<strong>in</strong>e entgegengesetzte Strategie vorgestellt.Kunst <strong>und</strong> Kultur <strong>in</strong> der LehreDie besten Möglichkeiten, <strong>in</strong>terkulturelles Lernen zu fördern, bietenkünstlerische <strong>und</strong> sportliche Tätigkeiten. Theater, Musik, Ernährung<strong>und</strong> Mannschaftssport s<strong>in</strong>d gewissermaßen Integrationsmasch<strong>in</strong>en. Sieschaffen e<strong>in</strong>e Verständigung auf e<strong>in</strong>er höheren Ebene. Man kann humorvollSelbstironie <strong>und</strong> Selbstkritik üben <strong>und</strong> sich gleichzeitig körperlich,kognitiv <strong>und</strong> sozial betätigen. Wenn vielfach von ganzheitlichem Lernengesprochen wird, dann liegt genau hier e<strong>in</strong> angemessener Zugang.E<strong>in</strong> Beispiel hierfür ist e<strong>in</strong>e Unterrichtsreihe <strong>in</strong> der beruflichen Benachteiligtenförderung.Hierbei handelte es sich um Schüler im Berufsvorbereitungsjahr,die überwiegend e<strong>in</strong>en Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> hatten <strong>und</strong> ohneSchulabschluss die allgeme<strong>in</strong> bildende Schule beendeten (vgl. ausführlichEl-Mafaalani 2010b). Bei diesem Vorgehen wurden die Schüler <strong>in</strong> der


158 159ersten Schulwoche aufgefordert, ihre Idealvorstellung von gutem, anregendem<strong>und</strong> für sie nützlichen Unterricht zu entwickeln <strong>und</strong> <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>esTheaterstücks darzustellen. Dieses wurde – wiederum von Schülern –gefilmt. Verschiedene Schülergruppen haben höchst <strong>in</strong>teressante Unterrichtsorganisationengezeigt. Diese wurden nach der jeweiligen Aufführungauf der Gr<strong>und</strong>lage der schauspielerischen <strong>und</strong> strukturellen Qualitätreflektiert <strong>und</strong> bewertet. Danach wurden alle Videos betrachtet <strong>und</strong>soziologisch analysiert <strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretiert. Dabei wurden von den Schülernfolgende Aspekte festgestellt:1. Kle<strong>in</strong>igkeiten können große Wirkung haben. Die Schüler erkennen,dass Vieles von der Unterrichtsorganisation, also von der sozialenSituation, abhängt.2. Alle wissen, wie optimales Schüler-Verhalten aussehen müsste.3. Alle sitzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Boot. Der Lehrer hat e<strong>in</strong>e Führungsposition, aberohne die Mitwirkung der Schüler wird nichts funktionieren.4. Und nicht zuletzt erkennen sie, dass guter Unterricht alle Beteiligtenvor große Herausforderungen stellt <strong>und</strong> dass e<strong>in</strong>e Organisation unabd<strong>in</strong>gbarist.Die Schüler wollen ke<strong>in</strong>en Kumpel-Lehrer, sondern e<strong>in</strong>e Autoritätsperson,die sie versteht <strong>und</strong> anerkennt. Ausgehend von dieser szenischen Darstellungkonnte reflektiert werden, weshalb die Schüler ihre Schulzeitbisher erfolglos verbracht haben, welche persönlichen Probleme, Bedürfnisse<strong>und</strong> Vorlieben bestehen. Das wichtigste Ergebnis ist jedoch, dassdie Schüler sich im Klassenverband solidarisiert haben, e<strong>in</strong>e enge Verb<strong>in</strong>dungzwischen Lehrkraft <strong>und</strong> Schüler entstand <strong>und</strong> die Leistungsbereitschaftsowie das Sozialverhalten sich ernorm verbesserten. Hierbeihandelt es sich also auch um e<strong>in</strong>e Möglichkeit, ohne Konfrontation Verständigungzu erzeugen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sichnatürlich auch der Unterricht ändern muss <strong>und</strong> gegebenenfalls Anregungender <strong>Jugendliche</strong>n berücksichtigt werden sollten.6.4. ZusammenfassungMan sche<strong>in</strong>t sich davor zu scheuen, im Bildungssystem Wettbewerbsstrukturenzu implementieren – häufig werden solche Absichten vonverschiedenen Seiten offensiv bekämpft. Dabei wird übersehen, dass die<strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n immer schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wettbewerb untere<strong>in</strong>anderstanden, <strong>in</strong> dem sie permanenter Beobachtung, Bewertung <strong>und</strong>Vergleichen ausgesetzt waren. Gerade engagierte <strong>und</strong> privilegierte Elternsetzen ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong> schon sehr früh unter teilweise erheblichen Leistungsdruck11 – nicht weil ihnen die Erziehungskompetenz fehlt, sondern weilsie die Logik des Systems Schule verstanden haben. Die Verantwortungfür den Lernerfolg <strong>und</strong> damit auch die Konsequenzen für e<strong>in</strong>e Unterschreitungder Leistungserwartungen liegen vollständig bei den Lernenden<strong>und</strong> ihren Familien. Die Orientierung an Leistung muss zweifelsfreizentraler Bestandteil im Schulsystem se<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs wurde <strong>in</strong> der Vergangenheitdie Gewährleistung gleicher Bildungschancen stets vernachlässigt.Aufgr<strong>und</strong> der „ungleichen” Bildungsnachfrager (<strong>in</strong>sbesondere derFamilien) ersche<strong>in</strong>t daher e<strong>in</strong>e (teilweise) Verschiebung des Wettbewerbs<strong>und</strong> der Verantwortung von den Lernenden h<strong>in</strong> zu den Lehrkräften <strong>und</strong>Schulen als gangbarer <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternational weit verbreiteter Weg. Wennbeispielsweise Noten erst spät e<strong>in</strong>geführt werden <strong>und</strong> Klassenwiederholungendie Ausnahme darstellen, wird e<strong>in</strong>e klare Orientierung für denpädagogischen Betrieb gegeben: Fehler würden nicht länger anderenStellen (<strong>in</strong>sbesondere Familien) zugeschrieben <strong>und</strong> Probleme nicht selektiert,sondern Verantwortung für den Lernerfolg aller <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>nübernommen. Die System-Perspektive könnte gewechselt werden,von e<strong>in</strong>er an Defiziten orientierten Auslese h<strong>in</strong> zur ressourcenorientiertenFörderung <strong>und</strong> Stärkung. Im pädagogischen Betrieb wäre e<strong>in</strong> Wettbewerbum die beste Lösung möglich, Schulen würden sich stärker überden Tellerrand wagen, besonderer E<strong>in</strong>satz würde gestärkt – <strong>und</strong> dieSchulen bekämen mehr Spielraum für Innovationen. Dafür müsste dasEngagement von Lehrkräften <strong>und</strong> Schulen durch angemessene Anreizstrukturengestützt werden.Die Orientierung am „Lernen im Gleichschritt” tritt h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>e Haltung,die die Individualität jedes E<strong>in</strong>zelnen – unabhängig von der Herkunft –zunächst wahrnimmt, anerkennt <strong>und</strong> letztlich stärkt. Wenn „das E<strong>in</strong>tretenfür die Gleichheit aller ungeachtet der Herkunft, die Haltung des Respektsfür Andersheit, die Befähigung zum <strong>in</strong>terkulturellen Verstehen <strong>und</strong> dieBefähigung zum <strong>in</strong>terkulturellen Dialog” (Auernheimer 2003: 21) imschulischen Alltag verankert werden soll, dann werden Umdenkprozesseerforderlich, die höchstwahrsche<strong>in</strong>lich bis <strong>in</strong> die Gr<strong>und</strong>strukturen desSchulsystems h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>reichen. Ungleichheit kann nicht geschwächt werden,wenn alle gleich behandelt werden, sondern erfordert e<strong>in</strong>e gezielte Ungleichbehandlungvon Ungleichen. Die Gegenüberstellung <strong>in</strong> Tabelle 8zeigt die gr<strong>und</strong>sätzlichen pädagogischen Differenzen dieser Gr<strong>und</strong>annahmeauf.


160 161Tabelle 8: Ungleichheit <strong>und</strong> Normalität als pädagogische LeitideenKonkrete Vielfalt ist Leitidee– UngleichheitsannahmeFormale Gleichheit ist Leitidee– NormalitätsannahmeIntegrationsform Inklusion von Heterogenität Assimilation <strong>und</strong> HomogenisierungAusgangspunktLernwegTheorie derFörderungZieldimensionReaktionauf LeistungsrückständeLogikDer konkrete Lernprozess e<strong>in</strong>esMenschen, se<strong>in</strong>e Bedürfnisse<strong>und</strong> FähigkeitenInduktiv – von der Lebensweltausgehend, dann abstrahierendUngleiches ungleich behandeln<strong>und</strong> geme<strong>in</strong>sames LernenOutput:Was sollen alle können?Lernwege <strong>und</strong> LehrmethodenändernRessourcenorientierung:Stärken werden aufgedecktStandardisierter, dem Lehrplanunterstellter, „normaler” Lern- <strong>und</strong>EntwicklungsprozessDeduktiv – von ThemenfeldernausgehendLernen im Gleichschritt <strong>und</strong> <strong>in</strong>homogenen LerngruppenInput:Was soll allen unterrichtetworden se<strong>in</strong>?Homogenisierung durch SelektionDefizitorientierung: Schwächenwerden gesuchtReihenfolge Erst fördern, dann fordern Erst fordern, dann fördernEffektQuelle: El-Mafaalani 2011bInklusion durch UngleichbehandlungExklusion bestimmter Gruppendurch GleichbehandlungIm Umgang mit Vielfalt muss auf allen Ebenen vieles weiterentwickeltwerden. Schulsozialarbeit, <strong>in</strong>sbesondere Jungenarbeit, wird <strong>in</strong> Zukunfte<strong>in</strong>en besonderen Stellenwert e<strong>in</strong>nehmen müssen. Die besondere Bedeutungfrühk<strong>in</strong>dlicher Erziehung <strong>und</strong> Bildung sche<strong>in</strong>t weitgehend erkannt.Im Bildungssystem muss zunehmend berücksichtigt werden, dass manes zu großen Teilen nicht mit fertig erzogenen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n zu tun hat, dienunmehr gebildet werden müssen. Erziehung ist e<strong>in</strong> wesentlicher Bauste<strong>in</strong>zur Verbesserung des Bildungswesens, <strong>in</strong>sbesondere im H<strong>in</strong>blickauf Bildungschancen benachteiligter Gruppen.E<strong>in</strong> Umdenkprozess sollte ebenfalls <strong>in</strong> Bezug auf „Sprache” stattf<strong>in</strong>den.Sprachliche Defizite bei Migranten werden genauso diskutiert wie dieNotwendigkeit von Fremdspracherwerb – am besten schon <strong>in</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong>-tagese<strong>in</strong>richtungen. Dabei erleben muslimische Migranten häufig, dassimmer mehr Sprachen – beispielsweise auch Ch<strong>in</strong>esisch <strong>und</strong> Russisch –e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert genießen, jedoch ihre Sprachen, also Arabischoder Türkisch, nicht dazu gehören. Ihre Herkunftssprache wird nicht alsRessource gesehen <strong>und</strong> auch kaum gefördert, ihre Schwächen <strong>in</strong> derdeutschen Sprache werden dafür stets betont.Es müssen Strukturen <strong>und</strong> Prozesse implementiert werden, die es nichtzulassen, dass <strong>K<strong>in</strong>der</strong> aufgegeben werden. Denn jedes älteste K<strong>in</strong>d, das<strong>in</strong> die Perspektivlosigkeit entlassen wird, erschwert auch den jüngerenGeschwistern den Bildungsaufstieg. Das gilt für älteste Söhne <strong>in</strong> besondererWeise.Literaturtipps• Berger, Peter A. / Kahlert, Heike (Hrsg.) (2005): InstitutionalisierteUngleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. We<strong>in</strong>heim/München.• El-Mafaalani, Alad<strong>in</strong> (2010): Ohne Schulabschluss <strong>und</strong> Ausbildungsplatz.Konzeptgestaltung <strong>und</strong> Prozesssteuerung <strong>in</strong> der beruflichen Benachteiligtenförderung.Marburg.• Eschelmüller, Michele (2007): Lerncoach<strong>in</strong>g. Vom Wissensvermittlerzum Lernbegleiter. Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Praxishilfen. Mülheim a.d. Ruhr.• Weidner, Jens / Kilb, Ra<strong>in</strong>er (Hrsg.) (2011): Handbuch Konfrontative1|2|3|4|5|6|Pädagogik. We<strong>in</strong>heim/München.Insbesondere deshalb, weil dies <strong>in</strong> vielen Familien sogar geschieht. Allerd<strong>in</strong>gshilft es wenig, wenn e<strong>in</strong> gebrochenes Deutsch gesprochen wird <strong>und</strong> die <strong>K<strong>in</strong>der</strong>häufiger diese Sprache hören <strong>und</strong> sprechen als e<strong>in</strong> „gutes” Deutsch.MINT: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik.Das wird dann notwendigerweise durch e<strong>in</strong> umfassendes <strong>und</strong> komplexesSystem an Nachqualifikationsangeboten ausgeglichen.Allerd<strong>in</strong>gs auch hier mit deutlichen Unterschieden zwischen den B<strong>und</strong>esländern.Dies gilt auch <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es jeden B<strong>und</strong>eslandes. Dieses Problem sche<strong>in</strong>t alsonicht mit der föderal organisierten Bildungspolitik zusammenzuhängen.Die mit e<strong>in</strong>er Klassenwiederholung verb<strong>und</strong>enen Kosten für die Eltern sowie dieKosten durch den verspäteten Berufse<strong>in</strong>tritt s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesen Modellrechnungennicht enthalten.


1627|8|9|10|11|Solzbacher stellt <strong>in</strong> ihrer Studie fest, dass die Lehrkräfte, die e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelleFörderung erfolgreich praktizieren, davon ausgehen, dass jedes K<strong>in</strong>d gefördertwerden will, woh<strong>in</strong>gegen an den Schulen, die nicht <strong>in</strong>dividuell fördern, davonausgegangen wird, dass viele <strong>K<strong>in</strong>der</strong> nicht gefördert werden wollen. Gefördertwürde demnach nur, wenn das K<strong>in</strong>d mit diesem Wunsch auf die Lehrkraft zukommt.Damit s<strong>in</strong>d zentrale Kompetenzen <strong>und</strong> Ausbildungsstrukturen für e<strong>in</strong>en professionellen,positiven <strong>und</strong> ressourcenorientierten Umgang mit kulturell vielfältigenKlienten geme<strong>in</strong>t.Unter e<strong>in</strong>er Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung (self fulfill<strong>in</strong>g prophecy)versteht man e<strong>in</strong>en dynamischen Prozess, bei dem Akteure durch den Glaubenan e<strong>in</strong>en Zustand, der noch gar nicht vorliegt, den erwarteten Zustand erzeugen.Beispielsweise können E<strong>in</strong>wohner glauben, dass es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stadtteil amAbend gefährlich ist, obwohl es dafür ke<strong>in</strong>e objektiven H<strong>in</strong>weise gibt. Dadurch,dass sich aufgr<strong>und</strong> dieser Annahme ke<strong>in</strong> Mensch mehr auf den Straßen bef<strong>in</strong>det,können die Straßen nach e<strong>in</strong>iger Zeit tatsächlich gefährlich werden. DieBewohner fühlen sich <strong>in</strong> ihrer Annahme bestätigt, allerd<strong>in</strong>gs hat erst ihre unbegründeteAnnahme zu dem Zustand geführt.Hiervon ausgenommen s<strong>in</strong>d gesamtgesellschaftliche Diskurse um Integration.Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d solche <strong>in</strong> der Öffentlichkeit notwendige Themen für die pädagogischeArbeit nahezu bedeutungslos. Denn <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> nicht gesellschaftlicheProblemlagen s<strong>in</strong>d die Subjekte der konkreten pädagogischen Praxis.Exemplarisch sei hier e<strong>in</strong> Zitat des Gr<strong>und</strong>schulverbandes NRW erwähnt,das diese Entwicklung zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt: „Wären Noten e<strong>in</strong> Medikament,wären sie wegen der erheblichen Nebenwirkungen längst vom Markt genommen”(Gr<strong>und</strong>schulverband 2006, S. 4).7. Konsequenzen für dieElternarbeit: Türöffner<strong>und</strong> Stolperste<strong>in</strong>eFür die meisten pädagogischen <strong>und</strong> sozialen E<strong>in</strong>richtungenist der Umgang mit arabischen <strong>und</strong> türkischen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n,<strong>Jugendliche</strong>n <strong>und</strong> deren Eltern seit Ende der 1980er viel<strong>in</strong>tensiver geworden. Vorher haben die pädagogischenFachkräfte dieses Klientel aufgr<strong>und</strong> der „ger<strong>in</strong>gen Deutschkenntnisse”an die Sonderdienste verwiesen. Inzwischenist vielen klar geworden, dass die Probleme muslimischerMigranten sich nicht auf ger<strong>in</strong>ge Sprachkenntnisse reduzierenlassen – der überwiegende Teil spricht gut Deutsch –sondern <strong>in</strong> die Zuständigkeiten der sozialen Regeldienstegehören. Neben Fähigkeiten, wie z.B. Empathie, Rollendistanz,Ambiguitätstoleranz <strong>und</strong> kommunikative Kompetenz,wird heute auch <strong>in</strong>terkulturelle Kompetenz von pädagogischenFachkräften erwartet. Der Umgang mit unterschiedlichenkulturellen H<strong>in</strong>tergründen der Migranten stellt sichdabei als Herausforderung dar. Insbesondere traditionellgeprägte muslimische Familien halten sich an e<strong>in</strong>en bestimmtenVerhaltenskodex, den es zu beachten gilt. Daherversuchen wir im Folgenden praktische Tipps, für die Arbeitmit muslimischen Eltern zu geben.Wir haben die Elternarbeit mit türkischen <strong>und</strong> arabischenMigranten <strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten analysiert(El-Mafaalani/Toprak 2010; Toprak/El-Mafaalani 2009;


164 165El-Mafaalani 2010a; Toprak 2004). Die Erfahrungen <strong>in</strong> der Praxis <strong>und</strong> dieErgebnisse unserer Untersuchungen machen deutlich, dass die Arbeitmit muslimischen Eltern meistens deshalb nicht erfolgreich ist, weil dieEltern erst gar nicht erreicht <strong>und</strong> angesprochen werden können. Oft s<strong>in</strong>dMissverständnisse <strong>und</strong> unterschiedliche Kommunikationsformen zwischenBeratern <strong>und</strong> Klientel die entscheidenden Gründe dafür. Im Folgendenwerden „Türöffner” <strong>und</strong> „Stolperste<strong>in</strong>e” dargestellt, die besonders imUmgang mit traditionell geprägten muslimischen Familien zu beachtens<strong>in</strong>d.Die Gliederung <strong>in</strong> die drei Bereiche – Elterngespräche <strong>in</strong> der Beratungsstelle,Informationsabende <strong>und</strong> Hausbesuche – dient dazu, diese Regelnanhand von Beispielen plausibel zu machen. Selbstverständlich gelten dieH<strong>in</strong>weise auch darüber h<strong>in</strong>aus.7.1. Das ElterngesprächTüröffnerDie Hand geben: Als Begrüßung ist es wichtig, den Eltern die Hand zugeben. Dieses kle<strong>in</strong>e Ritual gibt den Eltern die Botschaft, dass sie willkommens<strong>in</strong>d. Im Gr<strong>und</strong>e gibt es ke<strong>in</strong>e Reihenfolge, wem zuerst dieHand gegeben werden soll. Achtung: Bei strenggläubigen Muslimen(Kopfbedeckung) begrüßen Sie als Berater<strong>in</strong> nur die Frau mit Handschlag,als Berater nur den Mann. Gegengeschlechtliche Besucher/-<strong>in</strong>nenbegrüßen Sie fre<strong>und</strong>lich ohne Körperkontakt. (siehe auch: Stolperste<strong>in</strong>e.)Das zeigt, dass Sie die Sitten Ihrer Besucher respektieren <strong>und</strong> ernstnehmen.Positives Feedback: Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung bauen e<strong>in</strong>e positiveBeziehung auf. Bedanken Sie sich für das Kommen, erk<strong>und</strong>igen Sie sichnach der Bef<strong>in</strong>dlichkeit der Eltern, sagen Sie etwas Erfreuliches über dasK<strong>in</strong>d etc. Die Elternarbeit wird erst dann erfolgreich, wenn die Eltern Siebesser kennenlernen <strong>und</strong> Ihnen vertrauen.Entspanntes Gesprächsklima schaffen: Sorgen Sie für e<strong>in</strong> entspanntesGesprächsklima. Setzen Sie sich mit den Besuchern an e<strong>in</strong>en Tisch <strong>und</strong>bieten Sie etwas zu tr<strong>in</strong>ken an.Nehmen Sie sich Zeit: Bitten Sie die Besucher here<strong>in</strong>. Wenn sie spüren,dass Sie sich Zeit für sie nehmen, werden sie weitere Term<strong>in</strong>e mit Ihnenabsprechen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>halten.Schweigepflicht hervorheben: Fast alle Migrantengruppen s<strong>in</strong>d den deutschenInstitutionen gegenüber misstrauisch. Viele s<strong>in</strong>d verunsichert,was mit den Informationen, die sie offenbaren, passieren wird. Umdiesem Misstrauen entgegenzuwirken, heben Sie Ihre Schweigepflichthervor <strong>und</strong> erläutern Sie beispielhaft, was sie bedeutet. Denn nicht alleEltern können konkret e<strong>in</strong>ordnen, was „Schweigepflicht” bedeutet.Aufklärung über das eigene Arbeitsfeld: Beschreiben Sie Ihr Arbeitsfeld<strong>und</strong> erklären Sie, welchen Auftrag Sie erfüllen. Viele Eltern kennen sichmit der „Behördenlandschaft” <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> nicht präzise aus. So kannbeispielsweise das Beratungszentrum e<strong>in</strong>es Freien Trägers als „Verbündete”der Ausländerbehörde oder e<strong>in</strong>e muttersprachliche Beratungse<strong>in</strong>richtungals „Verbündete” des türkischen Konsulats gesehen werden.Regeln klar formulieren: Formulieren Sie Regeln klar <strong>und</strong> verständlich.Benennen Sie auch die Konsequenzen bei Nichte<strong>in</strong>haltung von Regeln.Die Eltern s<strong>in</strong>d durchaus bereit, Regeln zu akzeptieren, wenn sie deutlich,verständlich <strong>und</strong> klar formuliert s<strong>in</strong>d. Es ist darüber h<strong>in</strong>aus hilfreich,wenn die Berater betonen, dass Sie sich ebenfalls an die Regeln haltenwerden, wie z.B. an die Schweigepflicht.Beide Elternteile e<strong>in</strong>beziehen: Es ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Beratungsgespräch durchausmöglich, dass – je nach Kontext – nur e<strong>in</strong> Elternteil aktiv ist. WendenSie sich mit gezielten Fragen an den passiven Elternteil. Beide Elternteile<strong>in</strong> die Beratung e<strong>in</strong>zubeziehen, bedeutet, dass beide gleichwertige Gesprächspartnerfür den Berater s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> gleichberechtigt an der Verbesserungder persönlichen Situation mitwirken können.Kompetenzen <strong>und</strong> Interessen der Eltern anerkennen <strong>und</strong> dies merkenlassen: Auch wenn die Eltern aus Ihrer Sicht Defizite im Erziehungsverhaltenhaben, sollten Sie immer die Kompetenzen <strong>und</strong> Interessen derEltern hervorheben. Alle<strong>in</strong> die Tatsache, dass die Eltern e<strong>in</strong>e Beratungse<strong>in</strong>richtungaufsuchen <strong>und</strong> sich – <strong>in</strong> welcher Form auch immer – helfenlassen wollen, ist e<strong>in</strong>e soziale Kompetenz, die Ihr Lob verdient. Zuhilfenahmeprofessioneller Hilfe von außen – außer materieller Natur, wie z.B.Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe – hat <strong>in</strong> der muslimischen Communitye<strong>in</strong>en schlechten Ruf, weil sie als Schwäche ausgelegt wird.


166 167Das Wohl des K<strong>in</strong>des als geme<strong>in</strong>sames Interesse betonen: Betonen Siebei der Klärung des Problems, dass Sie geme<strong>in</strong>sam mit den Eltern demK<strong>in</strong>d helfen wollen. Fragen Sie, wie die Eltern das Problem sehen. Erk<strong>und</strong>igenSie sich, wie sich das K<strong>in</strong>d zu Hause verhält. Fragen Sie nach denLösungsvorschlägen der Eltern <strong>und</strong> besprechen Sie mit ihnen, ob sierealisierbar s<strong>in</strong>d. Machen Sie dabei Ihre eigenen Ziele transparent.Stolperste<strong>in</strong>eAls Mann e<strong>in</strong>er streng muslimischen Frau die Hand geben/als Frau e<strong>in</strong>emstreng muslimischen Mann die Hand geben: Um den Eltern das Gefühlzu vermitteln, dass sie willkommen s<strong>in</strong>d, ist es zwar von Bedeutung,ihnen die Hand zu geben. Aber das hat se<strong>in</strong>e Tücken. Die meisten strenggläubigenMuslime vermeiden den gegengeschlechtlichen Körperkontaktaußerhalb der Ehe/Familie. Sollte e<strong>in</strong> deutscher Pädagoge e<strong>in</strong>er bedecktenFrau die Hand geben, wird die Frau zwar aus Höflichkeit auch ihm dieHand schütteln, aber sie würde das am liebsten vermeiden.Direkt mit dem Problem beg<strong>in</strong>nen/konfrontativ vorgehen: KommenSie nicht gleich am Anfang des Gesprächs auf den Gr<strong>und</strong> für das Gespräch– hier das Problem mit dem K<strong>in</strong>d. Nach dem Verhaltenskodexdes türkisch- <strong>und</strong> arabischstämmigen Milieus werden Kritikpunkte <strong>und</strong>negative Sachverhalte beiläufig <strong>und</strong> blumig – d.h. mit viel Vorlob <strong>und</strong>positivem Feedback – formuliert. Unmittelbar mit dem Problem anzufangen,wird als Konfrontation erlebt. Aus Höflichkeit <strong>und</strong> Scheu vorAutoritäten – auch Beratungs<strong>in</strong>stitutionen werden als Autoritäten wahrgenommen– akzeptieren die Eltern zwar die Konfrontation. DiesesVorgehen erschwert aber e<strong>in</strong>e kooperative Zusammenarbeit auf langeSicht. Die Klienten werden ihre unkooperative Haltung nicht direkt ausdrücken,aber dafür umso mehr (latent) merken lassen.Praktische Anwendbarkeit eigener Lösungsvorschläge besprechen: KlärenSie mit den Eltern, ob Ihre Lösungsvorschläge auch <strong>in</strong> den Alltag derFamilie passen. Beachten Sie die Struktur <strong>und</strong> die Rollenverteilung <strong>in</strong> derFamilie <strong>und</strong> versuchen Sie, das Problem aus dieser Perspektive zu sehen.Die Eltern als Verbündete gew<strong>in</strong>nen: Versuchen Sie, die Eltern als Verbündetezu gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> nicht als Gegner zu sehen. Respektieren Siedie Wert- <strong>und</strong> Normvorstellungen <strong>und</strong> zeigen Sie Verständnis für dieLebensumstände. Achten Sie auf die Erwartungen der Eltern gegenüberIhrer E<strong>in</strong>richtung. Weisen Sie auf Widersprüche h<strong>in</strong> <strong>und</strong> suchen Sie nachMöglichkeiten, wie Loyalitätskonflikte reduziert werden können.Zukunftsperspektive e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen: Besprechen Sie, welche Konsequenzendas problematische Verhalten des K<strong>in</strong>des auf die Schullaufbahn habenkann.Schuldzuweisung: Schuldzuweisung ist e<strong>in</strong> klassischer Stolperste<strong>in</strong> <strong>in</strong> derElternarbeit. Gegenüber Kritik an der eigenen Person <strong>und</strong> den eigenenFähigkeiten s<strong>in</strong>d arabische <strong>und</strong> türkische Migranten besonders empf<strong>in</strong>dlich.Die meisten Eltern haben das Gefühl, besonders <strong>in</strong> der Migration,gut funktionieren zu müssen <strong>und</strong> <strong>in</strong>takte Familienverhältnisse nach außenpräsentieren zu müssen, weil sie e<strong>in</strong>erseits im „Heimatland”, andererseits<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> unter besonderer Beobachtung stehen. Schuldzuweisung<strong>in</strong> Bezug auf Erziehungsdefizite wird als persönlicher Angriff <strong>und</strong> Inkompetenz<strong>in</strong>terpretiert <strong>und</strong> erschwert die Arbeit.H<strong>in</strong>ter dem Schreibtisch sitzen: E<strong>in</strong> Gespräch h<strong>in</strong>ter Ordnern <strong>und</strong> Unterlagenam Schreibtisch erschwert den Kontakt zu den Eltern. Diese Sitzordnunger<strong>in</strong>nert stark an Behörden. <strong>Muslimische</strong> Eltern s<strong>in</strong>d – wie obenerwähnt – den Behörden gegenüber misstrauisch <strong>und</strong> nehmen Behördenterm<strong>in</strong>enur <strong>in</strong> äußersten Notfällen wahr.Fachbegriffe: Die Eltern, die e<strong>in</strong>e Beratungse<strong>in</strong>richtung aufsuchen,kennen sich <strong>in</strong> der Regel nicht mit sozialpädagogischen Fachbegriffenaus, auch wenn sie die alltägliche Umgangssprache gut beherrschen.Auf alle Fachworte, auch wenn sie für Sie noch so alltäglich s<strong>in</strong>d, solltenSie verzichten oder sie notfalls erläutern. Denn die Eltern werden ausScheu <strong>und</strong> Höflichkeit nicht von sich aus sagen, dass sie die Begriffenicht verstanden haben.Während des Gesprächs das Verhalten des (anwesenden) K<strong>in</strong>des kritisieren:Wenn Sie während e<strong>in</strong>es Beratungsgesprächs das Verhalten desK<strong>in</strong>des tadeln, wird das als Kritik an der eigenen Person <strong>in</strong>terpretiert.Die Kritik am K<strong>in</strong>d impliziert das Versagen der Eltern, die ihrem K<strong>in</strong>dnicht beibr<strong>in</strong>gen können, wie man sich richtig verhält.Vorurteile <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gen: Mit Vorurteilen argumentieren, wie z.B. „dietürkischen Väter s<strong>in</strong>d autoritär”, „die Mädchen werden unterdrückt” oder„alle arabischen Jungen werden wie die Paschas behandelt”, erschwert


168 169die Arbeit mit Eltern ungeme<strong>in</strong>. Diese Vorurteile werden nicht nur alsKritik <strong>und</strong> Schuldzuweisung <strong>in</strong>terpretiert, sondern als nicht repräsentativeE<strong>in</strong>zelfälle wahrgenommen, die sie nicht betreffen.7.2. Elternbeteiligung <strong>und</strong> InformationsabendeTüröffnerVom deutschen Verständnis ausgehen: Deutschstämmige pädagogische<strong>und</strong> psychologische Fachkräfte repräsentieren e<strong>in</strong> bestimmtes sozialesMilieu <strong>und</strong> e<strong>in</strong> bestimmtes Verständnis. Ihre Argumentation repräsentiert<strong>in</strong> der Regel die Vorstellungen dieses Milieus. Viele Pädagog<strong>in</strong>nen könnensich beispielsweise nicht vorstellen, warum e<strong>in</strong>e Frau, die von ihremMann geschlagen wird, ihn nicht verlässt. Die sozialen, wirtschaftlichen<strong>und</strong> kulturellen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen muslimischer Eltern s<strong>in</strong>d meistensnicht mit denen der deutschen Pädagogen <strong>und</strong> Eltern zu vergleichen.Vergleichen: Vergleiche mit anderen türkischen oder arabischen Elterns<strong>in</strong>d kontraproduktiv, weil die Eltern dadurch unter Druck gesetzt werden<strong>und</strong> dann zusätzlich Stress <strong>in</strong> die Familie kommt. E<strong>in</strong>e Maßnahme, diebei e<strong>in</strong>er muslimischen Familie oder bei e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d wirksam war, mussnicht bei allen anderen Familien oder <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n ebenso wirksam se<strong>in</strong>.Werte <strong>und</strong> Normen der Eltern <strong>in</strong> Frage stellen/abwerten: Wenn Sie dieWerte <strong>und</strong> Normen der Eltern <strong>in</strong> Frage stellen, bedeutet das für diese,dass der Berater/die Berater<strong>in</strong> diese Werte als schlecht erachtet. Dasführt zu M<strong>in</strong>derwertigkeitsgefühlen, aus denen heraus die Eltern nichthandlungsfähig s<strong>in</strong>d.Inkompetenz: Institutionen, wie z.B. die Schule, haben <strong>in</strong> der arabischen<strong>und</strong> türkischen Bevölkerung e<strong>in</strong>en hohen Stellenwert. Wenn Eltern sichan die pädagogischen <strong>und</strong> psychologischen Fachkräfte wenden, um Hilfezu holen, dann haben sie auch höhere Ansprüche an sie. Die Fachkräftemüssen den Eltern deutlich zeigen, über welche Kompetenzen sie verfügen<strong>und</strong> worüber sie nicht entscheiden können. Wenn diese Grenzenim Vorfeld mit den Eltern nicht besprochen werden, glauben die Eltern,mit <strong>in</strong>kompetenten Fachleuten zu tun zu haben.Die Tagesordnung übersichtlich <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach gestalten: Die Tagesordnungder Veranstaltung soll kurz <strong>und</strong> prägnant se<strong>in</strong> <strong>und</strong> nur e<strong>in</strong> Thema be<strong>in</strong>halten.Mehrere Vorträge im Plenum <strong>und</strong> Workshops zu unterschiedlichenSchwerpunkten s<strong>in</strong>d für Eltern mit eher ger<strong>in</strong>gem Bildungsniveaunicht geeignet.Zweisprachige Werbung: Wenn für e<strong>in</strong>e Veranstaltung oder e<strong>in</strong>en Elternabendgeworben wird, kann dies <strong>in</strong> unterschiedlichen Sprachen geschehen.Durch e<strong>in</strong>e schriftliche E<strong>in</strong>ladung fühlen sich die Eltern nicht angesprochen,weil sie nicht lesen können oder wollen. Am erfolgreichstenist e<strong>in</strong>e persönliche mündliche E<strong>in</strong>ladung. Wenn Eltern andere Elternansprechen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>laden, ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit groß, dass viele zue<strong>in</strong>er Veranstaltung kommen.Muttersprachliche Referenten: Die Chancen s<strong>in</strong>d gut, dass die Elternan e<strong>in</strong>er Informationsveranstaltung teilnehmen, wenn e<strong>in</strong> Referent arabisch-bzw. türkischsprachig oder muslimischer Herkunft ist. Auch wenndie Eltern gut Deutsch sprechen, fühlen sie sich <strong>in</strong> ihrer Muttersprachewohler. Der E<strong>in</strong>satz <strong>in</strong>terkultureller Referenten vermittelt den Eltern dasGefühl, dass auf ihre Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche e<strong>in</strong>gegangen wird. DieEltern können dadurch ihre Fragen <strong>und</strong> Wünsche ohne sprachliche <strong>und</strong>kulturelle Hemmschwelle artikulieren. E<strong>in</strong>e zweisprachige Elternveranstaltung(Deutsch/Türkisch) ist kontraproduktiv, weil die Übersetzung aufwendig<strong>und</strong> durch die Übersetzung e<strong>in</strong> ungestörter Ablauf der Veranstaltungbee<strong>in</strong>trächtigt wird.Muttersprachliche Begrüßung: Wenn organisatorisch der E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>ermuttersprachlichen Referent<strong>in</strong> nicht möglich ist, sollte zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>emuttersprachliche Begrüßung erfolgen. Dadurch fühlen sich die Elternwillkommen, weil sie durch diese Begrüßung annehmen dürfen, dassdie Veranstalter sich <strong>in</strong>haltlich <strong>und</strong> formal auf die Bedürfnisse der Elterne<strong>in</strong>gestellt haben. Die muttersprachliche Begrüßung kann beispielsweisevon e<strong>in</strong>em türkischen Lehrer, von arabischen Eltern aus dem Elternbeiratoder aber von e<strong>in</strong>em deutschsprachigen Veranstalter, der die Begrüßungswortespricht, erfolgen.


170 171Themen positiv formulieren: Die <strong>in</strong>haltlichen Themen positiv formulieren,um die Eltern nicht abzuschrecken. Positiv formulierte Titel könnenfolgendermaßen aussehen: „Wie kann ich als Mutter/Vater me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dam besten unterstützen?”, „<strong>K<strong>in</strong>der</strong>erziehung verbessern – Fragen ane<strong>in</strong>en Fachmann/Fachfrau” oder „Die Phasen der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>erziehung” etc.Durch Formulierungen wie, „In der Erziehung auf Gewalt verzichten”,„Gewaltfreie Erziehung” oder „Gewaltprävention <strong>in</strong> der Erziehung” fühlensich die Eltern nicht angesprochen. Wenn die Eltern solche Veranstaltungenbesuchen, würden sie damit zugeben, dass sie <strong>in</strong> der ErziehungGewalt anwenden.Fachvorträge kurz halten: Auch wenn die Veranstalter sich nur füre<strong>in</strong> Thema entschieden haben, sollte der fachliche Input kurz se<strong>in</strong>,d.h. maximal 45 M<strong>in</strong>uten dauern. Wenn die Eltern e<strong>in</strong>e Veranstaltungbesuchen, haben sie <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> persönliches Motiv, das sie mitder Referent<strong>in</strong> besprechen wollen. Beachten Sie bei der Planung, derDiskussion <strong>und</strong> den Fragen der Eltern sehr viel Zeit e<strong>in</strong>zuräumen.Maximale Teilnehmerzahl 30: Begrenzen Sie die maximale Teilnehmerzahlauf dreißig Personen, damit die Eltern sich e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> diskutierenkönnen. Die Eltern wollen konkrete Fragen stellen. Bei großenVeranstaltungen ist vor allem bei Teilnehmer<strong>in</strong>nen die Hemmschwellegroß, sich zu Wort zu melden.Auf praktische Fragen e<strong>in</strong>gehen: Die Referenten sollten auf die praktischenFragen der Eltern e<strong>in</strong>gehen. Es ist schwer, auf E<strong>in</strong>zelfälle, z.B.konkrete Erziehungsschwierigkeiten, im Rahmen der Veranstaltung e<strong>in</strong>ebefriedigende Antwort zu geben. Aber wenn die Referenten auf dieFrage nicht e<strong>in</strong>gehen, wird es als Missachtung der Fragenden oder ihresProblems bzw. als Inkompetenz der Referenten <strong>in</strong>terpretiert.Die Eltern zum Mitdiskutieren ermuntern: Die Hauptaufgabe der Referent<strong>in</strong>bzw. der Moderator<strong>in</strong> besteht dar<strong>in</strong>, die Eltern zur Diskussion zuermuntern, vor allem die Mütter. Die Mütter nehmen primär die Erziehungsaufgabenwahr, aber trauen sich oft nicht, <strong>in</strong> der Öffentlichkeitihre Me<strong>in</strong>ungen <strong>und</strong> Erfahrungen mitzuteilen. Die Aufforderung zumMe<strong>in</strong>ungsaustausch trägt dazu bei, dass die Eltern ihre Fragen <strong>und</strong>Schwierigkeiten <strong>in</strong> der Erziehung leichter äußern.Väter ansprechen: In Erziehungsfragen s<strong>in</strong>d vor allem die Mütter aktiv.Sie werden sehr häufig von ihren Männern alle<strong>in</strong>e gelassen, weil traditionelldenkende Männer die Erziehung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> als Aufgabe der Müttersehen. Zum<strong>in</strong>dest der Fachvortrag müsste <strong>in</strong>haltlich so aufgebaut se<strong>in</strong>,dass die Männer sich persönlich angesprochen <strong>und</strong> für die Erziehung der<strong>K<strong>in</strong>der</strong> verantwortlich fühlen.Die Geschwister der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> als Ansprechpartner annehmen: Es ist üblich,vor allem älteren Schwestern Erziehungsaufgaben zu überlassen. Wennältere Geschwister e<strong>in</strong>en Elternabend oder e<strong>in</strong>en Informationsabend besuchen,ist das e<strong>in</strong> Zeichen für die geme<strong>in</strong>schaftliche Verantwortung dergesamten Familie.Fortbildungen zum Thema Interkulturelle Kommunikation besuchen:Um die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> deren Eltern besser zu verstehen, sollten die pädagogischenFachkräfte regelmäßig Fortbildungen zu <strong>in</strong>terkulturellen Themenbesuchen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, kann dies den Familienerzählt werden. Dadurch vermitteln Sie ihnen, dass Sie sich für sie <strong>in</strong>teressieren<strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Gelegenheit auslassen, sie besser zu verstehen.Die Stärken der Eltern ansprechen: (s. Türöffner <strong>in</strong> der Beratungssituation:Kompetenzen der Eltern anerkennen <strong>und</strong> dies merken lassen)Die Schulleitung ist persönlich anwesend: Es muss ganz deutlich gemachtwerden, dass solche Veranstaltungen e<strong>in</strong>e Dienstleistung der Schules<strong>in</strong>d. Um diesen Ansatz zu unterstreichen, ist die Schulleitung persönlichanwesend <strong>und</strong> übernimmt die Begrüßung <strong>und</strong> die Verabschiedung, auchwenn es schwer ist, e<strong>in</strong>er türkischsprachigen Veranstaltung zu folgen.Fragen der Eltern an die Schule können direkt von der Schulleitungbeantwortet werden.E<strong>in</strong>fach strukturierte Leitfäden mitgeben: Es ist wichtig, den Eltern e<strong>in</strong>fachstrukturierte Leitfäden mitzugeben. Die meisten Eltern s<strong>in</strong>d nichtso schreibgewandt, dass sie Erläuterungen mitnotieren können.Mit migrationsspezifischen E<strong>in</strong>richtungen kooperieren: Sie müssen nichtalles selber wissen! Um die Professionalität der Arbeit zu gewährleisten,empfiehlt es sich, mit migrationsspezifischen E<strong>in</strong>richtungen zu kooperieren.Diese E<strong>in</strong>richtungen kennen sich mit der Zielgruppe <strong>und</strong> ihren Bedürfnissensehr gut aus <strong>und</strong> helfen, viele Stolperste<strong>in</strong>e aus dem Weg zuräumen.


172 173Stolperste<strong>in</strong>eTerm<strong>in</strong>e an muslimischen Feiertagen: Wenn die Term<strong>in</strong>e auf muslimischeFeiertage oder <strong>in</strong> den Fastenmonat Ramadan gelegt werden, ist dieWahrsche<strong>in</strong>lichkeit ger<strong>in</strong>g, dass die Eltern kommen. Zu beachten ist,dass die wichtigsten muslimischen Feiertage, Zucker- oder Opferfest,ke<strong>in</strong>e festen Term<strong>in</strong>e haben – sie verschieben sich jedes Jahr um zehnTage nach vorne. Bei den meisten Ausländerbeiräten (oder Ausländerbeauftragtender Geme<strong>in</strong>den) gibt es e<strong>in</strong>en „Multikultikalender”, <strong>in</strong> demalle wichtigen religiösen <strong>und</strong> nationalen Feiertage vermerkt s<strong>in</strong>d.Term<strong>in</strong>e während Europapokalspielen der türkischen Mannschaften:Wenn die Veranstalter die türkischen Väter mit e<strong>in</strong>er Veranstaltungam Abend erreichen wollen, wäre es ratsam, zu überprüfen, dass andiesem Abend ke<strong>in</strong> Europapokalspiel der türkischen Mannschaften stattf<strong>in</strong>det.Dabei ist es un<strong>in</strong>teressant, welche Mannschaft e<strong>in</strong> Spiel hat. Bei<strong>in</strong>ternationalen Spielen trennen die Türken nicht nach ihren Liebl<strong>in</strong>gsmannschaften.Beispielsweise bei e<strong>in</strong>em Spiel von Galatasaray gegenReal Madrid s<strong>in</strong>d alle Fenerbahce- <strong>und</strong> Besiktas-Anhänger automatischGalatasarayfans.Komplizierte Fachsprache: Komplizierte Fachsprache, sei es <strong>in</strong> der arabischen,türkischen oder deutschen Sprache, soll vermieden werden. DasBildungsniveau der muslimischen Community ist im Durchschnitt eherger<strong>in</strong>g. E<strong>in</strong> großer Teil verfügt nicht über e<strong>in</strong>e abgeschlossene Berufsausbildung<strong>und</strong> das Lesen (unabhängig von der Sprache) ist ungewohnt.Die eigenen Normen <strong>und</strong> Werte als e<strong>in</strong>zig richtige <strong>in</strong> den Raum stellen/bewertend formulieren: Wie bei den Stolperste<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Beratungssituationist es auch im Rahmen e<strong>in</strong>er Veranstaltung oder e<strong>in</strong>es Elternabendsvon Bedeutung, die eigenen Werte <strong>und</strong> Normen nicht als diee<strong>in</strong>zig richtigen <strong>in</strong> den Raum zu stellen. Es ist darüber h<strong>in</strong>aus zu beachten,dass der Referent nicht bewertend formuliert. Bewertende Formulierungenschüchtern die Eltern e<strong>in</strong> <strong>und</strong> sie trauen sich nicht, mitzudiskutierenbzw. Fragen zu stellen, weil sie fürchten, <strong>in</strong> ihren Werten, Normenbzw. E<strong>in</strong>stellungen als m<strong>in</strong>derwertig e<strong>in</strong>geschätzt zu werden.Die Kompetenz der Eltern <strong>in</strong> Frage stellen: Es ist ratsam, Me<strong>in</strong>ungsäußerungender Eltern nicht <strong>in</strong> Frage zu stellen. Bedanken Sie sich zunächstfür die Frage oder für den Diskussionsbeitrag <strong>und</strong> betonen Sie, dass derErfolg der Veranstaltung von Kompetenzen <strong>und</strong> Fragen der Eltern abhängigist. In der Diskussion kann es bspw. auch darum gehen, welcheLösungsmöglichkeiten <strong>in</strong> den Herkunftsländern zur Verfügung standen.„Bei euch Türken ist...”: Auf Vorurteile <strong>und</strong> verallgeme<strong>in</strong>ernde Formulierungen<strong>und</strong> Vorannahmen verzichten. Verallgeme<strong>in</strong>erungen, wie z.B.„Bei euch Moslems darf man ke<strong>in</strong>en Alkohol tr<strong>in</strong>ken” oder „Bei euchArabern darf man ke<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong>efleisch essen”, kommen bei den Elternnicht gut an. Nicht jeder aus der Türkei oder e<strong>in</strong>em arabischen Landstammende Migrant muss streng muslimischen Glaubens se<strong>in</strong> <strong>und</strong> aufSchwe<strong>in</strong>efleisch oder Alkoholkonsum verzichten.7.3. HausbesucheInteraktive Methoden: Auf das Schreiben <strong>und</strong> Vorstellen von Kärtchensowie Erarbeiten von Plakaten <strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>gruppe sollte man komplettverzichten. Der überwiegende Teil der Elternschaft kann zwar (gut) lesen<strong>und</strong> schreiben. Viele haben aber große Hemmungen gegenüber solchenMethoden, weil sie sich unter Druck gesetzt fühlen, besonders gut <strong>und</strong>richtig schreiben <strong>und</strong> artikulieren zu müssen.Interaktive (körperbetonte) Übungen: Wie beim Händedruck beschrieben(s. Stolperste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der Beratungssituation), ist für viele jeglicher Körperkontakt<strong>in</strong> gegensätzlichen Geschlechterkonstellationen tabu. BekannteÜbungen, wie der Gordische Knoten, tragen zwar dazu bei, die Gruppenatmosphäreaufzulockern. Aber solche Übungen schrecken vor allemältere <strong>und</strong> streng muslimische Teilnehmer/-<strong>in</strong>nen ab, weiterh<strong>in</strong> am Themazu arbeiten.TüröffnerDen Term<strong>in</strong> persönlich vere<strong>in</strong>baren: Term<strong>in</strong>e für e<strong>in</strong>en Hausbesuchmüssen unbed<strong>in</strong>gt telefonisch oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em persönlichen Gesprächvere<strong>in</strong>bart werden. Gehen Sie auf die Term<strong>in</strong>vorstellung der Eltern e<strong>in</strong><strong>und</strong> schlagen Sie ke<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>e während des Fastenmonats oder religiöserFeiertage vor.Abendterm<strong>in</strong>: Legen Sie den Term<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>en Hausbesuch <strong>in</strong> die Abendst<strong>und</strong>en,um alle Beteiligten – beide Elternteile <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d(er) – zu erreichen.Da die Angelegenheit e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des nicht nur die Eltern betrifft,sondern auch die anderen Geschwister, wollen alle Familienmitgliederanwesend se<strong>in</strong>. Bei Hausbesuchen sollten Sie als Mann e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>


174 175alle<strong>in</strong> mit der Mutter, <strong>und</strong> als Frau e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> mit dem Vatervermeiden. In traditionell-religiösen Familien besucht man sich <strong>in</strong> gegengeschlechtlicherKonstellation nur dann, wenn beide Ehepartner anwesends<strong>in</strong>d.Schuhe ausziehen: Unabhängig von der Jahreszeit sollten Sie bei e<strong>in</strong>emHausbesuch die Schuhe ausziehen, selbst wenn die Gastgeber Sie auffordern,diese anzubehalten; diese Aufforderung ist lediglich e<strong>in</strong>e Höflichkeitsfloskel.Es gibt mehrere Gründe für das Schuheausziehen. Da diemeisten gläubigen Muslime <strong>in</strong> der Wohnung beten, darf dieser Raum ausRe<strong>in</strong>heitsgründen nicht mit „Straßenschuhen” betreten werden, so wieauch die Moscheen. Der zweite Gr<strong>und</strong> ist praktischer Natur: Hausfrauenmöchten e<strong>in</strong>e saubere Wohnung haben <strong>und</strong> nicht nach jedem Besuch diegesamte Wohnung schrubben. Wer die Schuhe auszieht, möchte darüberh<strong>in</strong>aus den Gastgebern signalisieren, dass er oder sie die Wohnung wiee<strong>in</strong> Familienmitglied betritt.Smalltalks: Bevor das Hauptthema angesprochen wird, sollten Sie kurze,fre<strong>und</strong>liche Gespräche führen. Fragen Sie z.B. nach der Bef<strong>in</strong>dlichkeit,dem Arbeitsplatz <strong>und</strong> seit wann die Familie <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> lebt. SagenSie etwas Positives zur Wohnung oder zur Lage der Wohnung. Diesekle<strong>in</strong>en „unverb<strong>in</strong>dlichen” Gespräche s<strong>in</strong>d immens wichtig, weil sie denpersönlichen Kontakt herstellen <strong>und</strong> wichtige Impulse für das eigentlicheThema bieten.Sich nach den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n erk<strong>und</strong>igen: Um zu verdeutlichen, dass manInteresse an der gesamten Familie hat, ist es zu empfehlen, sich nachallen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n zu erk<strong>und</strong>igen, wie z.B. Alter, Schul- oder Berufsausbildung.Diese Informationen deuten u.a. darauf h<strong>in</strong>, welche anderen„Konfliktfelder” es <strong>in</strong> der Familie geben könnte, ohne e<strong>in</strong> bestimmtesProblem angesprochen zu haben.Interessen offen legen: Erklären Sie den Gr<strong>und</strong> des Hausbesuches,<strong>in</strong>dem Sie Ihre Interessen formulieren. (s.u. Stolperste<strong>in</strong>e: Gr<strong>und</strong> desGesprächs). Betonen Sie, dass man e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Interesse hat,<strong>und</strong> zwar das Wohl des K<strong>in</strong>des. Dies zu vermitteln gel<strong>in</strong>gt am besten,wenn die Eltern als gleichwertige Kooperationspartner gewonnen werdenkönnen. Erwähnen Sie auch <strong>in</strong> diesem Kontext die Schweigepflicht <strong>und</strong>betonen Sie, dass Sie diese e<strong>in</strong>halten werden.Probleme <strong>und</strong> Personen ernst nehmen: Unabhängig vom Hauptthema –z.B. Erziehungsschwierigkeiten – schildern die Eltern den Betreuernandere Probleme. Sie hören sich diese Schilderungen an, nehmen sieernst <strong>und</strong> versuchen, praktische Tipps zu geben. Durch diese kle<strong>in</strong>eDienstleistung erarbeitet man sich e<strong>in</strong>en bedeutenden Vertrauensbonus,der für den Verlauf des Gesprächs wichtig ist.Ressourcenorientierte Vorgehensweise: Die Lösungsvorschläge, die besprochen<strong>und</strong> erarbeitet wurden, s<strong>in</strong>d an den Stärken <strong>und</strong> Möglichkeitender Eltern orientiert, um erfolgversprechend zu se<strong>in</strong>. Dieser Ansatz entsprichtdarüber h<strong>in</strong>aus dem Vorsatz, die Eltern als gleichberechtigteKooperationspartner zu gew<strong>in</strong>nen.Zuverlässigkeit: Zuverlässigkeit ist das oberste Pr<strong>in</strong>zip, um das Vertrauender Eltern <strong>und</strong> der anderen Familienmitglieder zu gew<strong>in</strong>nen. Versprechungen<strong>und</strong> Zusagen müssen e<strong>in</strong>gehalten werden. Vermeiden Sie Versprechungen,die nicht e<strong>in</strong>gehalten werden können. Wie <strong>in</strong> der Beratungssituationmuss der Berater se<strong>in</strong>en Arbeitsauftrag <strong>und</strong> Arbeitsbereichbeschreiben, um Missverständnissen – z.B. überzogene oder falsche Erwartungen– vorzubeugen.Stolperste<strong>in</strong>eAls Mann e<strong>in</strong>er Kopftuch tragenden Frau die Hand reichen: (s. Stolperste<strong>in</strong>eim Kontext der Beratungssituation).Umfangreiche <strong>und</strong> dicke Ordner mitschleppen: In der Beratungssituationwurde betont, dass alles, was an Behörden er<strong>in</strong>nert, nicht vertrauensförderndist. E<strong>in</strong> Hausbesuch sollte zum<strong>in</strong>dest nach außen h<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en„unverb<strong>in</strong>dlichen” Charakter haben. Wenn Sie mit vielen Unterlagen e<strong>in</strong>eWohnung betreten, betonen Sie die „Probleme”, was den Anfang e<strong>in</strong>esGesprächs erschweren kann.Die E<strong>in</strong>ladung zum Essen/Tr<strong>in</strong>ken ablehnen: Um ihre Gastfre<strong>und</strong>lichkeithervorzuheben, laden arabische <strong>und</strong> türkische Familien ihre Gäste zumEssen <strong>und</strong> Tr<strong>in</strong>ken e<strong>in</strong>, unabhängig davon, <strong>in</strong> welchem Kontext dieserBesuch steht. Im häuslichen Bereich kann die Trennung zwischen privatem<strong>und</strong> dienstlichem Besuch nicht scharf gezogen werden. Deshalbfühlen sich die Eltern beleidigt, wenn das Angebot zum Essen, vor allemaber zum Tr<strong>in</strong>ken, abgelehnt wird.


176 177Gr<strong>und</strong> für das Gesprächs: Der Anlass des Besuchs sollte dem K<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>enSchaden br<strong>in</strong>gen. Wenn das K<strong>in</strong>d die Berater um Hilfe gebeten hat, weiles im Elternhaus Gewalt erfährt, dürfen Sie das den Eltern nicht direktsagen. Die Eltern würden u.U. das K<strong>in</strong>d für dieses Verhalten bestrafen,weil es die <strong>in</strong>ternen Familienangelegenheiten nach außen getragen hat.Die Eltern vor den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n bloß stellen/Belehrungen: Vor allem im privatenBereich s<strong>in</strong>d die Eltern empf<strong>in</strong>dlich, wenn sie <strong>in</strong> Anwesenheit der<strong>K<strong>in</strong>der</strong> belehrt werden. Diese Belehrungen werden von Eltern als Bloßstellungvor den <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> als Autoritätsverlust des Vaters empf<strong>und</strong>en.Berufswünsche für die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> abwerten: Die Eltern haben häufig überzogeneBerufswünsche für ihre <strong>K<strong>in</strong>der</strong>, die <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Relation zu denSchulleistungen stehen. Es kann durchaus vorkommen, dass die Elternvon e<strong>in</strong>em schlechten Hauptschüler erwarten, dass er Rechtsanwalt oderArzt werden soll. Statt diese Wünsche rigoros als uns<strong>in</strong>nig zu bezeichnen,ist es zu empfehlen, mit den Eltern auszudiskutieren, was passierenmuss, damit das K<strong>in</strong>d dieses Ziel erreicht.Probleme oder Defizite <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong> stellen: Ausschließlich überdie Probleme der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> bzw. der Familie reden, schreckt die Eltern ab.Im häuslich-privaten Bereich s<strong>in</strong>d die Eltern empf<strong>in</strong>dlicher als beispielsweise<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beratungssituation im Büro, weil die Initiative des Gesprächs<strong>in</strong> der Wohnung nicht von den Eltern ausgeht. In diesem Kontextist viel mehr F<strong>in</strong>gerspitzengefühl gefragt als im Büro. Deshalb solltenVorverurteilungen <strong>und</strong> Schuldzuweisungen <strong>in</strong> Bezug auf <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong><strong>K<strong>in</strong>der</strong>erziehung, wie z.B. den Eltern das Gefühl geben, <strong>in</strong> der Erziehungversagt zu haben, vermieden werden. (S.o. Türöffner: RessourcenorientierteVorgehensweise).Methodisches Vorgehen: Methodisches Arbeiten ist im Kontext der Hausbesuchekontraproduktiv. E<strong>in</strong>e methodische Vorgehensweise kann z.B.dadurch gestört werden, dass der Vater oder der Sohn nebenbei Fernsehenschaut oder aber die Mutter oder die Tochter Tee serviert etc. BeiHausbesuchen muss man sich deshalb viel mehr Zeit nehmen als sonst<strong>und</strong> sich auf spontane <strong>und</strong> unkonventionelle Vorgehensweisen e<strong>in</strong>stellen.Der Hausbesuch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er arabischen oder türkischen Familie kann nichtvollständig vorbereitet werden.7.4. ZusammenfassungFolgende Konsequenzen für die Elternarbeit s<strong>in</strong>d zu ziehen:• Elternkooperation: Die Elternarbeit kann e<strong>in</strong>e wichtige Determ<strong>in</strong>antebei der Förderung muslimischer <strong>K<strong>in</strong>der</strong> se<strong>in</strong>. Ohne die konkrete Unterstützungder Eltern kann wenig erreicht werden, weil traditionellemuslimische Familien anders organisiert s<strong>in</strong>d als die deutschen Familien.Beispielsweise s<strong>in</strong>d Berufs- bzw. Schulentscheidungen ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellenBelange der <strong>K<strong>in</strong>der</strong>, sondern werden <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von denEltern vorgegeben. Viele Studien zeigen, dass elterliche Gewaltanwendung<strong>in</strong> arabischen <strong>und</strong> türkischen Familien verbreitet ist (vgl. Toprak2004) <strong>und</strong> die Eltern unterstützt werden müssen, gewaltfrei zu erziehen.• Professionelle Hilfe von außen: Die Mehrheit der Elternschaft ist nicht<strong>in</strong> der Position, die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>in</strong> schulischen (<strong>und</strong> auch anderen) Fragen,wie z.B. bei den Hausaufgaben, zu unterstützen. E<strong>in</strong>erseits können sieden vielfältigen <strong>und</strong> komplizierten Fragen ihrer <strong>K<strong>in</strong>der</strong> – u.a. aufgr<strong>und</strong>des ger<strong>in</strong>gen Bildungsniveaus – nicht gerecht werden. Andererseitsgehen die Eltern mehreren <strong>und</strong> von der Schichtarbeit geprägten Tätigkeitennach, um das Familiene<strong>in</strong>kommen abzusichern, auch wenn e<strong>in</strong>igevon ihnen offiziell als Hausfrau oder arbeitslos gemeldet s<strong>in</strong>d. Deshalbbenötigen viele Schüler professionelle Hilfen von außen, wie z.B.Hausaufgabenbetreuung im Rahmen e<strong>in</strong>er Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> derSchule oder sozialpädagogisch betreute Maßnahmen unter der Zuständigkeitder Offenen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>- <strong>und</strong> Jugendhilfe.• Teilnahme an Sexualunterricht <strong>in</strong> der Schule: In konservativen <strong>und</strong>bildungsfernen Milieus ist Sexualität e<strong>in</strong> absolutes Tabuthema. DieTabuisierung des Themas trägt dazu bei, dass sich bei <strong>Jugendliche</strong>ne<strong>in</strong>e skurrile E<strong>in</strong>stellung zur Sexualität <strong>und</strong> zu Geschlechterrollen verfestigt.Die Teilnahme an Sport-, Sexual- <strong>und</strong> Schwimmunterricht hatmit der Besonderheit e<strong>in</strong>er bestimmten Kultur oder Religion nichts zutun. Sehr viele (religiöse) muslimische Eltern erlauben ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>ndie Teilnahme an Schwimm-, Sexual- <strong>und</strong> Sportunterricht <strong>und</strong> s<strong>in</strong>dtrotzdem gläubige Muslime. Die meisten <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> wollenauch an diesen Unterrichtsfächern teilnehmen <strong>und</strong> dürfen nicht längerausgeschlossen werden. Des Weiteren muss die Teilnahme an denKlassenfahrten gewährleistet werden, weil gerade hier Dialoge <strong>und</strong>


178Fre<strong>und</strong>schaften zwischen <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n vertieft werden. Esmuss natürlich den Eltern erläutert werden, warum die Teilnahmen andiesen Unterrichtsfächern bzw. an Klassenfahrten von entscheidenderBedeutung s<strong>in</strong>d.• Grenzen der Elternarbeit: So wichtig die Elternarbeit auch ist, letztlichf<strong>in</strong>det die Förderung <strong>in</strong> den Institutionen statt. Ziel ist es also, dass dieEltern der Entwicklung ihrer <strong>K<strong>in</strong>der</strong> nicht im Wege stehen. Allerd<strong>in</strong>gssollten mit e<strong>in</strong>er verbesserten Elternkooperation nicht weiterreichendeZiele verknüpft werden, denn die Familien haben tradierte Verhaltensmuster,die kaum noch verändert werden können. Wie <strong>in</strong> der abschließendenBetrachtung erfolgreicher Muslime wiederholt dargestellt wird,ist die Unterstützung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong>n die zentrale Herausforderung<strong>und</strong> sollte im Zentrum der Bemühungen stehen. Elternarbeitist hierfür gewissermaßen e<strong>in</strong>e Hilfestellung – nicht mehr <strong>und</strong> nichtweniger.Literaturtipps• Aktion Jugendschutz Landesstelle Bayern e.V. (Hrsg.) (2005):Türöffner <strong>und</strong> Stolperste<strong>in</strong>e. Elternarbeit mit türkischen Familienals Beitrag zur Gewaltprävention. München.• Toprak, Ahmet (2004): „Wer se<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d nicht schlägt, hat später dasNachsehen”. Elterliche Gewaltanwendung <strong>in</strong> türkischen Migranten-familien <strong>und</strong> Konsequenzen für die Elternarbeit. Herbolzheim.8. Statt e<strong>in</strong>es Fazits:Erfolgreiche Muslime <strong>in</strong><strong>Deutschland</strong>Was <strong>in</strong> der öffentlichen Diskussion häufig untergeht, istdie Tatsache, dass fast die Hälfte der türkischen <strong>Jugendliche</strong>ne<strong>in</strong>en höheren Bildungsabschluss erreicht als ihreEltern. E<strong>in</strong>ige schaffen sogar den Aufstieg von der Arbeiterfamiliezum Akademiker. Selbst <strong>in</strong> der Wissenschaft wurdendiese Erfolgsgeschichten lange Zeit vernachlässigt. Mittlerweileliegen verschiedene Studien zu bildungserfolgreichenMigranten vor (vgl. u.a. Tepecik 2011; El-Mafaalani 2011a;K<strong>in</strong>g 2009; Raiser 2007; Juhasz/Mey 2003; Pott 2002;Leenen u.a. 1990). 1 Mit unterschiedlichen Schwerpunktenwurden hierbei die Schwierigkeiten <strong>und</strong> Ressourcen vonaufgestiegenen muslimischen jungen Männern <strong>und</strong> Frauenrekonstruiert. Die zentralen Ergebnisse werden <strong>in</strong> der nachfolgendenÜbersicht skizzenartig dargestellt.Die Ressourcen, auf die bildungserfolgreiche jugendlicheMigranten zurückgreifen können, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel nichtmaterieller Natur. Ebenso verfügen die Eltern kaum überBildungsabschlüsse <strong>und</strong> Sprachkenntnisse. Jedoch weistTepecik (2011) darauf h<strong>in</strong>, dass die von ihr befragten Bildungsaufsteigerüber ausgeprägte Bildungsvorstellungen<strong>und</strong> Unterstützungsleistungen <strong>in</strong> ihren Familien verfügen.Die Ressourcen können also als ideelle Unterstützung <strong>und</strong>Förderung verstanden werden.


180 181Raiser (2007) weist darauf h<strong>in</strong>, dass es gr<strong>und</strong>sätzlich zwei verschiedeneTypen von Aufsteigern gibt: Zum e<strong>in</strong>en die Kollektivisten, deren Elternsich e<strong>in</strong>e gute Platzierung der <strong>K<strong>in</strong>der</strong> im Bildungssystem <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong>wünschen, damit die Rückkehr <strong>in</strong> die Heimat – die das zentrale Ziel derEltern ist – mit e<strong>in</strong>em Statusgew<strong>in</strong>n der gesamten Familie e<strong>in</strong>hergeht.Die herkunftsspezifischen Werte (Fleiß, Diszipl<strong>in</strong>, Gehorsam <strong>und</strong> Ehre)spielen e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Da die Eltern kaum praktische Unterstützungsleistungenanbieten können, werden ältere Geschwister zu „Mediatorenzwischen den Ansprüchen der Eltern <strong>und</strong> den Orientierungsversuchender <strong>K<strong>in</strong>der</strong>” (S. 174). Das Ausbalancieren der Erwartungen derEltern (<strong>in</strong>sbesondere Loyalität) <strong>und</strong> der eigenen Individualisierungswünschelässt prekäre Situationen entstehen, wird jedoch bewältigt. Lehreroder Mitschüler treten als Unterstützer kaum <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung. Zum anderenwird der Typ des Individualisten beschrieben. Dieser Typus zeichnetsich durch e<strong>in</strong>e Abgrenzung von der ethnischen Community aus. DieEltern <strong>und</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong> orientieren sich an der deutschen Mittelschicht <strong>und</strong>nicht an jener ihres Herkunftslandes. Dizipl<strong>in</strong> <strong>und</strong> Gehorsam spielen <strong>in</strong>der familiären Erziehung kaum e<strong>in</strong>e Rolle, so dass hier e<strong>in</strong>e deutlich ger<strong>in</strong>gereDiskrepanz zwischen Erwartungen der Schule <strong>und</strong> der Familieentsteht. Dadurch spielen bei diesen Menschen deutsche Mitschüler <strong>und</strong>Lehrer e<strong>in</strong>e weit größere Rolle. Im Falle der Individualisten haben sichalso bereits die Eltern von den Regelwerken der Herkunftsgesellschaft(teilweise) distanziert, so dass es ihren <strong>K<strong>in</strong>der</strong>n deutlich leichter fällt,sich <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> zu platzieren.Die Distanzierung vom Herkunftsmilieu <strong>und</strong> von speziellen Anerkennungsmodi<strong>in</strong> der Herkunftsfamilie spielt <strong>in</strong> allen Untersuchungen mehroder weniger e<strong>in</strong>e Rolle für den Bildungserfolg (vgl. Pott 2002; Leenen1990; El-Mafaalani 2011). Insbesondere die Erwartungen der Familiean das K<strong>in</strong>d, sowohl den Bildungsaufstieg <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> zu schaffen alsauch den familiären <strong>und</strong> kulturellen Traditionen loyal gegenüberzustehen,kann zum Drahtseilakt werden (vgl. K<strong>in</strong>g 2009). H<strong>in</strong>zu kommt, dass beiallen Studien auch bei erfolgreichen Migranten kulturelle Differenzerfahrungennachgewiesen werden können, die allerd<strong>in</strong>gs subjektiv nichtals Diskrim<strong>in</strong>ierung wahrgenommen wurden – was als markanter Unterschiedzwischen erfolgreichen <strong>und</strong> erfolglosen <strong>Jugendliche</strong>n festgehaltenwerden kann. Die Fremdheitserfahrungen wurden vielmehr reflektiertbzw. positiv verarbeitet. Dabei muss festgehalten werden, dass dieseErfahrungen zu großen Teilen durchaus als Diskrim<strong>in</strong>ierung hätten aufgefasstwerden können, d.h. die <strong>K<strong>in</strong>der</strong> bzw. die <strong>Jugendliche</strong>n schaffenes, <strong>in</strong>dividuelle Lösungen zu f<strong>in</strong>den, <strong>und</strong> ziehen sich nicht aufgr<strong>und</strong> derErfahrungen <strong>in</strong> diffusen oder diskrim<strong>in</strong>ierenden Situationen <strong>in</strong> die Herkunftskulturzurück.Es wird also deutlich, dass für den Bildungserfolg Unterstützungsleistungenförderlich wären, die sich nicht auf Sprachkurse oder Nachhilfeunterrichtbeschränken. <strong>Muslimische</strong> <strong>K<strong>in</strong>der</strong> <strong>und</strong> <strong>Jugendliche</strong> müssen für denBildungsaufstieg selbstständig Leistungen vollbr<strong>in</strong>gen, die von <strong>K<strong>in</strong>der</strong>naus privilegierten Milieus zu großen Teilen durch die Eltern <strong>und</strong> das Umfeldbewältigt bzw. unterstützt werden. Insbesondere die Entwicklunge<strong>in</strong>es positiven Selbstwertgefühls, die Stärkung für e<strong>in</strong> aktives Platzierungsverhalten<strong>und</strong> die Unterstützung bei Orientierungskrisen s<strong>in</strong>d zentralepädagogische Herausforderungen. Das eigene Leben eigenverantwortlich<strong>und</strong> selbstständig <strong>in</strong> die Hand zu nehmen, ohne sich eng an dietraditionellen sozialen B<strong>in</strong>dungen zu halten, ist mit großen Schwierigkeitenverb<strong>und</strong>en. Denn Orientierungsprobleme haben alle Migranten.Auch auffällige, aggressive <strong>und</strong> krim<strong>in</strong>elle <strong>Jugendliche</strong> erlebten Widersprüche<strong>und</strong> zweifelten an den herkunftsspezifischen Normen <strong>und</strong> Werte.Jedoch fehlten <strong>in</strong> dieser Phase Unterstützung <strong>und</strong> positive Angebote.Diese s<strong>in</strong>d gerade deshalb so wichtig, weil sich muslimische <strong>Jugendliche</strong>auf subjektiv empf<strong>und</strong>ene Gefahren e<strong>in</strong>lassen müssen: Aus ihrer Perspektivefühlt es sich so an, als würden sie etwas aufs Spiel setzen –nämlich die familiäre Solidarität <strong>und</strong> e<strong>in</strong> ihnen vertrauter <strong>und</strong> vorgelebterLebensstil. Das Wohlfühlen bei Gleichen wird gerade von <strong>Jugendliche</strong>n,die auf e<strong>in</strong>em guten Weg waren <strong>und</strong> dann die Schule abgebrochenhaben, betont (vgl. K<strong>in</strong>g 2009). Dies hatte zur Folge, dass sie sich <strong>in</strong> ihrHerkunftsmilieu zurückgezogen haben.Die großen Herausforderungen für das erfolgreiche Durchlaufen des Bildungssystems<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er anschließenden gesellschaftlichen Etablierungsche<strong>in</strong>en mit vielfältigen Distanzierungsprozessen verb<strong>und</strong>en zu se<strong>in</strong>.Die für alle <strong>Jugendliche</strong>n herausfordernde adoleszenzspezifische Distanzierungvom Elternhaus wird für muslimische <strong>Jugendliche</strong> aus benachteiligtenVerhältnisse um e<strong>in</strong>e schichtspezifische, e<strong>in</strong>e migrationsspezifische<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e geschlechtsspezifische Distanzierung erschwert. Sie müssennicht nur die Abnabelung vom Elternhaus bewerkstelligen, sondern auchdie Emanzipation von Umgangsformen, Denkmuster, Lebensstilen <strong>und</strong>Wertvorstellungen, die ihr Umfeld prägen. Und dies müssen sie schaffen,ohne auf vorgeprägte Laufbahnen zurückgreifen zu können (vgl. Juhasz/Mey 2003). Und dies stellt <strong>in</strong>sbesondere Jungen <strong>und</strong> junge Männer vor


182 183enorme Schwierigkeiten: Sie werden von den Eltern kaum kontrolliert,relativ wenig gefördert <strong>und</strong> gleichzeitig wird von ihnen besonders vielerwartet (vgl. El-Mafaalani 2011). Insbesondere die bei Muslimen weitverbreitete traditionelle Vorstellung von Männlichkeit weist e<strong>in</strong>e großeDiskrepanz zum mehrheitsgesellschaftlichen Geschlechterverhältnis auf.E<strong>in</strong>e zusätzliche Erschwernis bilden die Strukturen des Bildungssystems.Nicht nur e<strong>in</strong> positiver E<strong>in</strong>satz von Schulsozialarbeit, e<strong>in</strong> umfassendesErziehungskonzept <strong>in</strong> der Schule sowie e<strong>in</strong>e professionelle <strong>und</strong> umfangreichefrühk<strong>in</strong>dliche Förderung fehlen – das Schulsystem selbst bildete<strong>in</strong> H<strong>in</strong>dernis: Denn kaum e<strong>in</strong>er der Bildungsaufsteiger hatte nach derGr<strong>und</strong>schule e<strong>in</strong>e Gymnasialempfehlung <strong>und</strong> musste demnach e<strong>in</strong>en„Umweg” gehen. Dabei wird von den Heranwachsenden viel erwartet,u.a. die Verfolgung e<strong>in</strong>es ambitionierten Bildungsziels trotz unendlicherAblenkungen, von denen sich e<strong>in</strong> pubertierender Teenager bee<strong>in</strong>druckenlassen kann.1|2|Was unter e<strong>in</strong>em Bildungserfolg bzw. Bildungsaufstieg zu verstehen ist, unterscheidetsich zum Teil <strong>in</strong> den Studien. Bei manchen genügt der Erwerb derallgeme<strong>in</strong>en Hochschulreife, bei anderen kann die zentrale Bed<strong>in</strong>gung die Aufnahmebzw. der Abschluss e<strong>in</strong>es Studiums oder die berufliche Etablierung nachdem Studium se<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs haben alle genannten Studien geme<strong>in</strong>sam, dasssie Migranten untersucht haben, deren Familien als sozial benachteiligt <strong>und</strong>„bildungsfern” bezeichnet werden können.E<strong>in</strong>e Buchpublikation zu dem Forschungsprojekt „Bildungsaufsteiger ausbenachteiligten Milieus” wird Ende 2011 erfolgen.Hier müssen also systematische Umdenkprozesse eröffnet werden. Nachder Erkenntnis, dass <strong>Deutschland</strong> e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wanderungsland ist, <strong>und</strong> nachder nachvollziehbaren Phase, über die misslungene Integrationspolitik<strong>und</strong> die mangelnde Integrationsbereitschaft vieler Zugewanderten zuklagen, muss nun gehandelt werden. Hierfür haben wir verschiedeneAnstöße gegeben.Literaturtipps• El-Mafaalani, Alad<strong>in</strong> (2011): Vom Arbeiterk<strong>in</strong>d zum Akademiker.Biographische Rekonstruktionen überw<strong>und</strong>ener Ungleichheit. In:Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Transnationale Vergesellschaftung.Verhandlungen des 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft fürSoziologie <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2010. Wiesbaden. 2• Tepecik, Ebru (2011): Bildungserfolge mit Migrationsh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>.Biographien bildungserfolgreicher MigrantInnen türkischer Herkunft.Wiesbaden.


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