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Max Dauthendey Himalajafinsternis und andere asiatische Novellen

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weiße Katze zu bewegen, sie blinzelte <strong>und</strong> zeigte für eine h<strong>und</strong>ertster<br />

Sek<strong>und</strong>e ihre senkrechten Pupillen.<br />

»Sie hat mich angesehen«, seufzte die Frau <strong>und</strong> klapperte<br />

humpelnd auf ihren Holzschuhen, demütig, mit gesenktem<br />

Kopf, als wäre sie um viele Jahre gealtert, durch die schmale<br />

Vorkammer in den Seitentempel.<br />

Da drinnen war ein langes Gemach, <strong>und</strong> hinter langen Glaswänden<br />

lagen in seidenen Futteralen die Schwerter verstorbener<br />

japanischer Helden <strong>und</strong> Könige, ihre Rüstungen <strong>und</strong> ihre<br />

Helme, aus Lack, Kork <strong>und</strong> Holz geschnitzt <strong>und</strong> mit Bronze<br />

beschlagen. Auch große Bogen <strong>und</strong> Köcher mit Pfeilen standen<br />

da.<br />

Die Frau blieb unwillkürlich vor einem großen schwarzen<br />

Bogen stehen <strong>und</strong> legte ihre warme Stirn an die kühle Glasscheibe<br />

des Glasschrankes. Es war menschenleer hier, nur<br />

vorher hie <strong>und</strong> da waren ihr Pilger begegnet auf den Treppen<br />

<strong>und</strong> den Terrassen der Tempel – Männer <strong>und</strong> Frauen aus allen<br />

Teilen Japans, welche Nikko besuchen.<br />

Wie sie jetzt an der Glasscheibe lehnt, sieht sie in dem spiegelnden<br />

Glas durch dieselbe Tür, durch die sie in die lange<br />

Kammer eingetreten ist, einen Mann kommen, der eine weißhaarige,<br />

gebeugte alte Frau begleitet. Die kleine Alte stützt<br />

sich auf einen Stock <strong>und</strong> auf den Arm des Mannes <strong>und</strong> sagt zu<br />

ihm: »Mein Sohn.«<br />

Die Frau wendete ihren Kopf betroffen von der Glasscheibe<br />

<strong>und</strong> warf nur einen Blick über ihre Schulter. Dann sah sie<br />

rasch wieder in den Glasschrank zurück, als wollte sie ihr<br />

Gesicht im Glas verbergen. Sie hielt den Atem an <strong>und</strong> ließ den<br />

Mann <strong>und</strong> die alte Frau an ihrem Rücken vorübergehen. Die<br />

Götter hatten ihr ihren Wunsch erfüllt! Sie hatte ihren Geliebten<br />

noch einmal gesehen, <strong>und</strong> sie wußte nun auch, daß er eine<br />

Mutter hatte wie <strong>andere</strong> Menschen <strong>und</strong> daß er ein Menschen-

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