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Erfahrungen von Dorfgemeinschaften in Nordost-Indien - Ziviler ...

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Friedens<strong>in</strong>selnGewaltprävention praktisch:<strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong><strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>E<strong>in</strong> Bericht <strong>von</strong> Urvashi Butalia


Gewaltprävention praktisch: <strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>5schenrechtslage ist katastrophal, sexualisierte Gewalt ist ander Tagesordnung.In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war der EED andem „Local Capacities for Peace“-Projekt beteiligt, das zurEntwicklung des „Do No Harm“-Ansatzes führte. Der H<strong>in</strong>tergrunddafür war, dass das grandiose Scheitern der <strong>in</strong>ternationalenBemühungen um Frieden <strong>in</strong> Somalia und der nichtverh<strong>in</strong>derte Völkermord <strong>in</strong> Ruanda Mitte der 1990er Jahregrundsätzliche Fragen nach den Wirkungen und Auswirkungen<strong>von</strong> „gut geme<strong>in</strong>ter“ Hilfe und Entwicklungsarbeitaufgeworfen hatte. Während der Arbeit an diesem Projektwurde unter anderem deutlich, dass es <strong>in</strong> allen Gesellschaftenimmer lokale Friedenspotentiale gibt, auch <strong>in</strong> jenen, <strong>in</strong> denenKonflikte gewaltsam ausgetragen werden. Wenn es aberdarum geht, e<strong>in</strong>en Konflikt zu verstehen, konzentrieren sichfast alle Organisationen und Akteure be<strong>in</strong>ahe ausschließlichauf die Gewaltakteure, deren Interessen und Agenden unddie Faktoren, die zu der gewaltsamen Konfliktaustragunggeführt haben. Damit aber werden wichtige Ansatzpunktefür Friedensarbeit übersehen.Urvashi Butalia, e<strong>in</strong>e seit langem <strong>in</strong> der südasiatischenFriedens- und Genderforschung engagierte Aktivist<strong>in</strong>,Forscher<strong>in</strong> und Publizist<strong>in</strong>, ist darum e<strong>in</strong>mal systematischder Frage nachgegangen, wie es Gruppen und Geme<strong>in</strong>schaftengel<strong>in</strong>gt, sich aus e<strong>in</strong>er Gewalteskalation heraus zuhalten, sich eben nicht am Krieg zu beteiligen. Geme<strong>in</strong>sammit Mitgliedern des EED-Partners „United NGO Mission toManipur (UNMM)“ besuchte sie drei solche Geme<strong>in</strong>schaften<strong>in</strong> Manipur. Sie nannte sie „Friedens<strong>in</strong>seln“. Selbst mitten <strong>in</strong>akut gewaltsamen, bürgerkriegsartigen Situationen hattenes e<strong>in</strong>zelne Gruppen geschafft, <strong>in</strong> ihrer Region, ihrem Dorf,auf ihrem Markt e<strong>in</strong> friedliches Umgehen mite<strong>in</strong>ander überKonfliktgrenzen h<strong>in</strong>weg zu ermöglichen und langfristig zusichern.


6Gewaltprävention praktisch: <strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>E<strong>in</strong>e besondere Rolle bei dieser Erkundungsreise spielteMumai Pheiga, der Leiter der Entwicklungsabteilung derRongmei Naga Baptist Association (RNBA) <strong>in</strong> Manipur.Zusammen besuchten sie die teils sehr entlegenen Dörferund ließen sich <strong>von</strong> den Dorfbewohner<strong>in</strong>nen und -bewohnernerzählen, wie es ihnen gelungen war, ihre Dörfer undGeme<strong>in</strong>schaften aus der Gewalteskalation heraus zu halten.Diese Broschüre erzählt die Geschichte dieser drei Geme<strong>in</strong>schaften,die jede <strong>in</strong> ihrem Kontext und mit eigenen MittelnWege gefunden hat, zu verh<strong>in</strong>dern, dass Gewalt und Kriegihr Dorf verwüsten, Menschenleben rauben und Beziehungenzerstören.k k kDie prekäre Armuts- und Menschenrechtssituation <strong>in</strong>Manipur ist der Grund, warum der EED seit den 1980erJahren Partnerorganisationen <strong>in</strong> ihrer Entwicklungs- undFriedensarbeit unterstützt. Sie engagieren sich <strong>in</strong> <strong>in</strong>tegriertenländlichen Entwicklungsprogrammen, um die Ernährungslage<strong>in</strong> den entlegenen Landesteilen nachhaltig zu sichern. Soführen sie zum Beispiel Methoden für e<strong>in</strong>e nachhaltige, dengeographischen und klimatischen Gegebenheiten angepassteLand- und Wasserwirtschaft e<strong>in</strong>, die zugleich die Traditionender unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen respektieren.Sie unterstützen die Dörfer dabei, alternative erneuerbareEnergien zu erschließen, sie helfen, E<strong>in</strong>kommen schaffendeMaßnahmen zu entwickeln, sie klären über Frauenrechte auf,organisieren handwerkliche Ausbildung und e<strong>in</strong>e grundlegendeGesundheitsversorgung. Viele der Partner des EEDarbeiten auch <strong>in</strong> dieser Bürgerkriegssituation mit speziellenRand- und Risikogruppen wie Jugendlichen und Drogenabhängigen.In den vergangenen Jahren legen die Partner verstärktWert darauf, die Fähigkeit der Dorfbevölkerung, sich selbst


Gewaltprävention praktisch: <strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>7zu organisieren, zu stärken. Der EED begleitet sie dabei mitQualifizierungsmaßnahmen auch im Bereich der Transformationgewaltsam ausgetragener Konflikte. Dah<strong>in</strong>ter stehtdie Überzeugung, dass nicht der Konflikt das Problem ist,sondern die Art und Weise, wie Menschen und Gruppendamit umgehen. Dort, wo es zu Gewaltanwendung gekommenist, geht es daher darum, den Konflikt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e gewaltlose,konstruktive Form der Austragung zu transformieren.Multi-ethnische Friedensarbeit wurde so zu e<strong>in</strong>em zentralengeme<strong>in</strong>samen Anliegen der Partner.Dies führte vor etwa zehn Jahren dazu, dass die Partnere<strong>in</strong> nationales Netzwerk <strong>von</strong> Nichtregierungsorganisationen,die „United NGO Mission to Manipur“ (UNMM) aufbauten.Dies war e<strong>in</strong> schwieriger Prozess, denn er verlangte auch<strong>von</strong> den Nichtregierungsorganisationen, Vertrauen zue<strong>in</strong>anderzu entwickeln, denn ethnische Vorurteile und über dieJahrzehnte gewachsene Animositäten mussten überwundenwerden. Die ethnische Identitätspolitik hatte nicht nur dieGesellschaft sondern mit ihr auch die zivilgesellschaftlichenOrganisationen tief gespalten. Heute hat das Netzwerk etwa200 reguläre und assoziierte Mitgliedsorganisationen <strong>in</strong> allenDistrikten Manipurs, darunter über 50 Frauenorganisationen.Damit spiegeln das Netzwerk und die durch das Netzwerkunterstützten zahlreichen lokalen Basisorganisationendie gesamte Breite der ethnischen und religiösen Vielfalt desLandes wider.Seit 1997 hat sich das Partnernetzwerk <strong>in</strong>tensiv mit derFrage ause<strong>in</strong>andergesetzt, wie sich die Entwicklungsmaßnahmender e<strong>in</strong>zelnen Organisationen auf die Dynamikder Konflikte und der Gewalt <strong>in</strong> Manipur konkret auswirken.Um diese Auswirkungen beobachten und bewerten zukönnen, nutzen sie den „Local Capacities for Peace / Do NoHarm“ -Ansatz. Dieser Ansatz ermöglicht es ihnen, <strong>in</strong> ihrerEntwicklungsarbeit die Elemente zu stärken und die Men-


Gewaltprävention praktisch: <strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>9Die hier dargestellten <strong>Erfahrungen</strong> aus Manipur zeigen dieUnterschiedlichkeit der Situationen, der Handlungsweisenund der Akteure auf. Sie zeigen, dass es möglich ist, e<strong>in</strong>erGewalteskalation zu widerstehen und – wenn auch geographischbegrenzt – e<strong>in</strong>en Friedensraum zu erhalten. Auchwenn es noch zu früh ist, abschließende Schlussfolgerungenzu ziehen, bieten die <strong>Erfahrungen</strong> aus Manipur <strong>in</strong>teressantesMaterial für die weitere Diskussion. Sie zeigen die Fähigkeitder lokalen Akteure, ihre jeweilige Situation, die Risiken aberauch ihre Chance e<strong>in</strong>zuschätzen und aus e<strong>in</strong>er großen Zahl<strong>von</strong> Optionen wirksame Handlungsstrategien zu entwickeln.In den hier dargestellten Beispielen haben unterschiedlicheFaktoren friedenserhaltend gewirkt. Die Autorität der traditionellenStrukturen der Ältestenräte wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Falldas bedeutende Element, um e<strong>in</strong>en bewaffneten Konflikt zuverh<strong>in</strong>dern.Ebenso wie Krieg ist Frieden e<strong>in</strong>e Folge rationaler Überlegungenund Handlungen. Beispielsweise kam die Bevölkerung<strong>in</strong> dem Dorf Kaimai zu der E<strong>in</strong>schätzung, dass dieIdentifikation mit e<strong>in</strong>er Seite im Konflikt langfristig nichtunbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Verbesserung der eigenen Lage mit sich br<strong>in</strong>genmuss. Auch <strong>in</strong> anderen Situationen wird deutlich, dassdie Motivation, sich aus der Gewalt herauszuhalten auch ausdem Streben nach Erhaltung se<strong>in</strong>es Lebensstandards kommenkann.In der Studie wird auch die Schlüsselrolle <strong>von</strong> Frauen fürden Erhalt <strong>von</strong> Frieden deutlich. Frauen <strong>in</strong> Manipur schätzenihre bestehenden Netzwerke über ethnische Grenzen h<strong>in</strong>wegund haben großes Interesse daran, sie zu erhalten. Aufgrundihrer Rolle als Versorger<strong>in</strong>nen der Familien sehen sie dienegativen Konsequenzen e<strong>in</strong>es bewaffneten Konflikts besondersdeutlich. Sie nutzen ihre Rolle als Mütter, um auf dieGewaltakteure e<strong>in</strong>zuwirken und Freiräume auszuhandeln.


10Gewaltprävention praktisch: <strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>Diese <strong>Erfahrungen</strong> machen Mut, denn sie zeigen, dass undwie lokale Akteure mit ihren wenigen Mitteln kreativ Gewaltverh<strong>in</strong>dern können. Für dieses Potential will diese Broschürewerben.Wir wollen zeigen, dass Frieden <strong>von</strong> unten aufgebaut werdenkann und <strong>von</strong> <strong>in</strong>nen wächst. Der EED beteiligt sich mit denPartnern <strong>in</strong> Manipur an dem <strong>in</strong>ternationalen STEPS-Projekt<strong>in</strong> der Hoffnung, dass auch deutlicher wird, wie Organisationen<strong>von</strong> außen solche lokal verwurzelten Prozesse <strong>in</strong> angemessenerWeise unterstützen können, ohne dass dadurch dielokale Verwurzelung beschädigt wird.Die <strong>Erfahrungen</strong> aus Manipur wurden als Teil des „StepsTowards Conflict Prevention“-Projekts (STEPS) <strong>von</strong> Mary B.Anderson und Collaborative for Development Action (CDA)gesammelt. In diesem <strong>in</strong>ternationalen Kooperationsprojektwurden <strong>in</strong>sgesamt Beispiele aus 14 Ländern Asiens, Afrikas,Late<strong>in</strong>amerikas und Südosteuropas <strong>in</strong> Fallstudien dokumentiert.CDA führte außerdem zwei <strong>in</strong>ternationale Konsultationendurch (zuletzt im März 2007), auf denen die Autoren undAutor<strong>in</strong>nen der Fallstudien und Vertreter/<strong>in</strong>nen der <strong>in</strong> denBeispielen beschriebenen Geme<strong>in</strong>schaften über Geme<strong>in</strong>samkeitenund Unterschiede der Vorgehensweisen und <strong>Erfahrungen</strong>berieten. Die Leitfrage des STEPS-Projektes ist dabei:Wenn es so viel praktische Erfahrung über die Verh<strong>in</strong>derung<strong>von</strong> Gewalteskalation <strong>in</strong> allen Teilen der Welt gibt, kann mandann daraus etwas für Präventionsstrategien lernen, wennman sie systematisch und vergleichend betrachtet? (MehrInformationen s<strong>in</strong>d unter www.cda<strong>in</strong>c.com zu f<strong>in</strong>den. E<strong>in</strong>eAuswertung der 14 Fallstudien aus Late<strong>in</strong>amerika, Europa,Afrika und Asien ist <strong>in</strong> Arbeit.)Wir danken der „United NGO Mission to Manipur“(UNMM) und <strong>in</strong>sbesondere Mumai Pheiga und se<strong>in</strong>enKolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen <strong>in</strong> Manipur, die es Urvashi Butalia


Gewaltprävention praktisch: <strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>11ermöglicht haben, die Dörfer zu besuchen und mit den Menschendort über ihre <strong>Erfahrungen</strong> zu sprechen. Wir dankenauch den Gesprächspartner<strong>in</strong>nen und Partnern, dass siebereit waren, ihre Geschichte zu erzählen.Unser besonderer Dank gilt Urvashi Butalia für ihren Mut,trotz der schwierigen und oft unübersichtlichen und nichtberechenbaren Konfliktsituation <strong>in</strong> Manipur die Reise <strong>in</strong> dieabgelegenen Gegenden zu unternehmen.Wolfgang He<strong>in</strong>rich, Edda Kirleis


12Wie entsteht Frieden?Vorwort <strong>von</strong> Urvashi Butalia1992 kam es im nordost<strong>in</strong>dischen Bundesstaat Manipur zugewalttätigen Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen zwei ethnischenM<strong>in</strong>derheiten, den Nagas und den Kukis. Der Konfliktkostete Hunderte Menschen das Leben; Unzählige wurdenverletzt, vertrieben und um ihre Zukunftsperspektive gebracht.Man geht <strong>von</strong> mehr als 1000 Toten und 130.000Flüchtl<strong>in</strong>gen aus. Mit dem Naga-Kuki-Konflikt zerbrache<strong>in</strong>e lange Tradition des friedlichen Mite<strong>in</strong>anders: Ethnischgemischte Dörfer, die e<strong>in</strong>st zum Alltag <strong>in</strong> Manipur gehörten,gibt es heute so gut wie nicht mehr.H<strong>in</strong>tergrund für den Konflikt waren jahrzehntelange Unabhängigkeitskämpfeder Nagas gegen den <strong>in</strong>dischen Staat.Aufgrund <strong>von</strong> Machtkämpfen zerfielen die Untergrundbewegungen<strong>in</strong> zahlreiche Rebellengruppen, die sich wiederumgegenseitig bekämpften und territoriale Konflikte, Streitigkeitenum Landbesitz, kulturelle Differenzen, ja sogar persönlicheFe<strong>in</strong>dschaften austrugen.Inmitten dieser unsicheren, <strong>von</strong> Fe<strong>in</strong>dschaft und Gewaltgeprägten Zeit gelang es e<strong>in</strong>igen Dörfern Manipurs, zum<strong>in</strong>deste<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum an Harmonie und Frieden zu bewahren.Wie vermochten es diese „Oasen des Friedens“, sich aus denAuse<strong>in</strong>andersetzungen herauszuhalten und Gewalt <strong>von</strong> sichabzuwenden? Was kann man <strong>von</strong> diesen „Friedens<strong>in</strong>seln“lernen? Wie kommt es, dass manche Menschen sich für denfriedlichen Weg entscheiden und andere für Gewalt? Welcheexistierenden Strukturen, welche Institutionen können e<strong>in</strong>efriedensstiftende Rolle übernehmen? Die vorliegende Studiegeht diesen Fragen nach, <strong>in</strong>dem sie sowohl die allgeme<strong>in</strong>enKonflikte <strong>in</strong> Manipur als auch die Ereignisse <strong>von</strong> 1992 analy-


Wie entsteht Frieden?13siert und Nagas, Kukis und andere Menschen, die diese Zeitdurchlebt haben, zu Wort kommen lässt.Die Fallstudie gehört zu e<strong>in</strong>er Reihe ähnlicher Studien, die<strong>von</strong> der CDA und dem EED <strong>in</strong> Auftrag gegeben wurden undweltweit „Oasen des Friedens“ untersuchen. Struktur undRahmen der Studie folgen dem Leitfaden der CDA und desEED. Sichtweise und Schlussfolgerungen spiegeln allerd<strong>in</strong>gsausschließlich die Me<strong>in</strong>ung der Verfasser<strong>in</strong> wider. Auch geheneventuelle Ungenauigkeiten oder Fehler auf die Verfasser<strong>in</strong>zurück.


14Der Kontext des Naga-Kuki-Konflikts<strong>in</strong> ManipurManipur liegt im Süden <strong>von</strong> <strong>Nordost</strong><strong>in</strong>dien und grenzt andrei weitere <strong>in</strong>dische Bundesstaaten (Nagaland, Assam undMizoram) sowie an Myanmar (auch Burma). Der auch als„Elefantenohr“ <strong>Indien</strong>s bezeichnete <strong>Nordost</strong>en hebt sich geographisch,politisch und ethnisch <strong>von</strong> den anderen Landesteilen<strong>Indien</strong>s ab. Er liegt weiter entfernt <strong>von</strong> Delhi als <strong>von</strong>Rangoon oder Hanoi, ist vom <strong>in</strong>dischen Subkont<strong>in</strong>ent durchBangladesh getrennt und nur durch e<strong>in</strong>en schmalen Landstrichzu erreichen. Der Bundesstaat ist die Wiege zahlreicherUnabhängigkeitsbewegungen gegen den <strong>in</strong>dischen Staat undist <strong>in</strong> den letzten Jahren als Umschlagplatz für Hero<strong>in</strong> ausdem „goldenen Dreieck“ (der Grenzregion zwischen Myanmar,Laos und Thailand) <strong>in</strong> die Schlagzeilen geraten.Manipurs Gesamtfläche beläuft sich auf 22.000 km², wo<strong>von</strong>e<strong>in</strong> Großteil aus Bergland und Hügeln besteht. Die HauptstadtImphal liegt <strong>in</strong> dem nach ihr benannten Imphaltal, dasnur 10% der Gesamtfläche des Landes ausmacht, <strong>in</strong> dem abere<strong>in</strong> Drittel der Gesamtbevölkerung – immerh<strong>in</strong> rund 1,2Millionen Menschen – lebt. Die übrige Bevölkerung verteiltsich auf die umliegenden Berge.Die zahlenmäßig wichtigste Bevölkerungsgruppe im Talund <strong>in</strong> ganz Manipur stellen die Meiteis, die als H<strong>in</strong>dus denGott Vishnu anbeten und somit auch Vaishnaviten genanntwerden. Die Bergbevölkerung h<strong>in</strong>gegen besteht <strong>in</strong> ersterL<strong>in</strong>ie aus Nagas, die wiederum <strong>in</strong> zahlreiche Stämme mitunterschiedlichen Dialekten und unterschiedlichen Traditionenunterteilt s<strong>in</strong>d. Ursprünglich Anhänger animistischerReligionen, kamen die Nagas <strong>in</strong> der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts unter den E<strong>in</strong>fluss des Christentums. Man


Der Kontext des Naga-Kuki-Konflikts <strong>in</strong> Manipur15geht da<strong>von</strong> aus, dass heute 90% der Nagas Christen s<strong>in</strong>d,wenngleich auch unter Christen noch animistische Praktikenverbreitet se<strong>in</strong> mögen. In vielen Naga-Regionen lebenauch Kukis, die <strong>von</strong> den Nagas Land gepachtet haben. H<strong>in</strong>zukommt e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Anzahl Muslime, die <strong>in</strong> Manipur Pangalsgenannt werden.Die multi-ethnische Bevölkerung verleiht Manipur se<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>zigartigen Charakter, ist aber auch die Ursache für zahlreicheSpannungen. Jahrzehntelange Traditionen des Teilens,des Mite<strong>in</strong>anderlebens und sogar <strong>in</strong>terkultureller Ehen musstenimmer wieder Fe<strong>in</strong>dschaften und Polarisierungen entlangethnischer und religiöser Identitäten weichen. Die Gefühleund Forderungen der e<strong>in</strong>zelnen Bevölkerungsgruppen ergebene<strong>in</strong>e teilweise explosive Mischung, <strong>in</strong> der die existierendeSolidarität oftmals <strong>von</strong> Fe<strong>in</strong>dschaft und erbitterten Kämpfenüberschattet wird.Unabhängigkeit und KolonisierungManipur war Jahrhunderte lang e<strong>in</strong>e Monarchie, die <strong>von</strong> derHerrschaftszeit Nongda Lairen Pakhangbas an (33 bis 153nach Christus) bis 1955 <strong>von</strong> Meitei-Königen regiert wurde.1826 kam Manipur unter britisches Protektorat, nachdem dieBriten im ersten britisch-birmanischen Krieg die birmanischeArmee besiegt und den birmanischen König Bodawpayadaran geh<strong>in</strong>dert hatten, Manipur zu erobern. Bodawpayamusste im Februar 1926 den Vertrag <strong>von</strong> Yandaboo unterzeichnen,mit dem sich die Briten neben dem Meitei-Königreich e<strong>in</strong>e ganze Reihe weiterer Gebiete wie Arakanund Tenasserim und das Königreich Ahom sicherten. VierJahre später gaben die Briten e<strong>in</strong>ige dieser Gebiete an Birmazurück und e<strong>in</strong>igten sich über die Grenzziehung. Dabei wurdendie Nagagebiete zwischen Birma und Manipur aufgeteilt.Besonders drastisch zeigt sich diese Aufteilung am Kabawtal,durch das man <strong>von</strong> Myanmar über die <strong>in</strong>dische Grenzstadt


16Der Kontext des Naga-Kuki-Konflikts <strong>in</strong> ManipurMoreh nach Manipur gelangt. Anderthalb Jahrhunderte späterwurde diese willkürliche koloniale Grenzziehung e<strong>in</strong>e derUrsachen für die ethnischen Konflikte der Region.Während des Zweiten Weltkrieges war Manipur Schauplatzerbitterter Kämpfe zwischen Japanern und Alliierten. DieJapaner marschierten <strong>in</strong> Manipur e<strong>in</strong>, wurden aber <strong>von</strong> denAlliierten zurückgedrängt, bevor sie Imphal erreicht hatten.Dies gilt heute als Wendepunkt des Krieges. 1947 wurdeManipur zunächst wieder e<strong>in</strong> unabhängiges Königreich. 1949trat es der <strong>in</strong>dischen Union bei, blieb lange Zeit jedoch „C“-Staat, e<strong>in</strong> Gebiet, das nicht die gleichen Rechte wie die regulärenBundesstaaten hatte, sondern direkt <strong>von</strong> der Bundesregierung<strong>in</strong> Delhi verwaltet wurde. Erst 1972 erhielt Manipurden Status e<strong>in</strong>es gleichberechtigten <strong>in</strong>dischen Bundesstaates.Die politischen Vertreter der Nagas waren nicht e<strong>in</strong>verstandenmit dem Beitritt Manipurs zur <strong>in</strong>dischen Union. Bereits1946, e<strong>in</strong> Jahr vor der <strong>in</strong>dischen Unabhängigkeit, hattenführende Köpfe der Nagas sich als „Naga National Council“(NNC), als Nationaler Rat der Nagas <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben anden späteren <strong>in</strong>dischen Premierm<strong>in</strong>ister Jawaharlal Nehrugewandt und ihm ihr Verlangen nach Selbstbestimmung undAnerkennung ihrer Grundrechte unterbreitet. Sie hoben dieUnterschiedlichkeit der Nagas vom Rest der <strong>in</strong>dischen Bevölkerunghervor und betonten ihren Wunsch nach e<strong>in</strong>er Entwicklung„entsprechend ihren Fähigkeiten und Vorlieben“.Die Forderungen der Nagas nach Selbstbestimmung entsprachenden Vorstellungen <strong>in</strong>discher Menschenrechts- undUnabhängigkeitskämpfer wie Mahatma Gandhi, und am 14.August 1947, e<strong>in</strong>en Tag vor der <strong>in</strong>dischen Unabhängigkeit,erklärten auch die Nagas ihre Unabhängigkeit und sandtenTelegramme an die <strong>in</strong>dische Regierung, die Vere<strong>in</strong>ten Nationenund zahlreiche Botschaften. Die Nagas <strong>von</strong> Manipurhatten sich <strong>von</strong> Anfang an dem Kampf um e<strong>in</strong> unabhängiges


Der Kontext des Naga-Kuki-Konflikts <strong>in</strong> Manipur17„Nagalim“ (Greater Nagaland) angeschlossen und verstandensich immer als Teil der Naga-Unabhängigkeitsbewegung.Dies sollte bald zu Spannungen zwischen den ansonstenfriedlichen Nagas und Meiteis führen.Ende der Achtziger und <strong>in</strong> den frühen Neunzigern gründetensich erste Kuki-Rebellen-Gruppen, wie die „Kuki NationalFront“ (KNF), die „Kuki Independent Army“ (KIA),und die „Kuki Defence Force“ (KDF) und andere. Wie schondie Nagas machten nun auch die Kukis ihre Identität zumZentrum ihrer Forderung nach e<strong>in</strong>em eigenen „Homeland“– Kukil, Kukigam oder Kukiland genannt –, e<strong>in</strong>e Forderung,die sie sowohl an den <strong>in</strong>dischen Staat als auch an ihre Naga-Landsleute richteten, deren Rebellengruppen sich <strong>in</strong> zahlreichenLandstrichen <strong>in</strong>zwischen selbst zu „Wächtern“ ernannthatten. Nicht nur fürchteten die Kukis, als M<strong>in</strong>derheit gesellschaftlichnoch mehr an den Rand gedrängt zu werden, wenndie Nagas mit ihren Forderungen nach e<strong>in</strong>em unabhängigenNagalim Erfolg hätten, sie wollten auch e<strong>in</strong>e Beteiligung ander ökonomischen und sozialen Macht der Nagas, die diese<strong>in</strong> ihren Augen besaßen. Der über lange Zeit angestaute Unmut,zu den Unterprivilegierten der Gesellschaft zu gehören,machte sich Luft und verschärfte die Spannungen noch.Angesichts der gewachsenen Zahl <strong>von</strong> Akteuren imKampfgeschehen änderten sich auch die Spielregeln. DieFraktionen der Nagabewegung „National Socialist Councilof Nagaland“ (NSCN) – NSCN-IM und NSCN-K – zum Beispielgriffen nach alter Stammestradition ke<strong>in</strong>e Frauen undK<strong>in</strong>der an, doch das galt nicht unbed<strong>in</strong>gt für die neu h<strong>in</strong>zugekommenenGruppen.


Ethnische Konflikte21zwischen Myanmar und Manipur und – vermutlich mit Hilfe<strong>von</strong> Meitei-Königen und der Briten – <strong>in</strong> Naga-Dörfern desLandes<strong>in</strong>nern nieder. Im Laufe der Zeit pachteten sie Land<strong>von</strong> den Nagas und begannen, es zu bewirtschaften. Zu jenerZeit gab es noch reichlich Land und so waren die landlosenKukis ke<strong>in</strong>e Bedrohung für die Nagas, zumal ihr Status alsLandlose sie zu e<strong>in</strong>er Art Untertanen machte. Sie bekamenmeist unbewohntes Land zugewiesen, das die Nagas jedochals ihr Eigentum verstanden. Angeblich f<strong>in</strong>gen die Probleme<strong>in</strong> dem Moment an, als die Kukis das <strong>von</strong> ihnen bewirtschafteteLand zu ihrem Eigentum erklärten. Damit brachen siemit der Tradition, nach der Kukis sich auf e<strong>in</strong>em <strong>von</strong> Nagaszugewiesenen Stück Land niederließen, es bewirtschaftetenund es den Nagas zurück gaben, wenn sie weiter zogen. Dasführte natürlich zu Differenzen zwischen beiden Stämmen.H<strong>in</strong>zu kommt, dass die jeweiligen Meitei-Könige sich nichtgescheut haben, die Spannungen zu ihren Gunsten auszunutzen.Und nicht zuletzt haben die im Laufe der Zeit angehäuftengegenseitigen Vorurteile das Ihre zur Verschärfung desKonflikts beigetragen.


22Der Naga-Kuki-KonfliktAnfang der 90ger Jahre, kurz vor dem Ausbruch des Naga-Kuki-Konflikts, sah sich Manipur also mit e<strong>in</strong>er wachsendenZahl an Rebellengruppen konfrontiert.Längst g<strong>in</strong>g es nicht mehr ausschließlich um den Kampfder Meiteis oder der Nagas um ihre Unabhängigkeit gegenden zum geme<strong>in</strong>samen Fe<strong>in</strong>d erklärten <strong>in</strong>dischen Staat. Stattdessengab es e<strong>in</strong>e Vielzahl <strong>von</strong> Rebellengruppen, die sichauch untere<strong>in</strong>ander bekämpften. Wenn Konflikte über Jahreandauern, werden die Motive der beteiligten Parteien <strong>in</strong> derRegel immer vielschichtiger. So auch <strong>in</strong> diesem Fall: DieKämpfe blieben nicht lange ideologisch, und die ursprünglichenForderungen vermischten sich mit machtpolitischenund wirtschaftlichen Interessen. Splittergruppen aller Parteienverstanden es, den Konflikt <strong>in</strong> ihrem Interesse zu nutzen.Sie erpresstenzum BeispielSchutzsteuern <strong>von</strong>Menschen oderOrganisationen<strong>in</strong> den umkämpftenGebieten. DieMachtkämpfe<strong>in</strong>nerhalb derRebellenbewegungenbedeutetenfür den Alltagder Menschen <strong>in</strong>der Region e<strong>in</strong>eextreme Spannungund Ungewissheit.Dennoch s<strong>in</strong>ddie gewalttätigen


Ethnische Konflikte23Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen Nagas und Kukis Anfangder neunziger Jahre, die bis heute die Beziehungen zwischenbeiden Bevölkerungsgruppen prägen, <strong>in</strong> der Weltöffentlichkeitweniger wahrgenommen worden als der Unabhängigkeitskampfder Nagas oder der Meiteis. Inzwischen ist derNSCN-IM <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Dialog mit der <strong>in</strong>dischen Regierunggetreten und hat sich auf e<strong>in</strong>en Waffenstillstand e<strong>in</strong>gelassen.Dies hat den Naga-Kuki-Konflikt noch weiter aus der öffentlichenWahrnehmung verdrängt. Es ist nicht ungewöhnlich,dass kle<strong>in</strong>ere Akteure mit ihren Forderungen angesichts derMedienpräsenz der größeren Kriegsparteien an den Rand gedrängtoder zum Schweigen gebracht werden. Wie wir spätersehen werden, wurden auch im Nebenkonflikt <strong>von</strong> 1992, <strong>in</strong>dem es vor allem um Nagas und Kukis g<strong>in</strong>g, kle<strong>in</strong>ere Gruppen<strong>in</strong> die Kämpfe h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen. Dennoch ist über deren<strong>Erfahrungen</strong> kaum etwas bekannt. Wenn wir jedoch verstehenwollen, wie Frieden aufrecht erhalten werden kann, istes wichtig, auch den weniger offensichtlichen Geschichtennachzuspüren und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken.Angesichts der Verquickung <strong>von</strong> Ideologie, wirtschaftlichenund machtpolitischen Interessen fällt es schwer, denAuslöser für den Naga-Kuki-Konflikt genau festzulegen.Geht man da<strong>von</strong> aus, dass die Kukis <strong>von</strong> Manipur schon immer<strong>von</strong> den Nagas abhängig waren, weil sie <strong>von</strong> ihnen Landpachten mussten, so könnte man sagen, dass die Voraussetzungenfür den Ausbruch des Konflikts schon lange gegebenwaren. Dennoch wird im Allgeme<strong>in</strong>en der Kampf um Morehals Auslöser für die Ause<strong>in</strong>andersetzungen Anfang der neunzigerJahre genannt.Der Kampf um MorehDie Stadt Moreh liegt an der Grenze zu Myanmar, <strong>in</strong> jenemGebiet, das e<strong>in</strong>st Nagaland war und <strong>von</strong> den Briten zwischenManipur und Myanmar aufgeteilt wurde. Die Stadt ist <strong>in</strong>ter-


24Der Naga-Kuki-Konfliktnationaler Umschlagplatz für Drogen, Handfeuerwaffen undallerlei ch<strong>in</strong>esische Waren, die <strong>von</strong> hier aus auf den <strong>in</strong>dischenMarkt, aber auch auf den Weltmarkt gelangen. Als Grenzstadtist Moreh außerdem für die zahlreichen Rebellengruppendes <strong>Nordost</strong>ens <strong>von</strong> strategischer Bedeutung, denn vieleihrer Stützpunkte und Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gslager liegen jenseits derGrenze <strong>in</strong> Myanmar. Zwar ist die Grenze schwer kontrollierbarund deshalb generell durchlässig, dennoch gelangte<strong>in</strong> Großteil der Schmuggelware über Moreh nach Manipur.E<strong>in</strong>er statistischen Erhebung zufolge wurden <strong>in</strong> den frühenneunziger Jahren täglich Waren im Wert <strong>von</strong> 500 bis 600Millionen <strong>in</strong>discher Rupien (das entsprach damals <strong>in</strong> etwa 13Mio. Euro) durch Moreh geschleust. Vermutlich muss manheute <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er weit höheren Summe ausgehen.In Moreh leben sowohl Kukis als auch unterschiedliche Naga-Stämme.Es war somit schon immer Streitpunkt zwischenbeiden Gruppen. Für die Nagas gehört Moreh zu ihremtraditionellen Stammesgebiet. Dabei besteht nur der ger<strong>in</strong>gereTeil der Bevölkerung aus Nagas, die Kukis s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> derMehrheit. Weitere <strong>in</strong> Moreh lebende Bevölkerungsgruppens<strong>in</strong>d aus Myanmar vertriebene Tamilen (die mit Edelste<strong>in</strong>enund Handfeuerwaffen handeln und denen enge Verb<strong>in</strong>dungenzu den Liberation Tigers <strong>von</strong> Tamil Eelam <strong>in</strong> Sri Lankanachgesagt werden), ebenso wie Marwaris und Punjabis ausdem Westen <strong>Indien</strong>s, die <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie des Handels wegen <strong>in</strong>die Stadt gekommen s<strong>in</strong>d.Die Stadt Moreh und die Landstraße, die ManipursHauptstadt Imphal mit Myanmar verb<strong>in</strong>det und durchMoreh führt, wurden zum zentralen Schauplatz der Kämpfezwischen Nagas und Kukis. Ursprünglich war Moreh vomNSCN-IM kontrolliert gewesen und stellte für diesen e<strong>in</strong>elukrative E<strong>in</strong>nahmequelle für Abgaben dar, die Geschäftenund Privatleuten abgepresst und für Untergrundaktivitäten


Der Naga-Kuki-Konflikt25genutzt wurden. Was die Nagas „Steuern“ nannten, bezeichnetendie Kukis als Erpressung und Selbstbereicherung, undso widersetzten sie sich den Versuchen der Nagas, Steuerne<strong>in</strong>zutreiben, und erhoben ihre eigenen Steuern. Dabei kames mehr als e<strong>in</strong>mal zu Gewalttätigkeiten. Das offenbar gezielt<strong>in</strong> Umlauf gesetzte Gerücht, die Nagas wollten die Kukis ausder Stadt vertreiben,heizte denUnmut gegen dieNagas weiter an.Die Gewalt eskalierteund gerietaußer Kontrolle.Von Moreh ausgriff sie auf ganzManipur über.Beide Stämmebekämpften sichaufs Heftigste.Die Kämpfenahmen teilweisedie AusmaßeethnischerSäuberungenan und wurdenmit ungeheurerGrausamkeitgeführt. Vermutlichhaben die<strong>in</strong>dischen Sicherheitskräfte und die regierende Partei Manipursdie Ressentiments und die Gewalt nach dem Motto„teile und herrsche“ noch angefacht. E<strong>in</strong>ige Naga-Aktivistenbehaupten, die <strong>in</strong>dische Armee habe die Kukis unterstützt,da diese traditionell <strong>in</strong> der <strong>in</strong>dischen Armee dienen undlange Zeit enge Verb<strong>in</strong>dungen zu dieser aufrecht erhielten.


26Ethnische KonflikteBeide Parteien beharren darauf, nichts mit Drogengeld undWaffenschmuggel zu tun zu haben, doch ist es offensichtlich,dass das Interesse an Moreh mit ihrer Bedeutung als Transitroutefür Drogen- und Waffenschmuggel zusammenhängt.Es gibt zahlreiche, sich widersprechende Geschichten undgegenseitige Schuldzuweisung. Zum Beispiel sollen laut Naga-Berichtendie Kukis im Mai 1992 den Nagas <strong>von</strong> Morehe<strong>in</strong>en Räumungsbefehl überbracht haben. Kukis wiederumbehaupten etwas ganz anderes: Am 12. Mai 1992 seien zweiKukis, Holkhojang Haokip und Lhunkhothang Tong Kholun,<strong>von</strong> Rebellen des NSCN-IM im Distrikt Chandel <strong>in</strong> der Nähe<strong>von</strong> Moreh getötet worden. Wenige Tage später wurde auchder Lehrer und Sozialarbeiter Onklet Haokip umgebracht.Für die Kukis ist der Sachverhalt klar:Sie wurden alle mitten im Kukiland umgebracht, wo dieNSCN-IM die Dreistigkeit besitzt, Steuern zu erheben. Wirhaben festgestellt, dass Mitglieder der Geme<strong>in</strong>de der Tangkhul-Naga<strong>in</strong> Moreh heimlich dem NSCN-IM zuarbeiten.Sie haben Informationen weitergegeben, NSCN-IM-Kadermit Munition versorgt und als „Steuere<strong>in</strong>treiber“ gearbeitet.Die Kukis haben nichts gegen die Tangkhul, aber solch e<strong>in</strong>Verhalten war nicht tolerierbar.Später ließen die Nagas das Kuki-Dorf Zoupi räumen.Beide Seiten behaupten, die jeweiligen Dorfbewohner nichtgewaltsam vertrieben zu haben. Doch die Realität ist e<strong>in</strong>eandere. Beiden Bevölkerungsgruppen wurde Gewalt angetan,und solche Räumungsbefehle haben die Situation sicherlichnoch aufgeheizt.Auch wenn seither mehr als e<strong>in</strong> Jahrzehnt vergangen istund man zum aktuellen Zeitpunkt – zum<strong>in</strong>dest was diesezwei Gruppen angeht – quasi <strong>von</strong> Frieden sprechen könnte,


Ethnische Konflikte27ist die Er<strong>in</strong>nerung an die Gewalt noch präsent, und die Veränderungenim Leben der Menschen, die dieser Konflikt mitsich brachte, werden vermutlich andauern. Zahlreiche Dörfer,die zuvor multi-ethnisch waren und <strong>in</strong> denen sogar – wennauch nicht oft – <strong>in</strong>terkulturelle Hochzeiten stattgefundenhatten, s<strong>in</strong>d heute re<strong>in</strong>e Naga- oder Kukidörfer. D ort, woweiterh<strong>in</strong> beide Ethnien zusammenleben, existiert e<strong>in</strong>e unsichtbareGrenze im Dorf, die aufs Genauste respektiert wird.Zwar s<strong>in</strong>d die Beziehungen zwischen beiden Gruppen nichtvöllig abgebrochen, doch das soziale und kulturelle Leben istweitgehend getrennt organisiert. Die meisten Erwachsenen(und manchmal sogar K<strong>in</strong>der) s<strong>in</strong>d sich ihrer jeweiligen Identitätsehr wohl bewusst. Bei beiden Gruppen existiert e<strong>in</strong>e klareund fest im Denken verankerte Vorstellung <strong>von</strong> „dort“ und„hier“ und „wir“ und „die“. Oberflächlich betrachtet herrschtFrieden, und das Leben verläuft für Nagas und Kukis wieder<strong>in</strong> normalen Bahnen. Doch wie so oft trügt der oberflächlicheFrieden. Viele Probleme s<strong>in</strong>d nach wie vor nicht gelöst, zumalder Naga-Konflikt mit dem <strong>in</strong>dischen Staat trotz der Waffenruheauch weiterh<strong>in</strong> aktuell ist.Kirche und Geme<strong>in</strong>schaftBei aller Unterschiedlichkeit haben Nagas und Kukis auchviele Geme<strong>in</strong>samkeiten und s<strong>in</strong>d über die Jahre aufgrund<strong>in</strong>terkultureller Hochzeiten und nachbarschaftlicher Beziehungenenge B<strong>in</strong>dungen e<strong>in</strong>gegangen. E<strong>in</strong>e dieser Geme<strong>in</strong>samkeitenist die Bedeutung der Kirche im Alltag derMenschen. Das Christentum kam im späten neunzehntenJahrhundert nach Manipur. Zunächst g<strong>in</strong>g die Christianisierungnur schleppend voran. 1901 zählten die 1894 nach Manipurgekommenen Missionare gerade e<strong>in</strong>mal acht Christenzu ihrer Geme<strong>in</strong>de. Die damalige Volkszählung ergab e<strong>in</strong>eZusammensetzung der Bevölkerung aus 60% H<strong>in</strong>dus, 36%Anhängern <strong>von</strong> Naturreligionen und 4% Muslimen. Bei


28Ethnische Konflikteder letzten Volkszählung des 20. Jahrhunderts 1991 lag derAnteil an Christen bereits bei 34,11%, während die H<strong>in</strong>dubevölkerungauf 57,67% leicht zurückgegangen und diemuslimische Bevölkerung auf 7,27% angewachsen war. Gehtman – wie die Volkszählung <strong>von</strong> 2001 – <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Bevölkerungswachstum<strong>von</strong> 12,81% <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Dekade(1991-2001)aus, so dürftedie christlicheBevölkerung <strong>in</strong>Manipur heutebei e<strong>in</strong>em Anteil<strong>von</strong> über 36%liegen. Fast alleNagas und Kukis<strong>von</strong> Manipurebenso wiee<strong>in</strong>ige kle<strong>in</strong>ereStämme warenbis zum Endedes 20. JahrhundertszumChristentumkonvertiert.Die meisten<strong>von</strong> ihnen s<strong>in</strong>dBaptisten undPresbyterianer. Doch auch bei den Meiteis, die traditionellH<strong>in</strong>dus s<strong>in</strong>d, gibt es etwa 100.000 Christen, die sich auf 100Geme<strong>in</strong>den verteilen.Bei Nagas und Kukis ist die Kirche die wichtigste zivilgesellschaftlicheInstitution, die allerd<strong>in</strong>gs ebenfalls „eth-


Ethnische Konflikte29nisiert“ und <strong>in</strong> Naga- und Kuki-Kirchen aufgeteilt ist. IhrePräsenz im alltäglichen Leben beider Gruppen ist nicht zuübersehen. Wie viele Konvertiten s<strong>in</strong>d die Nagas und Kukisstreng gläubig und treue Kirchgänger. Dennoch reicht dieAufgabe und Bedeutung der Kirche weit über religiöseBelange h<strong>in</strong>aus. Sie ist für Bildung zuständig, kümmertsich um das Gesundheitswesen, um die E<strong>in</strong>richtung <strong>von</strong>sanitären Anlagen und um die Tr<strong>in</strong>kwasserversorgung, sieorganisiert kulturelle und sportliche Veranstaltungen sowiedie christlichen Jahresfeste, kurz: Sie ist untrennbar mitdem dörflichen Leben verbunden. Jedes noch so entlegeneDorf besitzt se<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>e, se<strong>in</strong>e Frauengruppen und se<strong>in</strong>eStudentengruppen, und alle s<strong>in</strong>d sie auf die e<strong>in</strong>e oder andereWeise mit der Kirche verbunden. Die Kirche pflegt auch alse<strong>in</strong>zige Institution Beziehungen zu den Rebellengruppen,die <strong>in</strong>zwischen e<strong>in</strong>en großen Teil des Bundesstaates und se<strong>in</strong>erWirtschaft kontrollieren. Ke<strong>in</strong>e Rebellengruppe kann essich leisten, sich mit der Kirche anzulegen, stellt diese dochgewissermaßen das Tor zur Bevölkerung dar. In e<strong>in</strong>igenFällen konnte die Kirche Aufständische sogar dazu br<strong>in</strong>gen,ihre Auflagen zu befolgen. Aber der Kontakt zum Untergrundhat auch dazu geführt, dass die Kirche ihre Neutralitäte<strong>in</strong>gebüßt hat. Angesichts der fast unübersichtlichenZahl an Rebellengruppen und der Eskalation <strong>von</strong> Gewaltkonnte die Kirche nicht länger auf Distanz zu den Untergrundgruppenbleiben und hat sich zunehmend politisiert.Neben der Kirche spielt auch die jeweilige Dorfregierunge<strong>in</strong>e wichtige Rolle <strong>in</strong> der Organisation des dörflichenLebens. Wie bereits erwähnt, zeichnet sich fast jederNaga-Stamm, fast jedes Dorf durch e<strong>in</strong>e eigene Spracheoder e<strong>in</strong>en eigenen Dialekt aus. Aber auch die jeweiligenRegierungsstrukturen und die Formen der Rechtssprechungunterscheiden sich. Da der <strong>in</strong>dische Staat mit se<strong>in</strong>en Institutionenoft nicht bis <strong>in</strong> die entlegenen Bergregionen vor-


30Ethnische Konfliktedr<strong>in</strong>gt, organisieren die Dörfer ihr Zusammenleben meistselbst. Wichtiger und unumgänglicher Entscheidungsträgerim Dorf ist beispielsweise der Naga Ho Ho, der traditionelleRat der Dorfälteren. Allerd<strong>in</strong>gs bedeutet „alt“ hier nichttatsächliches biologisches Alter, sondern zum Beispiel auchVerheiratetse<strong>in</strong>. Somit vertreten die Naga Ho Ho e<strong>in</strong>enGroßteil der Bevölkerung, wenngleich es den tatsächlichAlten vorbehalten ist, Urteile auszusprechen.Während der traditionelle Rat für den Zusammenhalt derDorfgeme<strong>in</strong>schaft sorgt, fungiert die Kirche als überregionale,e<strong>in</strong>ende Institution. Sowohl <strong>in</strong> den Naga- als auch <strong>in</strong>den Kuki-Gesellschaften <strong>von</strong> Manipur spielen Kirche undGeme<strong>in</strong>de also e<strong>in</strong>e Schlüsselrolle, was sie, wie wir sehenwerden, auch zu potentiellen Friedensakteuren macht.


31Die Geschichte des Dorfes KaimaiJedes Dorf, das angegriffen wurde oder <strong>in</strong> dessen NäheKämpfe stattfanden, hat se<strong>in</strong>e eigene Geschichte zu erzählen:über den Beg<strong>in</strong>n der Angriffe, über die Kämpfe, überTote und Verletzte, über misshandelte und vergewaltigteFrauen, über Vertreibung und Beschlagnahmung <strong>von</strong> Landund Besitz. Jede dieser Geschichten berichtet <strong>von</strong> Schmerzund Verlust, aber noch schlimmer als die Geschichten ansich s<strong>in</strong>d die Folgen. Inder allgeme<strong>in</strong>en Atmosphäre<strong>von</strong> Angst undUnsicherheit wuchs dasMisstrauen gegenüberansonsten guten Nachbarn,und so gab es baldfast nur noch mono-ethnischeDörfer, wo zuvorNagas und Kukis mite<strong>in</strong>andergelebt hatten.Der dadurch e<strong>in</strong>gekehrte„Frieden“ hatte <strong>in</strong> ersterL<strong>in</strong>ie damit zu tun, dassIdentitätsfragen, die Teilder Konflikte gewesenwaren, im Alltag ke<strong>in</strong>eBedeutung mehr hatten.E<strong>in</strong>ige Dörfer jedochvermochten es, währendder ganzen Zeit so etwas wie Ausgeglichenheit und Friedenaufrecht zu erhalten. E<strong>in</strong>es dieser Dörfer ist Kaimai.Historisch betrachtet ist Kaimai e<strong>in</strong> Naga-Dorf, das vormehr als e<strong>in</strong>em Jahrhundert gegründet wurde. Am Anfanghatte das Dorf nur wenige Bewohner, und es gab Land <strong>in</strong>


32Die Geschichte des Dorfes KaimaiHülle und Fülle. E<strong>in</strong> ortsansässiger Tierarzt er<strong>in</strong>nert sich,dass <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit e<strong>in</strong>ige Kuki-Familien im Dorf umErlaubnis fragten, sich niederlassen zu dürfen. Das warbereits mehrere Jahrzehnte nach Gründung des Dorfes. Da esgenügend Land gab, hatte der Dorfhäuptl<strong>in</strong>g ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wände.Die Kukis waren jedoch wortgewandter als die Nagas undbesorgten sich die nötigen Papiere, die ihnen den Besitz desihnen zugewiesenen Landes sicherten. Aus den anfänglichenzwei Kuki-Familien wurden bald mehr, und heute leben andie 100 Kuki-Familien <strong>in</strong> Kaimai. Von den Nagas h<strong>in</strong>gegenleben heute 25 Familien <strong>in</strong> Kaimai, da viele Familien weggezogens<strong>in</strong>d. Das Bevölkerungsverhältnis hat sich also zuGunsten der Kukis verschoben, die heute <strong>in</strong> der Mehrheits<strong>in</strong>d. Dies hätte während der ethnischen Konflikte eigentlichSicherheit für die Kukis und Unsicherheit für die Nagasbedeuten müssen. Doch an dieser Stelle kommt die geographischeLage des Dorfes <strong>in</strong>s Spiel: Alle umliegenden Dörfers<strong>in</strong>d Naga-Dörfer, was zur Folge hat, dass die Nagas sich <strong>in</strong>Kaimai relativ sicher fühlen. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d beide Gruppenbis unter die Zähne bewaffnet, was die Lage natürlich besondersbrisant macht. Ironischerweise s<strong>in</strong>d genau deshalb allean e<strong>in</strong>er Aufrechterhaltung des Friedens <strong>in</strong>teressiert. Zwargab es Zeiten, <strong>in</strong> denen die Spannung wuchs und die Situationzu eskalieren drohte, doch der Wille, das Gleichgewichtder Kräfte und der Interessen aufrecht zu erhalten, hielt dieKonfliktparteien <strong>in</strong> Schach.Das prekäre Gleichgewicht zwischen Nagas und Kukisim Dorf und um das Dorf herum ist also e<strong>in</strong>er der Gründe,warum Kaimai 1992 <strong>von</strong> Gewalt verschont blieb.E<strong>in</strong> weiterer Grund mag Kaimais geographische Lage se<strong>in</strong>,weit weg <strong>von</strong> Imphal und Moreh, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unwegsamen Bergregion<strong>in</strong>mitten dichter Wälder gelegen. Für Angreifer <strong>von</strong>außen wäre es nicht e<strong>in</strong>fach gewesen, nach Kaimai vorzudr<strong>in</strong>gen.Auch wenn das nicht immer stimmt, s<strong>in</strong>d die meisten


Die Geschichte des Dorfes Kaimai33Dorfbewohner überzeugt, dass potentielle Angreifer nicht ausder eigenen Gegend stammen, sondern „<strong>von</strong> außen“ oder dasszum<strong>in</strong>dest die Befehlshaber „<strong>von</strong> außen“ kommen.E<strong>in</strong> anderer wichtiger Faktor für die Aufrechterhaltung desFriedens waren die traditionellen Dorfräte der Nagas undKukis, die es als ihre Aufgabe ansahen, den Dialog zwischenden Gruppen im Interesse des Dorfes aufrecht zu erhalten.Tatsächlich trugen Geme<strong>in</strong>schaftss<strong>in</strong>n und Zugehörigkeitsgefühlsowie der Wunsch, das eigene Land vor Zerstörung zubewahren, <strong>in</strong> großem Maße dazu bei, das Dorf vor Gewalt zuschützen, obwohl die Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en Ausbruch<strong>von</strong> Gewalt durch Ungleichheiten und Spannungen zwischenNagas und Kukis durchaus gegeben waren.Viele der älteren Bewohner er<strong>in</strong>nern sich noch daran, wasihre Familien während des zweiten Weltkrieges erleidenmussten, als <strong>in</strong> Manipur Entscheidungsschlachten zwischenJapanern und Alliierten ausgefochten wurden. Sie waren entschlossen,nicht erneut solche Grausamkeit <strong>in</strong> ihrem Lebenzuzulassen. Der sechzig Jahre alte Ngamripou erzählte unsfolgende Geschichte:„Ich b<strong>in</strong> vor ungefähr vierzig Jahren <strong>in</strong> dieses Dorf gekommen.Ich habe vier Söhne und e<strong>in</strong>e Tochter, die alle verheiratet s<strong>in</strong>d, undich habe 30 Enkelk<strong>in</strong>der. Während des Krieges mit Japan war ichnoch kle<strong>in</strong>, aber ich er<strong>in</strong>nere mich, wie ich Hühnerköpfe aufsammelte,kochte und aß. Wenn die Briten Ziegen schlachteten,überließen sie uns die Köpfe, die wir aßen. Als ich nach Kaimaikam, lebten ungefähr 16 Naga-Familien im Dorf, später waren es50, und heute s<strong>in</strong>d es 25, da 25 Familien an die Grenze zu Assamgezogen s<strong>in</strong>d.Während der Kämpfe <strong>von</strong> 1992 bemerkte ich e<strong>in</strong>es Nachts, dassunser Haus umstellt war und dachte, jetzt ist es aus. Zwei me<strong>in</strong>erEnkel schliefen im Haus. Ich wollte sie unbed<strong>in</strong>gt schützen,


34Die Geschichte des Dorfes Kaimaiwusste aber nicht, was ich tun sollte. Dann hörte ich plötzlich e<strong>in</strong>eTrillerpfeife, die vermutlich e<strong>in</strong> Warnsignal für die Angreifer war. Sieverschwanden, und ich konnte fliehen.Hier gibt es mehr als 100 Kuki-Häuser, und wir rechnen jederzeitdamit, umgebracht zu werden. Gott sei Dank ist <strong>in</strong> diesem Dorfniemand umgekommen, aber zwei Leute wurden außerhalb desDorfes getötet.1956 gab es viele Naga-Aufstände, und ich wurde <strong>von</strong> der <strong>in</strong>dischenArmee gefangen genommen und gefoltert. Ich kenne noche<strong>in</strong>en anderen Mann, der ähnliches erlebt hat, er ist jetzt schonalt. Sie haben uns heiße Bambusrohre <strong>in</strong> den Anus gesteckt underhitztes Keros<strong>in</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geschüttet. Ich wurde gefoltert, weil ichder „Bewegung“ nahe stand. E<strong>in</strong> anderer Mann wurde gezwungen,schwere Sachen zu tragen, er wurde geschlagen und zweimalgefoltert. Se<strong>in</strong>e Familie wurde vertrieben, die Armee besetzte se<strong>in</strong>Haus, tötete se<strong>in</strong> Vieh und zerstörte se<strong>in</strong>en Getreidespeicher.Der Konflikt <strong>von</strong> 1992 richtete bei uns zwar ke<strong>in</strong>en größerenSchaden an, aber das Dorf wurde so etwas wie e<strong>in</strong> Schlachtfeldzwischen den unterschiedlichen Rebellengruppen. Die UNLF(United Nagas Liberation Front) kam wegen der NSCN-IM hierherund es kam zu Schießereien. Dabei wurden viele Häuser beschädigt.Ich rede hier also nicht <strong>von</strong> Kämpfen zwischen Nagas undKukis, sondern <strong>von</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen unterschiedlichenNaga-Rebellengruppen. Aber es war gefährlich, wenn manzwischen die Fronten kam. Es gab e<strong>in</strong>en heftigen Schusswechsel,und die Kirche wurde geplündert. Aber es kamen ke<strong>in</strong>e Zivilisten zuSchaden. Es wurden auch Granatwerfer e<strong>in</strong>gesetzt, das Haus e<strong>in</strong>esalten Mannes hatte mehr als 60 E<strong>in</strong>schusslöcher.In diesem Dorf haben sich Nagas und Kukis nicht bekämpft, weilwir weiterh<strong>in</strong> mite<strong>in</strong>ander zu tun haben wollten und beschlossenhatten, nicht zu kämpfen. Das bedeutete natürlich auch, dass mansich zusammenreißen musste: Es gab Diebstähle durch Kukis, aber wir


Die Geschichte des Dorfes Kaimai35beschlossen, uns nicht zu rächen. Es gab e<strong>in</strong>e Menge Schikanen durchKuki-Rebellen, aber auch hier beschlossen die Dorfältesten, ke<strong>in</strong>eVergeltung zu üben, weil das alles noch schlimmer gemacht hätte.Es gibt nur wenige Orte <strong>in</strong> Manipur, wo Nagas und Kukiszusammen gelebt haben. In dieser Gegend hier, zwischen demBarak-Fluss und Jiribaum, s<strong>in</strong>d es ungefähr 30 Dörfer. Währendder Ause<strong>in</strong>andersetzungen dachten die Leute, diese Gegendsei erledigt. Viele kamen voller Rachegefühle hierher, aber <strong>in</strong>Kaimai waren die Leute nicht an Gewalt <strong>in</strong>teressiert. Alle <strong>in</strong>dieser Gegend schauten auf dieses Dorf. Es gab natürlich auchandere Gründe, warum wir hier im Dorf für Frieden sorgten, aber<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie wollten weder die Nagas noch die Kukis den Rufdes Dorfes ru<strong>in</strong>ieren. Es war uns klar, wie brisant die Lage war:Die Gewalt lag <strong>in</strong> der Luft. Wenn wir kämpften, würden es dieanderen auch tun. Es hat <strong>in</strong> dieser Gegend ke<strong>in</strong> Blutvergießengegeben, und möglicherweise hat das mit unserem Dorf zu tun,das für all die anderen 30 Dörfer <strong>in</strong> der Umgebung e<strong>in</strong> Vorbildwar. Kaimai ist wie die Zündkapsel e<strong>in</strong>er Bombe, wenn man sieentfernt, fliegt alles <strong>in</strong> die Luft. Diese Gegend eignet sich alsobestens für Entwicklungsprojekte.Während um uns herum der Kampf tobte, dachten wir an dieguten D<strong>in</strong>ge, und das half. Wenn man an schlechte D<strong>in</strong>ge denkt,geht alles schief. Es geht uns nicht nur um dieses Dorf, sondernum die ganze Gegend. Alle Kukis und Nagas schauen auf unserekle<strong>in</strong>e Dorfgeme<strong>in</strong>schaft, deshalb s<strong>in</strong>d wir sehr darauf bedacht,dass nichts aus dem Ruder läuft. Wenn <strong>in</strong> diesem Dorf Entwicklungsprojekteaufgebaut werden, dann sollten beide Gruppen mite<strong>in</strong>bezogen werden. Natürlich halten sich unsere Geme<strong>in</strong>samkeiten<strong>in</strong> Grenzen, aber e<strong>in</strong>ige Kukis und Nagas s<strong>in</strong>d eng befreundet, unde<strong>in</strong>ige Naga-K<strong>in</strong>der gehen auf Kuki-Schulen, obwohl im Allgeme<strong>in</strong>endie Schulen getrennt s<strong>in</strong>d.Während des Konfliktes kam zum Beispiel e<strong>in</strong>er me<strong>in</strong>er Kuki-Freunde zu mir, e<strong>in</strong> Dorfoberhaupt, und bat mich <strong>in</strong>brünstig: „Lass


36Die Geschichte des Dorfes Kaimaies nicht zu, dass die Nagas uns töten, und wenn du es nicht verh<strong>in</strong>dernkannst, so komm wenigstens heimlich zu uns und warneuns, damit wir vorbereitet s<strong>in</strong>d.“„Sie fragen mich nach den Ursachen des Konfliktes. Ich weiß,dass unsere Leute niemandem jemals Leid zugefügt haben. DieKämpfe g<strong>in</strong>gen <strong>von</strong> den Tanghkul <strong>in</strong> Ukhrul aus, aber da auch wirNagas s<strong>in</strong>d, waren wir betroffen. Wir haben ke<strong>in</strong>e Beziehung zudiesem Konflikt, aber es gab e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Vorfall, der eigentlichnichts mit der ganzen Geschichte zu tun hatte. Er hat ihn aberbee<strong>in</strong>flusst. E<strong>in</strong> Kuki hatte e<strong>in</strong>em Naga e<strong>in</strong> Huhn gestohlen undder Naga verprügelte ihn. Der Vorfall kam ans Licht, und der Nagawurde vor das Dorfgericht zitiert, tauchte aber nicht auf. Zwei Monatespäter übten die Kukis Vergeltung, und e<strong>in</strong> junger Naga wurdegetötet. Um die Lage zu entschärfen, handelten e<strong>in</strong>ige Leute e<strong>in</strong>enKompromiss aus. Der Kuki musste 20.000 Rupien Strafe zahlen. Dasführte aber überhaupt nicht zu e<strong>in</strong>er Entspannung, im Gegenteil,es verschärfte die Situation noch.Unser Dorf ist ungefähr 100 Jahre alt. Der Gründer ist später nachSilchar gezogen, aber e<strong>in</strong>ige der ursprünglichen Familien lebennoch hier. Kurz vor dem Japankrieg ließen sich hier auch e<strong>in</strong>paar Kukis nieder. Ich war noch kle<strong>in</strong>, aber ich er<strong>in</strong>nere mich. Siefragten um Erlaubnis, <strong>in</strong> diesem Dorf leben zu dürfen. Die Dorfbewohnerberiefen e<strong>in</strong>e Versammlung e<strong>in</strong>, um darüber zu beraten.Die Kukis stellten guten Alkohol her und schlugen vor, zukünftigden Alkohol für das Dorf zu brennen. Zunächst lebten hier nurzwei Kuki-Familien, aber bald waren es zehn. Nach ungefähre<strong>in</strong>em Jahrzehnt kam es zu ersten Spannungen. Damals warendie Nagas kaum gebildet. Die Kukis waren <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht schonviel weiter. Also besorgten sie sich die nötigen Unterlagen <strong>von</strong> derVerwaltung und f<strong>in</strong>gen an, gegen die Nagas zu prozessieren. DieNagas wollten <strong>von</strong> den Kukis e<strong>in</strong>e Pacht, aber die weigerten sichzu zahlen. Sie zeigten ihre Papiere. E<strong>in</strong> Brite, e<strong>in</strong> Bada Sahib, wiesdie Nagas und Kukis darauf h<strong>in</strong>, dass ihr Fall sehr kompliziert und


Die Geschichte des Dorfes Kaimai37widersprüchlich sei. „Wenn wir hier e<strong>in</strong>e Entscheidung treffen,“sagte er, „so soll derjenige, der im Unrecht ist, auf dem Wassertreiben.“ Also veranstaltete man e<strong>in</strong> Wettschwimmen zwischene<strong>in</strong>em Naga und e<strong>in</strong>em Kuki. Der Kuki trieb auf dem Wasser, unddas Land wurde den Nagas zugeschrieben. Die Nagas forderten dieKukis auf, ihr Land zu verlassen, die Kukis versprachen, dies nachder Ernte zu tun. Doch sie blieben. Sie verlangten, auf dem Landbleiben zu dürfen. Die Bergkommission, die sich um Streitfragenkümmerte, wollte <strong>von</strong> den Kukis e<strong>in</strong>en Beweis, dass sie das Landbesäßen. Also verwiesen die Kukis auf die Ste<strong>in</strong>e, die Nagas vordas Haus gelegt hatten. Ste<strong>in</strong>e werden bei uns als Zeichen <strong>von</strong>Besitz angesehen und werden verehrt. Dank der Ste<strong>in</strong>e konntendie Kukis ihr Land behalten.Danach herrschte lange Zeit Frieden. Dann, 1986, kam dieGeschichte mit dem Huhn, die ich schon erwähnt habe, und dieSpannungen wuchsen wieder an. Das war e<strong>in</strong>ige Jahre bevor dieethnischen Konflikte ausbrachen. Und auch hier wurde, wie gesagt,e<strong>in</strong>e Lösung gefunden, <strong>in</strong>dem der Schuldige e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong> abtretenmusste. Land war bis vor kurzen nicht wirklich e<strong>in</strong> Problem,da die Nagas so wenige s<strong>in</strong>d. Anfang der neunziger Jahre waren esungefähr noch 50 Familien.Der Konflikt, über den Sie etwas wissen wollen, g<strong>in</strong>g bekanntlich<strong>von</strong> der Stadt Moreh aus. Dieses Dorf hier wurde, wie gesagt,nicht angegriffen, aber e<strong>in</strong> ungefähr 45 Jahre alter Mann kehrtevom Fischen nicht nach Hause zurück. Bis heute fehlt jede Spur<strong>von</strong> ihm, und man vermutet, dass er <strong>von</strong> Kuki-Rebellen entführtwurde. In der Gegend <strong>von</strong> Kaimai ist ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Kuki ums Lebengekommen. In anderen Gegenden jedoch wurden Kuki-Familien<strong>von</strong> Nagas vertrieben, und viele Flüchtl<strong>in</strong>ge kamen hierher. Mehrals 50 Familien s<strong>in</strong>d hierher gekommen. Es leben jetzt e<strong>in</strong>e MengeKukis hier, und diejenigen, die nach dem Konflikt hierher kamen,s<strong>in</strong>d Außenseiter geblieben. Es gibt ke<strong>in</strong>e gewalttätigen Ause<strong>in</strong>andersetzungen,aber es gibt Diebstahl. Manchmal werden die


38Die Geschichte des Dorfes KaimaiSte<strong>in</strong>e, die <strong>von</strong> den Nagas vor ihren Häusern aufgestellt werden,beschädigt, solche Sachen passieren schon öfter mal. Busse werdengeplündert, man sagt, dass Kukis grundsätzlich stehlen.Wie gesagt, <strong>in</strong> unserem Dorf ist alles <strong>in</strong>sgesamt ruhig geblieben.Wir hatten schon so viele Jahre zusammen gelebt, gearbeitet undgebetet, warum hätten wir uns auf e<strong>in</strong>mal bekämpfen sollen? Wirveranstalten geme<strong>in</strong>same Spiele und feiern zusammen Weihnachten.Warum sollten wir unser Leben ändern und zerstören? Aberwenn natürlich Leute <strong>von</strong> außen kommen und Ärger machen, s<strong>in</strong>dwir ziemlich hilflos.Wir haben e<strong>in</strong>iges unternommen, damit die Gewalt im Dorfgar nicht erst Fuß fassen konnte. Wir wussten, dass es unter derOberfläche brodelte, und so luden wir den Gouverneur zu uns e<strong>in</strong>.Mitten <strong>in</strong> dieser gewalttätigen Zeit veranstalteten wir also zu se<strong>in</strong>enEhren – und zu se<strong>in</strong>er Überraschung – e<strong>in</strong>e Feier mit Tanzvorführungen.Er steuerte ungefähr 1000 Rupien dazu bei. Anlässlich desBaptistenkonvents <strong>von</strong> Manipur, das <strong>in</strong> Kaimai stattfand, organisiertenwir für beide Gruppen zusammen e<strong>in</strong> Fest zu Ehren <strong>von</strong>Agape, der Liebe.Es war schon nicht ganz e<strong>in</strong>fach mit den unterschiedlichen Rebellengruppen,die hier im Dorf Halt machten, aber Ärger hattenwir bisher ke<strong>in</strong>en. Während des Konfliktes nutzten anderthalbJahre lang Kuki-Rebellen der KNF/MC (Kuki National Front/MilitaryCouncil) das Dorf als Stützpunkt. Die Regierung schickte ihre CRPF(Central Reverse Police Force), aber das passte uns nicht. Die UGs,die Undergrounds, wie die Aufständischen auch genannt werden,benahmen sich und zahlten auch für alles. E<strong>in</strong>ige Zeit kamenauch Meitei-UGs hierher, 20 oder 30 waren es, und blieben,glaube ich, e<strong>in</strong> Jahr. Sie waren vorsichtig und bereiteten ke<strong>in</strong>eProbleme. Danach kamen ungefähr zwölf Khaplang-Nagas undblieben, aber auch hier gab es ke<strong>in</strong>e Probleme. Die Rebellengruppens<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Belastung für das Dorf. Es gab noch e<strong>in</strong>e weitereKuki-Gruppe und dann die KRA (Kuki Revolutionary Army), später


40Die Geschichte des Dorfes Kaimaisie nicht aussprach, war aber deutlich an der Art und Weisezu erkennen, wie sie sich den zwei jungen Soldaten gegenüberverhielt. Diese lagen herum und hörten unserem Gesprächzu. Wir spürten ihre Angst vor möglichen sexuellenÜbergriffen oder Verwicklungen. Die demobilisierten undbeschäftigungslosen Soldaten quartieren sich <strong>in</strong> den Dörferne<strong>in</strong> und warten auf Befehle <strong>von</strong> oben. Abgesehen <strong>von</strong>gelegentlichen Gefechten zwischen den unterschiedlichenSplittergruppen <strong>in</strong>nerhalb der eigenen Bewegung, hat sichder „Hauptfe<strong>in</strong>d“, der <strong>in</strong>dische Staat, vorerst zurückgezogen.Die Anwesenheit <strong>von</strong> jungen Männern, die sich langweilen,<strong>in</strong> Häusern, <strong>in</strong> denen womöglich Mädchen und Jungen oderauch junge Frauen leben, ist <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht bedrohlich.Über die Jahre haben die Dorfältesten gelernt, dieser Bedrohungzu begegnen. Vor allem h<strong>in</strong>sichtlich der Kämpfer derNSCN-IM wurden Sicherheitsvorkehrungen getroffen, diemögliche sexuelle oder emotionale Verwicklungen verh<strong>in</strong>dernoder e<strong>in</strong>e Lösung ermöglichen sollen, wenn es doche<strong>in</strong>mal dazu kommt. Nichtsdestotrotz ist die Angst vor allemfür Frauen allgegenwärtig. Sie wissen, dass – Regeln h<strong>in</strong>oder her – Macht und Sexualität im Bewusstse<strong>in</strong> der meistenMänner untrennbar mite<strong>in</strong>ander verbunden s<strong>in</strong>d und dasssexuelle Ausbeutung nicht <strong>von</strong> gewalttätigen Konflikten zutrennen ist.Ngamripous Erzählung über die Geschichte des DorfesKaimai spr<strong>in</strong>gt vom e<strong>in</strong>em zum nächsten Thema. Sie enthältaber e<strong>in</strong>ige H<strong>in</strong>weise, wie es <strong>in</strong> Kriegszeiten möglich ist,Enklaven des Frieden aufrecht zu erhalten. Die geographischeUnzugänglichkeit <strong>von</strong> Kaimai hat dazu geführt, dassdie Dorfältesten und Naga- und Kuki-Organisationen e<strong>in</strong>enGroßteil der Regierungsaufgaben und der Dorfentwicklungselbst <strong>in</strong> die Hände genommen haben. Unterstützt <strong>von</strong> denKuki- und Nagakirchen haben die Dorfbewohner Schulen,Geme<strong>in</strong>dezentren und Geschäfte e<strong>in</strong>gerichtet. Außerdem


Die Geschichte des Dorfes Kaimai41haben die Dorfältesten beider Gruppen nie den Kontakt zue<strong>in</strong>anderabgebrochen. Sie haben zusammen das Dorf regiertund für se<strong>in</strong>e Entwicklung gesorgt. Dabei unterscheiden sichdie Regierungssysteme beider Gruppen erheblich. Bei denNagas ist zum Beispiel der Ältestenrat die höchste Instanz,woh<strong>in</strong>gegen es bei den Kukis der Häuptl<strong>in</strong>g ist. Manchmalerschwert das den Dialog zwischen den Gruppen, aber wennes nur e<strong>in</strong> System gäbe, müssten Wahlen abgehalten werden,was <strong>in</strong> beiden Kulturen, vor allem aber bei den Kukis, nichtvorgesehen ist. Beide Gruppen wissen, dass es wichtig ist,existierende Strukturen und Traditionen aufrecht zu erhalten,dass e<strong>in</strong>e Zusammenarbeit aber dennoch möglich se<strong>in</strong>muss. Und so bemühen sie sich, die Interessen beider Bevölkerungsgruppenzu berücksichtigen. Nicht selten kommendabei, wie <strong>in</strong> den bereits erwähnten Geschichten, traditionelleMethoden der Streitschlichtung und Rechtsprechung zurAnwendung. Zum Beispiel muss jemand, der e<strong>in</strong> Vergehenbegangen hat, zur Strafe e<strong>in</strong>e bestimmte Summe Geld zahlenoder e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong> hergeben.Aufgrund se<strong>in</strong>er Lage wird das Dorf oftmals <strong>von</strong> Rebellengruppenaller Schattierungen und politischen Zugehörigkeitenals Rastplatz genutzt. Die Dorfältesten wissen nur zugenau, was es bedeuten würde, wenn es im Dorf zu gewalttätigenAuse<strong>in</strong>andersetzungen käme. Die militanten Gruppenkönnen e<strong>in</strong>en Ort im Handumdrehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Schlachtfeldverwandeln. Selbstverständlich s<strong>in</strong>d sich die Dorfältestenauch bewusst, welchen materiellen und vor allem symbolischenWert geme<strong>in</strong>same Veranstaltungen haben und dassPersonen mit Machtbefugnissen zur Eröffnung oder e<strong>in</strong>fachals Zuschauer e<strong>in</strong>geladen werden, wie das erwähnte Beispielverdeutlicht.Ngamripous Geschichte zeigt, wie viele unterschiedliche„Zutaten“ <strong>in</strong> ihrer ganz speziellen „Mischung“ dazu beigetra-


42Die Geschichte des Dorfes Kaimaigen haben, dass das Dorf Kaimai friedlich geblieben ist. Umse<strong>in</strong>er Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, besuchteNgamripou mit uns e<strong>in</strong>ige Kukis <strong>in</strong> Kaimai. Wir betraten dasHaus e<strong>in</strong>es Dorfoberhauptes, wo die Vorbereitungen für e<strong>in</strong>eFeier <strong>in</strong> vollem Gange waren. Es sollte e<strong>in</strong> Ritual stattf<strong>in</strong>den,und man erwartete viele Kukis aus den Nachbardörfern undaus Kaimai selbst. In der Küche dampften die Kochtöpfe,das Haus wurde geputzt, Matratzen auf dem Boden verteilt,die Luft summte vor Geschäftigkeit. Wir wurden freundlichempfangen und konnten offen mite<strong>in</strong>ander reden:„Wir s<strong>in</strong>d Nachbarn und leben seit vielen, vielen Jahren friedlichzusammen, auch wenn es h<strong>in</strong> und wieder Spannungen gibt. Alsder Gouverneur hierher kam, haben wir ihn willkommen geheißen.Die Vorbereitung se<strong>in</strong>es Besuches hat zu e<strong>in</strong>er kameradschaftlichenStimmung zwischen den Gruppen geführt. Der Gouverneurhat Hilfe bei der Entwicklung des Dorfes versprochen. Wir habengesagt, dass die Wasserversorgung am Dr<strong>in</strong>glichsten sei, und erhat das e<strong>in</strong>gesehen. In diesem Dorf leben sehr wenige Nagas, wirs<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Mehrheit, das heißt, wir könnten Ärger machen, wennwir wollten. Aber warum sollten wir? Es ist wichtig, <strong>in</strong> Frieden zuleben.Für uns Kukis war die Heilsarmee e<strong>in</strong> Segen, denn sie hat Bildungnach Kaimai gebracht. Wir haben gerade e<strong>in</strong>e Schule e<strong>in</strong>gerichtet,<strong>in</strong> der Kukis und Nagas bis zum achten Schuljahr zusammen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eKlasse gehen. Es gibt schon an die 120 Schüler, <strong>von</strong> denen 20 Nagass<strong>in</strong>d. Es gibt auch e<strong>in</strong>en Naga-Lehrer.Uns ist klar geworden, dass wir uns auf die Regierung nicht verlassenkönnen. Sie ist korrupt. Wir müssen uns zusammensetzenund beschließen, was wir brauchen. Wasser ist e<strong>in</strong> Hauptproblem.Es gibt zwar e<strong>in</strong>e Quelle, aber nur e<strong>in</strong> sehr schlechtes Verteilungssystem.Zwei Kilometer weit weg <strong>von</strong> hier liegt auch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>erFluss namens Kundai. Wasser war bisher noch ke<strong>in</strong> Streitpunkt,könnte es aber irgendwann werden.


Die Geschichte des Dorfes Kaimai43Wir verdienen hier im Dorf etwas Geld mit der Herstellung <strong>von</strong>Besen, die wir Jhadus nennen. Aber es ist schwer, da<strong>von</strong> zu leben,weil die Zwischenhändler sich ihren Anteil nehmen und die Untergrundbewegungensich ebenfalls bedienen. Für uns bleibt nursehr wenig.Es gibt e<strong>in</strong>es, worauf wir sehr stolz s<strong>in</strong>d, nämlich dass wir aufe<strong>in</strong>anderhören. E<strong>in</strong>mal bekamen wir e<strong>in</strong>en Brief <strong>von</strong> den Nagas, <strong>in</strong>dem sie uns aufforderten, mit dem Stehlen aufzuhören. Sie sagten,das verstoße gegen die christliche Lehre, und so beschlossen wir,den Brief im Gottesdienst vorzulesen und ihn auch an alle anderenKirchen <strong>in</strong> der Umgebung weiterzureichen.Wir kümmern uns auch um geme<strong>in</strong>same Feste. Am Agape-Festzum Beispiel schlachten wir Schwe<strong>in</strong>e, kochen und essen zusammen,und die Frauen und K<strong>in</strong>der tauschen Geschenke und guteWünsche aus. Auch an Weihnachten und Neujahr treffen wir unsund feiern geme<strong>in</strong>sam. Wir unterstützen uns auch <strong>in</strong> schwerenZeiten, zum Beispiel wenn jemand gestorben ist. Die Jugendlichenbeider Gruppen kümmern sich um die Beerdigung der Verstorbenen,und wir nehmen jeweils an den Beerdigungen der anderenteil. Wir haben hier fünf Kirchen und planen jetzt e<strong>in</strong> Treffen derKirchenführer. Wir sollten auch unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> Entwicklungsprojektenzusammen arbeiten. Die bereits existierenden Projekte solltenso umgewandelt werden, dass diese Zusammenarbeit möglich ist.“


44Zwischen allen Fronten: die KharamAuf unserer Reise durch Manipur gelangten wir abseits derausgetretenen Pfade zu dem kle<strong>in</strong>en Dorf Kharam, benanntnach dem Stamm, der dort lebt. Es liegt gut versteckt <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Tal, umgeben <strong>von</strong> hohen Bergen. Die Straße dorth<strong>in</strong>ist kaum mehr als e<strong>in</strong> holpriger, ste<strong>in</strong>iger Streifen aus Zementund Teer und geht unvermittelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Feldweg über, derden Berghang h<strong>in</strong>unter führt. Unser Jeep fuhr den schmalen,<strong>von</strong> tiefen Spurengezeichneten Weg h<strong>in</strong>ab.Wir hatten das Gefühl,den Berg förmlich zustreifen und bahntenuns unseren Weg durche<strong>in</strong> Dickicht aus grüner,gelber, violetter undsilberner Vegetation.Gelbe Blumen formtene<strong>in</strong>en regelrechten Baldach<strong>in</strong>über dem Dachdes Jeeps, und Tunnelaus dichtem, fast lichtundurchlässigemBlattwerkwechselten sich ab mitsonnendurchflutetenWaldstücken, derenBlätter <strong>in</strong> Gold getauchtschienen. Die hohenPflanzen und Farneversteckten das Dorf voruns, bis wir plötzlich ane<strong>in</strong>e Lichtung gelangten und quasi schon im Zentrum <strong>von</strong>Kharam standen, e<strong>in</strong>em ordentlichen, sauberen und geräumigenDorf.


Zwischen allen Fronten: die Kharam45Kharam ist e<strong>in</strong> Beispiel dafür, wie e<strong>in</strong> gewalttätiger Konflikt<strong>in</strong> das Leben derer e<strong>in</strong>greift, die mit ihm eigentlich nichts zutun haben, die jedoch – eher zufälligerweise – zwischen dieFronten geraten. Schnell werden sie dann zu Schachfigurenim Spiel der Hauptakteure. Die Kharam s<strong>in</strong>d weder Nagasnoch Kukis. Niemand weiß, wie viele Kharam es tatsächlichgibt, aber sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Stamm mit höchstens 1600Stammesmitgliedern, die nicht alle <strong>in</strong> Manipur leben. LangeZeit haben die Kharam darum gekämpft, <strong>von</strong> der <strong>in</strong>dischenRegierung als Stamm anerkannt zu werden. Seit 2002 geltensie offiziell als ST. Im Folgenden beschreibt das Dorfoberhauptse<strong>in</strong>en Stamm:„Wir s<strong>in</strong>d direkte Nachfahren <strong>von</strong> Khagumba, der e<strong>in</strong>st König <strong>von</strong>Manipur war. Wir verehren Bongpa, der wie e<strong>in</strong> Drache ist. Aberjeder der sieben Klans des Stammes verehrt auch se<strong>in</strong>e eigenenGötter. Nur die Familien e<strong>in</strong>es bestimmten Klans essen an dem Tag,an dem sie ihren Gott zelebrieren. Auch zündet jedes Haus e<strong>in</strong>eKerze <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke an, die wir dann anbeten. In den fünfzigerJahren konvertierte die erste Familie zum Christentum und seitherist die Zahl der Christen stetig gestiegen. Heute leben nur noch fünfFamilien nach den traditionellen Gesetzen und Bräuchen, alle anderens<strong>in</strong>d Christen. Sieben Familien s<strong>in</strong>d katholisch, die anderens<strong>in</strong>d Baptisten und unterstehen der amerikanischen Baptistenmission.Wir haben also zwei Kirchen <strong>in</strong> Dorf, e<strong>in</strong>e katholische unde<strong>in</strong>e baptistische.Wir arbeiten sowohl mit den Nagas als auch mit den Kukiszusammen. Wir pachten Land <strong>von</strong> den Kukis, um es zu bewirtschaften,aber auch <strong>von</strong> den Nagas, besonders im Feuchtgebiet <strong>in</strong>der Nähe des Flusses. Die Kharam s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Stamm, der nuran ganz wenigen Orten lebt. Wir haben lange auf die Anerkennungdurch die Regierung gewartet. Während des Konfliktes s<strong>in</strong>d wirnicht angegriffen worden, doch es herrschte e<strong>in</strong>e große Anspannungund Angst im Dorf. Wir stellten Wachtposten außerhalb des


46Zwischen allen Fronten: die KharamDorfes auf. Nachts haben wir die Frauen und K<strong>in</strong>der aufgefordert,sich <strong>in</strong> bunkerartige Unterstände zu begeben, die wir errichtethatten, und die Männer schoben Wache. In der Regel haben wirbessere Beziehungen zu den Nagas, aber wir hätten dennochangegriffen werden können. Weil wir so e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Stamm s<strong>in</strong>dund uns gegen Gewalt - ganz egal <strong>von</strong> welcher Seite sie kommt -nicht wehren können, s<strong>in</strong>d wir darauf angewiesen, uns mit beidenSeiten gut zu stellen. Nachdem der Konflikt beigelegt war, habenwir Sportveranstaltungen organisiert, e<strong>in</strong>mal für die Nagas, dreimalfür die Kukis, und dann e<strong>in</strong>mal für beide zusammen. Wir warendie Schiedsrichter, und die zwei Mannschaften wären e<strong>in</strong>anderfast <strong>in</strong> die Haare geraten! Den Kukis passte es nicht, dass die Nagasgewonnen hatten!Der Frauenvere<strong>in</strong> im Dorf war ebenfalls sehr aktiv während desKonfliktes. Er versuchte vor allem, junge Männer freizubekommen,die <strong>von</strong> der Armee gefangen genommen worden waren. Dabeiwaren sie sehr erfolgreich. Wenn Männer versuchten, andereMänner freizubekommen, wurden sie zusammengeschlagen, aberdie Frauen fanden zum<strong>in</strong>dest Gehör. Die Frauen trafen sich auchregelmäßig und trugen vor allem bei drohenden Angriffen dazubei, dass Informationen schnell weitergegeben wurden. Währendihrer Zusammenkünfte beschlossen sie regelmäßig, welcheVorsichtsmaßnahmen ergriffen werden sollten. Sie wollten auchdie Männer unterstützen und blieben nachts auf, um ihnen bei derWache beizustehen. Sie sammelten zudem Spenden für Notfällewährend des Konfliktes.“Das Dorfoberhaupt hatte uns nur e<strong>in</strong>en Teil der Geschichteerzählt. Als wir später mit Nagas sprachen, stellte sich heraus,dass die Kharam ethnisch mit den Kukis verwandt s<strong>in</strong>d. Weilsie jedoch über viele Jahre mit Nagas zusammengelebt haben,stehen sie diesen heute näher. Als die Kämpfe zwischenNagas und Kukis entbrannten, war den Kharam bewusst,dass sie früher oder später <strong>in</strong> den Konflikt mit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogenwürden und dass sie es sich nicht leisten konnten, für e<strong>in</strong>e


Zwischen allen Fronten: die Kharam47Seite Partei zu ergreifen. Also zahlten sie als neutrale Gruppe„Schutzsteuern“ an beide Parteien. Als Vorsichtsmaßnahmenhoben sie also nicht nur Schützengräben um das Dorf herumaus, sondern zahlten sowohl an die Nagas als auch an dieKukis Schmiergelder und erkauften sich so ihren Frieden!Darüber h<strong>in</strong>aus schickten sie e<strong>in</strong>en Jungen zu den Nagas,e<strong>in</strong>en anderen Jungen zu den Kukis <strong>in</strong> den Untergrund undstellten so auf äußerst geschickte Weise sicher, dass das Dorfweder <strong>von</strong> den e<strong>in</strong>en noch <strong>von</strong> den anderen bedroht oderangegriffen würde!Es wird deutlich, dass Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bedrohlichenLage ihre ganze Erf<strong>in</strong>dungsgabe und all ihre Ressourcenmobilisieren, um Gewalt zu verh<strong>in</strong>dern. Doch im Falle <strong>von</strong>Kharam gab es noch e<strong>in</strong> weiteres Motiv, sich um Friedenfür das Dorf zu bemühen als die immanente Bedrohung.Wie das Dorfoberhaupt es beschrieb, ist praktisch das ganzeDorf zum Christentum übergetreten. Die Kirche und derKirche nahe stehende Nichtregierungsorganisationen habenbeträchtliche Mittel <strong>in</strong> die Entwicklung des Dorfes gesteckt.Nicht nur s<strong>in</strong>d Schule und Kirche <strong>in</strong> ausgezeichnetemZustand, das Dorf selbst ist sauber, es gibt überall Toiletten,und vor allem wurde die Dorfquelle erschlossen, so dass esden ganzen Tag über Wasser gibt und wenig Wasser verlorengeht. Die Kharam s<strong>in</strong>d stolz auf ihr Dorf und haben ke<strong>in</strong> Interessedaran, das bereits Erreichte zu gefährden. Indirekt hatalso die Kirche dazu beigetragen, dass die Dorfgeme<strong>in</strong>schaftsich für den Erhalt des Friedens engagiert hat. Auf die Rolleder Kirche <strong>in</strong> Manipur während der ethnischen Konflikte<strong>von</strong> 1992 soll an späterer Stelle noch e<strong>in</strong>gegangen werden.


48Die Rolle der FrauenSo wie der Kampf der Meiteis und Nagas gegen den <strong>in</strong>dischenStaat den Blick auf die „Nebenschauplätze“ unddie Schicksale Unbeteiligter verstellte, so wurden auch dieGeschichten <strong>von</strong> Frauen <strong>in</strong>nerhalb der <strong>von</strong> Männern dom<strong>in</strong>iertenKämpfe aller Gruppen wenig oder gar nicht beachtet.In Manipur haben Naga-, Kuki- und Meiteifrauen über langeZeiträume h<strong>in</strong>weg zusammen gearbeitet und immer wiedere<strong>in</strong>e bee<strong>in</strong>druckende Solidarität an den Tag gelegt. Unlängstwurde der Protest der Meitei-Frauengruppe Meira Paibisgegen die Vergewaltigung und Ermordung e<strong>in</strong>er Manipuri-Frau durch die <strong>in</strong>dische Armee <strong>von</strong> zahlreichen Frauengruppen<strong>in</strong>nerhalb des Landes und darüber h<strong>in</strong>aus unterstützt.E<strong>in</strong> weiteres Beispiel ist Irom Sharmila, e<strong>in</strong>e junge Frau, dieseit vielen Jahren im Hungerstreik ist und im Krankenhauszwangsernährt wird. Sie fordert die Abschaffung des 1958<strong>in</strong> Kraft getretenen „Armed Forces Special Powers Act“(AFSPA), e<strong>in</strong>em Ermächtigungsgesetz, das den <strong>in</strong>dischenStreitkräften Straffreiheit gewährt für jegliches Vorgehen gegenvermutete oder tatsächliche Aufständische. Ihre Aktionf<strong>in</strong>det bei allen Frauengruppen gleich welcher ethnischenZugehörigkeit Zustimmung. Das bedeutet nicht, dass Frauen<strong>in</strong> Manipur <strong>in</strong> der Vergangenheit und der Gegenwart sichnicht auch immer wieder aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit<strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander distanziert haben und Frauensolidaritätzugunsten e<strong>in</strong>er Ethnisierung <strong>von</strong> Problemen vergessenhätten. Doch <strong>in</strong> der Regel waren sie die ersten, die wiederaufe<strong>in</strong>ander zugegangen s<strong>in</strong>d. Wie wir noch sehen werden,trägt Frauensolidarität <strong>in</strong> Krisenzeiten oft zur Deeskalationund zur Vermeidung <strong>von</strong> Konflikten bei.Wenn, wie <strong>in</strong> dem Straßendorf Litaan, zwischen denEthnien <strong>in</strong>tensive Handelsbeziehungen bestehen, ist dasLeben der Dorfbewohner so sehr mite<strong>in</strong>ander verwoben,


Die Rolle der Frauen49dass e<strong>in</strong>e Trennung die gesamte Alltagsorganisation <strong>in</strong> Fragestellen würde. Trotz se<strong>in</strong>er gemischten Bevölkerung gab es <strong>in</strong>Litaan ke<strong>in</strong>e Kämpfe. Als wir mit den Bewohnern des Dorfesdarüber sprachen, verwiesen sie auf e<strong>in</strong>e lange Traditiondes geme<strong>in</strong>samen Handels, der besonders <strong>von</strong> den Frauenbetrieben wurde. Entlang der Hauptstraße, die mitten durchdas Dorf führt, errichtenNaga- undKukifrauen täglichihre Verkaufsstände,an denene<strong>in</strong> reger An- undVerkauf stattf<strong>in</strong>det.Für die Frauenstellt diese Straßee<strong>in</strong>en Freiraumjenseits der Engedes Hauses dar, <strong>in</strong>dem sie sich andersbewegen, andersbenehmen können.Es ist e<strong>in</strong> Freiraum, den sie nicht bereit s<strong>in</strong>d, aufzugeben. Fürdas Dorf an sich ist die Straße gewissermaßen die Lebensl<strong>in</strong>ie,worüber sich beide Gruppen wohl bewusst s<strong>in</strong>d. Siehaben alles getan, um diese Form des Zusammenlebens nichtzu gefährden. Vor allem haben sie sich nicht <strong>in</strong> die Ause<strong>in</strong>andersetzungenh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ziehen lassen und s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ständigemGespräch mite<strong>in</strong>ander geblieben. Frauen treiben an dieserStraße nicht nur Handel untere<strong>in</strong>ander, sie sitzen auch oft beie<strong>in</strong>er Tasse Tee beisammen. Diese Tradition des Teilens istihnen <strong>in</strong> der Konfliktsituation zugute gekommen.Als das Dorf drohte, <strong>in</strong> die Ause<strong>in</strong>andersetzungen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogenzu werden, traten die Frauen als Fürsprecher<strong>in</strong>nendes Friedens auf, und ihre Ratschläge wurden gehört und


50Die Rolle der Frauenbefolgt. So hielt das Dorf auf dem Höhepunkt des Konfliktesgeme<strong>in</strong>same Wettkämpfe und Sportveranstaltungenab, zu denen Nagas und Kukis e<strong>in</strong>geladen waren. LokaleWürdenträger wurden gebeten, die Schirmherrschaft fürdie Veranstaltungen zu übernehmen und sie durch ihreAnwesenheit zu schützen. E<strong>in</strong>e brisante Lage, die leicht hätteeskalieren können, wurde so zu e<strong>in</strong>em vergnüglichen Treffenund e<strong>in</strong>em friedlichen Wettkampf für alle. Insbesondere beiJugendlichen, auf die Waffen <strong>in</strong> solchen Zeiten e<strong>in</strong>e großeAnziehungskraft ausüben, führten die Sportveranstaltungenzu e<strong>in</strong>er solidarischen Grundstimmung. Der Spaß, den allehatten, wurde sozusagen zum Friedensakteur.Auf unserer Reise durch Manipur stellten wir fest, dassFrauen <strong>in</strong> Konfliktsituationen all ihre Spielräume und zurVerfügung stehenden Mittel für die Aufrechterhaltung desFriedens nutzten. Möglicherweise haben sie e<strong>in</strong> tieferes Verständnis<strong>von</strong> Frieden und ziehen deshalb <strong>in</strong> der Regel nicht<strong>in</strong> den bewaffneten Kampf, auch wenn sie ihre ethnischeZugehörigkeit durchaus leidenschaftlich verteidigen. DieFrauen <strong>von</strong> Manipur greifen außerdem auf e<strong>in</strong>e lange Traditiondes Zusammenarbeitens quer zu allen Bevölkerungsgruppenzurück. In e<strong>in</strong>igen Fällen s<strong>in</strong>d sie als Mütter <strong>in</strong> dieumkämpften Gebiete des Landes<strong>in</strong>neren gezogen und habendie Untergrundkämpfer ermutigt, der Gewalt abzuschwören.In anderen Fällen konnten sie sich als Frauen im Gefechtslärmeher Gehör verschaffen als Männer, wie das Kharam-Dorfoberhaupt es anschaulich geschildert hat.E<strong>in</strong> weiteres Beispiel für das Engagement <strong>von</strong> Frauen istdie 1992 <strong>von</strong> der Naga Mother‘s Association (NMA) zusammenmit der Meitei-Frauengruppe Meira Paibis <strong>in</strong>itiierteFriedenskampagne „Shed no more blood“ – „Stoppt dasBlutvergießen“. Die <strong>Erfahrungen</strong> aus dieser Kampagne s<strong>in</strong>dden Frauen sicherlich zugute gekommen, als sie im Naga-Ku-


Die Rolle der Frauen51ki-Konflikt auch <strong>in</strong> anderen Gegenden versuchten, zwischenden Kriegsparteien zu vermitteln.Gerade Frauengruppen haben erkannt, dass Frieden mehrbedeutet als die Abwesenheit <strong>von</strong> Gewalt. E<strong>in</strong>e Kultur desFriedens muss auch <strong>in</strong> Friedenszeiten gelebt und gepflegtwerden. Nachdem der Naga-Kuki-Konflikt beigelegt war,haben Nichtregierungsorganisationen <strong>in</strong> Manipur begonnen,mit Dorfbewohnern, speziell mit Frauen beider Ethnien, anStrukturen zu arbeiten, die den Frieden auf Dauer sichernkönnen. So entstanden zum Beispiel Spar- und Kreditgruppen,<strong>in</strong> denen sich je 20 Frauen m<strong>in</strong>destens zwei Mal imMonat treffen, um Geld zusammenzulegen und sich überaktuelle Probleme auszutauschen.In diesen Gruppen s<strong>in</strong>d Frauen aller Ethnien vertreten. Siebegründen ihre Zusammenarbeit mit ihrer Identität als Frauund mit dem Selbstrespekt und der Selbstachtung, die sie dadurchentwickeln. In der Tat stärken die Selbsthilfegruppennicht nur das Selbstbewusstse<strong>in</strong> der Frauen und die Solidaritätzwischen den unterschiedlichen Ethnien, sondern erweiternauch den Handlungsspielraum der Frauen. Dies stärktihre Position <strong>in</strong> der Gesellschaft und wird, sollte es erneut zuKonflikten kommen, wiederum der gesamten Gesellschaftzugute kommen. Es besteht Hoffnung, dass solche Gruppendie zukünftigen Bauste<strong>in</strong>e des Friedens s<strong>in</strong>d.


52Die Rolle der KircheFast 90% der Nagas und Kukis s<strong>in</strong>d Christen. Wo auchimmer sie <strong>in</strong> Manipur leben, die Kirche spielt, wie schonbeschrieben, e<strong>in</strong>e große Rolle <strong>in</strong> ihrem Alltag. Der E<strong>in</strong>flussder Kirche reicht <strong>in</strong> alle Dorforganisationen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, sei es dielokale Jugendgruppe,die Frauengruppeoder der Ältestenrat.Kirchen- und Dorfgeme<strong>in</strong>desowohl derKukis als auch derNagas überschneidensich <strong>in</strong> vielen Bereichendes Alltags.Angesichts dieserTatsache stellt sichdie Frage, welcheRolle die Kircheim Friedensprozessspielte und spielt.In Ukhrul, demSitz des NSCN-IM,leben so gut wieke<strong>in</strong>e Kukis mehr. Sie verließen mit Beg<strong>in</strong>n der Kämpfe dasGebiet und so leben heute fast ausschließlich Nagas dort.Heute ist Ukhrul weitgehend „friedlich“ und viele Organisationenarbeiten aktiv an der Aufrechterhaltung guter Beziehungenzwischen den Gruppen. Die Nagas Women Union<strong>von</strong> Manipur (NWUM) <strong>von</strong> Ukhrul hat e<strong>in</strong> eigenes Büro,veranstaltet Treffen, br<strong>in</strong>gt die Frauen des Dorfes zusammenund betreibt kle<strong>in</strong>e, E<strong>in</strong>kommen schaffende Projekte. DieFrauen des Dorfes s<strong>in</strong>d treue Kirchgänger<strong>in</strong>nen, sie s<strong>in</strong>dstarke Frauen, die wissen, was sie wollen und die ihren Teil


Die Rolle der Kirche53zum Familiene<strong>in</strong>kommen beitragen. Auf der der Frauenuniongegenüber liegenden Straßenseite bef<strong>in</strong>det sich das Büroder Studentenvere<strong>in</strong>igungen. Diese Gruppen haben vieleMitglieder und veranstalten sportliche Ereignisse und andere„soziale“ Aktivitäten für junge Leute. E<strong>in</strong>ige dieser Veranstaltungens<strong>in</strong>d auch für Kukis offen, doch <strong>in</strong> der Regel s<strong>in</strong>d dieVeranstaltungen für Naga-Studenten. Dann gibt es noch e<strong>in</strong>eMenschenrechtsgruppe ganz <strong>in</strong> der Nähe der Hauptstraße,die „politische“ Veranstaltungen wie politische Versammlungen,Märsche und Demonstrationen organisiert, Plakateund Flugblätter druckt und e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Bibliothek für all dieunterhält, die ke<strong>in</strong>e Bücher haben und lesen oder sich <strong>in</strong>formierenwollen. All diese Aktivitäten werden <strong>von</strong> der Kircheunterstützt, was den Teilnehmenden sehr wichtig ist.In zahlreichen Dörfern erzählte man uns, dass die Rebellengruppendirekten Kontakt zu der Kirche hätten. Viele derjungen Männer, die <strong>in</strong> den Untergrund gehen, s<strong>in</strong>d Geme<strong>in</strong>demitglieder.Wenn sie ihr Heimatdorf besuchen oderwenn sie während e<strong>in</strong>es Waffenstillstandes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dorfe<strong>in</strong>quartiert s<strong>in</strong>d, nehmen sie an Gottesdiensten und anderenAktivitäten teil. Da die Kirche diese bedeutende Rolleim Alltag des Dorfes spielt, kann sie zum Beispiel verlangen,dass Frauen und K<strong>in</strong>der <strong>von</strong> der Guerilla verschont werden.Wenn es zu sexuellen Kontakten oder zu Liebesbeziehungenzwischen Untergrundkadern und Dorfbewohnern kommt,kann sie e<strong>in</strong>greifen und helfen, e<strong>in</strong>e Lösung zu f<strong>in</strong>den. DieKirchenführer s<strong>in</strong>d sehr angesehen <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>de, so dassdie unterschiedlichen Rebellengruppen es für politisch klughalten, sich zum<strong>in</strong>dest die stillschweigende Duldung derKirche e<strong>in</strong>zuholen, wenn sie Steuern e<strong>in</strong>treiben oder sich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Dorf e<strong>in</strong>quartieren. In vielerlei H<strong>in</strong>sicht geht dieseBeziehung <strong>von</strong> beiden Seiten aus. Umso erstaunlicher ist es,dass die Kirche nicht e<strong>in</strong>e wichtigere Rolle im Friedensprozessgespielt hat. E<strong>in</strong> Betroffener kritisiert:


54Die Rolle der Kirche„Wenn ich ehrlich se<strong>in</strong> soll, muss ich sagen, dass die Kirche versagthat und ihre Verantwortung ihren Geme<strong>in</strong>den gegenüber nichterfüllt hat. 90% der Nagas s<strong>in</strong>d Christen. Die Kirche ist die stärksteund anerkannteste Institution <strong>in</strong> Manipur. Die Landesregierungkann ohne die Zustimmung der Kirche nicht regieren. 75% derEntwicklungsprojekte <strong>in</strong> Manipur verdanken wir der Kirche, dienicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle, aber e<strong>in</strong>e starke personelle Machtdarstellt. Doch die Kirchenoberen haben offenbar nicht verstanden,warum die Berl<strong>in</strong>er Mauer gefallen ist, wer sie zu Fall gebracht undden Lauf der Geschichte verändert hat ... Sie haben nicht verstanden,dass diese Menschen ihre Kraft für ihre politische Arbeit ausdem Christentum schöpften. Wer ist verantwortlich für die positivenVeränderungen der politischen Situation <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika? Menschen,die ihre Kraft aus dem Christentum schöpften. Wer hat dieApartheid <strong>in</strong> Südafrika beendet? Menschen, die <strong>von</strong> der christlichenLehre durchdrungen waren und die Kirche selbst. Die Kirchenführerder Nagas müssen das erst noch verstehen. Sie haben nochihre Aufgabe <strong>in</strong> dieser Geschichte zu erfüllen. Wir sagen Frieden,Frieden, Frieden. Aber Frieden fällt nicht e<strong>in</strong>fach vom Himmel. Manmuss schon etwas dafür tun. Frieden bedeutet Stellung beziehen,offen auszusprechen, wer Recht hat und wer Unrecht. Ich weißnoch, wie die Dorfältesten vor 40 Jahren wollten, dass die Kirchesich für Gerechtigkeit und Frieden e<strong>in</strong>setzt. So kam auch der letzteWaffenstillstand zustande. Die Lage war wirklich kritisch. Unddennoch g<strong>in</strong>g die <strong>in</strong>dische Regierung auf das Anliegen der Kirchee<strong>in</strong> und akzeptierte den Vorschlag der Friedensmission. Heuteverstehen das die jungen Kirchenführer nicht. Die Kirche kümmertsich um alltägliche Belange, hat aber ihre eigentliche Rolle nichtverstanden.“So berechtigt diese Kritik auch se<strong>in</strong> mag, sie gibt nur e<strong>in</strong>eSeite der Geschichte wieder. Während des Naga-Kuki-Konfliktes<strong>in</strong> den frühen neunziger Jahren und danach war dieKirche sehr wohl <strong>in</strong> der Friedensarbeit engagiert. Auf unsererReise durch Manipur hörten wir <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>teressanten


Die Rolle der Kirche55kirchlichen Initiative, die maßgeblich zur Aufrechterhaltungdes Friedens beigetragen hat. Immer wieder kam uns der Begriff„Pulpit exchange“, „Kanzeltausch“ zu Ohren. Wir fandenheraus, dass sich dah<strong>in</strong>ter der Austausch <strong>von</strong> Priestern verbirgt.E<strong>in</strong> Kuki-Priester hielt Gottesdienste bei e<strong>in</strong>er Naga-Geme<strong>in</strong>de ab und e<strong>in</strong> Naga-Priester bei e<strong>in</strong>er Kuki-Geme<strong>in</strong>deund beide predigten über Frieden. Der „Kanzeltausch“fand nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Geme<strong>in</strong>de statt, sondern <strong>in</strong>zahlreichen Städten und Dörfern und wird bis heute aufrechterhalten. Überall wo die Bevölkerung gemischt ist, kümmertsich die Kirche um den regelmäßigen Austausch der Priester,vielleicht um deutlich zu machen, dass Friedensarbeit sichnicht nur <strong>in</strong> Krisenzeiten lohnt. Zusammenfassend ließe sichsagen, dass die Kirche als mächtige und gut etablierte Institution<strong>in</strong> Manipur zeitweise e<strong>in</strong>e extrem positive Rolle gespielthat, zeitweise jedoch nicht all ihre zur Verfügung stehendenKräfte für die Friedensarbeit mobilisiert hat.


56SchlussfolgerungKe<strong>in</strong>e Theorie schützt Menschen vor Gewalt. Wir habenversucht zu zeigen, warum Menschen <strong>in</strong>mitten gewalttätigerAuse<strong>in</strong>andersetzungen friedlich bleiben, warum es auch<strong>in</strong> Krisenzeiten Enklaven des Friedens gibt. E<strong>in</strong>e VielzahlFaktoren wie die geographische Lage, die ethnische Zusammensetzunge<strong>in</strong>er Bevölkerung und ihre Lebensbed<strong>in</strong>gungen,vorhandene Regierungsstrukturen aber auch das aktiveE<strong>in</strong>greifen e<strong>in</strong>zelner Menschen – vor allem <strong>von</strong> Menschen <strong>in</strong>Machtpositionen – tragen zur Friedenssicherung bei. Friedenist ke<strong>in</strong> Zustand, sondern e<strong>in</strong> vielschichtiger Prozess, dessenBestandteile nicht isoliert betrachtet werden können.E<strong>in</strong>s jedoch lässt sich verallgeme<strong>in</strong>ern: Menschen wollenke<strong>in</strong>e Gewalt. Sie wollen vor allem <strong>in</strong> Frieden leben. FürM<strong>in</strong>derheiten e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die <strong>in</strong> der öffentlichenWahrnehmung nicht vorkommen und deren Belange <strong>von</strong> derRegierung ignoriert werden, ist Frieden jedoch kaum mehrals e<strong>in</strong> abstrakter Begriff, denn sie fechten alltäglich Kämpfeaus, und sei es um das bloße Überleben. Sie wissen, dass sievom Staat wenig zu erwarten haben, und das macht sie anfälligfür den Druck und die Versprechungen militanter Gruppen.Auch die Nagas und Kukis können sich auf den fernen<strong>in</strong>dischen Staat nicht verlassen, dessen Beamte <strong>in</strong> ihnen soetwas wie Außerirdische sehen.In den angeführten Beispielen waren die Menschen ausunterschiedlichen Gründen motiviert, sich für Friedene<strong>in</strong>zusetzen. Das Dorf Kaimai wurde <strong>von</strong> den Kämpfenverschont, weil die Mitglieder des Ältestenrates sich demFrieden verschrieben hatten. Aber nicht nur die Existenze<strong>in</strong>er traditionellen Struktur und die früheren Gewalterfahrungenihrer Mitglieder, sondern auch das empf<strong>in</strong>dlicheKräftegleichgewicht <strong>in</strong> Kaimai – die Kukis dom<strong>in</strong>ierten im


Schlussfolgerung57Dorf, die Nagas das Land außerhalb – und der Stolz derDorfbewohner, Vorbild zu se<strong>in</strong>, haben im Friedensprozesse<strong>in</strong>e Rolle gespielt. Und schließlich ist da noch die Tatsache,dass Kaimai den unterschiedlichen Rebellengruppen, gelegentlichsogar den Regierungstruppen als Rastplatz diente– auch Kämpfer haben h<strong>in</strong> und wieder das Bedürfnis nachRuhe und profitierten<strong>von</strong> e<strong>in</strong>em friedlichenKaimai.Im Falle <strong>von</strong> Kharamhieß es für denStamm, der e<strong>in</strong>e„M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> derM<strong>in</strong>derheit“ darstellt,se<strong>in</strong>e Neutralität zuwahren oder unterzugehen.Dies stellte e<strong>in</strong>estarke Motivation dar,sich für den Friedene<strong>in</strong>zusetzen. Darüberh<strong>in</strong>aus war derWille, das existierendeLebensniveau im Dorfnicht aufs Spiel zusetzen, entscheidenderBewegungsgrund.Und obwohl das Dorf ebenfalls zahlreichen Rebellengruppenals Unterschlupf dient, ist dieser Frieden erhalten geblieben.Möglicherweise s<strong>in</strong>d die Kharam für die Rebellengruppenaber auch nicht „<strong>in</strong>teressant“ genug, um sie auf ihre jeweiligeSeite ziehen zu wollen.In Litaan h<strong>in</strong>gegen wurde die Schlüsselrolle <strong>von</strong> Frauen <strong>in</strong>Friedensprozessen besonders deutlich. Hier gibt es e<strong>in</strong>en ge-


58Schlussfolgerungme<strong>in</strong>samen öffentlichen Raum, <strong>in</strong> dem Naga- und Kukifrauenarbeiten, sich treffen, reden, Informationen austauschen ...Sie haben alles getan, sich diesen Freiraum zu erhalten. Siehaben auch die Männer da<strong>von</strong> überzeugt, dass Gewalt nurVerlust bedeutet. Litaan ist auch e<strong>in</strong>er der wenigen Orte, diewir besucht haben, wo Naga- und Kuki-K<strong>in</strong>der zusammenzur Schule gehen, und wo regelmäßig geme<strong>in</strong>same Sportveranstaltungenstattf<strong>in</strong>den.Der Naga-Kuki-Konflikt Anfang der neunziger Jahrekostete vielen Menschen das Leben und g<strong>in</strong>g mit nie zuvorda gewesenen Gewaltausbrüchen zwischen zwei Gruppene<strong>in</strong>her, die zuvor friedlich mite<strong>in</strong>ander gelebt hatten. Langangestauter Unmut über das Machtgefälle zwischen Nagasund Kukis wich offener Fe<strong>in</strong>dschaft und e<strong>in</strong>er klaren Grenzziehungzwischen den Ethnien. Trotz des derzeitigen Friedenszwischen den beiden Gruppen ist die Gefahr jederzeitgegeben, dass es zu erneuten Fe<strong>in</strong>dseligkeiten kommt. DieKonflikte, die zum Ausbruch der Gewalt führten, s<strong>in</strong>d längstnicht gelöst. Sie s<strong>in</strong>d im Alltag nur nicht mehr so präsent,weil die meisten Dörfer heute nur noch <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er Ethniebewohnt werden.Was auf den ersten Blick wie e<strong>in</strong>e „Stammesfehde“ aussehenmag, war <strong>in</strong> Wirklichkeit Teil e<strong>in</strong>es größeren Geschehens.Trotz se<strong>in</strong>er eigenen Geschichte und se<strong>in</strong>es spezifischenVerlaufs kann der Naga-Kuki-Konflikt nicht <strong>von</strong> derallgeme<strong>in</strong>en politischen Situation <strong>in</strong> Manipur und <strong>in</strong> <strong>Indien</strong>getrennt werden. Auch die sozio-ökonomischen Unterschiedezwischen Nagas und Kukis werden sich nicht <strong>in</strong> Luft auflösen,selbst wenn im Konflikt der Nagas mit dem <strong>in</strong>dischenStaat, dessen „Nebenschauplatz“ der Naga-Kuki-Konfliktwar, e<strong>in</strong>e dauerhafte Lösung gefunden werden sollte. Die Kukiswerden weiterh<strong>in</strong> fürchten, <strong>von</strong> den machtvolleren Nagas<strong>in</strong>s Abseits gedrängt zu werden; die Nagas fürchten weiterh<strong>in</strong>die „Geldgier und Grausamkeit“ der Kukis.


Schlussfolgerung59E<strong>in</strong> Konflikt h<strong>in</strong>terlässt außerdem auch Spuren, die nichtunbed<strong>in</strong>gt auf den ersten Blick zu sehen s<strong>in</strong>d. Angst undFrustration s<strong>in</strong>d auch e<strong>in</strong>e Sache des Herzens und der Seele,wie Pradip Phanjoubam schreibt. Frieden ist vielschichtig, iste<strong>in</strong>e Dase<strong>in</strong>sform, e<strong>in</strong> geistiger Zustand. Gewalt und Stressh<strong>in</strong>terlassen Traumata, die den äußeren Frieden <strong>von</strong> <strong>in</strong>nenher bedrohen. Solange Frieden nicht tief im Bewusstse<strong>in</strong>verankert ist, droht er jederzeit zu zerbrechen. Früher oderspäter wird zum Beispiel im Ältestenrat <strong>von</strong> Kaimai die jüngereGeneration nachrücken, die <strong>in</strong> ihrem Leben kaum etwasanderes als Entfremdung und Gewalt erlebt hat, und die soetwas wie e<strong>in</strong>en Ältestenrat womöglich als e<strong>in</strong>e überkommene,unmoderne Struktur betrachtet. Das heißt, der derzeitigeFrieden ist nicht für alle Ewigkeit garantiert. Ihn zu erhaltenbedeutet fortwährendes Engagement.Dieser Text wäre ohne die Unterstützung und Hilfe <strong>von</strong>Mumai Pheiga <strong>in</strong> Manipur nicht geschrieben worden, undich danke ihm herzlich dafür.


60Das Projekt„Steps Towards Conflict Prevention“Die vorliegende Fallstudie wurde im Rahmen des „StepsTowards Conflict Prevention“-Projekts (STEPS) unter derLeitung der Collaborative for Development Action (CDA,Massachusetts, USA) durchgeführt. STEPS untersucht, wiees e<strong>in</strong>zelnen Bevölkerungsgruppen gel<strong>in</strong>gt, sich aus gewalttätigenKonflikten herauszuhalten, obwohl um sie herumGewalt eskaliert. In weltweiten Krisengebieten durchgeführteFallstudien sollen der Frage nachgehen, ob es <strong>in</strong> sche<strong>in</strong>barvöllig unterschiedlichen Konflikten wiederkehrende Muster,vergleichbare Strukturen oder ähnliche Faktoren gibt, die<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Politik der Krisenprävention und der gewaltfreienLösung <strong>von</strong> Konflikten umgesetzt werden können.Die Fallstudien spiegeln die Sichtweisen und Standpunkteder Menschen wider, die an ihrer Entstehung mitgearbeitethaben – Wissenschaftler, E<strong>in</strong>zelpersonen, Partnerorganisationen,Betroffene und Beobachter. Sie stellen noch ke<strong>in</strong>abschließendes Ergebnis des STEPS-Projektes dar, sonderns<strong>in</strong>d Arbeitspapiere. Wir freuen uns über jede Rückmeldung,über jeden Kommentar. Um mehr über STEPS und CDA zuerfahren, verweisen wir auf die Homepage www.cda<strong>in</strong>c.com.Das Projekt möchte an dieser Stelle allen E<strong>in</strong>zelpersonenund Organisationen danken, die großzügig ihre Zeit zurVerfügung gestellt haben und bereit waren, ihre <strong>Erfahrungen</strong>mit uns zu teilen. STEPS wird unterstützt <strong>von</strong> der Danish InternationalDevelopment Agency (DANIDA), <strong>von</strong> der SwedishInternational Development and Cooperation Agency(Sida), dem Königlichen Außenm<strong>in</strong>isterium <strong>von</strong> Norwegen,Norwegian Church Aid (NCA) sowie dem EvangelischenEntwicklungsdienst (EED).


Friedens<strong>in</strong>selnGewaltprävention praktisch:<strong>Erfahrungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Dorfgeme<strong>in</strong>schaften</strong> <strong>in</strong> <strong>Nordost</strong>-<strong>Indien</strong>In dem <strong>in</strong>dischen Bundesstaat Manipur haben Gewalt und Sezessionsbestrebungene<strong>in</strong>e lange Geschichte: Gewalttätige Ause<strong>in</strong>andersetzungenzwischen ethnischen Gruppen kosteten <strong>in</strong> den 90er Jahren unzähligeMenschenleben. Auch wenn das Gewaltniveau nicht mehr so hoch ist, s<strong>in</strong>ddie Beziehungen der Gruppen <strong>in</strong> Manipur sehr angespannt. In e<strong>in</strong>er Fallstudiefür den EED geht die südasiatische Friedens- und Genderforscher<strong>in</strong>Urvashi Butalia der Frage nach, wie es Geme<strong>in</strong>schaften gel<strong>in</strong>gt, sich ausMachtkämpfen und Ause<strong>in</strong>andersetzungen herauszuhalten und <strong>in</strong> friedlichemMite<strong>in</strong>ander „Friedens<strong>in</strong>seln“ zu schaffen.

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