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OE 4 2007 van Dijk - Plansprachen.ch

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152 Ziko <strong>van</strong> <strong>Dijk</strong><br />

sondern die Ablehnung einer Offenbarungsreligion wie des Christentums, Judentums<br />

oder des Islam. 32<br />

Zamenhof plädiert für eine weitrei<strong>ch</strong>ende territoriale Entnationalisierung: Es sei unzulässig,<br />

das Interesse eines Landes mit den Interessen einer bestimmten nationalen und<br />

religiösen Gruppe zu identifizieren, etwa mit historis<strong>ch</strong>en Argumenten. 33 Nationen<br />

und Nationalitäten hätten nur Übergangs<strong>ch</strong>arakter, ihr Vers<strong>ch</strong>winden solle sogar gefördert<br />

werden. Zwar gesteht Zamenhof jedem das unbedingte Re<strong>ch</strong>t zu, im Privatleben<br />

eine beliebige Spra<strong>ch</strong>e zu gebrau<strong>ch</strong>en, aber bei Kontakten mit fremden Mens<strong>ch</strong>en<br />

und in öffentli<strong>ch</strong>en Institutionen solle eine mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-neutrale Spra<strong>ch</strong>e verwendet<br />

werden. Neben nationalspra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Bildungseinri<strong>ch</strong>tungen solle es au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e in<br />

der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>-neutralen Spra<strong>ch</strong>e geben. Ein Land, definiert als geographis<strong>ch</strong> oder<br />

kulturell besonderer Teil eines Staates, gehöre allen seinen Einwohnern ohne Rücksi<strong>ch</strong>t<br />

auf Spra<strong>ch</strong>e und Religion. Die Namen für geographis<strong>ch</strong>e Einheiten sollten neutral<br />

sein, Länder und Provinzen seien am besten na<strong>ch</strong> der Hauptstadt zu benennen:<br />

Petersburger Rei<strong>ch</strong> anstelle von Rußland, Wars<strong>ch</strong>auer Land anstelle von Polen. 34<br />

Zamenhofs Mens<strong>ch</strong>heitslehre mag vielen, ni<strong>ch</strong>t nur heutigen Lesern re<strong>ch</strong>t idealistis<strong>ch</strong>,<br />

stellenweise gar kits<strong>ch</strong>ig vorkommen. Grundsätze wie der der Nä<strong>ch</strong>stenliebe sind sehr<br />

allgemein und unbestimmt, und viele Probleme der multikulturellen Gesells<strong>ch</strong>aft<br />

werden ni<strong>ch</strong>t oder nur indirekt angespro<strong>ch</strong>en, zum Beispiel, ob und unter wel<strong>ch</strong>en<br />

Umständen au<strong>ch</strong> Einwanderer zu den glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten Einwohnern eines Landes<br />

zählen sollen. Ferner thematisiert er weder soziale Fragen no<strong>ch</strong> das politis<strong>ch</strong>e System,<br />

obwohl beides vielfa<strong>ch</strong> mit nationalen Fragen verbunden ist. Der überaus vorsi<strong>ch</strong>tige<br />

Zamenhof wollte niemandem vor den Kopf stoßen und vermied strittige Themen. In<br />

seinen Briefen, Reden und S<strong>ch</strong>riften hat er ans<strong>ch</strong>einend kein einziges Mal die Wörter<br />

Sozialismus oder Marxismus verwendet, und bei den orthodoxen Marxisten hätte er<br />

au<strong>ch</strong> kaum Anknüpfungspunkte gefunden, da sie die Klassenfrage über alles stellten<br />

und die nationale Frage ihr unterordneten.<br />

Die Mens<strong>ch</strong>heitslehre stand vor dem Problem, daß die meisten Mens<strong>ch</strong>en entweder in<br />

der Praxis bereits so liberal mit ihrer Religion umgingen, wie Zamenhof es si<strong>ch</strong><br />

wüns<strong>ch</strong>te, oder aber si<strong>ch</strong> so mit ihrer Religion verbunden fühlten, daß sie für die Lehre<br />

ni<strong>ch</strong>t anspre<strong>ch</strong>bar waren. Ni<strong>ch</strong>t einmal unter den Esperantisten fanden si<strong>ch</strong> viele<br />

Anhänger. Zamenhofs französis<strong>ch</strong>er Brieffreund Emile Javal gab dem Hillelismus<br />

keine großen Chancen: Es sei wohl wüns<strong>ch</strong>enswert, daß diese Ideen die Welt eroberten,<br />

aber Frankrei<strong>ch</strong> tauge dafür ni<strong>ch</strong>t. Dort lebten nur blindgläubige Katholiken und<br />

Atheisten. Die sozial höher stehenden Klassen ließen si<strong>ch</strong> den Katholizismus ni<strong>ch</strong>t<br />

dur<strong>ch</strong> einen Juden modifizieren, und über die sozialistis<strong>ch</strong>en Massen solle Zamenhof<br />

si<strong>ch</strong> keine Illusionen ma<strong>ch</strong>en, die wollten mit Gott ni<strong>ch</strong>ts zu tun haben. Allenfalls<br />

könnten einige Protestanten oder Juden für den Hillelismus geworben werden. 35 Gerade<br />

westeuropäis<strong>ch</strong>e Esperantisten für<strong>ch</strong>teten, Zamenhofs Lehre würde der Weltspra<strong>ch</strong>e<br />

Esperanto s<strong>ch</strong>aden, da es dem pragmatis<strong>ch</strong>en Projekt eine idealistis<strong>ch</strong>e, utopistis<strong>ch</strong>e<br />

Wendung gebe.<br />

——————<br />

32 Ebd., S. 7f.<br />

33 Ebd., S. 8.<br />

34 Ebd., S. 3–6.<br />

35 Waringhien, Leteroj [Fn. 3], Bd. 1, S. 209, Brief von Javal an Zamenhof, 15.10.1905.

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