11.07.2015 Aufrufe

Mathematik für Maschinenbauer

Mathematik für Maschinenbauer

Mathematik für Maschinenbauer

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Mathematik</strong> für <strong>Maschinenbauer</strong>Sönke HansenNorbert Köckler ∗Januar 2010∗ Mit kleineren Ergänzungen und Korrekturen von Joachim Hilgert


Inhaltsverzeichnis1 Analysis und numerische Analysis 71.1 Das Rechnen mit reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.1.1 Reelle Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.1.2 Axiome und Rechengesetze . . . . . . . . . . . . . . . . 91.1.3 Rechnen mit Ungleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1.4 Minimum und Maximum . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1.5 Absolutbetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.1.6 Arithmetisches Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.1.7 Summen und Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121.1.8 Das Axiom von Archimedes . . . . . . . . . . . . . . . . 141.1.9 Gleitpunktarithmetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.2 Beweismethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.2.1 Der direkte Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.2.2 Der indirekte Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191.2.3 Vollständige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201.3 Mengen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.3.1 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.3.2 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.4 Konvergenz reeller Zahlenfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311.4.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311.4.2 Umgang und Rechnen mit Folgen . . . . . . . . . . . . . 351.4.3 Spezielle Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371.4.4 Iterationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391.5 Die Vollständigkeit der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . 401.5.1 Vollständigkeitsaxiom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401.5.2 Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431.5.3 Intervallfolgen, Bisektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431.6 Unendliche Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451.7 Trigonometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511.7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511.7.2 sin, cos und deren Umkehrfunktionen . . . . . . . . . . . 521.7.3 tan, cot und deren Umkehrfunktionen . . . . . . . . . . 571.7.4 Anwendungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591.8 Vektorrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591.8.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591.8.2 Verknüpfungen und Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . 601.8.3 Koordinatenvektoren und -systeme . . . . . . . . . . . . 641.8.4 Vektoren im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681.9 Stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733


Inhaltsverzeichnis1.9.1 Grenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731.9.2 Motivation und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 741.9.3 Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751.9.4 Unstetigkeitsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771.10 Exponentialfunktion und Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . 811.10.1 Die Exponential- oder e-Funktion . . . . . . . . . . . . . 811.10.2 Der Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841.10.3 Die Hyperbelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871.11 Grundlagen der Differenzialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . 891.11.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891.11.2 Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921.11.3 Differentiationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931.12 Mittelwertsatz und Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971.13 Anwendungen der Differenzialrechnung . . . . . . . . . . . . . . 1001.13.1 Grenzwertberechnung mit der Regel von de l’Hospital . 1001.13.2 Lösungen von Gleichungen mit dem Newton Verfahren . 1021.13.3 (C) Bestimmung von Extremstellen . . . . . . . . . . . . 1041.13.4 (D) Konvexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1071.13.5 (E) Kurvendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091.14 Grundlagen der Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111.15 Integrationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1191.15.1 Integration mit Hilfe bekannter Ableitungen . . . . . . . 1191.15.2 Produktintegration (partielle Integration) . . . . . . . . 1201.15.3 Substitutionsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221.16 Integration rationaler Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1261.16.1 Polynomdivision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271.16.2 Partialbruchzerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271.17 Die Taylorformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1331.17.1 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1331.17.2 Taylorformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1341.17.3 Anwendung I: Extremwert-Test . . . . . . . . . . . . . . 1381.17.4 Anwendung II: Konvergenz von Iterationsverfahren . . . 1391.18 Numerische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1401.18.1 Grundlegende Quadraturregeln . . . . . . . . . . . . . . 1401.18.2 Adaptive Quadratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1421.18.3 Gauß-Quadratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1431.18.4 Eingebettete Gauß-Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 1451.19 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1471.20 Komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1521.20.1 Definition und Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . 1521.20.2 Polarkoordinatendarstellung und ihre Anwendung . . . . 1551.21 Die komplexe Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . 1611.21.1 Übertragung bekannter Begriffe nach C . . . . . . . . . 1611.21.2 Die Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1621.21.3 Verhalten für imaginäre Stellen und Anwendungen . . . 1631.22 Komplexe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1671.22.1 Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1674


Inhaltsverzeichnis1.22.2 Das Horner-Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1681.22.3 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Literatur 1735


Inhaltsverzeichnis6


1 Analysis und numerische Analysis1.1 Das Rechnen mit reellen Zahlen1.1.1 Reelle ZahlenBei der Untersuchung von Funktionen, der Konstruktion geometrischer Objekteoder der Messung von physikalischen Größen verwendet man Zahlen ausverschiedenen Zahlenmengen. Im Folgenden werden einige Zahlenmengen sowiedie Übergänge von einer Zahlenmenge zur nächstumfassenden Menge vorgestellt.Das Zählen führt auf die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, . . .. Das Symbol für dieMenge aller natürlichen Zahlen ist N. Innerhalb dieser Menge kann uneingeschränktaddiert werden. Dagegen führt die Subtraktion aus den natürlichenZahlen heraus.Daher erweitert man die natürlichen Zahlen um die Null 0 und die negativenZahlen. So erhält man die ganzen Zahlen . . . , −3, −2, −1, 0, 1, 2, 3, . . .. In dieserZahlenmenge (mit dem Symbol Z) sind Addition, Subtraktion und Multiplikationohne Einschränkung an die beteiligten Zahlen durchführbar. Die Divisionist dagegen nur eingeschränkt möglich (Teilbarkeit, Primzahlen).Um diese Beschränkung aufzuheben, geht man zu Zahlen über, die sich alsBrüche ganzer Zahlen schreiben lassen. Diese haben den formalen Aufbau m nmit m, n ∈ Z und n ≠ 0 und heißen rationale Zahlen. Ihre Gesamtheit wirdmit Q gekennzeichnet.Beispiele für rationale Zahlen sind 1 2 , 3 4 , −5 4 , 38313 .Gemeinsame Teiler von Zähler und Nenner dividiert man heraus, um eine vollständiggekürzte Darstellung zu erhalten, z.B. 2436 = 2 3 .Gekürzte Darstellungen einer rationalen Zahl sind eindeutig, wenn man verlangt,dass der Nenner positiv ist.Alle Grundrechenarten – mit Ausnahme der Division durch Null – sind innerhalbder rationalen Zahlen uneingeschränkt durchführbar.Darüberhinaus kann man Zahlen aus Q (und damit auch aus Z und N) immerihrer Größe nach vergleichen. a < b heißt ”a ist kleiner als b” und a ≥ b heißt”a ist größer oder gleich b”. Man ordnet die Zahlen auf der Zahlengeraden an.Sie sind wohlgeordnet.In der Geometrie und in der Mechanik benötigt man Zahlen, um Längen,Flächeninhalt, Koordinaten von Punkten u.a. darzustellen. Für diesen Zweck7


1 Analysis und numerische Analysisreichen die rationalen Zahlen nicht aus, da viele – genauer: die meisten – geometrischenGrößen irrationalen (= nicht rationalen) Zahlen entsprechen.Zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen:Die Kreiszahl π ist irrational.Sie ist definiert alsπ =KreisumfangKreisdurchmesser .U = 2π rd = 2 rDie Länge der Diagonale imEinheitsquadrat ist d = √ 2nach Pythagoras. √ PSfrag replacements2 ist irrational(Beweis später).0 1 √2Man erweitert den Zahlenbereich zu den reellen Zahlen R, welche die rationalenund die irrationalen Zahlen beinhalten. Die Visualisierung dieses Zahlensystemserfolgt durch die Zahlengerade. In der folgenden Abbildung sind einigeganze, rationale bzw. irrationale Zahlen an ihrer Position auf der Zahlengeradenzu sehen:√1/3 2| |π|−1 0 1 2 3 4+ + + + + + + + +✲Jede reelle Zahl besitzt eine Dezimalbruchentwicklung, die i.A. nicht abbricht.Die Bestimmung der Dezimalentwicklung einer rationalen Zahl erfolgt durchschriftliche Division. Der Anfang dieser Berechnung ist für die rationale Zahl 1 7nachfolgend gezeigt. Beispiele von Dezimalbruchentwicklungen einiger reellerZahlen sind ebenfalls im folgenden Beispiel aufgeführt.Beispiel 1.1.1 √2 = 1.414213 . . .π = 3.141592654 . . .25= − 636100 = −6.3613= 0.333 . . . = 0.317= 0.1428571 = 1.0 = 0.9− 159Satz 1.1.1 Eine reelle Zahl ist rational genau dann, wenn ihre Dezimalbruchentwicklungabbricht oder periodisch ist.8


1.1 Das Rechnen mit reellen ZahlenDies bedeutet, dass jede periodische Dezimalbruchentwicklung zu einem Bruchumgeschrieben werden kann.Auch über den reellen Zahlen sind nicht alle Gleichungen mit reellen Koeffizientenlösbar. Die Gleichung x 2 = −2 besitzt die formale Lösung √ −2. Dieseist aber nicht reell (vgl. auch Folgerung 1.1.2).Als Ausweg definiert man die imaginäre Einheit i := √ −1 und erweitert denZahlenbereich zu den komplexen Zahlen C. Jede komplexe Zahl hat die Formz = u + i · v mit u, v ∈ R und i = √ −1.Innerhalb der komplexen Zahlen besitzt nun jede polynomielle Gleichung mitkomplexen Koeffizienten komplexe Lösungen. Auf der anderen Seite gehen aberEigenschaften, die für reelle Zahlen gelten, verloren. Es gibt keine Anordnungder komplexen Zahlen mehr, d.h. man kann komplexe Zahlen nicht der Größenach vergleichen.Die komplexen Zahlen werden in der Gauß’schen Zahlenebene veranschaulicht:Gaußsche ZahlenebeneICPSfrag replacements32v1z = u + i v−3−2−100123u−1−2−31.1.2 Axiome und RechengesetzeDie Axiome für reelle Zahlen• sollen offensichtlich wahr sein,• alle bekannten Rechenregeln implizieren,• sollen das System der reellen Zahlen unter allen anderen denkbaren Zahlensysstemeneindeutig kennzeichnen.Das Rechnen mit reellen Zahlen beruht auf wenigen Grundgesetzen für dieAddition und die Multiplikation (woraus sich indirekt Subtraktion und Divisionergeben). Diese werden Körperaxiome genannt. Für beliebige relle Zahlen a, bund c müssen gelten:9


1 Analysis und numerische AnalysisAssoziativität:KommutativitätDistributivität:Neutrale ElementeInverse:a + (b + c) = (a + b) + ca · (b · c) = (a · b) · ca + b = b + aa · b = b · aa · (b + c) = a · b + a · ca + 0 = aa · 1 = a und 0 ≠ 1a + x = 0 ist eindeutig lösbara · x = 1 ist eindeutig lösbar, wenn a ≠ 0Das Negative (−a) und den Kehrwert 1 a = a−1 (wenn a ≠ 0) definiert man alseindeutige Lösungen der Gleichungen a + (−a) = 0 sowie a · 1a = 1.Subtraktion und Division werden dann wie folgt definiert: a − b := a + (−b)sowie a b := a · ( 1b).Hier sind einige Rechenregeln (und ihre Herleitung aus den Axiomen):(i) Aus x + a = y + a folgt x = y(ii) 0 · a = 0(iii) 2 = 1 + 1; Es ist nichts zu zeigen, da dies der Definition von 2 entspricht.Aber 2 ≠ 1 ist eine echte Aussage und wichtig.(iv) a b + c d = a · d + c · b wenn b, d ≠ 0b · dAnordnungsaxiomeNeben dem Rechnen mit Zahlen muss man auch Vergleiche von Zahlen anstellenkönnen, z.B. a ≤ b mit der Bedeutung ”a ist kleiner oder gleich b”.Vergleichssymbole sind: , ≥.Um die Vergleiche auf eine theoretische Basis zu stellen, benötigt man dieAnordnungsaxiome der reellen Zahlen. Für beliebige reelle Zahlen a, b und cmüssen gelten:Vergleichbarkeit: a < b oder a = b oder a > bTransitivität: Aus a < b und b < c folgt a < c.Verträglichkeit: Wenn a < b, dann ist a + c < b + c.Wenn a < b und 0 < c, dann ist a · c < b · c.Folgerung 1.1.2 Einige Folgerungen aus diesen Axiomen ergeben Rechenregelnfür Ungleichungen:(i) Aus 0 < a folgt (−a) < 0, denn:(−a) = 0 + (−a) < a + (−a) = 0.(ii) Aus a < b folgt −b < −a.(iii) a 2 = (−a) 2 > 0 falls a ≠ 0.(iv) 0 < 1 < 2 (= 1 + 1). Insbesondere folgt: 0 ≠ 2.(v) Aus 0 < a < b und 0 < c < d folgt: ac < bd, denn:a · c < b · c < b · d(vi) Aus 0 < a < b folgt 0 < a 2 < b 2 .10


1.1 Das Rechnen mit reellen Zahlen1.1.3 Rechnen mit UngleichungenBeispiel 1.1.2 Für welche reellen Zahlen x gilt die Aussage 2x + 1x − 1 < 1?Zur Beantwortung werden äquivalente Umformungen unter Verwendung desSymbols ”⇔” genutzt. Dabei hat ⇔ die Bedeutung ”genau dann wenn”.Es ist eine Fallunterscheidung bezüglich des Nenners x − 1 nötig. Je nachVorzeichen dieses Terms erhält man verschiedene Teillösungen. Man beachte,dass nach (ii) aus Folgerung 1.1.2 sich die Richtung der Ungleichung ändert,wenn mit der Zahl −1 multipliziert wird (genauer: wenn zum Inversen derZahlen übergegangen wird).• x > 1: Der Nenner x − 1 ist damit größer als 0. Dann folgt:2x + 1x − 1< 1 ⇔ 2x + 1 < x − 1 ⇔ x < −2Dies führt zu einem Widerspruch. Es gibt in diesem Fall keine Lösung.• x < 1: Der Nenner x − 1 ist nun negativ. Es folgt:2x + 1x − 1< 1 ⇔ 2x + 1 > x − 1 ⇔ x > −2• x = 1: Dieser Fall ist wegen der Division durch 0 ausgeschlossen.Als Ergebnis erhält man: Die Aussage wird erfüllt genau von den reellen Zahlenx mit −2 < x < 1, d.h. als Lösungsmenge erhält man das Intervall (−2, 1) ={x ∈ R | −2 < x < 1}.1.1.4 Minimum und MaximumDas Maximum bzw. das Minimum zweier reeller Zahlen a, b wird definiert durch{ a, wenn a ≥ bmax(a, b) :=b, sonstmin(a, b) :={ a, wenn a < bb, sonstEinige Eigenschaften für Maxima und Minima lauten:min(a, b) ≤ a, b ≤ max(a, b)max(a, b) = − min(−a, −b)Die Definition von Maximum und Minimum von mehr als zwei Zahlen geschiehtrekursiv:max(a 1 , a 2 , . . . , a n ) := max(max(a 1 , . . . , a n−1 ), a n )min(a 1 , a 2 , . . . , a n ) := min(min(a 1 , . . . , a n−1 ), a n ).11


1 Analysis und numerische Analysis1.1.5 AbsolutbetragDer Absolutbetrag |a| einer reellen Zahl a gibt auf der Zahlengeraden denAbstand des Punktes a zum Ursprung an. Er ist definiert als{ a, wenn a ≥ 0|a| =−a, sonst (d.h. wenn a < 0)Einige Eigenschaften des Betrages sind:|a| ≥ 0,|a| = | − a|,|a · b| = |a| · |b|,|a + b| ≤ |a| + |b|,∣z.B. |(−3) + 4) < | − 3| + |4|, |3 + 4| = |3| + |4|.∣|a| − |b| ∣ ≤ |a − b|,denn: |a| = |(a − b) + b| ≤ |a − b| + |b|,und daher folgt |a| − |b| ≤ |a − b|,denn: |b| = |(b − a) + a| ≤ |a − b| + |a|,und daher folgt |b| − |a| ≤ |a − b|.Um Ungleichungen oder Gleichungen aufzulösen, die Beträge oder Maximabzw. Minima enthalten, muss man i.d.R. mit Fallunterscheidungen arbeiten.(Ü-Aufg.)1.1.6 Arithmetisches MittelDas arithmetische Mittel m von a und b ist definiert durch m = a + b2 .Die Eigenschaft |a − m| = |b − m| = |b−a|2bedeutet geometrisch, dass derAbstand von m zu a genauso groß ist wie der Abstand von m zu b. DieserAbstand entspricht gerade der halben Intervallbreite.Ist a < b, so gilt a < m < b.|a+m|b✲1.1.7 Summen und ProdukteDie Addition von mehr als zwei Zahlen definiert man rekursiv:a 1 + a 2 + a 3 := (a 1 + a 2 ) + a 3a 1 + a 2 + a 3 + a 4 := (a 1 + a 2 + a 3 ) + a 4.a 1 + a 2 + . . . + a n := (a 1 + · · · + a n−1 ) + a n.12


1.1 Das Rechnen mit reellen ZahlenWegen der Assoziativität und der Kommutativität der Addition ist die Klammerungund die Reihenfolge der Summanden unerheblich. Man verwendet dasSummenzeichen, um endliche Summen anzugeben.n∑a k = a 1 + a 2 + · · · + a nk=1Eine Umbenennung des Summationsindex ändert die Summe nicht:n∑ n∑a k =k=1Eine Verschiebung des Summationsindex ändert ebenfalls die Summe nicht,wenn auch die Summationsgrenzen entsprechend verschoben werden, z.B.n−3∑j=−2a j+3 =j=1a jn∑a k .k=1Analog definiert man endliche Produkte durch(n∏n−1) ∏a k = a 1 · a 2 · · · a n = a k · a nk=1k=1Spezialfälle endlicher Produkte sind Fakultäten und Potenzen.Die Fakultät n! ist das Produkt der natürlichen Zahlen von 1 bis n, in Formeln:n∏n! := 1 · 2 · · · n = j mit dem Sonderfall 0! := 1j=1Eine Potenz a n ist definiert durchn∏a n := a } · a {{· · · a}= a mit dem Sonderfall a 0 := 1n Faktoren j=1Potenzen mit negativen Exponenten lassen sich nur für Basen a ≠ 0 betrachten.In diesem Fall gilt:a −n = (a −1 ) n mit a −1 = 1 aAus den gegebenen Definitionen und den Axiomen folgen die Potenzrechengesetze.Beispielhaft seien hier einige wichtige Rechengesetze angegeben:Aus 0 < a < b folgt 0 < a n < b n .(ab) n = a n b n ,a n+m = a n a m ,(a n ) m = a n mEine Umkehrung der Potenzierung ist das Wurzelziehen. Die n-te Wurzel auseiner reellen Zahlen a ≥ 0 ist eine nicht-negative Lösung x ≥ 0 der Gleichungx n = a. Solch eine Lösung wird dann mit x = n√ a = a 1/n bezeichnet. Im oftanzutreffenden Spezialfall n = 2 spricht man von einer Quadratwurzel.13


1 Analysis und numerische Analysis1.1.8 Das Axiom von ArchimedesLegen die bisherigen Axiome das System der reellen Zahlen eindeutig fest? –Nein, noch nicht. Beispielsweise folgt die nachfolgende ”evidente” Eigenschaftnicht aus Körper- und Anordnungsaxiomen.Archimedisches Axiom. Zu jeder reellen Zahl x gibt es eine größere natürlicheZahl n mit der Eigenschaft x < n.Nimmt man dieses Axiom ebenfalls an, so stellt man fest, dass die Axiomesowohl für die rationalen Zahlen als auch für die reellen Zahlen gelten.Unterschieden werden diese beiden Zahlsysteme durch das – später zu besprechende– Vollständigkeitsaxiom für reelle Zahlen. Erst dieses erlaubt einsinnvolles Arbeiten mit Grenzwerten, Ableitungen, Integralen.1.1.9 GleitpunktarithmetikAuf einer Rechenanlage ist nur eine Teilmenge M der Menge R der reellenZahlen darstellbar. Nach dem IEEE 1 -Standard wird eine reelle Zahl x ∈ Mdargestellt alsx = sign(x) · a · E e−k . (1.1)Das Zahlensystem M ist durch vier ganzzahlige Parameter bestimmt:• die Basis E ∈ N, E > 1, meistens E = 2,• die Genauigkeit k ∈ N und• den Exponenten-Bereich e min ≤ e ≤ e max , e min , e max ∈ Z.Die Mantisse a ∈ N 0 ist definiert alsa = a 1 E k−1 + a 2 E k−2 + · · · + a k−1 E 1 + a k E 0 ; (1.2)für sie gilt also 0 ≤ a ≤ E k − 1. Dabei ist k die Mantissenlänge und die a isind Ziffern des Zahlensystems , also 0 oder 1 im Dualsystem mit der Basis 2.Die Zahl Null ist ein Sonderfall; ist x ≠ 0, so soll auch die erste Ziffer ungleichNull sein, d.h. es istE k−1 ≤ a < E k , falls x ≠ 0. (1.3)x heißt dann k-stellige normalisierte Gleitpunktzahl 2 zur Basis E. Das Rechnenmit solchen Zahlen heißt Rechnung mit k wesentlichen Stellen.Damit ergibt sich als Bereich der normalisierten Gleitpunktzahlen x ≠ 0:E e min−1 ≤ |x| ≤ E emax (1 − E −k ). (1.4)Eine wichtige Eigenschaft des Zahlensystems M ist, dass die Zahlen in ihmnicht den gleichen Abstand haben, also nicht äquidistant sind. Im Dualsystemspringt ihr Abstand mit jeder Zweierpotenz um den Faktor 2, siehe Abb. 1.11 Institute of Electrical and Electronics Engineers2 Wir schreiben diesen Begriff wie im Angelsächsichen. Im Deutschen ist auch Gleitkommazahlgebräuchlich.14


1.1 Das Rechnen mit reellen Zahlen0 0.5 1 2 3 4 5 6 7Abbildung 1.1: Verteilung der Gleitpunktzahlen für E = 2, k = 3, e min = −1und e max = 3.Jede Eingabezahl und jedes Zwischenergebnis einer (numerischen) Rechnung,welches nicht identisch mit einer Maschinenzahl ist, muss bei der Speicherungim Computer zu einer benachbarten Maschinenzahl gerundet werden.Die Zuordnungvorschrift x ↦→ rd(x), die einer reellen Zahl x das Element rd(x) ∈M zuordnet, welches ihm am nächsten ist, heißt Runden. Bei gleichem Abstandzu zwei benachbarten Gleitpunktzahlen gibt es verschiedene Möglichkeiten derRundung.Die Rundungsvorschrift ist eine monotone Abbildung:x ≥ y =⇒ rd(x) ≥ rd(y).Um die Abstände zwischen zwei Maschinenzahlen genauer zu charakterisieren,benötigt man den Begriff der Maschinengenauigkeit. Diese ist definiert als diekleinste positive Zahl g für die gilt:rd(1 + g) > 1. (1.5)Hier wird sie im folgenden mit τ bezeichnet. Die Maschinengenauigkeit gibtdamit den Abstand von 1.0 zur nächst größeren Gleitpunktzahl an. Ihr Wertbeträgtτ = E 1−k (1.6)Lemma 1.1.3 Der Abstand zwischen einer normalisierten Gleitpunktzahl xund einer benachbarten normalisierten Gleitpunktzahl ist mindestens E −1 τ|x|und höchstens τ|x|.Beweis. ÜbungWir überprüfen die Aussage von Lemma 1.1.3 für die kleinste und größte positiveGleitpunktzahl.Die kleinste Gleitpunktzahl ist x 1 = E k−1 E e min−k = E e min−1 und die Zweitkleinsteist x 2 = (E k−1 + E k−2 ) E e min−k . Also ist der Abstand: x 2 − x 1 =E k−2 E e min−k = E e min−2 . Lemma 1.1.3 sagt, dass dieser Abstand mindestensgleich E −1 E 1−k x 1 = E −1 E 1−k E e min−1 = E e min−k−1 ist, und das ist richtig,denn es ist natürlich k > 1. Andererseits soll dieser Abstand höchstens gleichE 1−k x 1 = E 1−k E e min−1 = E e min−ksein, und das ist aus demselben Grund richtig.15


1 Analysis und numerische AnalysisDie größte Gleitpunktzahl ist x 1 = (E k − 1) E emax−k und die zweitgrößte:x 2 = (E k − 2) E emax−k . Also ist der Abstand: x 1 − x 2 = E emax−k . Lemma 1.1.3sagt, dass dieser Abstand mindestens gleich E −1 E 1−k x 1 = E −1 E 1−k (E k −1)E emax−k = (1 − E −k )E emax−k ist, und das ist richtig. Andererseits soll dieserAbstand höchstens gleichE 1−k x 1 = E 1−k (E k − 1)E emax−k = (E − E 1−k ) E emax−ksein, und das ist auch richtig, weil die Basis E ≥ 2 ist.Beispiel 1.1.4 Um zu sehen, wie scharf die Schranken des Lemmas sind, berechnenwir Abstände und Schranken fürE = 10, k = 2, e min = −1, e max = 2.(1) Kleinste positive Zahl ist 10 · 10 −1−2 = 0.01.Zweitkleinste positive Zahl ist 11 · 10 −1−2 = 0.011.Abstand: E e min−2 = 0.001.Nach Lemma 1.1.3 soll gelten10 −1 10 −1 10 −2 = 0.0001 ≤ Abstand ≤ 10 −3 = 0.001.Diese Schranke ist also scharf (rechts).(2) Größte positive Zahl ist 99 · 10 2−2 = 99.Zweitgrößte positive Zahl ist 98 · 10 2−2 = 98.Abstand: 1 = E emax−k .Nach Lemma 1.1.3 soll gelten10 −1 10 −1 99 = 0.99 ≤ Abstand ≤ 10 −1 99 = 9.9.Diese Schranke ist also fast scharf (links).Lemma 1.1.5 Wenn x ≠ 0 im Bereich der normalisierten Gleitpunktzahlenliegt und rd(x) in M, dann gilt|rd(x) − x| ≤ Ee−k2|rd(x) − x|≤E1−k|x|2(max. absoluter Fehler bei Rundung),(max. relativer Fehler bei Rundung).(1.7)Beweis. Sei o.B.d.A. x > 0. Dann kann x geschrieben werden alsx = µE e−k , E k−1 ≤ µ ≤ E k − 1.Also liegt x zwischen den benachbarten Gleitpunktzahlen 3 y 1 = ⌊µ⌋E e−k undy 2 = ⌈µ⌉E e−k . Also ist entweder rd(x) = y 1 oder rd(x) = y 2 , und es gilt beikorrektem Runden|rd(x) − x| ≤ y 2 − y 12≤ Ee−k2 .3 ⌊µ⌋ ist die größte ganze Zahl kleiner gleich µ, ⌈µ⌉ ist die kleinste ganze Zahl größer gleichµ.16


1.1 Das Rechnen mit reellen ZahlenDaraus folgt|rd(x) − x||x|≤E e−k2µE e−k = 1 2 E1−k .Satz 1.1.6 Wenn x ∈ R im Bereich der darstellbaren Gleitpunktzahlen liegt,dann gelten folgende Abschätzungen:rd(x) = x (1 + ε) mit |ε| ≤ u (1.8)rd(x ∗ y) = (x ∗ y)(1 + ε) mit |ε| ≤ u. (1.9)Dabei ist ∗ eine der Elementaroperationen (+,−, · , / ). Man kann normalerweisedavon ausgehen, dass auch für das Wurzelziehen (1.9) gültig ist.Die Parameter der im IEEE-Standard vorgesehenen Gleitpunktzahlen-Systemewerden in Tabelle 1.1 wiedergegeben.Tabelle 1.1: Die Parameter der IEEE Standard-Arithmetik zur Basis E = 2Genauigkeit t e min e max τEinfach 24 −125 128 2 −24 ≈ 6 × 10 −8Doppelt 53 −1021 1024 2 −53 ≈ 1 × 10 −16 17


1 Analysis und numerische Analysis1.2 BeweismethodenMathematische Lehrsätze stellen wahre Aussagen dar, für die ein Beweis vorhandenist. Der Beweis führt den Satz auf Axiome zurück, die als wahr angenommenwerden. Aussagen können wahr oder falsch sein. Eine andere Möglichkeitbesteht nicht.Hier ist ein Beispiel eines Satzes:Ist n eine gerade Zahl, dann ist n 2 auch eine gerade Zahl.Eine ganze Zahl n heißt bekanntlich gerade, wenn es eine ganze Zahl k gibtmit n = 2 · k. Man schreibt unter Verwendung logischer Kürzel:n gerade =⇒ ∃ k ∈ Z : n = 2 · k.Hier und im Folgenden bedeuten:SchreibweiseA ⇒ BA ⇔ B∃ x : E(x)∀x : E(x)BedeutungGilt A, dann auch B. (Wenn A gilt, dann auch B.)A gilt genau dann, wenn B gilt. (A ⇒ B und B ⇒ A.)Es gibt ein x mit der Eigenschaft E(x).Alle x haben die Eigenschaft E(x).¬A Negation der Aussage A.A ∧ B A und B.A ∨ B A oder B.Dieses Beispiel zeigt auch den typischen AufbauVoraussetzung =⇒ Behauptungeines Satzes.Um Sätze zu beweisen, verwendet man drei Beweisprinzipien: den direktenBeweis, den indirekten Beweis sowie die vollständige Induktion.1.2.1 Der direkte BeweisEin direkter Beweis wird mit einer wahren Aussage begonnen. Im Laufe derBeweisführung wird diese wahre Aussage genutzt, um durch logisch korrekteFolgerungen die Richtigkeit der Behauptung nachzuweisen.Der obige Satz soll direkt bewiesen werden:Satz 1.2.1 n gerade =⇒ n 2 gerade18


1.2 BeweismethodenBeweis.n gerade ⇐⇒ ∃k ∈ Z : n = 2 k=⇒ n 2 = (2 k) 2 = 4 k 2 = 2 · (2 k 2 )=⇒ n 2 gerade1.2.2 Der indirekte BeweisEin indirekter Beweis beruht darauf, dass eine Aussage entweder wahr oderfalsch ist und die <strong>Mathematik</strong> widerspruchsfrei ist. Um zu zeigen, dass eineAussage wahr ist, nimmt man an, sie wäre falsch und leitet daraus einen Widerspruchher.Satz 1.2.2 n gerade ⇐⇒ n 2 gerade.Beweis. “⇒” wurde bereits gezeigt.“⇐” Sei n ganz mit n 2 gerade.Annahme:n ungeradeDann ∃k ∈ Z mit n = 2k + 1 und es folgt:d.h. n 2 ist ungerade.n 2 = (2 k + 1) 2 = (2 k) 2 + 2 · 2 k · 1 + 1 2= 2 · (2 k 2 + 2 k) + 1Dies steht im Widerspruch zur Voraussetzung n 2 sei gerade. Also ist diegetroffene Annahme falsch, d.h. n ist gerade.Wie bereits gesagt, sind nicht alle für die Geometrie wichtigen Zahlen als Bruchganzer Zahlen darstellbar. Insbesondere gilt dies für die Länge der Diagonaleim Einheitsquadrat:Satz 1.2.3 √ 2 ist irrational.Beweis. Angenommen √ 2 wäre rational; dann wäre √ 2 als vollständig gekürzterBruch mit ganzen Zahlen m, n und n > 0 darstellbar:√2 =mn . (1.10)Quadriere beide Seiten der Gleichung und stelle um:2n 2 = m 2 .Somit ist m 2 und daher nach dem obigen Satz auch m gerade. Es existiertsomit eine ganze Zahl k mit m = 2 k.19


1 Analysis und numerische AnalysisDann folgt aber: 2 n 2 = 4 k 2 , also n 2 = 2 k 2 ist gerade. Folglich ist auch ngerade. Dies widerspricht aber unserer Voraussetzung, dass der Bruch (1.10)vollständig gekürzt ist. Damit ist die Annahme, dass √ 2 rational falsch ist.Also ist √ 2 irrational.1.2.3 Vollständige InduktionEin weiteres wichtiges Beweisverfahren ist das der vollständigen Induktion. Esberuht auf Grundeigenschaften der natürlichen Zahlen. Man hat Aussagen A 1 ,A 2 , A 3 , . . . , A n , . . . vorliegen, von denen man zeigen möchte, dass sie wahrsind. Dazu zeigt man:1. Induktionsanfang: A 1 ist wahr.2. Induktionsschritt: Ist (für beliebiges natürliches n) A n wahr, dann istauch A n+1 wahr.(Dominoeffekt). Man beweist in zwei Schritten ∞ viele Aussagen!1 + 2 + 2 2 + 2 3 + · · · + 2 100 ist ein Beispiel für eine geometrische Summe. Bevorwir mittels vollständiger Induktion eine allgemeine Formel beweisen, ermittelnwir durch Probieren eine Idee, wie die Formel aussehen könnte:(A 1 ) 1 + 2 1 = 3 = 4 − 1,(A 2 ) 1 + 2 1 + 2 2 = 7 = 8 − 1,(A 3 ) 1 + 2 1 + 2 2 + 2 3 = 15 = 16 − 1,.. ,(A 7 ) 1 + 2 1 + · · · + 2 7 = 255 = 256 − 1.Man kann daher fragen, ob allgemein gilt:1 + 2 1 + 2 2 + · · · + 2 n = 2 n+1 − 1?Dies ist tatsächlich richtig. Es gilt allgemeiner:Satz 1.2.4 (Satz über geometrische Summen) Es sei g eine reelle Zahlmit g ≠ 1. Für eine natürliche Zahl n gilt:(A n )n∑k=0g k = 1 − gn+11 − g .Beachte: g 0 = 1. Daher ist ∑ nk=0 gk = 1 + g 1 + g 2 + · · · + g n . Für den im Satzausgeschlossenen Fall g = 1 erhält man als Wert der Summe offensichtlichn + 1.Beweis. Wir formulieren für n = 1, 2, . . . folgende Aussage A n :(A n )n∑k=0g k = 1 − gn+11 − gWir beweisen die Richtigkeit aller A 1 , A 2 , . . . mittels vollständiger Induktion:20


1.2 Beweismethoden1. Induktionsanfang: A 1 ist wahr, denn1 + g =(1 + g) (1 − g)1 − g= 1 − g21 − g .2. Induktionsschritt: Sei n (irgendeine) natürliche Zahl, so dass A n wahrist. Wir haben zu zeigen, dass auch A n+1 wahr ist. Rechne:n+1∑g k =k=0n∑g k + g n+1k=0= 1 − gn+11 − gZerlegen+ g n+1 Induktionsvorauss. anwenden= (1 − gn+1 ) + g n+1 (1 − g)1 − g= 1 − gn+1 + g n+1 − g n+21 − g= 1 − g(n+1)+11 − ggemeinsamer BruchAssoziativitätBeispiel 1.2.1 Eine Anwendung der geometrischen Summe ist die Berechnungder Verzinsung auf einem Sparkonto.Jeweils am 1.1. eines Jahres wird eine Einzahlung 500 e geleistet. Der Jahreszinsbeträgt 4%.Wie hoch ist der Kontostand K 7 nach 7 bzw. K n nach n Jahren?K 1 = 500 · q = 520 mit q = 1 + 4100 = 1.04K 2 = (K 1 + 500) · q = 500 · (q 2 + q)K 3 = (K 2 + 500) · q = 500 · (q 3 + q 2 + q).K n = 500 · (q n + q n−1 + · · · + q 2 + q 1 )= 500 · q · (q n−1 + q n−2 + · · · + q 1 + q 0 )= 500 · q · 1 − qn1 − qK 7 = 500 · 1.04 · 1.047 − 11.04 − 1 ≈ 4107 eZinsgewinn = 4107 − 3500 = 607 e↑∑ Einzahlungen21


1 Analysis und numerische AnalysisSatz 1.2.5 (Bernoulli-Ungleichung) (n = 1, 2, 3, . . .)Wenn x ≥ −1 ist, dann gilt folgende Aussage:(B n ) (1 + x) n ≥ 1 + nxBeweis. Der Beweis wird mittels vollständiger Induktion über n geführt:1. Induktionsanfang: B 1 ist wahr, denn(1 + x) 1 = 1 + x ≥ 1 + x = 1 + 1 x2. Induktionsschritt: Sei n (irgendeine) natürliche Zahl, so dass B n wahrist. Wir haben zu zeigen, dass auch B n+1 wahr ist. Rechne:(1 + x) n ≥ 1 + n x | · (1 + x) ≥ 0(1 + x) n+1 ≥ (1 + n x) (1 + x)= 1 + (n + 1) x + n x 2≥ 1 + (n + 1) xy = (1 + x) n y = 1 + n x−1xFür Schätzungen und Abschätzungen ist die Bernoulli-Ungleichung besonderswichtig:Folgerung 1.2.6 Sei |x| ≪ 1, n ≥ 2. Dann ist(1 + x) n ≈ 1 + nx.Ingenieure nennen das Ersetzen des in x nichtlinearen Ausdrucks (1+x) n durchden in x linearen Ausdruck 1 + nx Linearisierung.22


1.3 Mengen und Funktionen1.3 Mengen und Funktionen1.3.1 MengenDefinitionenMengen sind Zusammenfassungen von Objekten (materielle, gedankliche) zueiner Gesamtheit. Die Objekte heißen Elemente der Menge.Man schreibt x ∈ M, wenn x ein Element der Menge M ist. Man sagt dann”x aus M”. Die Verneinung “x ist nicht aus M” wird mit x /∈ M beschrieben.Wir kennen schon folgende Zahlenmengen:N = Menge aller natürlichen ZahlenZ = Menge aller ganzen ZahlenQ = Menge aller rationalen ZahlenR = Menge aller reellen ZahlenC = Menge aller komplexen ZahlenEs gibt verschiedene Möglichkeiten eine Menge anzugeben:1. Durch Aufzählung ihrer Elemente, z.B.M = {3, a, π, @},M = { √ 2, −1},M = {2, 4, 6, . . .} = {2 k | k ∈ N}= Menge der positiven geraden Zahlen.2. Durch eine Eigenschaft: M = {x | hat die Eigenschaft E}Beispiele dafür sindM = {x | x ist eine in PB gemeldete Person },M = {x | x ist eine gerade ganze Zahl},M = {x | x 2 = 2}= { √ 2, − √ 2} (als Aufzählung),M = {n ∈ Z | ∃k ∈ Z : n = 2k + 1}= Menge aller ungerader Zahlen.Die Elemente einer Menge liegen nicht geordnet vor. Daher sind z.B. die Mengen{1, 2, 3} und {3, 1, 2} gleich. Alle Elemente sind paarweise voneinanderverschieden, also wird z.B. aus der aufzählenden Beschreibung {2, 2} eine “2”entfernt, so dass man {2} erhält; Duplikate werden also gestrichen.Zwei Mengen M und N gleich, wenn sie dieselben Elemente enthalten; in Formelnausgedrückt:M = N ⇐⇒ (∀x : (x ∈ M ⇔ x ∈ N)).23


1 Analysis und numerische AnalysisM heißt Teilmenge von N oder gleichwertig N Obermenge von M, wenn gilt:x ∈ M =⇒ x ∈ N.Man schreibt dann M ⊆ N oder seltener N ⊇ M.Man kann die Gleichheit von Mengen auch so ausdrücken:M = N ⇐⇒ M ⊆ N und N ⊆ MM heißt echte Teilmenge von N (in Zeichen: M ⊂ N), wenn M als Teilmengevon N nicht identisch mit N ist (in Zeichen: M ⊆ N aber M ≠ N).Beispielsweise gilt für die schon genannten Zahlmengen:N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R ⊂ CMengenoperationen und IntervalleMittels Mengenoperationen erzeugt man aus vorhandenen Mengen neue Mengen.Die folgenden Operationen werden am häufigsten verwendet:Vereinigungsmenge: M ∪ N = {x | x ∈ M oder x ∈ N}Durchschnittsmenge: M ∩ N = {x | x ∈ M und x ∈ N}Differenzmenge: M \ N = {x | x ∈ M und x /∈ N}In der folgenden Abbildung sind die resultierenden Mengen schraffiert.MMMNNNVereinigungsmenge Schnittmenge DifferenzmengeIntervalle sind zusammenhängende Stücke der reellen Zahlengeraden. Die Intervallgrenzensind reelle Zahlen oder ±∞. Insbesondere sind ±∞ keine reellenZahlen.Sind a < b reelle Zahlen bzw. ±∞, dann verwendet man folgende Schreibweisen:(a, b)= {x ∈ R | a < x < b} offenes Intervall[a, b]= {x ∈ R | a ≤ x ≤ b} abgeschlossenes Intervall(a, b]= {x ∈ R | a < x ≤ b}halboffene Intervalle[a, b)= {x ∈ R | a ≤ x < b}R + = (0, +∞)R + = [0, +∞).Man beachte, dass ±∞ immer als offener Rand notiert wird.Als alternative Schreibweise werden statt runder Klammern auch eckige Klammernnach außen verwendet: (a, b) =]a, b[, [a, b) = [a, b[ sowie (a, b] =]a, b].24


1.3 Mengen und FunktionenBeispiel 1.3.1 Aus den Intervallen M = [−1, 2] und N = [1, 3) erhält man:M ∪ N = [−1, 3)M ∩ N = [ 1, 2]M \ N = [−1, 1)Beispiel 1.3.2 Lösungsmengen von Ungleichungen beschreibt man zweckmäßigdurch Intervalle.(a)(b) Schreibe die MengeM = { x ∈ R | |x − 1| ≤ 2} = [−1, 3] } ✲[−1+0+1+2]3M = { x ∈ R | x ≠ 1 und1x − 1 > 1}(c)als (Vereinigung von) Intervalle(n).Fall x > 1:1x − 1 > 1 ⇔ 1 > x − 1 ⇔ 2 > xMan erhält als Teilergebnis: 1 < x < 2.Fall x < 1:Aber 2 < x < 1 nicht möglich!Also gilt: M = (1, 2)M = { x |1x − 1 > 1 ⇔ 1 < x − 1 ⇔ 2 < x1x + 4 ≥ 1 } ( ) [ )= − 4, −23x + 23 ∪ 1, +∞]−4[− 2 3+ 0 [1✲Mengen im MehrdimensionalenFür die Koordinatendarstellung von Punkten in der Ebene oder im Raumverwendet man das kartesische Produkt R 2 = R×R bzw. R 3 = R×R×R. Daskartesische Produkt zweier Mengen M und N ist die Menge aller geordnetenPaare:M × N = {(m, n) | m ∈ M und n ∈ N}Beispiel 1.3.3 (a) {1, 2}×{a, b, c} = {(1, a), (1, b), (1, c), (2, a), (2, b), (2, c)}(b, 1) gehört nicht zu dieser Menge!25


1 Analysis und numerische Analysisyycdbc−11 3xa1 2abxAbbildung 1.2: Kartesische Produkte und Mengen in der Ebene(b) Eine Rechteck in der xy-EbeneR = [a, b] × [c, d].Diese Mengen sind in der Abbildung 1.2 dargestellt.Teilmengen in einem kartesischen Produkt beschreibt man, wie bei allgemeinenMengen, oft durch Eigenschaften. So wird beispielsweise die Kreisscheibe K mitMittelpunkt (1, 0) und Radius 2 folgendermaßen beschrieben:K = {(x, y) ∈ R 2 | √ (x − 1) 2 + y 2 ≤ 2}Die grafische Darstellung ist in Abbildung 1.2 zu finden.1.3.2 FunktionenDefinitionenFunktionen stellen Abhängigkeiten zwischen Variablen dar.Ein Beispiel ist das Weg-Zeit-Gesetz des freien Falls. Mit den Variablen sfür den zurückgelegten Weg und t für die vergangene Zeit, ergibt sich eineZuordnung t ↦→ s = s(t):s = g [ m]2 t2 mit g = 9.81s 2 , s = Weg, t = ZeitIm Beispiel sind s und t reelle Variable. Es ist sinnvoll, Funktionen zwischenallgemeinen Mengen zu betrachten. Man spricht dann von Abbildungen.Seien X und Y Mengen. Eine Abbildung f von X nach Y ordnet Elementenx ∈ M ⊆ X genau ein Element f(x) ∈ Y zu. Man schreibtf : X → Y, x ↦→ f(x) oder f : X → Y, y = f(x).y = f(x) heißt Wert von f bei x, die Form “y = f(x)” nennt man Funktionsvorschrift.26


1.3 Mengen und FunktionenAnders als in vielen Darstellungen setzen wir mit der obigen Schreibweise nichtvoraus, dass f für jedes x ∈ X definiert ist, sondern nur für die Elemente seinesDefinitionsbereichesD(f) ⊆ X.In vielen Fällen wird jedoch D(f) = X sein.Die Menge aller Werte von f heißt Wertebereich oder Bildbereich:B(f) := {y ∈ Y | ∃x ∈ D(f) mit y = f(x)}Zwei Abbildungen sind genau dann gleich, wenn ihre Funktionsvorschriftenund ihre Definitionsbereiche gleich sind.f = g :⇔ D(f) = D(g) und f(x) = g(x) für alle x ∈ D(f) = D(g)Man veranschaulicht Abbildungen durch Skizzen wieXYD(f)B(f)oder durch Skizzen ihrer GraphenG(f) := { (x, y) ∈ X × Y | x ∈ D(f), y = f(x) } .Im Falle X = Y = R erhalten wir die vertrauten Funktionsgraphen.Beispiel 1.3.4 Wir betrachten verschiedene Funktionen. Die Graphen sehenwir in Abb. 1.3 auf der nächsten Seite.1. f 1 : R → R, x ↦→ x 2 , D(f 1 ) = R,f 2 : R → R, x ↦→ x 2 , D(f 2 ) = [ 0, 1],Wichtig: f 1 ≠ f 2 !2. g : R → R, x ↦→ 1 x, D(g) = R \ {0} = B(g).3. Betragsfunktion abs : R → R, x ↦→ |x|,{ 1 x ≥ 0,4. Sprungfunktion h : R → R, x ↦→0 sonst.5. Monome x ↦→ x n (Potenzfunktion).27


1 Analysis und numerische Analysis4f 1(x), f 2(x)abs(x)4abs(x)322g(x) = 1 xx1−4 −2g(x) = 1 x24x−2−2−112Abbildung 1.3: Graphen von FunktionenPSfrag replacements1.5h(x)(Sprungfunktion)−2−110.51 2xxP (x)4P 4 P 62P 21 0−2−1P 1−2P 3 P 5012x−4EigenschaftenEine Abbildung f : X → Y heißt injektiv oder eineindeutig, wenn sie jedenWert an höchstens einer Stelle annimmt:∀x 1 , x 2 ∈ D(f) : ( f(x 1 ) = f(x 2 ) ⇒ x 1 = x 2)Eine Abbildung heißt surjektiv, wenn jedes Element aus Y auch erreicht wird,d.h. es gilt B(f) = Y .Eine Abbildung heiß bijektiv, wenn sie injektiv und surjektiv ist.Eine Funktion f : R → R heißt streng monoton steigend (bzw. fallend), wennfür x 1 , x 2 ∈ D(f) gilt:x 1 < x 2 ⇒ f(x 1 ) < f(x 2 ),(bzw. x 1 < x 2 ⇒ f(x 1 ) > f(x 2 )).28


1.3 Mengen und FunktionenStreng monotone Funktionen (entweder steigend oder fallend) sind insbesondereeineindeutig.Monoton steigend (bzw. fallend) heißt f, wenn aus x 1 < x 2 nur f(x 1 ) ≤ f(x 2 )(bzw. f(x 1 ) ≥ f(x 2 )) folgt.Beispiel 1.3.5 f : R → R,1. f : R → R, D(f) = R, f(x) = x 2 ist nicht monoton und nicht injektiv.2. g : [0, 1] → [0, 1], D(g) = [0, 1], g(x) = x 2 ist streng monoton steigend,injektiv und surjektiv.3. h : R → R, D(h) = R, h(x) = x 3 ist streng monoton steigend, injektivund surjektiv.⎧⎨ x 3 für x < 04. k : R → R, D(k) = R, k(x) = 0 für 0 ≤ x < 1⎩(x − 1) 3 für 1 ≤ xist monoton steigend, aber nicht streng monoton steigend.k ist nicht injektiv, aber surjektiv.2h(x)k(x)0.5x−2 −0.51 2.5−1−2.5UmkehrfunktionenFunktionsgleichungen y = f(x) geben eine Vorschrift an, wie zu einem x einzugehöriges y berechnet wird. Sie können aber auch als Bestimmunggleichungaufgefasst werden: Suche zu einem gegebenen y ein passendes x mit y = f(x).Diese Aufgabe führt auf das Konzept einer Umkehrfunktion f −1 von f, die –falls sie existiert – folgende Eigenschaft haben soll:y = f(x) ⇔ x = f −1 (y)Damit f −1 existiert, muss f eineindeutig sein.Ist f : X → Y eineindeutig, dann ist die Umkehrabbildung/-funktion f −1 :Y → X definiert durch:D(f −1 ) = B(f)29


1 Analysis und numerische Analysisund für x ∈ D(f −1 ) = B(f) gilt:y = f −1 (x) ⇔ y ∈ D(f) und f(y) = xIm Falle X = Y = R entspricht diese Vertauschung von x und y folgendergeometrischer Tatsache: Der Graph von f −1 entsteht durch Spiegelung desGraphen von f an der 45 ◦ -Diagonalen.Beispiel 1.3.6f : R → R, x ↦→ x 2 , D(f) = [0, +∞ [f −1 : R → R, x ↦→ √ x, D(f) = [0, +∞ [3x 2PSfrag replacements2√ x140.51.5x123VerkettungSeien f : X → Y und g : Y → Z Abbildungen. Gilt B(f) ⊂ D(g), dann kannman f und g verketten zu einer neuen Abbildungg ◦ f : X → Z,x ↦→ g(f(x))mit Definitionsbereich D(g ◦ f) = D(f).g ◦ f heißt Verkettung oder Hintereinanderschaltung von f und g.Beispiel 1.3.7 f, g : R → R, D(f) = D(g) = Rf(x) = 2x + 1, g(x) = x 2(g ◦ f)(x) = (2x + 1) 2(f ◦ g)(x) = 2x 2 + 1g ◦ f ≠ f ◦ gLemma 1.3.1 Für f und seine Umkehrfunktion f −1 gelten folgende Aussagen:30


1.4 Konvergenz reeller Zahlenfolgen1. Oft ist g ◦ f ≠ f ◦ g.2. Stets gelten:(f −1 ◦ f)(x) = x ∀x ∈ D(f)(f ◦ f −1 )(x) = x ∀x ∈ D(f −1 ) = B(f)Beispiel 1.3.8 g(x) = 1 x , f(x) = 3x4 + 2 mit D(g) = R \ {0} und D(f) = R(g ◦ f)(x) =13x 4 + 2(f ◦ g)(x) = 3x −4 + 21.4 Konvergenz reeller Zahlenfolgen1.4.1 GrundbegriffeAbbildungen a : N → R nummerieren Teilmengen reeller Zahlen durch: a(1), a(2), a(3), . . .Die grafische Darstellung sieht wie folgt aus:Ra(2)a(1)a(3)1 5 10 NSolche Abbildungen bezeichnet man als reelle Zahlenfolgen, kurz: Folgen. Esist üblich eine Indexnotation zu verwenden: a 1 = a(1), . . . , a n = a(n), . . . unddie Folge mit (a n ) n∈N , (a n ) ∞ n=1 oder nur (a n) zu bezeichnen.Häufig beginnt man eine Aufzählung, um eine Folge anzugeben:a 1 , a 2 , a 3 , . . .Eine andere Alternative ist die rekursive Definition, bei der man von einem odermehreren Startwerten a 1 , a 2 , . . ., a k ausgehend das jeweils folgende Folgengliedmit Hilfe einer Funktion f aus einem oder mehreren Vorgängern ermittelt:Beispiel(1.4.11(1)n)a 1 = c gegeben, a n+1 = f(a n )oder a 1 , . . . , a k gegeben, a n+1 = f(a n , a n−1 , . . . , a 1 )n∈N1, 1 2 , 1 3 , . . .(2) ((−1) n ) n∈N−1, 1, −1, 1, −1, . . .(3) −1, 1, 1, 1, . . . von (2) verschiedene Folge.31


1 Analysis und numerische AnalysisAbbildung 1.4: Einbeschriebene regelmäßige n-Ecke(4) (n 2 ) n∈N 1, 4, 9, 16, 25, . . .(5) (2 −n 1) n∈N 2 , 1 4 , 1 8 , 116 , . . .(6) (I n ) ∞ n=3 I n ist definiert als Inhalt eines regelmäßigenn-Ecks, welches dem Einheitskreiseingeschrieben ist. I 3 und I 6 sind in Abbildung1.4 zu sehen.Erwartung:(7) f : R → R, a ∈ D(f) = Rs n = f( a + 1/n ) − f ( a )1/nI n ≈ Flächeninhalt des Einheitskreisesfür große n.sind Steigungen von Sekanten durch diePunkte ( a, f(a) ) und ( a + 1 n , f(a + 1 n )) ,siehe Abbildung 1.5.Erwartung: s n ≈ Tangentensteigung für große n.(8) x 1 = 2x n+1 = x n2 + 1x n ≈ √ 2 für große n,konstruiert als Näherung der Nullstellex n von x 2 − 2, siehe Abbildung 1.6.(9) Die Fibonacci-Zahlen:Gegeben a 1 = 1, a 2 = 1 (k = 2),Rekursion: a n+1 = a n + a n−1 .Die in (6) und (7) geäußerten Erwartungen werden durch das Konzept der Konvergenzpräzisiert. Diese Präzisierung erlaubt es auch, die Behauptung aus (8)zu beweisen.Definition 1.4.1 Eine reelle Zahlenfolge (a n ) heißt konvergent mit Grenzwertg ∈ R, wenn man zu jeder (noch so kleinen) Zahl ε > 0 einen Index n ε ∈ Nfinden kann mit:|a n − g| < ε für alle n ≥ n εMan schreibt:lim a n = g oder a n → g für n → ∞n→∞Ist g = 0, so heißt (a n ) eine Nullfolge.Beachte: Die Abstandbegrenzung, muss erst ab einem bestimmten Index gelten,32


1.4 Konvergenz reeller ZahlenfolgenPSfrag replacementsf(x)f(a 1 ).f(a)xaa 4 a 3a 2a 1Abbildung 1.5: Eine Folge von Sekanten durch (a, f(a)).PSfrag replacementsf(x)1√0.51 2 x 2x 2xx 1 = 2−1Abbildung 1.6: Die ersten beiden Schritte der geometrischen Konstruktionzu (8): f(x) = x 2 − 2 ist blau gezeichnet.33


1 Analysis und numerische AnalysisPSfrag replacementsIR5002 ε−50n ε0 10 20 30 4050INAbbildung 1.7: Prinzip des Konvergenzbegriffesd.h. das Anfangsverhalten einer Folge ist für das Konvergenzverhalten irrelevant.Kurz formuliert: Endliche Anfangsstücke sind irrelevant.Ist eine Folge nicht konvergent, dann heißt sie divergent. Die Divergenz wirdweiter unterteilt in bestimmte und unbestimmte Divergenz.Eine Folge (a n ) heißt bestimmt divergent gegen +∞, wenn zu jedem M ≥ 0ein n ε ∈ N existiert mit: a n > M für alle n > n ε .Entsprechend heißt eine Folge (a n ) bestimmt divergent gegen −∞, wenn zujedem m ≤ 0 ein n ε ∈ N existiert mit: a n < m für alle n > n ε .( )1Beispiel 1.4.2 Wir behaupten: lim √n→∞ n= 0, d.h. √n 1ist eine Nullfolge.Zum Beweis ist gegeben: ε > 0. Wähle irgendein n ε ∈ N mit ε −2 < n ε . (Dies istwegen des Archimedischen Axioms möglich). Dann gilt für alle n ∈ N, n ≥ n ε :∣ 1 √ n− 0 ∣ ∣ = 1 √ n≤ 1 √nε< εBeispiel 1.4.3 Weitere Beispiele konvergenter Folgen:11. limn→∞ n = 0,2. limn→∞ (−1)n 1 n = 0, −1, 1 2 , − 1 3 , 1 4 , − 1 5 , . . .,3. x 1 = 2, x n+1 = xn 2 + 1x nist eine rekursiv definierte Folge mit dem irrationalenGrenzwert lim x n = √ 2,n→∞n4. limn→∞ n+1 = 1.Beispiel 1.4.434


1.4 Konvergenz reeller Zahlenfolgen1. Beispiel einer nicht konvergenten, also divergenten Folge:a n = (−1) n = ±1.Zum Beweis treffen wir die Annahme, es gäbe einen Grenzwert,d.h. lim a n = g.Dann existiert zu 0 < ε < 1 ein n ε mit |a n − g| < ε für n ≥ n εAlso folgt |1 − g| < ε, | − 1 − g| < ε. Damit ergibt sich dann:2 = |1 − (−1)| = |a 2n − g + g − a 2n+1 | ≤ |a 2n − g| + |a 2n+1 − g| < 2ε < 2für alle n ≥ n εDies bedeutet also 2 < 2, was ein Widerspruch ist. Daher war die Annahmefalsch. Es gibt keinen Grenzwert. Die Folge ist divergent.Insbesondere ist diese Folge unbestimmt divergent.2. Die Folge a n = n ist bestimmt divergent gegen +∞.Definition 1.4.2 Es sei t : N → N, t(k) = n k eine streng monoton wachsendeAbbildung und a : N → R, a(n) = a n eine Folge. Dann heißt die Folge(a(t(k))) = (a t(k) ) = (a nk ) eine Teilfolge von (a n ).Beispiel 1.4.5 Es sei a n = (−1) n . Dann sind z.B. (a 2n ) = (1, 1, . . .) bzw.(a 2n+1 ) = (−1, −1, . . .) Teilfolgen von (a n ).Satz 1.4.3 Es gelten die folgenden Aussagen:1. Wenn die Ausgangsfolge (a n ) gegen den Grenzwert g konvergiert, dannsind auch alle Teilfolgen (a nk ) konvergent mit dem Grenzwert g.2. Wenn alle Teilfolgen (a nk ) einer Folge (a n ) gegen denselben Grenzwert gkonvergieren, dann ist auch (a n ) konvergent mit dem Grenzwert g.Eine Folge (a n ) heißt beschränkt, wenn es ein M ≥ 0 gibt mit:|a n | ≤ M für alle n ∈ N.Beispiel 1.4.6 Die Folge a n = 1 n ist beschränkt, denn es gilt |a n| ≤ 1.1.4.2 Umgang und Rechnen mit FolgenSatz 1.4.4 (Sandwich-Kriterium) (a n ) und (b n ) seien konvergente Folgenmit demselben Grenzwert g,c n sei irgendeine weitere Folge mitlim a n = g = lim b n.n→∞ n→∞a n ≤ c n ≤ b n für alle n ∈ N.Dann ist (c n ) konvergent mit g = limn→∞ c n.35


1 Analysis und numerische AnalysisBeispiel 1.4.7Einige Grenzwerte lassen sich mit diesem Kriterium herleiten:1. − 1 n ≤ (−1)n 1n(n+1) ≤ 1 n ; ( − 1 n),( 1n)Nullfolgen⇒ limn→∞ (−1)n 1n(n+1) = 02. 0 ≤ a n = √ n + 1 − √ n = (√ n + 1) 2 − ( √ n) 2√ n + 1 +√ n=Also: a n → 0Satz 1.4.5 Konvergente Folgen sind beschränkt.Beweis. lim a n = gn→∞Zu ε = 1 existiert n 1 , so dass⇒1√ √ ≤ √ 1 .n + 1 + n n|a n − g| < 1 für n ≥ n 1|a n | ≤ |(a n − g) + g| ≤ |a n − g| + |g| ≤ 1 + |g|M = max(1 + |g|, |a 1 |, . . . , |a n1 |) ist Schranke.Man kann Folgen addieren, multiplizieren usw, indem man die jeweiligen n-tenFolgenglieder addiert multipliziert, z.B.( ( )3 3· (4n)−n ) n∈N =n · 4−nAllgemein gilt:n∈NSatz 1.4.6 (a n ) und (b n ) seien konvergente Folgen:lim a n = g,n→∞lim b n = h.n→∞.n∈NDann sind (a n + b n ), (a n − b n ) und (a n b n ) konvergent mit den Grenzwertenlim n ± b n )n→∞= g ± h,lim n · b nn→∞= g · h.Ist h ≠ 0 und b n ≠ 0 für alle n, dann ist auch (a n /b n ) konvergent mit( )anlim = gn→∞ b n h .Beweis. Beweis für das Produkt (Skizze).(a n ) ist beschränkt: |a n | ≤ M|a n b n − gh| = |a n b n − a n h + a n h − gh|≤≤≤≤|a n b n − a n h| + |a n h − gh||a n ||b n − h| + |a n − g| · |h|M · |b n − h| + |a n − g||h|ε2 + ε 2 = ε36


1.4 Konvergenz reeller Zahlenfolgenfür genügend großes n.Durch Anwendung dieser Rechenregeln und durch Vereinfachung von Ausdrückenist in einigen Fällen der Grenzwert berechenbar.Beispiel 1.4.8Mit1n 2(a)erweitern:a n = 3n2 + 2n + 1n 2 + 2n + 3a n = 3 + 2 n + 1 n 21 + 2 n + 3 n 2 n→∞−→ 3 + 0 + 01 + 0 + 0 = 3(b)a n = 4n3 − 66n 3 + 2n 2 = 4 − 6 n 36 + 2 n−→ 4 − 06 + 0 = 2 3(c) Allgemeina n = p 0 + p 1 n + · · · + p k n kg 0 + · · · + g k n kn→∞−→ p kg k(g k ≠ 0)1.4.3 Spezielle Folgen( ) 1 nDie Folge (2 −n ) = oder 122 , 1 4 , 1 8 , 116, . . . ist tatsächlich eine Nullfolge, dennallgemein gilt:Satz 1.4.7 (Satz über die geometrische Folge)Sei g reell mit |g| < 1. Dann giltlimn→∞ gn = 0.Für g = 1 ist g n konvergent, für g = −1 ist g n divergent.Ist |g| > 1, dann ist g n nicht konvergent.Beweis. Ist g = 0, dann ist das Ergebnis klar.Im Fall g > 0 benutzen wir die Bernoulli’sche Ungleichung:(1 + x) n ≥ 1 + nx wenn x ≥ −1.Wegen 0 < g < 1 ist x := 1 g− 1 > 0. Damit folgt:( ) 1 n⇒ = (1 + x) n ≥ 1 + nxgUnd weiter:0 < g n ≤ 1nx −→ 0 für n → ∞ 37


1 Analysis und numerische AnalysisDamit ist (g n ) eine Nullfolge nach dem Sandwich-Kriterium. Für −1 < g < 0gilt: −|g| n ≤ |g| n . Die Folge (|g| n ) ist wieder Nullfolge nach dem Sandwich-Kriterium.Ist g = 1, dann sind alle Folgenglieder 1, also ist die Folge konvergent mit demGrenzwert 1.Ist g = −1, dann alternieren die Folgenglieder zwischen −1 und +1. Die Folgeist dann divergent.Ist |g| > 1, dann ist g n nicht beschränkt und die Folge daher nicht konvergent.Beispiel 1.4.9 Wieder lassen sich einige Grenzwerte explizit bestimmen:( ) 1 n(a) lim = 0n→∞ 2(b)(−3) nlimn→∞ 4 n = 0(c) Welchen Grenzwert – wenn er existiert – besitzt die Folge a n = 3n+1 + 2 nDurch Umformen erhält man: a n = 3 + ( 231 + ( n→∞)1 n −→ 3 + 01 + 0 = 33Satz 1.4.8 Für c > 0 gilt limn→∞n√ c = 1.) n3 n + 1Beweis. (nur im Fall c ≥ 1):Setze a n = n√ c − 1 ≥ 0Bernoulli-Ungleichung (1 + x) n ≥ 1 + nx, (x ≥ −1) anwenden:c = (1 + a n ) n ≥ 1 + na n ≥ na n⇒ 0 ≤ a n ≤ c nDamit ist (a n ) eine Nullfolge nach dem Sandwich-Kriterium.Beispiel 1.4.10 Weitere Beispiele konvergenter Folgen:(a)n√ 1 + x n = 1 wenn |x| < 1(b)(c)limn→∞limn→∞n√ n = 1xlimnn→∞ n!= 0 für alle x ∈ R.Fall x > 1: Fixiere ein k ∈ N mit k ≥ 2x, d.h. x k ≤ 1 2 .38


1.4 Konvergenz reeller ZahlenfolgenFür n ≥ k:0 ≤ xnn!Einschließung=≤⇒(x · x · . . . · x) · (x · . . . · x)(1 · 2 · . . . · k) · ((k + 1) · . . . · n) = x k · x n−kk!(k + 1) · . . . · n( 1 n−kc wobei c =2) xkk!( ) xnist Nullfolge.n!1.4.4 IterationsverfahrenDie Lösung nichtlinearer Gleichungen ist selten formelmäßig (analytisch) möglich.Numerisch wählt man zur Lösung iterative Verfahren. Sie können z.B. dieFormWähle: x 0 ∈ R.Berechne: x i+1 := Φ(x i ), i = 0, 1, 2, · · · (1.11)haben. Wenn Sie diese Form haben, dann sucht man einen Fixpunkt ¯x derFunktion Φ, das ist eine reelle Zahl, für die gilt:¯x = Φ(¯x).Die Folge x i soll natürlich konvergieren, in der Numerik geht es aber auch nochdarum, wie schnell eine Folge konvergiert.Die Folge {x i } mit dem Grenzwert ¯x hat mindestens die Konvergenzordnungp, wenn es eine von i unabhängige Konstante K > 0 gibt, so dass|x i+1 − ¯x| ≤ K |x i − ¯x| p ∀i ≥ 0 (1.12)mit K < 1, falls p = 1. K wird Konvergenzrate genannt.K und p bestimmen die Konvergenzgeschwindigkeit der Folge. Je kleiner K undje größer p sind, desto schneller ist die Konvergenz. Dabei bestimmt die Ordnungdas Verhalten wesentlich stärker als die Konstante K. Diese ist wichtigbeim Vergleich linear konvergenter Verfahren.Man spricht von linearer Konvergenz, wenn p = 1,quadratischer Konvergenz, wenn p = 2,und von kubischer Konvergenz, wenn p = 3 ist.Eine höhere als kubische Konvergenz kommt nur sehr selten vor.Einige Methoden – z.B. das Bisektionsverfahren – liefern kleiner werdendeIntervalle, die die Lösung einschließen, als Näherungsergebnisse. Hier sollteman für die Konvergenzuntersuchung die Intervallbreite als Folge betrachten.39


1 Analysis und numerische AnalysisBeispiel 1.4.11 In Beispiel 1.4.1 (8) haben wir die Folge x n+1 = x n2 + 1 zurx nBestimmung von √ 2 als Nullstelle der Funktion f(x) = x 2 − 2 kennen gelernt.Wir wollen hier ihre Konvergenzgeschwindigkeit experimentell untersuchen.Wir testen die Behauptung, dass die Folge quadratisch konvergiert mit einerKonvergenzrate K ≈ 0.3.n x n |x n − √ 2| K · (x n−1 − √ 2) 21 2 0.58582 1.5 0.0858 0.1033 1.416667 0.002453 0.002214 1.41421569 0.000002127 0.000001815 1.41421356238 0.00000000001 0.00000000000141.5 Die Vollständigkeit der reellen Zahlen1.5.1 VollständigkeitsaxiomEine Folge (a n ) ist eine Abbildunga : N → R, n ↦→ a(n) = a n .Sie kann folgende interessante Eigenschaften haben:• Konvergenz: limn→∞ a n = g existiert.Divergenz: wenn keine Konvergenz vorliegt.• Beschränktheit: ∀n ∈ N : |a n | ≤ M(wobei M konstant ist.)• Monotonie, z.B. heißt (a n ) monoton steigend genau dann, wenna n ≤ a n+1 für alle n ∈ N.Monoton fallend und streng monoton steigend bzw. fallend werden inanaloger Weise formuliert.Welche Beziehung gibt es zwischen diesen Eigenschaften?Aus der Konvergenz folgt die Beschränktheit, aber nicht umgekehrt. Auch ausder Monotonie folgt weder die Konvergenz noch die Beschränktheit.Beispiel 1.5.1 (einer beschränkten und monoton steigenden Folge (a n ))a n = I 2 n+1, wobei I N = der Inhalt des dem Einheitskreis einbeschriebenenregelmäßigen N-Ecks ist.40


1.5 Die Vollständigkeit der reellen Zahlena 1 = I 4 = 2a 2 = I 8 = 2 √ 2 ≈ 2.82 . . .a n = I 2 n+1 < I 2 n+2 = a n+1 für alle n ⇒ (a n ) monoton steigenda n ≤ 4 = Flächeninhalt des umschreibenden Quadrats.Erwartung: lim a n existiert und lim a n = π gibt den Flächeninhalt der Kreisscheibemit Radius 1n→∞ n→∞an.VollständigkeitsaxiomDiese Konvergenzerwartung wird erfüllt dank dem Vollständigkeitsaxiom.Dieses besagt:Jede beschränkte und monotone Folge ist konvergent,und ihr Grenzwert liegt in R.Das obige Beispiel und die folgende Zeichnung machen die Gültigkeit diesesAxioms plausibel.RgNIn den rationalen Zahlen Q gilt das Axiom nicht:Der Grenzwert einer Folge rationaler Zahlen kann irrational sein.In R gelten folgende Axiome:41


1 Analysis und numerische Analysis• Körperaxiome• Anordnungsaxiome• Archimedisches Axiom• VollständigkeitsaxiomHierdurch wird R eindeutig festgelegt (bis auf Isomorphie) und von allen anderenRechen-/Zahlenbereichen unterschieden. In R gelten komfortable, intuitiveund leistungsfähige Grundregeln für das arithmetische Rechnen und das Rechnenmit Grenzwerten.Hinweis. In der Literatur wird meist das sogenannte Supremumsaxiom als Vollständigkeitsaxiomangenommen. Die hier genannte Formulierung des Vollständigkeitsaxiomswird dann zu einem Satz.Bemerkung 1.5.1 Ist (a n ) monoton wachsend und beschränkt mit einer oberenSchranke M, d.h. gilta n ≤ a n+1 ≤ M ∀n ∈ N,dann gilt für den nach dem Vollständigkeitsaxiom existierenden Grenzwertg = limn→∞ a n die Abschätzunga n ≤ g ≤ M.Beispiel 1.5.21. Für (I n ) als Folge der Inhalte regelmäßiger n-Ecke gilt:2 ≤ I n ≤ 4 für n ≥ 4Damit folgt für den Grenzwert die Einschließungπ := lim I n ∈ [2, 4]2. Die wichtige Folge a n = ( 1 + 1 n) n ist beschränkt und monoton wachsend.Mit Hilfe des Vollständigkeitsaxioms folgt, dass der Grenzwert(e := lim 1 + 1 ) nn→∞ nexistiert. e heißt Eulersche Zahl und besitzt die nicht-periodische Dezimaldarstellunge = 2.71828182846 . . ..Auch diese Folge ist ein Beispiel einer Folge rationaler Zahlen mit irrationalemGrenzwert.42


1.5 Die Vollständigkeit der reellen Zahlen1.5.2 KonvergenzkriterienBei der Konvergenzbetrachtung von Folgen treten Probleme auf:Der Nachweis der Konvergenz mit Hilfe der Definition ist mühselig.Die Anwendung der Rechenregeln ist beschränkt auf relativ einfache Folgen.Sinnvoll ist eine Trennung folgender Aufgaben:1. Nachweis der Konvergenz2. Berechnung des GrenzwertesAus dem Vollständigkeitsaxiom folgt ein einfaches Konvergenzkriterium:Monotonie + Beschränktheit = KonvergenzSatz 1.5.2 Für eine monotone Folge (a n ) gilt:(a n ) ist konvergent ⇐⇒ (a n ) ist beschränkt.Cauchy’sches KonvergenzkriteriumDefinition 1.5.3 Eine Folge heißt Cauchy-Folge, wenn es zu jedem ε > 0 einn ε ∈ N gibt, so dass gilt:|a n − a m | < ε für alle n, m ≥ n ε .Die Bedingung ist formal denjenigen aus der Definition von Konvergenz sehrähnlich. Der Begriff der Cauchy-Folge enthält aber nirgends den Grenzwert!Satz 1.5.4Eine Folge (a n ) konvergiert genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folge ist.Das Cauchy-Kriterium ist nur geeignet zum Konvergenznachweis, es hilft nichtbei der Berechnung des Grenzwertes.1.5.3 Intervallfolgen, BisektionZur numerischen Bestimmung der Nullstelle ¯x einer Funktion f(x) kann manauch eine Folge von kleiner werdenden Intervallen konstruieren, die alle diegesuchte Nullstelle enthalten. Die Folge der Längen der Intervallen ist danneine Nullfolge. Das bekannteste Verfahren dieser Art ist die Bisektion.Ist f(x) eine stetige Funktion und ist ein Intervall [a 0 , b 0 ] bekannt, für dasf(a 0 ) · f(b 0 ) < 0 gilt, so kann man mit Intervallhalbierung und Vorzeichenabfrageein sicheres Iterationsverfahren konstruieren, die Bisektion:43


1 Analysis und numerische Analysis(1) Startintervall [a 0 , b 0 ] mit f(a 0 ) · f(b 0 ) < 0.(2) Setze i := 0.(3) Berechne den Intervallmittelpunkt m := 0.5 (a i + b i ).(4) Berechne fm := f(m).(5) Ist fm = 0 → STOP, m ist eine Nullstelle.(6) Ist f(a i ) · fm < 0,dannsetze a i+1 := a i , b i+1 := m,sonstsetze a i+1 := m, b i+1 := b i .(7) Ist |b i+1 − a i+1 | < ε → (9).(8) Setze i := i + 1. Gehe nach (3).(9) Setze ˜x := 0.5(a i+1 + b i+1 ).Für den Näherungswert ˜x gilt |˜x − ¯x| < 0.5 |b i+1 − a i+1 | für jedes im Algorithmuskonstruierte Intervall [a i+1 , b i+1 ]. Das bedeutet, dass der maximale Fehlerbeim Bisektionsverfahren linear gegen Null konvergiert mit der Konvergenzrate0.5. In der folgenden Zeichnung wird dieses Verfahren graphisch demonstriert.PSfrag replacementsf(x)ax 0 x 2x 1bxx 3Abbildung 1.8: Das Verfahren der Bisektion.Beispiel 1.5.3 Wir wollen die kleinste positive Lösung der Gleichungf(x) := cos(x) cosh(x) + 1 = 0 (1.13)mit der Bisektion angenähert bestimmen. Als Startintervall verwenden wirI = [0, 3], für welches f(0) = 2, f(3) ≈ −9 und damit f(0) f(3) < 0 gilt. DieErgebnisse sind unten auszugsweise tabellarisch zusammengestellt. Wir habenmit 16 wesentlichen Dezimalstellen gerechnet und die Iteration abgebrochen,wenn die Intervallbreite kleiner als 2.0 · 10 −9 oder der Funktionswert im Mittelpunktdem Betrage nach kleiner als 1.0 · 10 −9 war. Das erste Kriterium istnach 31 Schritten erfüllt, da 3 · 2 −31 ≈ 1.4 · 10 −9 ist.44


1.6 Unendliche Reihenk a b m f(m)0 0.0 3.0 1.5 > 01 1.5 3.0 2.25 < 02 1.5 2.25 1.875 > 03 1.875 2.25 2.0625 < 04 1.875 2.0625 1.96875 < 05 1.875 1.96875 1.921875 < 0..........30 1.8751040669 1.8751040697 1.8751040683 > 031 1.8751040683 1.8751040697 1.8751040690 −1.2 · 10 −9Die Bisektion liefert also garantierte Konvergenz der Intervalle, aber sie ist einlangsames Verfahren.1.6 Unendliche ReihenEinführung und DefinitionWir wollen die Glieder a n einer Folge (a n ) von einem Anfangsindex an aufsummieren:∞∑k=0a k(Der Anfang des Indexbereiches ist oft 0.)Da hier keine Summe vorliegt, muss der Ausdruck als Grenzwert verstandenwerden. Man bildet aus (a k ) ∞ k=0 die Folge (s n) ∞ n=0 der Partial- oder Teilsummen:s 0 = a 0s 1 = a 0 + a 1s 2 = a 0 + a 1 + a 2.s n = a 0 + a 1 + · · · + a n =Die durch (a k ) ∞ k=1 definierte Reihe ∑ ∞k=0 a k ist nichts anderes als die Folge(s n ) ∞ n=0 ihrer Teilsummen. Dementsprechend heißt die Reihe konvergent, wenndie Folge der Teilsummen konvergiert und man schreibt für den Grenzwert∞∑k=0a k = limn→∞ s n.Diese Zahl heißt Grenzwert oder Summe der Reihe.n∑k=0Bemerkung 1.6.1 Zur Schreibweise:Das Symbol ∑ ∞k=0 a k wird in zweierlei Bedeutung verwendet:a k45


1 Analysis und numerische Analysis(i) Es bezeichnet die Reihe, d.h. die Folge der Partialsummen.(ii) Im Falle der Konvergenz bezeichnet es (zusätzlich) den Grenzwert.Satz 1.6.2 Die geometrische Reihe ∑ ∞k=0 gk = 1 + g + g 2 + · · · ist konvergent,wenn |g| < 1. Ihre Summe ist dann∞∑g k = 11 − g .k=0Beweis. Für die Teilsummen s n haben wir die geometrische Summenformels n = 1 + g + g 2 + · · · + g n = 1 − gn+11 − g .(g n+1 ) n∈N ist eine Nullfolge, wenn |g| < 1 (Satz über die geometrische Folge).Folglich konvergiert (s n ):lim s 1 − g n+1n = limn→∞ n→∞ 1 − g= 1 − 01 − g = 11 − g .Geometrische Anwendung:Gegeben ist ein Quadrat mit der Kantenlänge a (und dem Flächeninhalt a 2 ).aWie groß ist der Gesamtinhalt F der schraffierten Flächen?F = 1 ( ) ( ) 2 1 1 2a +2 2 2 a + 1 ( ) 1 22 2 2 a + · · ·= 1 2 a2 ·(1 + 1 4 + 1 )4 2 + · · ·= 1 2 a2 ·∞∑( ) 1 k= 1 14 2 a2 ·1 − 1 4k=0= 1 2 a2 · 43 = 2 3 a246


1.6 Unendliche ReihenBeispiel 1.6.1Es gilt:Denn ausfolgt:s n =n∑k=11k (k + 1) =∞∑k=11k (k + 1) = 1.1k(k + 1) = 1 k − 1k + 1n∑( 1k − 1 )k + 1k=1} {{ }Teleskopsumme= 1 − 1 n→∞−→ 1.n + 1KonvergenzkriterienWie untersucht man Reihen auf Konvergenz?Man adaptiere die Konvergenzkriterien für Folgen und erweitere diese, dennReihen sind spezielle Folgen.Monotonie-Kriterium für Reihen Eine Reihe ∑ ∞k=0 a k mit nichtnegativenGliedern (a k ≥ 0 für alle k) konvergent genau dann, wenn die Folge der Partialsummenbeschränkt ist.Grund: s n ≤ s n+1 , denn s n+1 = s n + a n+1 (vgl. auch Seite 41)Beispiel 1.6.2 Das Monotonie-Kriterium kann man sowohl für den Nachweisder Konvergenz als auch für den Nachweis der Divergenz nutzen:1. Die harmonische Reihe ∑ ∞k=1 1 kmit den Teilsummendivergiert. Begründung:s n = 1 + 1 2 + 1 3 + · · · + 1 ns n = 1 + 1 ( 12 + 3 + 1 ) ( 1+4 5 + · · · + 1 ( 1+8)9 16)+ · · · + 1 + · · ·≥ 1 + 1 ( 12 + 4 + 1 ) ( 1+4 8 + · · · + 1 ( 1+8)16 + · · · + 1 )+16} {{ } } {{ } } {{ }2-mal4-mal8-mal= 1 + 1 2 + 1+2⇒ (s n ) unbeschränkt12+12+ · · ·47


1 Analysis und numerische Analysis2. Die Reihe über die Kehrwerte der natürlichen Quadratzahlen∞∑k=1ist die Folge der Teilsummen be-konvergiert, denn wegen 1schränkt:n∑s n =1k 2 = 1 + 1 4 + 1 9 + 116 + · · ·2≤k 2 k(k+1)k=11n∑k 2 ≤ 2k=11k(k + 1) ≤ 2Die Reihenglieder sind ≥ 0. Dann folgt aus dem Monotonie-Kriteriumdie Konvergenz der Reihe. Offen bleibt, welcher Wert sich ergibt. Eulerhat gezeigt:∞∑ 1k 2 = π26k=1Konvergente Reihen haben nicht immer positive Glieder. Ein wichtiger Spezialfallsind alternierende Reihen. Für diese wendet man oft das folgende Kriteriumzur Konvergenzuntersuchung an:Leibniz’sches Konvergenzkriterium für alternierende ReihenEs seien a k ≥ a k+1 ≥ 0 für alle k und (a k ) sei eine Nullfolge: limk→∞ a k = 0.Dann konvergiert die Reihe s :=∞∑(−1) k a k .k=0Außerdem gilt s 2n−1 ≤ s ≤ s 2n für alle n ∈ N.Begründung:Es liegt eine Intervallschachtelung s 1 ≤ s 3 ≤ s 5 ≤ · · · ↓ · · · ≤ s 4 ≤ s 2 ≤ s 0 vor.Beispiel 1.6.3 Die alternierende harmonische Reihe ist konvergent:s =∞∑(−1) k 1 k = −1 + 1 2 − 1 3 + 1 4 − + · · ·k=1s 5 = −1 + 1 2 − 1 3 + 1 4 − 1 5 ≤ s ≤ s 6 = −1 + · · · − 1 5 + 1 6s 2n−1 ≤ s ≤ s 2nWegen |s 2n − s 2n−1 | ≤ 12nkann man s zu vorgegebener Genauigkeit annähern.Cauchy-Kriterium für Reihen∑ a k konvergiert genau dann, wenn zu jedemε > 0 ein n ε ∈ N existiert mit:∣ m∑ ∣∣∣∣ a∣ k < ε für alle m > n ≥ n ε .k=n+148


1.6 Unendliche ReihenFür eine direkte Anwendung ist dies Kriterium meist nicht geeignet. Seine Stärkeliegt darin, dass aus ihm handhabbare Konvergenzbedingungen herleitbarsind, z.B.:Folgerung 1.6.3 Ist ∑ a k konvergent, dann ist (a k ) eine Nullfolge.Bemerkung 1.6.4 1. ∑ k (−1)k konvergiert nicht.2. a k → 0 ≠⇒ ∑ a k konvergiert.Ein Beispiel dafür ist a k = 1 kmit der divergenten harmonischen Reihe.Eine Reihe ∑ ∞k=0 a k heißt absolut konvergent, wenn (sogar) die Reihe ∑ ∞k=0 |a k|konvergiert.Beispiel 1.6.4 1. Die geometrische Reihe ∑ g k konv. absolut für |g| < 1.2. ∑ (−1) k 1 kkonvergiert aber nicht absolut.Satz 1.6.5 Absolut konvergente Reihen sind immer konvergent:∑|ak | konvergent ⇒ ∑ a k konvergentDies ist nicht selbstverständlich, folgt aber aus dem Cauchy-Kriterium.MajorantenkriteriumGilt |b k | ≤ a k für alle k, dann folgt:Auch dieses folgt aus dem Cauchy-Kriterium:∑a k ist konvergent =⇒ ∑kkb k ist absolut konvergent.Begründung durch zweimalige Anwendung des Cauchy-Kriteriums:Für alle ε > 0 existiert ein n ε , so dass für alle m > n ≥ n ε folgt:∣m∑k=n+1b k∣ ∣∣∣∣≤m∑k=n+1|b k | ≤m∑k=n+1a k < εBeispiel 1.6.5Beispiele absolut konvergenter Reihen nach Majorantenkriterium:∞∑1. (−1) k k −3 mit der Majorante ∑ 12.k=1∞∑k=1k 21k 3 mit der Majorante ∑ 1k 2 49


1 Analysis und numerische AnalysisQuotientenkriterium Wählt man die geometrische Reihe ∑ g n als Vergleichsreihe,so gewinnt man folgendes Konvergenzkriterium:Gilt für ein g < 1 und N ∈ N∣ a k+1 ∣∣∣∣ ≤ g wenn k ≥ N,a kdann ist ∑ a k absolut konvergent. Gilt dagegen für ein N ∈ N∣ a k+1 ∣∣∣∣ ≥ 1 wenn k ≥ N,a kdann ist ∑ a k divergent.Begründung der Konvergenz aus|a k+1 | ≤ g|a k | ≤ g 2 |a k−1 | ≤ · · · ≤ g k+1 |a 0 |,dem Majorantenkriterium und der Konvergenz der geometrischen Reihe.Beispiel 1.6.6∣ a k+1 ∣∣∣∣ =a k1. ∑ ∞k=0 k · 2−k konvergiert, denn hier ist a k = k · 2 −k :(k + 1) · 2−(k+1)k · 2 −k = 1 k + 1≤ 1 2 k 2·32 = 3 = g < 1 für k ≥ 2 := N42.∞∑k=01k! konvergiert. Mit a k = 1 k!folgt:∣a k+1a k∣ ∣∣∣=1(k+1)!1k!= 1k + 1 ≤ 1 < 1 für k ≥ 1 := N2WurzelkriteriumGilt für ein g < 1 und ein N ∈ N√k |ak | ≤ g(∀k ≥ N),dann ist ∑ a k absolut konvergent. Gilt dagegen für ein N ∈ N√k |ak | ≥ 1(∀k ≥ N),dann ist ∑ a k divergent.Beispiel 1.6.7{ 2−kwenn k geradea k =3 −k wenn k ungerade{√ 1}k |ak | = 2k gerade1≤ 13k ungerade 2Aus dem Wurzelkriterium folgt die Konvergenz.Das Quotientenkriterium ist nicht anwendbar, da a k+1a k< 1 gilt, wenn k geradeund > 1 wenn k ungerade ist. Dies zeigt auch, dass das Wurzelkriterium stärkerist als das Quotientenkriterium.50


1.7 TrigonometrieVereinfachte Kriterien Häufig genügt es, die folgende vereinfachte Form vonWurzel- und Quotientenkriterium anzuwenden:Falls für eine Reihe ∑ a k die Grenzwertec = lim∣existieren, dann gilt:k→∞a k+1a k∣ ∣∣∣oder c = limk→∞(i) Die Reihe konvergiert absolut, wenn c < 1.(ii) Die Reihe divergiert, wenn c > 1.(iii) Keine Konvergenzaussage, wenn c = 1.Beispiel 1.6.8 1.∞∑k=1k!k k mit a k = k!k ka k+1a k=√k |ak |(k + 1)!(k + 1) k · (k + 1) · kkk! = 1(1 + 1 k )k k→∞−→ 1 e2.Weil 1 e< 1 ist, konvergiert die Reihe (absolut).∑ 1k und ∑ (−1) k 1 k :Wegen ∣ ∣∣∣ 1/(k + 1)1/k∣ =k k→∞−→ 1k + 1ist keine Konvergenzentscheidung mit dem vereinfachten Quotientenkriteriummöglich. Das Wurzelkriterium liefert ebenfalls keine Aussage.1.7 Trigonometrie1.7.1 EinleitungWir setzen Grundtatsachen der euklidischen Goemetrie in der Ebene als bekanntvoraus. Dazu gehört insbesondere der Satz von Pythagoras: a 2 +b 2 = c 2 .Eine Längeneinheit sei festgelegt.Die Länge von geraden Strecken ist damit festgelegt, folglich auch die vonStreckenzügen oder Polygonen als Summe der Teillängen:Die Länge krummliniger Kurven versucht man durch die von geeigneten Polygonenanzunähern:51


1 Analysis und numerische AnalysisEine Begründung hierfür liefert eine passende Konvergenzbetrachtung.Wir setzen auch als bekannt voraus, dass ein Kreis mit Radius r > 0 denUmfang 2πr hat mit der Kreiszahlπ = 3.1415926 . . .Man erhält diese z.B. per Approximation durch die Länge einbeschriebenerregelmäßiger Vielecke (siehe auch Seite 41).Neben Längen spielen in der Geometrie Winkel eine entscheidende Rolle. Wasist ein Winkel? — Ein Winkel ist die Länge eines Bogens auf der Einheitskreislinie(Radius r = 1)!Genauer: Zwei Radien im Einheitskreis schließen einen Winkel ein; der Winkelist die Länge des ausgeschnittenen Bogens:← WinkelZwei wichtige spezielle Winkel sind der Vollwinkel 2 π = 6.2831 . . . und derrechte Winkel 1 4 · 2 π = π 2= 1.5707 . . ..Statt Winkel wie hier im Bogenmaß (”Radian”) anzugeben, verwendet man ausTradition häufig Grad ( ◦ ) als Winkelmaß. Dieses Maß wird analog zur Zeiteinheit’Stunde’ weiter unterteilt in Minuten ( ′ ) und Sekunden ( ′′ ). Es gilt 1 ◦ = 60 ′und 1 ′ = 60 ′′ . Die Umrechung von einem Winkel ϕ ◦ in Grad zum zugehörigenBogenmaß t und umgekehrt geschieht durch eine Dreisatzrechnung:t2 π = ϕ360 ⇐⇒ t = π180ϕ ⇐⇒ ϕ =180 πtVereinbarung: Winkelangaben ohne ◦ (und ′ bzw. ′′ ) sind immer im Bogenmaß(also gemessen als Länge des Bogens).1.7.2 sin, cos und deren UmkehrfunktionenIn einem rechtwinkligen Dreieck heißt die dem rechten Winkel gegenüberliegendeSeite Hypothenuse. Die anderen Seiten heißen Katheten.Betrachte die Einheitskreislinie mit zwei gegebenen Radien. Fällt man ein Lotvon einem Radius auf den anderen, erhält man weitere Strecken und damit ihreLängen. Diese sind eindeutig durch den von den beiden Radien eingeschlossenenWinkel t bestimmt und heißen cos(t) und sin(t).52


1.7 Trigonometrie1tsin(t)cos(t)1Man liest ab:sin t ≤ tcos 2 t + sin 2 t = 1(Pythagoras)In einem rechtwinkligen Dreieck mit Hypothenusenlänge 1 hat die Ankatheteeines Winkels t die Länge cos(t) und die Gegenkathete die Länge sin(t).Im Falle einer allgemeinen Hypothenusenlänge r > 0 sind die anderen Längenentsprechende Vielfache dieser Basiswerte (Ähnlichkeit):r1tr sin(t)r cos(t)Die Abhängigkeit des Sinus und Cosinus von den Winkeln und ihre gegenseitigenZusammenhänge werden durch folgende Tatsachen beschrieben:Additionstheoreme und spezielle Wertesin(t + s) = sin t · cos s + cos t · sin scos(t + s) = cos t · cos s − sin t · sin sNützliche Spezialfälle:sin(2x) = 2 · sin(x) cos(x)sin(3x) = 3 · sin(x) − 4 sin 3 (x)cos 2x = cos 2 (x) − sin 2 (x)cos 3x = 4 cos 3 (x) − 3 cos(x)53


1 Analysis und numerische AnalysisEinige konkrete Werte sind in Tabelle 1.2 aufgelistet.Allgemein folgt aus der Konstruktion am Einheitskreis: | sin(x)| ≤ 1 und| cos(x)| ≤ 1. Die Funktionsgraphen für 0 ≤ x ≤ 2π sehen wie folgt aus:√2 1sin(x) cos(x)120.50π4π2 π32 π 2πx−0.5−1π ist Nullstelle des Sinus. Die geometrische Definition der Sinusfunktion zeigt,dass 0 und π die einzigen Nullstellen von sin im Intervall {x | 0 ≤ x < 2π}sind. Ebenso sieht man, dass π/2 und 3π/2 die einzigen Nullstellen von cos imIntervall {x | 0 ≤ x < 2π} sind.Andere Werte ergeben sich aus bekannten Formeln, z.B.:0 = sin(π) = sin ( 3 · π ) (π )= 3 · sin − 4 sin3 ( π )33 3= 4 · sin ( (π ) 3 ·3 4 − ( π ) )sin2 3⇒ sin ( √ √π ) 3 3=3 4 = 20 = cos ( π )= cos2 ( π )− sin2 ( π ) (π ) (π )⇒ sin = cos2 4 4 4 41 = sin ( π ) (π ) (π )= 2 · sin · cos = 2 · sin2 ( π )24 44⇒ sin ( π ) 1 = √24t 0π6π4ϕ 0 ◦ 30 ◦ 45 ◦ 60 ◦ 90 ◦ 180 ◦sin(x) 0cos(x) 1π3π21 1 1 √√ 32 2 2 1 01 √ 1 13 √2220 −1Tabelle 1.2: Spezielle Werte für sin und cos.π54


1.7 TrigonometrieFür den Vollkreiswinkel 2 π gilt: sin(2 π) = sin(0) und cos(2 π) = cos(0)Wir versehen die Ebene mit einer Orientierung dadurch, dass wir den Drehsinngegen den Uhrzeigersinn als positiv bezeichnen. So kann der Winkel zwischenzwei Halbstrahlen (vom ersten zum zweiten Halbstrahl) auch negativ sein:1.1.ϕ−ψPSfrag replacements2.PSfrag replacements2.Winkel mit positiver OrientierungWinkel mit negativer OrientierungIndem wir den zweiten Halbstrahl weiter drehen erhalten wir beliebige reelleZahlen als Winkel, d.h. Sinus und Cosinus sind überall auf R definierte Funktionensin, cos : R → R, D(sin) = D(cos) = R.Sie sind periodisch mit kleinster Periode 2π:sin(t + 2π) = sin(t)cos(t + 2π) = cos(t)Folgende Symmetrien erlauben geschickte Umformungen:sin(−x) = − sin(x)cos(−x) = cos(x)sin(π − x) = sin(x)cos(π − x) = − cos(x)sin ( x ± π )2 = ± cos(x)Die letzte Gleichung besagt, dass die Graphen von sin und cos auseinanderdurch Verschieben um ± π 2 hervorgehen.sin und cos besitzen jeweils unendlich viele Nullstellen:sin(x) = 0 ⇔ x = kπ für ein k ∈ Zcos(x) = 0 ⇔ x = π + kπ für ein k ∈ Z2Weitere nützliche Folgerungen aus den Additionstheoremen:sin(t) + sin(s) = 2 · sin ( t + s2cos(t) − cos(s) = −2 · sin ( t + s2.) (t − s)cos2) (t − s)sin2(1.14)55


1 Analysis und numerische AnalysisWir leiten (1.14) wie folgt her:Dann folgt:t = t + s2+ t − s2cos(t) = cos ( t + s2= cos ( t + s2cos(s) = cos ( t + s2Zusammen ergibt sich:= cos ( t + s2cos(t) − cos(s) = 0 − 2 · sin ( t + s2und s = t + s2+ t − s )2) (t − s cos2− t − s )2) ( t − s· cos −2− t − s2)− sin(t + s2) (t − s)sin2)− sin(t + s2Folgerung 1.7.1 cos : [0, π] → R ist streng monoton fallend.) (t − s)· sin2) ( t − s)· sin −2Beweis.0 ≤ s < t ≤ π ⇒ t + s2t − s2Mit (1.14) folgt: cos(t) − cos(s) < 0.∈ (0, π) ⇒ sin ( t + s) > 02∈ (0, π 2 ) ⇒ sin ( t − s) > 02Folgerung 1.7.2 Der Kosinus cos : [0, π] → [−1, 1] besitzt eine Umkehrfunktion,welche Arcus-Kosinus genannt wird:arccos : [−1, 1] → [0, π],Entsprechend besitzt der Sinus eine Umkehrfunktion, den Arkus-Sinus:[arcsin : [−1, 1] → − π 2 , π ]2arccos(x)ππ2arcsin(x)π2−1 −0.5 0.5 1x−1 −0.5 0.5 1x− π 256


1.7 Trigonometrie1.7.3 tan, cot und deren UmkehrfunktionenTangens und Kotangens sind definiert durch:tan :R → R, tan(x) = sin(x)cos(x)D(tan) = R \ {x | cos(x) = 0}cot : R → R, cot(x) = 1tan(x) = cos(x)sin(x)D(cot) = R \ {x | sin(x) = 0} = R \ πZtan(x) und cot(x) für einen gegebenen Winkel x ∈ (0, π ) kann man ebenfalls2am Einheitskreis ablesen:cot(x)tan(x)1x1Daraus folgt weiter 4 :sin(x) ≤ tan(x)cos(x) ≤ cot(x)Die Funktionsgraphen sehen wie folgt aus:4 Mithilfe des Strahlensatzes lässt sich durch Projektion kleiner Sehnenstücke auch sin(x) ≤x ≤ tan(x) zeigen57


1 Analysis und numerische Analysistan(x)cot(x)44332211− π 2π4π2π32 π x− π 2π4π2π32 πx−1−1−2−2−3−3−4−4Spezielle Werte sind: tan ( π4)= tan(45◦ ) = 1 und tan(0) = tan(0 ◦ ) = 0.Ebenso wie sin und cos sind die Funktionen tan und cot periodisch. Allerdingsbeträgt die Periodenlänge nur π. Ferner kann man Rechenregeln für tan undcot mit Hilfe der Additionstheoreme von sin und cos herleiten 5 :tan(x + π) = tan(x)cot(x + π) = cot(x)tan(x ± y) =tan(x) ± tan y1 ∓ tan(x) tan ytan(−x) = − tan(x)Auch tan und cot haben für passend eingeschränkte Definitionsbereiche Umkehrfunktionen:arctan : R → ( − π 2 , π 2arccot : R → ( 0, π ))Die Graphen der Umkehrfunktionen haben folgendes Aussehen:5 Additionstheorem für sin und cos anwenden:π-Periodizität:tan(x + y) ==sin(x + y) sin(x) · cos(y) + sin(y) · cos(x)=cos(x + y) cos(x) cos(y) − sin(x) · sin ytan(x) · 1 + tan(y) · 11 − tan(x) · tan ysin(x + π) = − sin(x)cos(x + π) = − cos(x)⇒ tan(x + π) = tan(x)58


1.8 Vektorrechnungπ2πarctan(x)−4 −3 −2 −1 1 2 3 4xπ2arccot(x)− π 2−4 −3 −2 −1 0 1 2 3 4x1.7.4 AnwendungsbeispielBeispiel 1.7.1 Dies ist ein Beispiel einer (goniometrischen) Gleichung undihrer Auflösung mit Arkusfunktionen und Additionstheoremen.Für welche x ∈ R gilt: sin ( x + π 6) ( π )+ cos x + = 0 ? (1.15)4Mit Hilfe der Additionstheoreme zerlegt man zunächst sin(· · · ) und cos(· · · ),so dass nur noch sin(x) und cos(x) auftreten:sin ( x + π √) 3= . . . =62 sin(x) + 1 2 cos(x)cos ( x + π √) 2 ( )= . . . = cos(x) − sin(x)42Damit lässt sich (1.15) schreiben als( √ √3 2)2 − sin(x) + 1 (1 + √ )2 cos(x) = 022Wenn cos(x) ≠ 0, dann führt ein Multiplizieren der Gleichung mit2cos(x) zu:(√3 −√2)tan(x) +(1 +√2)= 0Mit Hilfe von arctan kann man diese Gleichung umstellen nach x:(x = arctan − 1 + √ 2) ( )√ √ + kπ mit k ∈ Z 3 − 21.8 Vektorrechnung1.8.1 GrundbegriffePhysikalische Größen wie Kraft oder elektrische Feldstärke werden mathematischdurch Vektoren beschrieben.59


1 Analysis und numerische AnalysisVektoren haben eine Länge (auch Betrag genannt) und eine Richtung (in derEbene oder im Raum).Im Folgenden werden zunächst nur ebene Vektoren betrachtet und die Erkenntnissein Abschnitt 1.8.4 auf Vektoren im Raum ausgedehnt.Schreibweisen:1. Ein Vektor wird mit einem Pfeil über seinem Namen gekennzeichnet:⃗a (siehe Abb. 1.9 a)).2. Ein Vektor kann auch durch Anfangs- und Endpunkt angegeben werden.−→P Q ist also ein Vektor, der von P zu Q zeigt (siehe Abb. 1.9 b)).3. a = |⃗a| kennzeichnet die Länge eines Vektors.Unsere Vektoren sind frei, d.h. beliebig verschiebbar. Gleiche Vektoren habengleiche Beträge und gleiche Richtungen (siehe Abb. 1.9 c)).⃗aa) b)PQ⃗a−⃗ac) d)Abbildung 1.9: VektorgrundbegriffeSpezielle Vektoren sind:1. Der Nullvektor ⃗0 mit Länge 0 und undefinierter Richtung.2. Einheitsvektoren ⃗e, deren Betrag 1 ist, d.h. |⃗e| = 1.3. Der inverse Vektor zu einem gegebenen Vektor ⃗a wird mit −⃗a bezeichnet.Er zeigt in die entgegengesetzte Richtung von ⃗a, ist aber genauso lang(siehe Abb. 1.9 d)).1.8.2 Verknüpfungen und RechenregelnAddition von VektorenVektoren werden durch Hintereinanderhängen addiert. Die Summe ⃗c = ⃗a + ⃗ berhält man also durch:60


1.8 Vektorrechnung⃗ b⃗a + ⃗ b⃗c⃗a⃗ b + ⃗c⃗a⃗a + ⃗ b⃗ b⃗d = ⃗a + ⃗ b + ⃗cWie man sieht, ist die Vektoraddition kommutativ, d.h. ⃗a + ⃗ b = ⃗ b + ⃗a, undassoziativ, d.h. (⃗a + ⃗ b) + ⃗c = ⃗a + ( ⃗ b + ⃗c) = ⃗ d.SkalarmultiplikationDie Verknüpfung eines Vektors ⃗a mit einer Zahl (bzw. Skalar) α ∈ R ist dieSkalarmultiplikation mit dem Ergebnis ⃗ b = α⃗a.Es gelten die folgenden Rechenregeln und Interpretationen:α > 1 :Streckung (siehe unten)0 < α < 1 : Stauchung (siehe unten)α = 1 :Identitätα = 0 :⃗ b = 0⃗a = ⃗0α < 0 :Umkehrung der Richtung : ⃗ b = α⃗a = −(−α)⃗aα = 1 a(a ≠ 0) : Einheitsvektor in Richtung ⃗a: ⃗e a := 1 a ⃗a⃗aα > 1α < 1Streckung und Stauchung eines Vektors Streckung und Stauchung eines VektorsDistributivgesetzDas Distributivgesetz verbindet Addition und Skalarmultiplikation:λ(⃗a + ⃗ b) = λ⃗a + λ ⃗ bEine Zeichnung verdeutlicht die Gültigkeit:λ ⃗ bλ⃗a⃗ bλ (⃗a + ⃗ b)⃗a⃗a + ⃗ b61


1 Analysis und numerische AnalysisZwei Vektoren ⃗a ≠ ⃗0 und ⃗ b ≠ ⃗0 schließen einen Winkel ϕ ein:⃗ b⃗aϕEs gilt: ϕ = ∡(⃗a, ⃗ b) = −∡( ⃗ b,⃗a).⃗a und ⃗ b heißen kollinear oder parallel wenn ∡(⃗a, ⃗ b) = 0 gilt. Dann ist der eineVektor ein Vielfaches des anderen: ⃗a = λ ⃗ b, ⃗ b = 1 λ⃗a mit λ ∈ R \ {0}.⃗a und ⃗ b heißen senkrecht bzw. orthogonal, wenn ϕ = ∡(⃗a, ⃗ b) = ± π 2Fall gilt cos(ϕ) = 0.ist. In diesemSkalarproduktBeim Einsatz einer Kraft zum Verschieben einer Masse wird Arbeit geleistet.Diese wird als Skalarprodukt berechnet.Wir definieren das Skalarprodukt zweier Vektoren ⃗a, ⃗ b (geometrisch) als diereelle Zahl⃗a ·⃗b = a b cos(ϕ) mit ϕ = ∡(⃗a, ⃗ b).Es gilt: ⃗a ·⃗b = 0 wenn ⃗a = ⃗0 oder ⃗ b = ⃗0.Mit Hilfe des Skalarproduktes drückt man die Länge der senkrechten Projektioneines Vektors auf den anderen aus. Einige Situationen hierzu sind:1. a = b = 1: ⃗a ·⃗b = ⃗ b · ⃗a = cos ϕDie geometrische Situation ist in der folgenden Abbildung oben linksdargestellt.2. b = | ⃗ b| = 1, λ > 1: ⃗a ·⃗b = a cos ϕ , (λ⃗a) ·⃗b = λ a cos ϕ .Dies findet man entsprechend unten links abgebildet.3. b = 1 : (⃗a 1 + ⃗a 2 ) ·⃗b = ⃗a 1 ·⃗b + ⃗a 2 ·⃗bDer geometrische Vergleich beider Gleichungsseiten ist im rechten Teilder Abbildung nachzuvollziehen.62


1.8 Vektorrechnung⃗aa cos(ϕ)⃗ b⃗a⃗ bλ⃗aλ a cos(ϕ)⃗a 1 + ⃗a 2⃗ b⃗ b⃗a 1⃗a 2Wir haben daher folgende Rechenregeln für das Skalarprodukt.Kommutativität: ⃗a ·⃗b = ⃗ b · ⃗aDistributivität: (⃗a 1 + ⃗a 2 ) ·⃗b = ⃗a 1 ·⃗b + ⃗a 2 ·⃗b⃗a · ( ⃗ b 1 + ⃗ b 2 ) = ⃗a ·⃗b 1 + ⃗a ·⃗b 2Assoziativität: λ(⃗a ·⃗b) = (λ⃗a) ·⃗b = ⃗a · (λ ⃗ b)⃗a und ⃗ b stehen nach Definition des Skalarprodukts genau dann senkrecht aufeinanderbzw. sind orthogonal, wenn ⃗a · ⃗b = 0 (⇔ ∡(⃗a, ⃗ b) = 90 ◦ ). Sie sindkollinear, wenn ⃗a ·⃗b = ± a b gilt.Zwischen dem Skalarprodukt und der Länge eines Vektors besteht folgenderZusammenhang:a = |⃗a| = √ ⃗a · ⃗a ,denn ∡(⃗a,⃗a) = 0 und daher ⃗a · ⃗a = a 2 cos(0) = a 2 .Es gilt die Cauchy-Schwarzsche Ungleichung:|⃗a ·⃗b| ≤ |⃗a| · | ⃗ b|, denn:|a b cos(ϕ)| ≤ |a b|, weil | cos(ϕ)| ≤ 1.Die senkrechte Projektion des Vektors ⃗a auf die Richtung von ⃗ b können wirselbst als Vektor (in Richtung von ⃗ b) schreiben. Sie ist gleich:⃗p = (⃗a · ⃗e b ) ⃗e b = 1 b 2 (⃗a ·⃗b) ⃗ b =⃗a ·⃗b⃗ b ·⃗ b⃗ b⃗a⃗p⃗ b63


1 Analysis und numerische Analysis1.8.3 Koordinatenvektoren und -systemeGrundbegriffeFür praktische Berechnungen ist die Benutzung eines rechtwinkligen Koordinatensystemsmit den Koordinaten x, y im R 2 bzw. x, y, z im R 3 zweckmäßig.Man hat Einheitsvektoren ⃗e x , ⃗e y , ⃗e z die aufeinander senkrecht stehen:⃗e x · ⃗e y = 0 = ⃗e x · ⃗e z = ⃗e y · ⃗e z⃗e z⃗e yO⃗e yO⃗e x⃗e xDiese Vektoren spannen die Ebene bzw. den Raum auf, d.h. jeder Vektor lässtsich wie folgt schreiben:⃗a = a x ⃗e x + a y ⃗e y + a z ⃗e zDie Koeffizienten fasst man zu einem Koordinatenvektor – als Spaltenvektorgeschrieben – zusammen⎡a xa = ⎣ a ya z⎤⎦ .Umgang mit KoordinatenvektorenDie Summe bzw. skalare Vielfache ergeben sich komponentenweise: ⃗c = λ⃗a + ⃗ bergibt – mit Koordinatenvektoren geschrieben – folgendes:c = λa + b = λ[axa y]+[ ] [ ]bx λax + b=xb y λa y + b yEntsprechend berechnet man für das Skalarprodukt:⃗a ·⃗b = (a x ⃗e x + a y ⃗e y ) · (b x ⃗e x + b y ⃗e y )= a x b x ⃗e x · ⃗e} {{ x +a} x b y ⃗e x · ⃗e y +a y b x ⃗e y · ⃗e x +a y b y ⃗e y · ⃗e y} {{ } } {{ } } {{ }=1=0=0=1= a x b x + a y b y = a · bMit Hilfe der Koordinatenform des Skalarproduktes kann man nun Winkelberechnen. Ferner beachte man den ähnlichen Formelaufbau von Winkelberechnungund Projektionsberechnung in Koordinatenform:Winkel cos(ϕ) = a · ba · bProjektion p = a · bb · b · b64


1.8 VektorrechnungDie Komponenten des Koordinatenvektors a sind eindeutig durch ⃗a bestimmt:a x = ⃗a · ⃗e x , a y = ⃗a · ⃗e y[ 0Beim Nullvektor ⃗0 sind alle Komponenten Nullen: 0 =0]Aber: a hängt vom gewählten Koordinatensystem ab, ⃗a dagegen nicht!Beispiel 1.8.1 Folgende zwei Vektoren sind im Koordinatensystem gegeben:[ ] [ ]−1 4a = und b =21y⃗a⃗a + ⃗ bϕ⃗ b⃗pOxGesucht sind: Die Summe ⃗a + ⃗ b, die Längen a und b sowie der Winkel ϕ =∡(⃗a, ⃗ b), das Skalarprodukt ⃗a ·⃗b und die senkrechte Projektion ⃗p von ⃗a auf ⃗ b.Man rechnet wie folgt:[ 3a + b =3],a = √ (−1) 2 + 2 2 = √ 5 ≈ 2.236067 . . . ,b = √ 4 2 + 1 2 = √ 17 ≈ 4.123105 . . . ,⃗a ·⃗b = a · b = (−1) · 4 + 2 · 1 = −2,cos(ϕ) =⃗a ·⃗ba · b = −2 √85,ϕ = arccos ( − √ 2 )= 1.789465 = 102.529 ◦ ,85⃗p = 1 b 2 (⃗a ·⃗b) ⃗ b = − 2 17 ⃗ b =⇒ p = − 2 [ ] 4.17 1Geometrische Figuren und VektorenWir können die Vektorzerlegung benutzen, um Dreiecke und andere geometrischeFiguren zu untersuchen. Als Beispiel dient uns ein Dreieck mit denEckpunkten ABC:65


¡¡1 Analysis und numerische AnalysisC⃗ b⃗aBA⃗cEs gilt hier: ⃗a + ⃗ b + ⃗c = ⃗0.Für die Längen der Dreiecksseiten gilt die Dreiecksungleichung c ≤ a + b, d.h.|⃗a + ⃗ b| ≤ |⃗a| + | ⃗ b|.Mittels Skalarprodukten bestätigt man dies wie folgt:|⃗a+ ⃗ b| 2 = (⃗a+ ⃗ b)·(⃗a+ ⃗ b) = a 2 +2(⃗a·⃗b)+b 2 CSU≤ a 2 +2ab+b 2 = (a+b) 2 = (|⃗a|+| ⃗ b|) 2 .Bezüglich eines rechtwinkligen Koordinatensystems geben wir einen Punkt Pdurch die Koordinaten seines Ortsvektors ⃗p = −→ OP an:P = (r x , r y ) ⇐⇒ r =[rxr y]Beispiel 1.8.2 Gegeben ist ein Dreieck mit den Eckpunkten A = (0, 0), B =(1, 0) und C = (0, 1).C¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥¤¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥¤⃗ b¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥⃗a¤¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥¤¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥¤¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥¤βA⃗c¢ ¢ ££¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¢ ¢B¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤ ¤¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥ ¥¤Wie groß ist β?66


1.8 VektorrechnungEs gilt ⃗a = −⃗e x + ⃗e y . Also folgt:[ ] [ ] [ ]0 1 −1a = − =1 0 1[ ] [ ] [ ]1 0 1c = − =0 0 0mit a = √ 2mit c = 1Damit gilt ⃗a · ⃗c = −1, wodurch man den Winkel berechnen kann:β = ± arccos ( ⃗a · ⃗c ) ( 1 ) π= ± arccos + √2 = ±a · c4 = ±45◦β = −45 ◦Flächeninhalte von Dreiecken oder Parallelogrammen werden ebenfalls mittelsVektorrechnung bestimmt.⃗ b⃗cϕ⃗aEs gilt folgender Zusammenhang: ⃗ b + ⃗c = ⃗a ⇐⇒ ⃗c = ⃗a − ⃗ b.Ferner sieht man: Fläche(Dreieck) = 1 2 Fläche(Parallelogramm).Der Flächeninhalt F des Parallelogramms berechnet sich durch:F = F (⃗a, ⃗ b) = a b · sin(ϕ) mit ϕ = ∡(⃗a, ⃗ b)F < 0 ist als Möglichkeit ausdrücklich zugelassen. An der Figur liest man ab:F (⃗a,⃗a) = 0F (⃗a, λ ⃗ b) = λF (⃗a, ⃗ b)F (⃗a, ⃗ b + λ⃗a) = F (⃗a, ⃗ b) ScherungssatzF (⃗a, ⃗ b) = −F ( ⃗ b,⃗a) aus (Grund-)FormelF (⃗e x , ⃗e y ) = 1 NormierungGrundgesetze für das Rechnen mit orientierten Flächeninhalten sind:F (⃗a + ⃗ b,⃗c) = F (⃗a,⃗c) + F ( ⃗ b,⃗c) DistributivitätF (λ⃗a, ⃗ b) = λF (⃗a, ⃗ b) BilinearitätF (⃗a, ⃗ b) = −F ( ⃗ b,⃗a) AntisymmetrieF (⃗e x , ⃗e y ) = 1 NormierungAus der Antisymmetrie ergibt sich erneut: F (⃗a,⃗a) = 0.67


1 Analysis und numerische AnalysisIn Koordinatendarstellung der Vektoren ⃗a = a x ⃗e x + a y ⃗e y und ⃗ b = b x ⃗e x + b y ⃗e yerhält man als Flächeninhaltsformel:F (⃗a, ⃗ b) = a x b x F (⃗e x , ⃗e x ) + a x b y F (⃗e x , ⃗e y ) + a y b x F (⃗e y , ⃗e x ) + a y b y F (⃗e y , ⃗e y )= (a x b y − a y b x ) F (⃗e x , ⃗e y )= a x b y − a y b xBeispiel 1.8.3 Man bestimme den Flächeninhalt des Dreiecks mit den EckenA = (2, 4), B = (4, −1) und C = (1, 1):⃗a = −→ CB = 3⃗ex − 2⃗e y⃗−→ b = CA = 1⃗ex + 3⃗e yF ∆ = 1 2 F (⃗a,⃗ b) = 1 ( ) 113 · 3 − 1 · (−2) =22 .1.8.4 Vektoren im RaumGrundlegendesWir gehen jetzt von Vektoren in der Ebene über zu Vektoren im Raum. Wasbleibt? Was ändert sich?Alle Begriffe und Definitionen wie Richtung, Länge (Betrag), Addition, Skalarmultiplikation,Winkel ∡(⃗a, ⃗ b) (in der von ⃗a, ⃗ b aufgespannten Ebene) bleibengenauso wie Definition und Gesetze des Skalarproduktes gleich.Es ändert sich lediglich die Beschreibung mit Hilfe der Koordinatenvektoren,denn diese haben eine Komponente mehr. Das zugehörige rechtwinklige Koordinatensystemmit den Einheitsvektoren ⃗e x , ⃗e y , ⃗e z ist auf Seite 64 zu sehen. Esist ein Rechtssystem.Die Koordinatenvektor-Schreibweise ändert sich zu:⎡a = ⎣a xa ya z⎤⎦ ⇐⇒ ⃗a = a x ⃗e x + a y ⃗e y + a z ⃗e z⃗a ·⃗b = a · b = a x b x + a y b y + a z b za = |⃗a| = √ √⃗a · ⃗a = a 2 x + a 2 y + a 2 z∡(⃗a, ⃗ ( ⃗a ·⃗ b)b) = arccosa bGeometrisch ist ein (Orts-)Vektor zu einem Punkt in einem Quader eingeschlossen:68


1.8 Vektorrechnunga za ya xKreuzproduktZu zwei Vektoren ⃗a und ⃗ b, die nicht kollinear – insbesondere nicht ⃗0 – sind,findet man einen Einheitsvektor ⃗e, der senkrecht auf ⃗a und ⃗ b steht. ⃗e und −⃗esind die einzigen Einheitsvektoren mit dieser Eigenschaft. Entweder ist (⃗a, ⃗ b, ⃗e)oder (⃗a, ⃗ b, −⃗e) positiv orientiert, d.h. es gilt die Rechtehandregel. In solch einemFall bilden diese Vektoren ein Rechtssystem.Wir nehmen an, dass (⃗a, ⃗ b, ⃗e) positiv orientiert ist:(i) (⃗a, ⃗ b, ⃗e) ˆ= (Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger) der rechten Hand.(ii) Wenn der Daumen in Richtung ⃗e zeigt, dann ist die Drehrichtung 6 geradedie positive Richtung innerhalb der (⃗a, ⃗ b)-Ebene.Das Kreuzprodukt oder Vektorprodukt von ⃗a mit ⃗ b ist dann:⃗a × ⃗ ∣b = ∣F (⃗a, ⃗ b) ∣ ⃗e = a b · | sin(ϕ)| ⃗e mit ϕ = ∡(⃗a, ⃗ b)Aus den Eigenschaften des Flächeninhaltes kann man die folgenden algebraischenEigenschaften des Kreuzproduktes zum Teil direkt ablesen:⃗a × ⃗ b = − ⃗ b × ⃗a(⃗a + ⃗ b) × ⃗c = (⃗a × ⃗c) + ( ⃗ b × ⃗c)(λ⃗a) × ⃗c = λ (⃗a × ⃗c)(⃗a × ⃗ b) ·⃗b = 0 = (⃗a × ⃗ b) · ⃗aSomit bilden ⃗a, ⃗ b und ⃗a × ⃗ b ein Rechtssystem.Folgerung 1.8.1(a) ⃗a × ⃗a = 0, denn ⃗a × ⃗a = −⃗a × ⃗a(b) Aus den orthogonalen Einheitsvektoren ⃗e 1 und ⃗e 2 entsteht ein rechtwinkligesRechtssystem ⃗e 1 , ⃗e 2 und ⃗e 1 × ⃗e 2 .6 hier muss man annehmen, dass man nicht weiter als bis π dreht69


1 Analysis und numerische AnalysisBemerkung 1.8.2 Es gilt kein Assoziativgesetz, d.h. es gibt ⃗a, ⃗ b,⃗c mit:(⃗a × ⃗ b) × ⃗c ≠ ⃗a × ( ⃗ b × ⃗c)Beispiel 1.8.4 Wähle ⃗a, ⃗ b mit (⃗a × ⃗ b) × ⃗ b ≠ ⃗0. Setze ⃗c = ⃗a + ⃗ b. Dann gilt:⃗a × ( ⃗ b × ⃗c) = ⃗a × ( ⃗ b × (⃗a + ⃗ b))= ⃗a × ( ⃗ b × ⃗a) + ⃗a × ( ⃗ b × ⃗ b)} {{ }=0= −⃗a × (⃗a × ⃗ b)= (⃗a × ⃗ b) × ⃗a(⃗a × ⃗ b) × ⃗c = (⃗a × ⃗ b) × ⃗a + (⃗a × ⃗ b) × ⃗ bEs gibt also eine Differenz (⃗a × ⃗ b) × ⃗c − ⃗a × ( ⃗ b × ⃗c) = (⃗a × ⃗ b) × ⃗ b, welche nachVoraussetzung nicht mit dem Vektor ⃗0 übereinstimmt.Konkreter kann man z.B. ⃗a = ⃗e x und ⃗ b = ⃗e y wählen.Zur Berechnung des Kreuzproduktes in Komponenten bezüglich eines kartesischen/rechtwinkligenKoordinatensystems (Rechtssystem) hat man also paarweiseorthogonale Einheitsvektoren, d.h. Vektoren ⃗e x , ⃗e y und ⃗e z mit ⃗e x × ⃗e y =⃗e z , ⃗e y × ⃗e z = ⃗e x und ⃗e z × ⃗e x = ⃗e y .Betrachtet man die Indizes, so sieht man eine zyklische Vertauschung wie inder folgenden Skizze dargestellt:z✟✙x ✟❍❍❥y✻Es verbleibt die Frage, wie für Vektoren ⃗a = a x ⃗e x + a y ⃗e y + a z ⃗e z und ⃗ b = b x ⃗e x +b y ⃗e y +b z ⃗e z die entsprechenden Komponenten von ⃗c := ⃗a× ⃗ b = c x ⃗e x +c y ⃗e y +c z ⃗e zaussehen. Durch Einsetzen und Ausrechnen erhält man:⃗c =a x b x · ⃗e x × ⃗e x + a x b y · ⃗e x × ⃗e y + a x b z · ⃗e x × ⃗e z+ a y b x · ⃗e y × ⃗e x + a y b y · ⃗e y × ⃗e y + a y b z · ⃗e y × ⃗e z+ a z b x · ⃗e z × ⃗e x + a z b y · ⃗e z × ⃗e y + a z b z · ⃗e z × ⃗e z= (a y b z − a z b y ) · ⃗e x+ (a z b x − a x b z ) · ⃗e y+ (a x b y − a y b x ) · ⃗e zAlso hat man für die Darstellung von c = a × b in Koordinatenvektoren⎡ ⎤ ⎡ ⎤ ⎡ ⎤ ⎡⎤c x a x b x a y b z − a z b y⎣ c y⎦ = ⎣ a y⎦ × ⎣ b y⎦ = ⎣ a z b x − a x b z⎦c z a z b z a x b y − a y b x70


1.8 VektorrechnungZahlenbeispiel:⎡4⎣ −61⎤⎡⎦ × ⎣33−4⎤⎡⎦ = ⎣(−6) · (−4) − 1 · 31 · 3 − 4 · (−4)4 · 3 − (−6) · 3⎤⎡⎦ = ⎣211930⎤⎦Der Flächeninhalt des von den beiden Vektoren aufgespannten Parallelogrammsbeträgt √ 21 2 + 19 2 + 30 2 = √ 1702 ≈ 41.255.Zwei nützliche Formeln(⃗a × ⃗ b) × ⃗c = (⃗c · ⃗a) ⃗ b − (⃗c ·⃗b)⃗a|⃗a × ⃗ b| 2 = a 2 b 2 − (⃗a ·⃗b) 2zur Berechnung oder Vereinfachung:(Grassmann)(Lagrange)Die Herleitungen dieser Formeln soll für spezielle Vektoren gezeigt werden.Im allgemeinen Fall sind die Ausdrücke umfangreicher, können aber analogzusammengefasst werden.Wir gehen einem Vektor in Richtung ⃗e x , einem Vektor in der x y-Ebene undeinem beliebig orientierten Vektor aus:Dann erhält man:und weiter⃗a = a x ⃗e x , ⃗ b = b x ⃗e x + b y ⃗e y ,⃗c = c x ⃗e x + c y ⃗e y + c z ⃗e z⃗a × ⃗ b = a x b y ⃗e x × ⃗e y = a x b y ⃗e z(⃗a × ⃗ b) × ⃗c = a x b y ⃗e z × (c x ⃗e x + c y ⃗e y + c z ⃗e z )= a x b y c x ⃗e z × ⃗e x + a x b y c y ⃗e z × ⃗e y= a x b y c x ⃗e y − a x b y c y ⃗e xEs gilt andererseits:= a x c x (b x ⃗e x + b y ⃗e y ) − (a x c x b x + a x b y c y )⃗e x= (⃗a · ⃗c) ⃗ b − ( ⃗ b · ⃗c)⃗a|⃗a × ⃗ b| 2 = (a x b y ) 2 · 1 ? = a 2 x(b 2 x + b 2 y) − (a x · b x ) 2 = a 2 b 2 − (⃗a ·⃗b) 2Bei dieser Umformung sind alle Rechenschritte auf Grund der bisherigen Gesetzeklar. Nur die Umformung bei ’?’ ist noch nicht nachgewiesen. Diese istaber tatsächlich richtig (Übung).Anwendungen des KreuzproduktsIn verschiedenen Bereichen der Physik und Technik wird das Kreuzproduktverwendet. Einige Beispiele sind in der folgenden Tabelle aufgelistet:⃗v × B) ⃗Kraftmoment M ⃗ = ⃗v × F ⃗Poynting’scher Vektor S ⃗ = E ⃗ × H ⃗ (elektr. Energiedichte)Kraft auf Ladung e F ⃗ = e ( E ⃗ +71


1 Analysis und numerische AnalysisSpate und deren VoluminaDa wir in der 3D-Vektorrechnung sind, stellt sich die Frage: Kann man auchVolumeninhalte berechnen? Die Teilantwort für den aktuellen Stand lautet:Für einen Spat ist es möglich.Ein Spat ist die 3-dimensionale Verallgemeinerung des Parallelogramms. SeineSeitenflächen sind Parallelogramme, gegenüberliegende Seiten sind parallel undkongruent. Ein andere Begriff dafür ist auch Parallelflach. Ein Spat wird durchdrei Vektoren ⃗a, ⃗ b und ⃗c aufgespannt:⃗f = ⃗a× ⃗ b⃗c⃗ b⃗aDie Grundfläche ist ein durch ⃗a und ⃗ b aufgespanntes Parallelogramm. Dupliziertman diese und verschiebt das Duplikat mit ⃗c so erhält man den Deckel.Im Profil erhält man folgende Ansicht:⃗fh⃗c⃗a, ⃗ bDie Höhe berechnet sich zu h = ⃗c ·⃗e f = 1 f (⃗c · ⃗f). Dies entspricht der Länge derProjektion von ⃗c auf ⃗ f.Das Volumen ist Grundfläche mal Höhe, also: f · h = ⃗ f · ⃗c = (⃗a × ⃗ b) · ⃗c.Insgesamt ergibt sich: Der Betrag (die Länge) des Spatproduktes[⃗a, ⃗ b,⃗c ] := (⃗a × ⃗ b) · ⃗cist das Volumen des von ⃗a, ⃗ b und ⃗c aufgespannten Spates.Das Rechnen in Komponenten führt auf[⃗a, ⃗ a x b x c xb,⃗c ] =a y b y c y .∣ a z b z c z∣72


1.9 Stetige FunktionenDies ist die Determinante einer 3 × 3-Matrix. Dazu wird im nächsten Semestermehr erzählt.1.9 Stetige Funktionen1.9.1 GrenzwerteDefinition 1.9.1 Ist (a − x i ) eine beliebige Nullfolge, mit x i ≠ a, so giltlim x i = a.i→∞Ist weiter eine Funktion y = f(x) mit Definitionsbereich D(f) gegeben, undgilt für alle i ∈ N auch x i ∈ D(f), so kann der Folge (a − x i ) durch y i = f(x i )eine Folge (y i ) zugeordnet werden. Ist diese Folge (y i ) für jede Nullfolge (a−x i )konvergent mit dem Grenzwert c, so schreibt manlim f(x) = cx→aund versteht hierunter den Grenzwert einer Funktion im Gegensatz zu demeiner diskreten Zahlenfolge.Beispiel 1.9.1 Man bestimme den Grenzwertlimx→∞2x − 1√x 2 − 3 .Wegen x → ∞ genügt es, Werte x > 0 zu betrachten. Der direkte Grenzübergangwürde auf einen unbestimmten Ausdruck der Form ∞/∞ führen. Deshalbwird der Bruch mit 1/x erweitert. Damit gilty = f(x) = 2x − 1 √x 2 − 3 =2 − 1 x√1 − 3 x 2 für x > 0Die Funktionen 1/x und 3/x 2 streben für jede unbeschränkt wachsende Folge(x i ) gegen Null. Daher giltlimx→∞2x − 1√x 2 − 3 = 2.Beispiel 1.9.2 Man untersuche, ob der Grenzwert3x 2 − 7 √ xlimx→0 4x − 2x 3existiert. Gegebenenfalls bestimme man diesen Grenzwert. Führt man die Grenzwertbildungx → 0 direkt aus, so erhält man einen unbestimmten Ausdruck derForm 0/0. Deshalb wird der Bruch zunächst für x > 0 mit 1/ √ x erweitert.limx→03 √ x 3 − 74 √ x − 2 √ x 5 .Der Zähler dieses Quotienten strebt gegen −7, der Nenner jedoch gegen Null.Daher wächst der Quotient unbeschränkt. Es existiert kein endlicher Grenzwert.Eine Untersuchung mit x ≤ 0 ist damit überflüssig.73


1 Analysis und numerische Analysis1.9.2 Motivation und GrundlagenIm Abschnitt 1.5.3 haben wir unter gewissen einleuchtenden Voraussetzungenmit dem Verfahren der Bisektion eine Nullstelle ¯x einer Funktion f(x) langsam,aber sicher gefunden. Eine dieser Voraussetzungen war die Stetigkeit der untersuchtenFunktion, grob ausgedrückt: Die Funktion darf nicht über die x-Achsespringen. Funktionen, die nirgendwo springen, also keine solchen Sprungstellenhaben, nennt man stetig.Das Bisektionsverfahren schachtelte die Nullstelle ¯x in unendlich viele, kleinerwerdende Intervalle (a i , b i ):a 1 ≤ a 2 ≤ a 3 ≤ · · · ≤ ¯x ≤ · · · ≤ b 3 ≤ b 2 ≤ b 1Der folgende Satz sichert die Existenz der Nullstelle ¯x:Satz 1.9.2 (Intervallschachtelung) Seien (a n ) und (b n ) Folgen mit:(i) a n ≤ a n+1 ≤ b n+1 ≤ b n(ii) lim (b n − a n ) = 0n→∞Dann existiert der Grenzwert∀n ∈ Ng = limn→∞ a n = limn→∞ b n.Beweis. Der Satz folgt aus dem Vollständigkeitsaxiom.Es sei jetzt f(a 1 ) < 0 und damit f(b 1 ) > 0. Dann folgt aus Abschnitt 1.9.1:lim f(a k)k→∞} {{ }≤0= f(¯x) = limk→∞ f(b k)} {{ }≥0⇒ f(¯x) = 0Diese Erkenntnis führt zu dem neuen Begriff der Stetigkeit:Definition 1.9.3 Sei f : R → R. f heißt stetig, wenn für alle x ∈ D(f) undalle Folgen (x n ) ⊂ D(f) mit x = limn→∞ x n gilt:f(x) = limn→∞ f(x n)Das Bisektionsverfahren liefert für stetige Funktionen f eine Nullstelle ¯x. Allgemeinergilt:Satz 1.9.4 (Zwischenwertsatz) Sei f : R → R stetig mit [a, b] ⊆ D(f). Seiy 0 reell mit f(a) < y 0 < f(b). Dann existiert (mindestens) ein x 0 ∈ [a, b] mity 0 = f(x 0 ).Man sagt: x 0 ist eine y 0 -Stelle.Beweis. Wende obiges Verfahren auf die Funktion g(x) := f(x) − y 0 an.Da man dazu den Satz über die Intervallschachtelung benötigt, nutzt man auchhier das Vollständigkeitsaxioms aus.74


1.9 Stetige FunktionenBeispiel 1.9.3 Beispiele stetiger Funktionen f : R → R (also D(f) = R):(a) f(x) = ax + bDie Stetigkeit folgt aus den Rechengesetzen für konvergente Folgen:x n → x =⇒ f(x n ) = ax n + b → ax + b = f(x) für n → ∞(b) f(x) = ax 2 + bx + c(c) f(x) = cos(x)Mit den Additionstheoremen sowie | sin(x)| ≤ 1 und | sin(x)| ≤ |x| folgt:cos(x n ) − cos(x) = −2 sin ( x n + x) (x n − x)· sin22=⇒ | cos(x n ) − cos(x)| ≤ 2 | sin ( x n − x) | ≤ |xn − x|2Also: |x n − x| → 0⇒ | cos(x n ) − cos(x)| → 0 für n → ∞(d) f(x) = sin(x) (analog zu (c) argumentieren).Dagegen sind Funktionen, die Sprungstellen haben, nicht stetig. Zum Beweismuss man für eine Stelle a ∈ D(f) zwei Folgen angeben können, welche nichtdenselben Grenzwert besitzen.Beispiel 1.9.4 (Zeichnung bei Beispiel 1.3.4){ 1 für x ≥ 0h(x) =0 für x < 0ist nicht stetig. Für die Stelle a = 0 gilt z.B.:lim f( − 1 )= 0 ≠ 1 = limn→∞ nf( 1 ).n→∞ nPräziser analysiert gilt: h ist in jedem Punkt x ∈ R \ {0} stetig und nur imPunkt x = 0 nicht stetig.1.9.3 RechenregelnDie Stetigkeit einer Funktion ersieht man oft daraus, dass sie aus Funktionenzusammengesetzt ist, deren Stetigkeit bereits bekannt ist. Man wendet dabeidie folgenden Rechenregeln an.Sind f, g : R → R Funktionen mit Definitionsbereichen D(f) und D(g), so sindfolgende Verknüpfungen definiert, wenn D(f) ∩ D(g) ≠ ∅ gilt:• f + g : D(f) ∩ D(g) → R mit (f + g)(x) = f(x) + g(x).• f · g : D(f) ∩ D(g) → R mit (f · g)(x) = f(x) · g(x).• f g : ( D(f) ∩ D(g) ) \ {x | g(x) = 0} → R mit ( fg)(x) =f(x)g(x) . 75


1 Analysis und numerische AnalysisDie Verkettung f ◦ g ist definiert, wenn B(g) ⊂ D(f) mit D(f ◦ g) = D(g) und(f ◦ g)(x) = f(g(x)).Satz 1.9.5 Sind f und g stetig, dann auch f + g, f · g, f gDefinitionsbereichen).und f ◦ g (auf ihrenBegründung am Beispiel von f · g:Verwende die Rechenregeln für Grenzwertex = limn→∞ x n =⇒lim (f · g)(x n) = lim f(x n) g(x n )n→∞ n→∞= lim f(x n) · lim g(x n) = f(x) g(x).n→∞ n→∞Weitere Beispiele stetiger Funktionen:Beispiel 1.9.5(e) f(x) = tan(x) = sin(x)cos(x) mitD(tan) = R \ {x ∈ R | cos(x) = 0} = R \ {x ∈ R | x = π 2+ kπ, k ∈ Z}.(f) f(x) = cot(x) = cos(x)sin(x) mit(g) f(x) =D(cot) = R \ {x ∈ R | sin(x) = 0} = R \ {x ∈ R | x = kπ, k ∈ Z}.sin 3 (x)ax 2 + bx + c mitD(f) = {x ∈ R | ax 2 + bx + c ≠ 0}.Beispiel 1.9.6 Polynome sind Funktionen der Bauartf(x) = a n x n + a n−1 x n−1 + · · · + a 2 x 2 + a 1 x + a 0mit reellwertigen Koeffizienten a 0 , a 1 , . . . , a n . Ist a n ≠ 0, dann sagt man, dassf den Grad n hat, allgemeiner spricht man vom Höchstgrad n.Polynome sind stetige Funktionen.Ist x 0 eine Nullstelle für f, d.h. f(x 0 ) = 0, und ist f ein Polynom vom Grad n,dann ist g(x) := f(x)/(x − x 0 ) ein Polynom vom Grad n − 1. Hieraus schließtman, dass ein Polynom nicht mehr (reelle) Nullstellen haben kann, als seinGrad angibt.Beispiel 1.9.7 Rationale Funktionen haben die Bauart f(x) = p(x)q(x) , wobei pund q Polynome sind. Rationale Funktionen sind stetig in ihrem DefinitionsbereichD(f) = R \ {x | q(x) ≠ 0}, d.h. der Definitionsbereich umfasst diegesamte reelle Zahlenachse bis auf die endliche Menge der Nullstellen von q,die Polstellen oder kurz Pole genannt werden.76


1.9 Stetige FunktionenWie steht es mit der Stetigkeit um y = √ x, y = arccos x, . . .?Satz 1.9.6 Satz über stetige Umkehrfunktionen. Sei f eine auf einem abgeschlossenenIntervall [a, b] = D(f) definierte reellwertige Funktion. f sei zudemstetig und streng monoton steigend. Dann ist der Bildbereich B(f) = [c, d]wobei c = f(a) und d = f(b).Die Umkehrfunktion f −1 : [c, d] → R ist stetig auf D(f −1 ) = [c, d] und ebenfallsstreng monoton steigend.Bemerkung 1.9.7 ”Steigend” kann durch ”fallend” ersetzt werden, wenn c =f(b) und d = f(a) gesetzt wird.Begründung: B(f) = [c, d] folgt aus dem Zwischenwertsatz. Die Existenz vonf −1 wissen wir bereits von früher (strenge Monotonie ⇒ eineindeutig). DenNachweis der Stetigkeit führen wir nicht.Durch Anwendung des Satzes erhalten wir weitere stetige Funktionen:Beispiel 1.9.8(h) f(x) = n√ x ist stetig auf D(f) = [0, +∞[.(i) y = arccos(x) ist stetig auf D(arccos) = [−1, 1].(j) Die anderen Arkusfunktionen sind ebenfalls auf ihren jeweiligen Definitionsbereichenstetig.1.9.4 UnstetigkeitsstellenOft sind Funktionen f : R → R fast überall auf R stetig mit Ausnahme voneinzelnen Stellen. Diese können Polstellen (Unendlichkeitsstellen) oder Sprungstellensein , wie z.B. bei(a) f(x) = [x] = (größte ganze Zahl ≤ x) = n, wenn n ≤ x < n + 1.4[x]321−3−2−11234 x−1−2−3(b) der Sägezahnfunktion S(x) = x − [x].77


1 Analysis und numerische Analysis2−3 −2 −1 12 3 4 xIn Sprungstellen existieren einseitige Grenzwerte:axDer linksseitige Grenzwert ist definiert alsf(a−) = lim f(x) := lim f(x n) für jede Folge (x n ) mit x n < a für alle n ∈ Nx↑a n→∞und lim = a.n→∞Der rechtsseitige Grenzwert ist definiert alsf(a+) = lim f(x) := lim f(x n) für jede Folge (x n ) mit x n > a für alle n ∈ Nx↓a n→∞und lim = a.n→∞Am Beispiel Sägezahnfunktion gilt: limx↑1s(x) = 1 ≠ 0 = limx↓1s(x)Es gibt kompliziertere Unstetigkeitsstellen, in denen auch die halbseitigen Grenzwertenicht existieren, z.B. bei der Funktionf(x) ={sin 1 für x ≠ 0x0 für x = 0mit dem folgenden (teilweise wiedergegebenen) Graphen:78


1.9 Stetige Funktionensin( 1 x )xWenn die halbseitigen Grenzwerte bei a existieren und gleich sind, d.h. wenngiltlim f(x) = lim f(x),x↑a x↓adann nennt man diesen Grenzwert den Grenzwert von f bei a:lim f(x).x→ax≠aMan kann die Stetigkeit von f : R → R mit diesem Grenzwertbegriff auch soaussprechen:f(a) = lim f(x) für alle a ∈ D(f).x→ax≠aBeachte, dass a für die Grenzwertdefinitionen nicht in D(f) liegen muss.(Es sollte aber eine Folge (x n ) ⊂ D(f) geben, die gegen a konvergiert.)Dies ist nützlich bei der Betrachtung von (Definitions-)Lücken von f:Beispiel 1.9.9 f(x) = sin(x)x, x ≠ 01−2π−ππsin(x)x2πx79


1 Analysis und numerische Analysissin(x)Satz 1.9.8 lim = 1x→0 xx≠0Beweis. Aus sin(x) ≤ x ≤ tan(x) folgt mit Division durch sin(x) und Kehrwertbilden:1 ≥ sin(x)x≥ cos(x). Dann gilt lim cos(x) = cos(0) = 1 wegen derx→0Stetigkeit von cos.Mit Hilfe des Sandwichkriteriums für Folgen erhält man schließlich die Behauptung.Man kann daher den Definitionsbereich und die Funktionsvorschrift so ergänzen,dass eine stetige Funktion resultiert.⎧⎨ sin(x)für x ≠ 0˜f(x) = x⎩1 für x = 0ist die stetige Fortsetzung von f(x) = sin(x)x .Weitere interessante Stellen, die eine Funktion haben kann, sind Polstellen, wiez.B. beif(x) = 1 xfür x ≠ 0.f ist auf R \ {0} stetig, kann aber nicht zu einer stetigen Funktion auf ganzR fortgesetzt werden. Hier ist es sinnvoll als (uneigentliche) Grenzwerte auch±∞ zuzulassen (siehe auch Definition 1.4.1).Dadurch erweitert man den Begriff der einseitigen Grenzwerte in a und desGrenzwertes einer Funktion an der Stelle a auf die Menge R ∪ {−∞, +∞}.Beispiel 1.9.10 Die Funktionf(x) =x 2 − 1x 2 − 2 x + 1besitzt bei x = 1 eine Polstelle. Mit der Umformungx 2 − 1 (x − 1)(x + 1) x≠1x 2 =− 2x + 1 (x − 1) 2 = x + 1x − 1erkennt man leicht:undx 2 − 1limx↓1 x 2 − 2x + 1 = +∞x 2 − 1limx↑1 x 2 − 2x + 1 = −∞.80


1.10 Exponentialfunktion und Logarithmus1.10 Exponentialfunktion und Logarithmus1.10.1 Die Exponential- oder e-FunktionDie durchexp : R → R, exp(x) =∞∑k=01k! xkdefinierte Funktion heißt (reelle) Exponentialfunktion (oder e-Funktion). Dieobige Reihe konvergiert absolut für jedes reelle x, daher gilt (D(exp) = R).Für x = 0 ist die Konvergenz offensichtlich, für x ≠ 0 sieht man dies mit denQuotientenkriterium ein:∣∣x k+1∣ ∣a k = 1 k! xk =⇒∣ a k+1 ∣∣∣∣ =a k(k + 1)!k!|x k | = |x| k→∞−→ 0k + 1Aus der Reihe exp(x) = 1 + x + 1 2 x2 + 1 3! x3 + . . . liest man sofort ab:exp(0) = 1, exp(x) ≥ 1 + x > 1 für x > 0.und man sieht, dass man die Funktion f(x) = exp(x) in der Nähe von x = 0approximieren kann durch die ersten beiden (Linearisierung!), ersten drei oderersten vier Summanden, siehe Abb. 1.10:Die Zahly = exp(x) ≈ 1 + xy = exp(x) ≈ 1 + x + x22!y = exp(x) ≈ 1 + x + x22! + x33!e = exp(1) =∞∑k=01k! = 2.71828182846 . . .heißt Eulersche Zahl. Man kann zeigen, dass gilt(e = lim 1 + 1 n.n→∞ n)Man verwendet oft die Potenzschreibweise e x = exp(x) für die e-Funktionen.Dies ist gerechtfertigt, weil die Potenzgesetze gelten (e x+y = e x e y ):Satz 1.10.1 exp(x + y) = exp(x) exp(y).Beweis. Der Beweis dieser Gleichung geht nicht sofort aus der Definition hervor.Man wendet einerseits die Binomische Formel und andererseits das Cauchyproduktabsolut konvergenter Reihen an, auf die Einzelheiten wollen wir verzichten.81


1 Analysis und numerische Analysise x81 + x + x22 + x3 61 + x + x2 21 + x1xAbbildung 1.10: Die Exponentialfunktion und drei approximierende Polynome.Man kann also die Funktionen e x und exp(x) als völlig gleich behandeln.Einige Eigenschaften der Exponentialfunktion für x ∈ R, n ∈ Z:1. exp(−x) = 1exp(x)2. exp(nx) = (exp(x)) n3. x < y ⇒ exp(x) < exp(y), d.h. exp ist streng monoton steigend.4. exp(x) > 0Begründungen:zu 1.: exp(−x) exp(x) = exp(−x + x) = exp(0) = 1.zu 2.: Induktion und Satz 1.10.1.zu 3.: x < y ⇒ exp(y) = exp(x)·exp(y−x) > exp(x), denn es gelten exp(x) > 0und exp(t) > 1 für t > 0.zu 4.: exp(x) ≥ 1 für x ≥ 0 ⇒ exp(−x) > 0 für x ≥ 0.Aus der Reihendarstellung folgert man:Satz 1.10.2 Die Exponentialfunktion ist stetig.Besonders wichtig ist das Verhalten der e-Funktion für x → ±∞:Wegen e x ≥ 1 + x für x ≥ 0 folgt:limx→+∞ ex = +∞limx→−∞ ex =limx→+∞ e−x =limx→+∞1e x = 082


1.10 Exponentialfunktion und LogarithmusDie Exponentialfunktion strebt sogar sehr schnell gegen +∞ bzw. 0. Aus derReihendarstellung folgt z.B., dass x22 ≤ ex und x36 ≤ ex für x ≥ 0, und es giltoffenbar allgemeinx nlim = 0 ∀n ∈ N.x→+∞ ex Salopp kann man sagen: exp gewinnt immer die ”Oberhand”.Zusammen ergeben sich zwei wichtige Faustregeln:• e x wächst stärker gegen Unendlich als jedes Polynom p(x):p(x)e xlimx→+∞ e x = 0, limx→+∞ p(x) = ∞.• e −x fällt stärker gegen Null als jedes Polynom gegen Unendlich wächst:lim p(x)x→+∞ e−x = 0.Die große Bedeutung der e-Funktion liegt darin, dass sie Wachstums- und Abklingvorgängebeschreibt. Mathematisch sieht man das daran, dass sie Grundlösungder meisten Differenzialgleichungen ist, die entsprechende physikalischeoder wirtschaftliche Vorgänge beschreiben. Darauf kommen wir später zurück.Beispiel 1.10.1 Laden eines Kondensators C über einen Widerstand R:RUCLadestrom i = i(t) als Funktion der Zeit t. Zum Zeitpunkt t = 0 ist der Kondensatorentladen: U C (0) = 0. Konstante Ladespannung U = U R (t) + U C (t).i(t) = I e −tτmit I = U Rund τ = R C als Zeitkonstante.Der Ladestrom nach einer gewissen Zeit z.B. t = 6τ beträgti(6τ) = I e −6 = 0.0025 INach dieser Zeit beträgt der Ladestrom also nur noch 0.25% des größten Ladestroms(zu Beginn). Der zeitliche Verlauf des Ladestroms sieht wie folgt aus:83


I 0.25%τ 2τ 3τ 4τ 5τ 6τ t1 Analysis und numerische AnalysisI 0Satz 1.10.3 Der Bildbereich der Exponentialfunktion exp : R → R ist B(exp) =R + = {y ∈ R | y > 0}.Insbesondere sind 0 und negative Zahlen keine möglichen Werte für exp. Dadie exp(x) mit x → −∞ gegen Null geht, gehört wegen der Stetigkeit jedesy 0 > 0 zu B(exp).1.10.2 Der LogarithmusDefinition 1.10.4 Die Umkehrfunktionln : R + → R, y = ln(x),der Exponentialfunktion exp heißt natürlicher Logarithmus.Wie exp ist ln eine stetige und streng monoton steigende Funktion. Ihren Graphenerhält man durch Spiegelung an der 45 ◦ -Grad Diagonalen:4exp(x)321ln(x)x−4−3−2−1−11234−2−3−4Eigenschaften der Logarithmus-Funktion folgen direkt aus den Eigenschaftender Umkehrfunktion x ↦→ e x :y = ln(x) ⇔ x = e y = exp(y)x = e ln(x) , y = ln(e y ) (x, y > 0)ln(1) = 0, ln(e) = 1.84


1.10 Exponentialfunktion und LogarithmusDie Regel ln(x 1 · x 2 ) = ln(x 1 ) + ln(x 2 ) entspricht dem Potenzgesetz für exp:e ln(x 1·x 2 ) = x 1 · x 2 = e ln(x 1) · e ln(x2) = e ln(x 1)+ln(x 2 ) ,Mit der Eineindeutigkeit der Exponentialfunktion folgt nun:ln(x 1 · x 2 ) = ln(x 1 ) + ln(x 2 )Für den Definitions- und Bildbereich gelten:D(ln) = R + ,B(ln) = RWie sieht die Exponentialfunktion zu einer Basis a > 0 aus und welche Beziehungexistiert evtl. zur “natürlichen” Exponentialfunktion? Was ist a x füra > 0 und x ∈ R? Was ist π π ?Diese Fragen führen zu folgenderDefinition 1.10.5 Sei a > 0.für x ∈ R.a x := exp(x · ln(a)) =Aus den Eigenschaften für ln und exp folgt:(allgemeine Exponentialfunktion).∞∑k=01k! xk (ln(a)) ka 0 = 1a 1 = exp(ln(a)) = aa x a y = a x+y (∀x, y ∈ R)Die Besonderheit der Basis a = e (die sogenannte Natürlichkeit) drückt sich inder Steigung aus. Diese ist in x = 0 gerade 1.Entsprechend gibt es zur allgemeinen Exponentialfunktion eine Umkehrfunktion,nämlich den Logarithmus zu einer Basis a > 0:Definition 1.10.6y = log a (x) :⇔ x = a y(x > 0, y reell)Diese allgemeine Logarithmusfunktion ist eigentlich überflüssig, denn der natürlicheLogarithmus reicht wegen folgender Umrechnungsformel völlig aus:log a (x) = ln(x)ln(a)85


1 Analysis und numerische AnalysisDenn:y = log a (x) ⇔ x = a y = exp(y · ln(a))⇔⇔y · ln(a) = ln(x)y = ln(x)ln(a)Dennoch ist die Benutzung der Basen a = 10 (dekadischer oder Brigg’scherLogarithmus) und a = 2 weit verbreitet. Mit log(x) = log 10 (x) bezeichnet man(unglücklicherweise) oft den Zehnerlogarithmus. Besser ist die Verwendung derBezeichnung nach DIN-Norm:lg(x) = log 10 (x)lb(x) = log 2 (x)ln(x) = log e (x)Die Logarithmen zu verschiedenen Basen a, b > 0 gehen durch einen einfachenUmrechnungsfaktor auseinander hervor:log a (x) =1log b (a) log b(x)Beispiel 1.10.2 Die ideale Brennschlusshöhe einer einstufigen Rakete wirdnach der Gleichung(h B = ν A t B 1 − ln µ )µ − 1berechnet. Wie muss das Massenverhältnis µ von Startmasse zu Endmasse gewähltwerden, wenn bei einer Ausströmgeschwindigkeit ν A = 2.5 km/s undeiner Brenndauer von t B = 80 s eine Höhe von 100 km erreicht werden soll?Man setzt die gegebenen Werte in die Funktionsgleichung ein100 km = 2.5 km (s · 80 s · 1 − ln µ )µ − 1und erhält nach Umformung die transzendente Bestimmungsgleichung für µEine grobe Zeichnung wie diesey(µ) = ln µµ − 1 − 0.5 ! = 00.20.150.10.050−0.052 2.2 2.4 2.6 2.8 3 3.2 3.4 3.6 3.8 486


1.10 Exponentialfunktion und Logarithmusliefert eine Nullstellennäherung von µ = 3.5 bzw. das Intervall [3.4, 3.6], in demein Vorzeichenwechsel von y stattfindet, was man leicht nachrechnen kann:y(3.4) ≈ 0.01,y(3.6) = −0.007.Eine Nullstellennäherung findet man dann mit einigen Schritten eines Iterationsverfahrensoder mit der Methode der Bisektion:y(3.513) = 0.0000.Das Massenverhältnis muss µ = 3.513 betragen.Beispiel 1.10.3 Wir betrachten noch einmal das Bisektionsverfahren zur Nullstellensuche:Finde ein x 0 ∈ [a, b] mit f(x 0 ) = 0, wenn f(a) < 0 < f(b) gilt.Wieviel Schritte n sind nötig um eine gewünschte Genauigkeit ε > 0 zu erreichen?Wir wissen bereits, dass zwischen der Schrittzahl n und der Intervallbreite b−afolgender Zusammenhang besteht:b n − a n ≤ 2 −n+1 · (b 1 − a 1 ) = 2 −n+1 · (b − a)Soll diese Differenz kleiner als ε sein, so erhält man eine Ungleichung, die mannach n umstellt:2 −n+1 · (b − a) ≤ ε =⇒ b − a ≤ 2 n−1ε=⇒ lb ( b − a) 1≤ n − 1 =⇒ n ≥εln(2) · ln ( b − a) + 1ε1.10.3 Die HyperbelfunktionenDefinition 1.10.7 Mit Hilfe der Exponentialfunktion werden die Hyperbelfunktionendefiniert:cosh(x) = ex + e −x, sinh(x) = ex − e −x,22tanh(x) = sinh(x)cosh(x) = ex − e −xe x + e −x , coth(x) = 1tanh(x) = ex + e −xe x − e −x .cosh : R → R, sinh : R → R, tanh : R → R und coth : R \ {x = 0} → R heißenHyperbelsinus, Hyperbelcosinus, Hyperbeltangens und Hyperbelcotangens.Durch Addieren bzw. Subtrahieren der Funktionen cosh x und sinh x ergibtsichcosh x + sinh x = e x , cosh x − sinh x = e −x .Multipliziert man jeweils die linken und rechten Seiten dieser beiden Gleichungenmiteinander, so findet man die der Gleichung sin 2 x + cos 2 x = 1 analogeBeziehungcosh 2 (x) − sinh 2 (x) = 1. (1.16)87


1 Analysis und numerische AnalysisDer Name Hyperbelfunktion entstammt der Tatsache, dass die Kurven (x(t), y(t)) =(cosh t, sinh t) und (x(t), y(t)) = (− cosh t, sinh t) mit t eine Hyperbel in derx y-Ebene durchlaufen. In der folgenden Zeichnung läuft t von −3 bis 3.151050−5−10−15−15 −10 −5 0 5 10 15Den Graphen des cosh nennt man auch Kettenlinie, denn: Eine Kette, die anzwei Stellen aufgehängt wird, biegt sich unter ihrem Eigengewicht derart, dasscosh den Verlauf der Kette beschreibt.cosh(x)4321x−3−2−1123−1−2sinh(x)−3−4Wie bei den Kreisfunktionen bestehen auch bei den Hyperbelfunktionen Additionstheoreme,die man aus der Definitionsgleichung mit Hilfe der Beziehung88


1.11 Grundlagen der Differenzialrechnunge x+y = e x e y beweistsinh(x ± y) = sinh x cosh y ± cosh x sinh y, (1.17)cosh(x ± y) = cosh x cosh y ± sinh x sinh y, (1.18)tanh(x ± y) =tanh x ± tanh y1 ± tanh x tanh y . (1.19)Für x = y ergeben sich die Sonderfällesinh 2x = 2 sinh x cosh x, (1.20)cosh 2x = cosh 2 x + sinh 2 x, (1.21)und durch Addition bzw. Subtraktion der Gleichungen (1.16) und (1.21)cosh 2x = 2 cosh 2 x − 1, cosh 2x = 2 sinh 2 x + 1. (1.22)Beispiel 1.10.4 Die Form eines zwischen zwei gleich hohen Masten aufgehängtenSeiles wird durch die Gleichung der Kettenliniey = a cosh x abeschrieben, wobei a das Verhältnis der Horizontalkomponente der Seilkraft zurGewichtskraft je Längeneinheit ist. Die Länge a bedeutet gleichzeitig die Höhedes tiefsten Seilpunktes über dem Koordinatenanfangspunkt, weil für x = 0 derFunktionswert y = a wird. Für a = 80 m beträgt die Höhe der Mastspitze überdem Nullpunkt bei zwei 150 m entfernten Masteny = 80 m · cosh(75 m/80 m)= 80 m cosh 0.9375 = 80 m · 0.5(e 0.9375 + e −0.9375 )= 80 m · 0.5(2.55 + 0.39) = 118 mMan kann auch direkt cosh 0.9375 = 1.47 dem Taschenrechner entnehmen. DerDurchhang f beträgt (118 − 80) m = 38 m. Bei Annahme der Ersatzparabely = a(1 + 0.5x 2 /a 2 ) erhält man dagegen y = 80 m · (1 + 0.5 · 0.9375 2 ) = 115 m,also einen Durchhang von 35 m.1.11 Grundlagen der Differenzialrechnung1.11.1 DefinitionenBewegungsvorgänge in Physik und Technik führen zu Weg-Zeit-Gesetzen. Ausdiesen lassen sich wiederum Geschwindigkeit, Beschleunigung und andere Größenbestimmen.89


1 Analysis und numerische AnalysisWir betrachten nun speziell die Geschwindigkeit: Ausgangspunkt ist ein Weg-Zeit-Gesetz s = s(t). Unser Ziel ist es die Durchschnittsgeschwindigkeit unddie Momentgeschwindigkeit anzugeben. Als Rechenweg erhalten wir:Durchschnittsgeschwindigkeit:Momentgeschwindigkeit:Zeitspanne: ∆t = t − t 0Strecke: ∆s = s(t) − s(t 0 )∆s∆t = s(t) − s(t 0 )t − t 0s(t) − s(t 0 )v 0 = limt→t0 t − t 0Für eine Funktion f : R → R, deren Definitionsbereich ein Intervall darstellt,heißt der Grenzwertf ′ f(x) − f(x 0 )(x 0 ) = limx→x 0 x − x 0– falls dieser existiert – die Ableitung von f bei x 0 ∈ D(f).f heißt differenzierbar, wenn f ′ (x 0 ) für alle x 0 ∈ D(f) existiert.Schreibweisen für die Ableitungf ′ (x 0 ) = dfdx (x 0) = ddx f(x 0) y=f(x)= dydx (x 0)Die Momentgeschwindigkeit eines Weg-Zeit-Gesetzes s(t) ist also die Ableitungs ′ (t 0 ) = limt→t0s(t) − s(t 0 )t − t 0.Ist die unabhängige Variable die Zeit t, so verwendet man auch oft die Punktschreibweise:ṡ = s ′ .Die geometrische Deutung der Ableitung als Tangentensteigung ist in Abschnitt1.4 schon angedeutet worden. Dies soll hier präzisiert werden.Mit y 0 = f(x 0 ) und y 1 = f(x 1 ) erhält man den Differenzenquotienten∆y∆x = y 1 − y 0x 1 − x 0als Sekantensteigung.Bildet man den Grenzwert für x 1 → x 0 , so erhält manf ′ (x 0 ) =y 1 − y 0lim = als Tangentensteigung.x 1 →x 0 x 1 − x 0Für den Schnittwinkel α der Tangente mit der x-Achse gilt: tan(α) = f ′ (x 0 ).Die Gleichung der Tangente durch den Punkt (x 0 , y 0 ) lautet:y = y 0 + f ′ (x 0 ) · (x − x 0 ).90


1.11 Grundlagen der Differenzialrechnungyy 1y 0x 1αx 0xBeispiel 1.11.11. Lineare Funktionen sind auf ganz R differenzierbar:f(x) = ax + b =⇒ f(x 1) − f(x 0 )x 1 − x 0= a =⇒ f ′ (x 0 ) = a für alle x 0 ∈ RDie Ableitung ist an jeder Stelle gleich groß – nämlich a. Damit ist dieAbleitungsfunktion f ′ (x) eine konstante Funktion.2. Die Funktion x ↦→ x 2 ist differenzierbar mit f ′ (x) = 2 x, denn:f(x 1 ) − f(x 0 )x 1 − x 0= x2 1 − x2 0x 1 − x 0= (x 1 − x 0 )(x 1 + x 0 )x 1 − x 0= x 1 + x 0x 1 →x 0−−−−→ 2x03. Jedes Monom ist differenzierbar:f(x) = x n =⇒ f ′ (x) = nx n−1 für n = 1, 2, 3, . . .(folgt aus Binomialgleichungen/Polynomdivision)4. sin ′ (x) = cos(x) und cos ′ (x) = − sin(x), denn mit einer der Folgerungen91


1 Analysis und numerische Analysisaus den Additionstheorem ergibt sichcos(x 1 ) − cos(x 0 )= −2 sin ( x 1 + x 0 ) sin ( x 1 −x 0)·2x 1 − x 0 2 x 1 − x 0)= − sin ( x 1 + x 02x 1 →x 0−−−−→ − sin(x0 ) · 1wegen der Stetigkeit von sin und weil lim sin tt= 1.Damit folgt also tatsächlich cos ′ (x 0 ) = − sin(x 0 ).) sin ( x 1 −x 0·2)( x1 −x 02Satz 1.11.1 Die Exponentialfunktion ist differenzierbar und es gilt (e x ) ′ = e xfür alle x ∈ R.Wegenfolgt dies ause x 1− e x 0x 1 − x 0= e x0 · ex 1−x 0− 1x 1 − x 0e x − 1lim = 1. (1.23)0≠x→0 xWir leiten (1.23) aus der Reihendarstellung für e x her:e x − 1 − x = x22! + x23! + · · · = x2 ( 12! + x 3! + · · · )} {{ }=:g(x)Für |x| ≤ 1:∞∑|g(x)| =∣k=2x k−2k!∞ ∣ ≤ ∑k=2|x| k−2k!≤∞∑k=01k! = e < 3Also folgt zunächst |e x − 1 − x| ≤ 3|x| 2 für |x| ≤ 1. Dividiert man nun durchx ≠ 0, so erhält man:e x − 1∣ − 1x ∣ ≤ 3|x| für 0 < |x| ≤ 1Mit x → 0 folgt dann die Gleichung (1.23).1.11.2 FolgerungenSatz 1.11.2 Differenzierbare Funktionen sind stetig.Denn:f(x) − f(x 0 )lim f(x) − f(x 0 ) = lim· lim (x − x 0 ) = f ′ (x 0 ) · 0 = 0x→x 0 x→x 0 x − x 0 x→x 0Die Umkehrung des Satzes gilt nicht. Ein wichtiges Gegenbeispiel folgt.92


1.11 Grundlagen der DifferenzialrechnungBeispiel 1.11.2 y = |x| ist stetig, aber in 0 nicht differenzierbar, denn|x| − |0|limx↑0 x − 0|x| − 0= −1 ≠ 1 = limx↓0 x − 0 .Ist f : R → R differenzierbar, so kann man nach der Differenzierbarkeit vonf ′ : R → R fragen. Liegt diese vor, dann heißt f zweimal differenzierbar undman setzt f ′′ := (f ′ ) ′ als zweite Ableitung von f.Entsprechend definiert man höhere Ableitungen (falls sie existieren):f (n) := (f (n−1) ) ′ mit f (0) := f, f (1) := f ′ , . . .Beispiel 1.11.3f(x) ={ x 2 /2 falls x ≥ 0−x 2 /2 falls x < 0 , f ′ (x) = |x|ist einmal, aber nicht zweimal differenzierbar.Beispiel 1.11.4 Die Exponentialfunktion sowie Sinus und Kosinus sind jeweilsbeliebig oft differenzierbar. Insbesondere gilt für deren (höheren) Ableitungenein Wiederholungsschema:exp (n) (x) = exp(x) für n ∈ N 0 , sin (4 i) (x) = sin(x) für i ∈ N 0 ,sin (4 i+1) (x) = cos(x) für i ∈ N 0 ,sin (4 i+2) (x) = − sin(x) für i ∈ N 0 ,sin (4 i+3) (x) = − cos(x) für i ∈ N 0 .Auch Polynome sind beliebig oft differenzierbar mit den folgenden Ableitungen:f (0) (x) = f(x) = a n x n + a n−1 x n−1 + · · · + a 2 x 2 + a 1 x + a 0f (1) (x) = f ′ (x) = na n x n−1 + (n − 1)a n−1 x n−2 + · · · + 2a 2 x + a 1f (n) (x) = n! a nf (n+1) (x) = 0.f (k) (x) = 0 für alle k ≥ n + 11.11.3 DifferentiationsregelnSatz 1.11.3 Es seien f, g : R → R differenzierbar. Ferner seien µ, λ ∈ R.Dann gilt:(λf + µg) ′ = λf ′ + µg ′ .93


1 Analysis und numerische AnalysisBeispiel 1.11.5 Die Ableitung von f(x) = y = 5x 2 + sin(x) berechnet sichalso zu y ′ = 5(x 2 ) ′ + sin ′ (x) = 5 · 2x + cos(x) = 10 x + cos(x).Satz 1.11.4 Für zwei differenzierbare Funktionen f, g : R → R gilt die Produktregel:(f · g) ′ = f ′ · g + f · g ′Beweis.f(x 1 )g(x 1 ) − f(x 0 )g(x 0 )= g(x 0)[f(x 1 ) − f(x 0 )] + f(x 1 )[g(x 1 ) − g(x 0 )]x 1 − x 0 x 1 − x 0= g(x 0 ) f(x 1) − f(x 0 )+ f(x 1 ) g(x 1) − g(x 0 )x 1 − x 0x 1 →x 0−−−−→ g(x0 ) · f ′ (x 0 ) + f(x 0 )g ′ (x 0 )x 1 − x 0Beispiel 1.11.6 Es sei y = x 2 · sin(x). Dann gilt:y ′ = (x 2 ) ′ · sin(x) + x 2 · (sin ′ (x)) = 2x sin(x) + x 2 cos(x).Satz 1.11.5 Es seien f, g : R → R zwei differenzierbare Funktionen. Danngilt an allen Stellen mit g(x) ≠ 0 die Quotientenregel:( fg) ′=f ′ g − f g ′g 2Beweis. Für den Spezialfall f = 1 soll die Beweisstruktur aufgezeigt werden:1g(x 1 ) − 1g(x 0 )x 1 − x 01= −g(x 1 )g(x 0 )g(x 1 ) − g(x 0 )x 1 − x 0x 1 →x 0−−−−→ −1g(x 0 ) 2 g′ (x 0 ).Beispiel 1.11.7 Zu y = cot(x) = cos(x)sin(x)ist die Ableitung also:y ′ =(cos(x)) ′ sin(x) − cos(x)(sin(x)) ′(sin(x)) 2=− sin(x) sin(x) − cos(x) cos(x)sin 2 (x)= − cos2 (x) + sin 2 (x)sin 2 (x)= − 1sin 2 (x) .94


1.11 Grundlagen der DifferenzialrechnungBeispiel 1.11.8 Weitere Funktionen und ihre zugehörigen Ableitungen:y = 7x 2 + x 6 y ′ = 14x + 6x 5y = 1 x 3 y ′ = − 3 x 4 (x ≠ 0)y = x e xy = tan(x) y ′ =y ′ = (1 + x) e xy = cot(x) y ′ = − 1sin 2 (x)1cos 2 (x) = 1 + tan2 (x)y = x n y ′ = nx n−1 für alle n ∈ Z (x ≠ 0, wenn n < 0)Obige Regeln sind nicht anwendbar auf zusammengesetzte Funktionen wie z.B.y = sin(x 2 ). In solchen Fällen muss die Kettenregel angewandt werden:Satz 1.11.6 Ist f ◦ g definiert, so gilt( ) ′(x) f ◦ g = f ′ (z) · g ′ (x)} {{ } } {{ }äuß. Abl. inn. Abl.wobei z = g(x).Verwendet man die Notation y = f(z), z = g(x), so erhält man als einprägsamereFormel:Beispiel 1.11.9(a) y = sin(x 2 ) mit y ′ = cos(x 2 ) · 2xHier: f(z) = sin z, g(x) = x 2(b) y = √ 2x + 1 mit y ′ = 1 √ 2x+1dydx = dy dzdz dx .Hier haben wir verwendet: (√ x ) ′ =(x12) ′ =12 x 1 2 −1 = 12 √ x .Die Formel für die Ableitung der Wurzel ist ein Spezialfall des folgenden allgemeinenResultats:Satz 1.11.7 Es sei f : D(f) → B(f) umkehrbar, d.h. f −1 : B(f) → D(f)existiert. Dann gilt für die Ableitung der Umkehrfunktion(f−1 ) ′ (x) =1f ′ (y) = 1f ′ (f −1 (x))in allen Stellen, an denen der Nenner nicht Null wird.mit x = f(y)Beweis. Wir geben keinen Beweis für Differenzierbarkeit, verifizieren aber dieFormel mittels Kettenregel:f(f −1 (x)) = x =⇒ f ′ (f −1 (x))(f −1 ) ′ (x) = ddx x = 1 95


1 Analysis und numerische AnalysisBeispiel 1.11.10 Die Regel über die Ableitung der Umkehrfunktion führt u.a.zu folgenden Erkenntnissen:(i) (√ x ) ′ =12 √ x(ii) ( n √ x ) ′ =1n x 1 n −1(iii) ( ln(x) ) ′ =1x oder mit x = f(y) = ey , f ′ = f: ( ln(x) ) ′ =1e y(iv) ( arcsin(x) ) ′ =1 √1−x 2(v) ( arccos(x) ) ′ = −1 √1−x 2(vi) ( arctan(x) ) ′ =11+x 2Weitere wichtige Ableitungen und ihre Herleitung:= 1 x(i) Die allgemeine Potenzfunktion y = x a = e a ln(x) hat die Ableitungy ′ = ( x a) ′ =(ea ln(x) ) ′ = ea ln(x) · (aln(x) ) ′ = xa · a · 1x = a xa−1 .(ii) Die allgemeine Exponentialfunktion y = a x = e x ln(a) hat die Ableitungy ′ = ( a x) ′ =(ex ln(a) ) ′ = ex ln(a) ( x · ln(a) ) ′ = ax · ln(a)(iii) Die allgemeine Logarithmusfunktion y = log a (x) (mit a, x ≥ 0) hat dieAbleitungWegenfolgt schließlichy ′ = ( log a (x) ) (′ ln(x)) ′ 1= =ln(a) ln(a) · 1x .log a (e) = ln(e)ln(a) = 1ln(a)(loga (x) ) ′ log = a (e).xSatz 1.11.8 Als logarithmische Ableitung einer Funktion f bezeichnet man dieFormddx ln ( f(x) ) = f ′ (x)f(x) .Beispiel 1.11.11 Bestimme die Ableitung vonEs giltf(x) = x ex .ddx ln ( f(x) ) = f ′ (x)f(x) oder f ′ (x) = f(x) ddx ln ( f(x) ) .96


1.12 Mittelwertsatz und FolgerungenHier istf(x) = e ex ln x =⇒ ln ( f(x) ) = e x ln xund damitddx ln ( f(x) ) = e x ln x + ex x =⇒ f ′ (x) = x ex (e x (ln x + 1 x )) .Schreib-, Bezeichnungsweise:Funktionen, die auf einem Intervall [a, b] stetig sind, gehören zur MengeC 0 [a, b].Funktionen, die auf einem Intervall [a, b] stetig differenzierbar sind, d.h. stetigmit stetiger 1. Ableitung, gehören zur MengeC 1 [a, b].Funktionen, die auf einem Intervall [a, b] n mal stetig differenzierbar sind, d.h.stetig mit stetiger n-ter Ableitung, gehören zur MengeC n [a, b].Entsprechend spricht/schreibt man C n (R).1.12 Mittelwertsatz und FolgerungenIn diesem Abschnitt untersuchen wir differenzierbare Funktionen f : I → Rüber einem Intervall I = [x 0 , x 1 ] ⊂ R.Satz 1.12.1 (Mittelwertsatz (MWS)) Es sei f : I → R eine in I differenzierbareFunktion. Dann gibt es (mindestens) eine Stelle z mit x 0 < z < x 1 ,für die gilt:f ′ (z) = f(x 1) − f(x 0 )x 1 − x 0.Beweis. Statt eines Beweises machen wir den Satz geometrisch plausibel:Das Steigungsverhältnis der Sekante in einem Intervall [x 0 , x 1 ] wird von derAbleitung mindestens einmal in diesem Intervall angenommen, oder:Es gibt eine Zwischenstelle z, an der die Tangente parallel ist zur Sekante durchdie Punkte P 0 = (x 0 , y 0 ) und P 1 = (x 1 , y 1 ). Dabei berechnen sich y 0 bzw. y 1als Funktionswerte an den Stellen x 0 bzw. x 1 .97


1 Analysis und numerische Analysisyy 1z 1 z 2y 0x 1x 0xBeispiel 1.12.1 Für die Funktion f : [0, π 2] → [−1, 1], f(x) = sin(x) gibt esalso eine Stelle z ∈ ]0, π 2 [ mitsin ′ (z) =sin(π/2) − sin(0)π/2 − 0= 1 − 0π/2 = 2 π .In diesem Beispiel lässt sich die Stelle z sogar genau ermitteln. Man erhälthier z = arccos( 2 π) ≈ 0.8807 (siehe Beispiel 1.12.2).Der Mittelwertsatz ist nützlich, obwohl er keine Aussage darüber macht, wiedie Zwischenstelle berechnet werden kann.Folgerung 1.12.2 Ist f ′ = 0 in I, dann ist f in I konstant.Beweis. Seien x 0 und x 1 beliebige Punkte in I.Wir haben zu zeigen: f(x 0 ) = f(x 1 ). Dabei dürfen dürfen wir x 0 ≠ x 1 annehmen.Nach dem MWS existiert ein z ∈ ]x 0 , x 1 [ mitDamit folgt dann f(x 1 ) − f(x 0 ) = 0.f(x 1 ) − f(x 0 )x 1 − x 0= f ′ (z) = 0} {{ }Vorauss.Eine konstante Funktion f(x) = c hat die Ableitung f ′ = 0. Das Verschwindender Ableitung charakterisiert die auf Intervallen konstanten Funktionen. IstD(f) kein { Intervall, dann ist die Aussage falsch. Ein solches Gegenbeispiel ist1 für x ∈ [−2, −1]f(x) =mit D(f) = [−2, −1] ∪ [ 1, 2].2 für x ∈ [ 1, 2]Wir können nun die wichtigste Differenzialgleichung, nämlich y ′ = y, lösen. y =e x ist eine Lösung, ebenso konstante Vielfache hiervon. Dies sind tatsächlichdie einzigen Lösungen.98


1.12 Mittelwertsatz und FolgerungenFolgerung 1.12.3 Ist f ′ = f in I, dann gilt mit einer Konstanten c ∈ Rf(x) = c e x(für alle x ∈ I).Beweis. Wir betrachten den Quotienten aus einer Funktion f(x) mit f ′ = fund der (natürlichen) Exponentialfunktion:( f(x)e x ) ′=f ′ (x) e x − f(x) (e x ) ′(e x ) 2 = f(x) ex − f(x) e x(e x ) 2 = 0.Nun ergibt sich mit Folgerung 1.12.2 die Existenz eines c ∈ R mit f(x)e x = c .Ähnlich folgert man weitere Eigenschaften von y = f(x) aus der Ableitung:Folgerung 1.12.4 Ist f ′ > 0 in I, dann ist f streng monoton steigend.Beweis. Aus x 0 < x 1 folgt unter Beachtung der Voraussetzung und dem MWS:f(x 1 ) − f(x 0 )x 1 − x 0= f ′ (z) > 0 x 1−x 0 >0−−−−−→ f(x 1 ) − f(x 0 ) > 0Man beachte, dass die explizite Kenntnis des Zwischenwertes in den obigen Folgerungenunwichtig ist. Natürlich kann man in Spezialfällen – wenn gewünscht– solche Zwischenwerte bestimmen. Dies wird an zwei Beispielen vorgeführt:Beispiel 1.12.2 Wir greifen zunächst das Beispiel 1.12.1 auf: f(x) = sin(x)über dem Intervall [x 0 , x 1 ] = [0, π 2]. Die Ableitungsfunktion ist bekanntlich cos(x).Eine Zwischenstelle z ∈ ] 0, π 2[ muss folgende Bedingung erfüllen:cos(z) =sin(π/2) − sin(0)π/2 − 0= 2 π .Durch Anwenden der Umkehrfunktion erhält man dann( 2)z = arccos ≈ 0.8807.πFür die Funktion f(x) = x 3 − x über dem Intervall [x 0 , x 1 ] = [−1, 1] erhältman als Ableitung f ′ (x) = 3 x 2 − 1 und f(−1) = f(1) = 0. Deshalb gibt es eineStelle z ∈ [−1, 1] mitf ′ (z) = 3 x 2 − 1 = 0 =⇒ z = ± √ 1/3 .Beispiel 1.12.3 Aus den Folgerungen ziehen wir noch einige weitere Schlüsse:a) y = e x ist streng monoton steigend.b) y = ln(x) ist streng monoton steigend.99


1 Analysis und numerische Analysisc) y = sin(x) ist streng monoton steigend im Intervall [ − π 2 , π 2]und strengmonoton fallend im Intervall [ π2 , 3 2 π]7 .Faustregeln zur Stetigkeit und Differenzierbarkeit1. Stetige Funktionen dürfen keine Sprungstellen haben.2. Differenzierbare Funktionen dürfen keine Knicke haben.3. Zweimal differenzierbare Funktionen nennt man auch glatt, ihre Krümmungdarf sich nur stetig ändern, d.h. die 1. Ableitung darf keine Knickehaben.4. f ′ > 0 ⇒ f ist streng monoton steigend.5. f ′ < 0 ⇒ f ist streng monoton fallend.6. f ′ ≤ 0 ⇒ f ist monoton fallend (evtl. konstant).7. f ′ ≥ 0 ⇒ f ist monoton steigend (evtl. konstant).1.13 Anwendungen der Differenzialrechnung1.13.1 Grenzwertberechnung mit der Regel von de l’HospitalWenn f und g stetig bei x 0 sind und g(x 0 ) ≠ 0 ist, dann giltf(x)limx→x 0 g(x) = f(x 0)g(x 0 ) .Im Fall g(x 0 ) = 0 kann der Grenzwert ±∞ sein, wenn f(x 0 ) ≠ 0 gilt.Im Fall f(x 0 ) = 0 = g(x 0 ) ist der Grenzwert unbestimmt und es hilft oft dieRegel von de l’Hospital (Bernoulli) weiter:Satz 1.13.1 Es seien f, g : R → R differenzierbar für alle x nahe x 0 und essei g ′ (x) ≠ 0 für x nahe x 0 . Ferner gelte g(x 0 ) = 0 = f(x 0 ).Dann gilt:f(x)limx→x 0 g(x) = f ′ (x 0 )g ′ (x 0 )Beweis.f(x)g(x) = f(x) − f(x f(x)−f(x 0 )0)g(x) − g(x 0 ) = x−x 0g(x)−g(x 0 )x−x 0x→x 0f ′ (x 0 )−−−→g ′ (x 0 )Beispiel 1.13.17 dass sich die strenge Monotonie bis auf den Rand des Intervalls zieht muss man separatüberprüfen100


1.13 Anwendungen der Differenzialrechnung1.2.sin(x)limx→0 e x − 1 = cos(0)e 0 = 1limx→1ln(x)x 2 − 1 = 1/x2x ∣ = 1x=12 .Bisher werden Unbestimmtheiten der Form “ 0 0” behandelt. Die Verallgemeinerungenauf “ ∞ ∞ ”-Unbestimmtheiten und für x 0 = ±∞ werden zusammengefasstzur allgemeinen Regel von de l’Hospital:Satz 1.13.2 Es seien f, g : ]a, b[→ R differenzierbar. Ferner sei g ′ (x) ≠ 0 fürx ∈ ]a, b[. Es gelte(i)oderlim f(x) = lim g(x) = 0x↑b x↑b(ii)lim g(x) = ∞x↑b( oder = −∞).Dann giltf(x)limx↑b g(x) = lim f ′ (x)x↑b g ′ (x) ,sofern der rechts stehende Grenzwert existiert (oder uneigentliche Konvergenzgegen ±∞ vorliegt).Entsprechendes gilt für x ↓ a.Beispiel 1.13.21.2.3.ln(x)limx→∞ x b = limx→∞ln(x)lim x · ln(x) = limx→0 x→0 1/x = limx→01/x= limb xb−1 x→∞1b x b = 0.1/x−1/x 2 = limx→0(−x) = 0.1 − cos(x) sin(x)limx→0 x 2 = limx→0 2x= lim cos(x)= 1x→0 2 2 .Hier wurden die Regeln von de l’Hospital zweimal angewandt.101


1 Analysis und numerische Analysis1.13.2 Lösungen von Gleichungen mit dem Newton VerfahrenGesucht ist eine Nullstelle x ∗ von f(x).Wähle einen Startwert x 0 nah bei der gesuchten Nullstelle.Die Tangente hat dann die Gleichung: y = f(x 0 ) + f ′ (x 0 ) (x − x 0 ).Der Schnittpunkt x 1 der Tangente mit der x-Achse ergibt sich auszur neuen Näherung0 = f(x 0 ) + f ′ (x 0 )(x 1 − x 0 )x 1 = x 0 − f(x 0)f ′ (x 0 ) .Iterieren dieses Vorgangs ergibt die allgemeine Rekursionx n+1 = x n − f(x n)f ′ (x n )für n = 0, 1, 2, . . .Beispiel 1.13.3 Es soll √ a für a > 0 berechnet werden:Mit der Funktion f(x) = x 2 − a = 0 und dem Startwert x 0 = 1 erhält manfolgende Herleitung der Rekursionsvorschrift:x − f(x)f ′ (x) = x − x2 − a= x2 + a= 1 (x + a ).2 x 2 x 2 xDie Iterationsvorschrift ist alsox n+1 = 1 2(x n + a x n).Es ergeben sich z.B. für a = 2 folgende Werte:x 0 = 1x 1 = 1 (1 + 2 )= 3 2 1 2 = 1.5x 2 = 1 (1.5 + 2 )= 1 ( 32 1.5 2 2 + 4 3).= 1712 = 1.41 . . .2f(x)1xx 0 = 1√2x 12−1102


1.13 Anwendungen der DifferenzialrechnungBeispiel 1.13.4 Für welche x-Stellen gilt e x2 − e −x = √ 2?f(x) = e x2 − e −x − √ 2f(0) = − √ 2 < 0 < f(1) = e − 1 e − √ 2 MWS =⇒ Existenz einer NSt.f ′ (x) = 2 x · e x2 + e −xIterationvorschrift:x n+1 = x n − ex2 n − e−x n− √ 22x n e x2 n + e −xn6f(x)42x 0 = 0x0.791 x 2x 1 1.5−2Vergleich von Bisektionsverfahren und Newtonverfahren für diese Funktion anhandder Anzahl von Funktions- bzw. Ableitungsauswertungen, um eine gegebeneGenauigkeit zu erreichen:Genauigkeit ε BisektionsverfahrenNewtonverfahrenmit x 0 = 010 −1 = 0.1 5 1010 −2 = 0.01 8 1210 −3 = 0.001 11 1210 −4 15 1410 −5 18 1410 −10 35 1610 −20 68 1810 −30 101 2010 −40 134 2010 −50 168 2010 −100 334 24103


1 Analysis und numerische Analysisn504030201010 −10 10 −5 10 −1εDie Konvergenzordnung des Newtonverfahrens wird im Abschnitt 1.17 mit Hilfeder Taylorreihe untersucht.1.13.3 (C) Bestimmung von ExtremstellenEine Extremstelle ist eine Maximal- oder Minimalstelle. Diese werden weiterunterschieden in lokale und globale Extremstellen.Lokale und globale Extremstellen einer Funktion f : R → R auf einem Intervall[a, b] können wie folgt aussehen:a x 1 x 2 x 3 bxx 1 ist eine globale Maximalstelle, d.h. f(x) ≤ f(x 1 ) für alle x ∈ [a, b].x 3 ist eine lokale, aber keine globale Maximumstelle, d.h. es existiert ein δ > 0,so dass für x ∈ [a, b] mit |x − x 3 | < δ folgt: f(x) ≤ f(x 3 ), aber f(x 1 ) > f(x 3 ).x 2 ist eine globale Minimumstelle. Außerdem sind die Randpunkte a und bnoch lokale Minimumstelle.Globale Extremstellen sind lokale; die Umkehrung gilt i.A. nicht.Kandidaten für lokale Extremstellen findet man durch Nullsetzen der erstenAbleitung:104


1.13 Anwendungen der DifferenzialrechnungSatz 1.13.3 Sei f ∈ C 1 (I), I ∈ R ein Intervall. Ist x 0 ∈ I eine lokale Extremstellevon f, dann gilt f ′ (x 0 ) = 0 oder x 0 ist ein Randpunkt von I.Das Intervall I = [a, b] hat dabei die Randpunkte a und b.Begründung: Wäre f ′ (x 0 ) > 0, so wäre f in einer ”Umgebung” von x 0 strengmonoton wachsend, könnte also keine Extremstelle sein. Analog argumentiertman, wenn f ′ (x 0 ) < 0 wäre.Beispiel 1.13.5 f(x) = x auf [0, 1] hat die Randstellen x = 0 und x = 1 alslokale und globale Extremstellen.Aus f ′ (x 0 ) = 0 kann man nicht ohne weiteres schließen, dass x 0 eine Extremstelleist. Kennt man aber das Vorzeichen von f ′′ (x 0 ), dann kann man einepositive Aussage machen.Satz 1.13.4 Sei f ∈ C 2 (I), I = ]a, b[. Ist x 0 ∈ I gegeben mit f ′ (x 0 ) = 0 undf ′′ (x 0 ) < 0, so liegt in x 0 eine lokale Maximumstelle vor. Im Falle f ′ (x 0 ) = 0und f ′′ (x 0 ) > 0 liegt in x 0 eine lokale Minimumstelle vor.Zur Begründung benutzt man die Taylorformel, mit der wir uns in Abschnitt 1.17(im Anschluss an die Integralrechnung) beschäftigen.Beispiel 1.13.61. y = x 2 hat in x = 0 eine Minimumstelle, denn:y ′ (0) = 2 · 0 = 0 und y ′′ (0) = 2 > 0.2. y = cos(x) hat inx 0 = 0 eine Maximumstelle: cos ′ (0) = − sin(0) = 0.cos ′′ (0) = − cos(0) = −1 < 0x 0 = π eine Minimumstelle: cos ′ (π) = − sin(π) = 0,cos ′′ (π) = − cos(π) = 1 > 0.3. Für y = x 3 gilt: y ′ = 0 führt zu x = 0, aber dies ist keine lokale Extremstelle,denn auch y ′′ = 6x verschwindet bei x = 0.Viele Aufgabenstellungen laufen auf die Bestimmung der Extremwerte einerFunktion hinaus. Zwei solcher Extremwertaufgaben folgen.Beispiel 1.13.7 Der Umfang U > 0 eines Rechtecks sei gegeben. Wie sind dieSeitenlängen zu bestimmen, so dass der Flächeninhalt des Rechtecks maximal105


1 Analysis und numerische Analysiswird?Randbedingung: U = 2 a + 2 b ⇒ b = U 2 − aZielfunktion: F = a · b als Funktion von a schreiben:( U)F (a) = a ·2 − a = U 2 a − a2F ′ (a) = U 2 − 2aF ′ (a) = 0 ⇔ U = 4 a ⇔ a = bF ′′ (a) = −2 < 0Antwort: Die Seitenlängen sind gleich lang, also ist das Optimum ein Quadrat.xxFbbazu Beispiel 1.13.7 zu Beispiel 1.13.8Beispiel 1.13.8 Das Ausgangsmaterial für eine Fertigung ist ein rechteckigesBlech der Größe 16 m × 6 m (siehe obige Abbildung).Aufgabe: Forme einen quaderförmigen, oben offenen Behälter mit möglichstgroßem Fassungsvermögen.Die Höhe des Behälters ist x, das Volumen V = V (x) berechnet sich durch 8V (x) = (a − 2x)(b − 2x) · x mit a = 16 und b = 6= 4x 3 − 44x 2 + 96xV ′ (x) = 12x 2 − 88x + 96V ′′ (x) = 24x − 88aExtremstelle/Maximum bestimmen:V ′ (x) = 0 ⇔ x 2 − 223 x + 8 = 0⇔ x 1/2 = 113 ± √1219 − 8 = 113 ± 7 38 Die Konstruktion zeigt, dass der Definitionsbereich der Funktion V gerade 0 ≤ x ≤ 3 ist.Bei der Bestimmung der Extremwerte müssen also auch die Extrempunkte x = 0 undx = 3 überprüft werden (biede liefern das Volumen 0.106


1.13 Anwendungen der DifferenzialrechnungKandidaten: x 1 = 6 oder x 2 = 4 3V ′′ (x 1 ) = 24 · 6 − 88 > 0 MinV ′′ (x 2 ) = 24 · 4 − 88 < 0 Max3Damit ist also die optimale Höhe x = 4 3 m.1.13.4 (D) KonvexitätKrümmung des Graphen y = f(x) in einem (Teil-)Intervall:f ist konvex bedeutet: Jede Sehne (Sekante) liegt oberhalb des Graphen. Mansagt auch, der Graph ist (in Richtung positiver x-Werte) links gekrümmt.y = f(x)Auf ihrem gesamten Definitionsbereichsind z.B. y = e x ,y = x 2 und y = cosh(x) konvex.f ist konkav bedeutet: Jede Sehne liegt unterhalb des Graphen. Man sagt auch,der Graph ist (in Richtung positiver x-Werte) rechts gekrümmt.y = f(x)Auf ihrem gesamten Definitionsbereichsind z.B. y = ln(x)und y = √ x konkav.Es gilt: f konkav ⇐⇒ −f konvexIn der regel sind Funktionen (bezogen auf den gesamten Definitionsbereich)weder konkav noch konvex. Dazu zählen z.B. y = sin(x), y = cos(x) undy = x 3 .107


1 Analysis und numerische Analysisy = x 3y = sin(x), y = cos(x)Welche formelmäßige Beschreibung gibt es für konvex/konkav? Ausgehend vonf : I → R, x 1 < x 2 in I, y 1 = f(x 1 ), y 2 = f(x 2 )suchen wir eine Beschreibung der Sehne zwischen (x 1 , y 1 ) und (x 2 , y 2 ):Die Punkte auf der x-Achse zwischen x 1 und x 2 lassen sich beschreiben durchx = λx 1 + (1 − λ)x 2 mit 0 ≤ λ ≤ 1.Die y-Koordinate des entsprechenden Punktes auf der Sehne istf konvex bedeutet daher in Formeln:y = λy 1 + (1 − λ)y 2 .f ( )λx 1 + (1 − λ)x 2 ≤ λ · y1 + (1 − λ) · y 2= λf(x 1 ) + (1 − λ)f(x 2 )Eine Funktion f heißt strikt konvex, wenn für alle x 1 ≠ x 2 und 0 < λ < 1 giltf ( λx 1 + (1 − λ)x 2)< λf(x1 ) + (1 − λ)f(x 2 )Satz 1.13.5 Sei f ∈ C 2 (I), I ⊆ R ein Intervall. Dann gelten:f konvex ⇔ f ′′ ≥ 0f strikt konvex ⇐ f ′′ > 0In analoger Weise erhält man Aussagen zu “konkav”. Dazu ist in den Formelndas Ungleichheitszeichen jeweils umzudrehen:f konkav ⇔ f ′′ ≤ 0f strikt konkav ⇐ f ′′ < 0Beispiel 1.13.9 x 2n (n ∈ N), e x , cosh(x) sind im gesamten Definitionsbereichstrikt konvex. ln(x), √ x sind im Definitionsbereich strikt konkav.Wendepunkte sind Punkte des Graphen, in denen ein Krümmungswechselstattfindet. Deren x-Koordinate ist daher charakterisiert durch f ′′ (x) = 0.108


1.13 Anwendungen der Differenzialrechnung1.13.5 (E) KurvendiskussionUntersuche f : R → R auf interessante Eigenschaften anhand eines Untersuchungsprogramms:• Definitionsbereich, Polstellen• Symmetrien: z.B. y-Achsensymmetrie (f(−x) = f(x), gerade Funktion)oder Punktsymmetrie zum Ursprung (f(x) = −f(−x), ungerade Funktion)• Nullstellen• MonotoniebereicheExtremstellen• KonvexitätsbereicheWendepunkte• Verhalten für x → ±∞Beispiel 1.13.10f(x) = x4 − 5x 2 + 22x 3f ′ (x) = x4 + 5x 2 − 62x 4f ′′ 12 − 5x2(x) =x 5D(f) = R \ {0}f(−x) = −f(x), also ist f eine ungerade Funktion√5 ± √ {17 ±0.662 . . .f(x) = 0 ⇔ x = ±=2 ±2.136 . . .f ′ (x) = 0 ⇔ x = ±1√12f ′′ (x) = 0 ⇔ x = ±5 = ±1.549 . . . 109


1 Analysis und numerische Analysisf(x)W1N E N N E Nx−1WGraph der Funktion f(x) = x4 − 5 x 2 + 22 x 3 mit Nullstellen (rot), Extrempunkten(grün) und Wendepunkten (gelb) sowie der Asymptote für x → ±∞ (gestrichelteLinie).110


l1.14 Grundlagen der IntegralrechnungZiel: Umkehrung der Differentiation1.14 Grundlagen der Integralrechnung1. Anwendung: Flächeninhalte von krummlinig begrenzten Figuren bestimmen;beispielsweise die Fläche unterhalb des Graphen einer Funktion y = f(x).yabxDer Flächeninhalt soll eine reelle Zahl sein: F ∈ R. Wie ist F definiert?Für Spezialfälle hat man aus der ebenen Geometrie konkreteErgebnisse. So hat z.B. ein Rechteck die Fläche F = l·b, wennl die Länge und b die Breite des Rechtecks beschreibt.Idee: Approximiere eine allgemeine Figur durch ein Vereinigungdisjunkter Rechtecke, z.B. für einen Subgraphen wie oben:yabx0 x1 x2 x3 xn∆xxBis auf Weiteres soll dabei f : R → R auf [a, b] stetig sein. Eine ZerlegungZ : a = x 0 < x 1 < . . . < x n = b ist eine Unterteilung des Intervalls [a, b]. DieFeinheit einer Zerlegung δ(Z) ist definiert als maximale Maschenweite, d.h.δ(Z) := max j(∆xj)> 0 mit ∆xj = x j −x j−1 . Meistens genügt es äquidistante(gleichabständige) Zerlegungen zu betrachten mit ∆x j = h = (b − a)/n.111


1 Analysis und numerische AnalysisDann bildet man die zugehörige Untersummemit ∆x j = x j − x j−1 und m j =U(f, Z) =N∑m j ∆x jj=1minx j−1 ≤x≤x jf(x).Das Produkt m j ∆x j gibt den Flächeninhalt des j-ten Rechtecks an.Analog bildet man die ObersummeO(f, Z) =N∑M j ∆x j mit M j = max f(x).x j−1 ≤x≤x jj=1Für den gesuchten Flächeninhalt giltU(f, Z) ≤ F ≤ O(f, Z).Wir hoffen bzw. erwarten, dass die Lücke zwischen Unter- und Obersummegegen 0 strebt, wenn wir Zerlegungen Z 1 , Z 2 , . . . von [a, b] wählen, deren Feinheitengegen 0 gehen, d.h. wenn δ(Z n ) → 0.In der Tat kann man für stetige Funktionen f : [a, b] → R zeigen, dass es eineneindeutig bestimmten Grenzwert F ∈ R gibt mitF = limk→∞ U(f, Z k) = limk→∞ = O(f, Z k),wenn δ(Z k ) → 0 (also für k → ∞). Diese Zahl F heißt bestimmtes Integral vonf über dem Intervall [a, b]. Man schreibt∫ baf(x) dx = F.Dann ist nicht nur das bestimmte Integral definiert, sondern man hat prinzipiellauch die Möglichkeit, es als Grenzwert der Obersumme zu berechnen.Beispiel 1.14.1∫ 1(i) x dx =?0y10.50 01xZerlege dazu [0, 1] in k gleichlange Teilintervalle (äquidistante Zerlegung):Z k : 0 = 0 k < 1 k < 2 k < . . . < k − 1k< k k = 1δ(Z k ) = 1 k → 0 für k → ∞; ∆x j = 1 k112


1.14 Grundlagen der IntegralrechnungyObersummezu einer Funktiony = f(x)abx 0 x 1 x 2 x 3 x n∆xxyUntersummezu einer Funktiony = f(x)abx 0 x 1 x 2 x 3 x n∆xxyDifferenz zwischenOber- undUntersummeabx 0 x 1 x 2 x 3 x n x∆x 113


1 Analysis und numerische AnalysisAls Obersumme erhält man nunO(x, Z k ) =k∑M j ∆x j =j=1= 1 k 2 k∑j=1k∑j=1jk · 1kj = 1 k(k + 1) ·k2 2k→∞−−−→ 1 2 .(ii) Entsprechend ergibt sich:(iii)∫ 10∫ 10x 2 dx = 1 3e x dx = e − 1 .unter Verwendung vonn∑j=1j 2 = 1 n(n + 1)(2 n + 1).6Ist f ≥ 0, dann ist das Integral der Flächeninhalt unterhalb des Graphen. ImAllgemeinen ist das Integral die Differenz zweier Flächeninhalte:∫ baf(x) dx = F + − F − .y✟F +✟✟✟✟✙❏❏❏❏❏❏❏❏❏❫a❍❨ ❍bxF −Ausgehend von der Definition des Integrals mittels Ober- und Untersummenleitet man folgende Eigenschaften her:• Positivität: f ≥ 0 =⇒• Linearität:∫ b∫ baf(x) dx ≥ 0∫b[ ]αf(x) + βg(x) dx = α∫ bf(x) dx + βg(x) dxaaa114


1.14 Grundlagen der IntegralrechnungBeispielsweise:∫ 10(5x + 2e x ) dx = 5∫ 10x dx + 2• Teilintegration: Gelte a < c < b. Dann gilt∫ baf(x) dx =∫ 10∫ cae x dx = 5 · 12 + 2 · (e − 1) = 1 2 + 2e∫ bf(x) dx +cf(x) dx.y∫ caf(x)dxac∫ bcf(x)dxbxSatz 1.14.1 (Mittelwertsatz der Integralrechnung)Die Funktion f : [a, b] → R sei stetig. Dann existiert eine Stelle a < z < b mit∫ baf(x) dx = f(z)(b − a).D.h. das Integral stimmt dem Betrage nach mit dem Flächeninhalt eines Rechtecksder Höhe f(z) überein. Die Stelle z muss dabei nicht eindeutig sein.yazzz zbx115


1 Analysis und numerische AnalysisDie Zahl∫1bf(x) dx = f(z)b − aasieht man als (arithmetisches) Mittel von f über [a, b] an.Die Aussage des Mittelwertsatzes ist plausibel. Man kann ihn unter Benutzungdes Zwischenwertsatzes für stetige Funktionen zeigen.Eine Funktion F : [a, b] → R heißt Stammfunktion zu f : [a, b] → R, wennF ′ (x) = f(x) für alle x ∈ [a, b] gilt.Eine Jahrtausendidee verbindet die Integralrechnung (Flächenberechnung) mitder Differenzialrechnung (Tangentenbestimmung). Betrachte das Integral (denFlächeninhalt) als Funktion der oberen Grenze.Satz 1.14.2 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung)Es sei f : [a, b] → R stetig. Dann ist die FlächenfunktionF (t) =∫ taf(x) dx (t ≥ a)differenzierbar. Ihre Ableitung ist der Integrand:F ′ (t) = f(t).Anders ausgedrückt: Die Flächenfunktion ist eine Stammfunktion für f. Liegteine weitere Stammfunktion G für f vor, dann ist G − F wegen (G − F ) ′ =f − f = 0 konstant: G(x) = F (x) + c.Man erhältF (b) =∫ baf(x) dx = F (b) − 0 = F (b) − F (a) = G(b) − G(a).D.h. mit Stammfunktionen kann man Integrale berechnen.Begründung des Hauptsatzes:yatzt + hx116


10.90.80.70.60.50.40.30.20.100 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1−0.5−1.5−2.5−3.532.521.510.50−1−2−3−4−2 −1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 210.80.60.40.20−0.2−0.4−0.6−0.8−10 1 2 3 4 5 600 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 11.14 Grundlagen der IntegralrechnungSchraffierte Fläche = F (t + h) − F (t) =⇒F (t + h) − F (t)hDie Steigung F ′ (t) von F bei t ist f(t).Die genannte Rechenregel halten wir fest:∫t+htf(x) dxMWS= h · f(z) mit z = z(t, h) ∈ ] t, t + h[= f(z) h→0 −−−→ f(t) wegen f stetig und z → t.Satz 1.14.3 Ist F (irgendeine) Stammfunktion für f, so gilt∫ baSchreibweise: F ∣ b = F (b) − F (a)aBeispiel 1.14.2f(x) dx = F (b) − F (a).1. x = ( 12 x2) ′ , daher folgt:∫ 1x dx = 1 ∣ ∣∣1 ( 1( 12 x2 = 0 2 12) −2 02) = 1 2 .02. f(x) = x 2 − 4 mit F (x) = 1 3 x3 − 4x:∫ 2−2x 2 − 4dx = 1 3 x3 − 4x∣ 2 ( 8)=−2 3 − 8( −8)−3 + 8 = −16 + 16 3 = −102 33. f(x) = sin(x) mit F (x) = − cos(x):∫ 2π0∣sin(x) dx = − cos(x)∣ 2π0= − cos(2π) + cos(0) = 04. Da ( e x) ′ = e x gilt, erhält man:∫ 10e x dx = e x ∣ ∣∣10 = e − 1117


1 Analysis und numerische Analysis5.∫ bax n ds = 1 ∣ ∣∣bn + 1 xn+1 = 1 (b n+1 − a n+1)a n + 1Für a > b ist das IntegralIntegraldefinition hierfür wie folgt:Daher folgta∫f(x) dx = 0.a∫ ba∫ baf(x) dx bisher nicht definiert. Wir erweitern die∫ af(x) dx := −bf(x) dxDie Linearität, Teilintegration und die Rechenregel gelten auch für die Verallgemeinerung.Die Positivität dagegen nur für a ≤ b.Man kann auch gewisse nichtstetige Funktionen f : R → R integrieren, z.B.monotone Funktionen, Funktionen mit endlich vielen Sprungstellen, die aberstückweise stetig sind wie z.B.⎧⎪⎨ 0.4 · e x 0.3 ≤ x < 1.3f : [0.3, 4.3] → R mit f(x) = −0.1 · (x⎪⎩2 − 4) + 3 1.3 ≤ x < 3.30.3 · (x − 3.3) + 1 3.3 ≤ x ≤ 4.3mit dem folgenden Graphen:yy0.31.3 3.34.3x0.31.3 3.34.3xMittels Zerlegungen und Ober- und Untersummen definiert man die Klasseder Riemann-integrierbaren Funktionen f : [a, b] → R. Die Funktionen sindbeschränkt (keine Polstellen) und nicht ”zu wild”.Ändert man eine Riemann-integrierbare Funktion in endlich vielen Stellen ab,dann bleibt sie Riemann-integrierbar und ihr Integral ändert sich nicht.118


1.15 Integrationsmethoden1.15 Integrationsmethoden1.15.1 Integration mit Hilfe bekannter AbleitungenDer Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung liefert eine Rechenregelzur Bestimmung des bestimmten Integral:∫ baf(x) dx = F (b) − F (a),wenn F Stammfunktion von f ist, d.h. F ′ (x) = f(x) für alle x.Die Menge aller Stammfunktionen von f nennt man das unbestimmte Integralvon f. Notiert wird dies wie folgt:∫f(x) dx = F (x) + c ⇔ F ′ (x) = f(x)Das Auffinden einer Stammfunktion F für den Integranden f (”Aufleiten”) istnützlich für die Berechnung von Integralen (Flächeninhalten). Die Durchsichtder bekannten Ableitungen liefert eine Liste von Grundintegralen (mit c alsKonstante):f(x)∫f(x)dx + cx a (a ≠ −1)1x = x−1e xa x (a > 0, a ≠ 1)sin(x)x a+1a + 1 + cln(|x|) + ce x + ca xln(a) + c− cos(x) + ccos(x)sin(x) + c1cos 2 (x)tan(x) + c11 + x 2 arctan(x) + ccosh(x)sinh(x) + csinh(x)cosh(x) + cUnter Verwendung der Linearität rechnet man weitere Integrale aus. DurchEinsetzen der Grenzen a und b erhält man bestimmte Integrale.119


1 Analysis und numerische AnalysisBeispiel 1.15.1(a)∫ (3e x + 7 sin(x) ) dx = 3e x − 7 cos(x) + c(b)∫4 x dx = 4xln(4) + c(c)∫ 204 x dx = 4x∣ 2ln(4)= 420 ln(4) − 40ln(4) = 15ln(4)1.15.2 Produktintegration (partielle Integration)Integrale über ein Produkte von zwei Funktionen wie∫x · cos(x) dx =?versucht man durch eine Umrechnung der Regel zur Differenziation eines Produkteszu erleichtern. Es gilt ja (uv) ′ = u ′ v + uv ′ .Durch Integration (Umkehrung der Differenziation) erhält man daraus:∫∫u(x)v(x) = u ′ (x)v(x) dx + u(x)v ′ (x)dxUmstellen der Formel liefert die Formel der partiellen Integration:∫∫u(x)v ′ (x)dx = u(x)v(x) − u ′ (x)v(x)dxoder für bestimmte Integrale:∫ bau(x)v ′ (x)dx = u(x)v(x) ∣ b −aDas wollen wir auf die Funktion x · cos(x) anwenden:∫b(x · sin(x)) ′ = 1 · sin(x) + x · cos(x)au ′ (x)v(x)dx⇒ x · cos(x) = + ( x · sin(x) ) ′ ( ) ′− sin(x) = x · sin(x) + cos(x)∫⇒ x cos(x) dx = x · sin(x) + cos(x) + cPraxistipp: Schreibe den Integranden als Produkt, wobei ein Faktor als Ableitungaufgefasst wird.120


1.15 IntegrationsmethodenBeispiel 1.15.21.∫∫x e x dx == x e x −∫x · (e x ) ′ dx = x · e x − x ′ · e x dx∫e x dx = (x − 1) e x + c2.∫∫x 2 cos(x) dx = x 2 sin(x) − 2x · sin(x) dx∫= x 2 sin(x) − 2 x · sin(x) dxZwischenrechnung:∫∫x · sin(x) dx = −x cos(x) −1 · ( − cos(x) ) dx= −x cos(x) + sin(x) + cDamit ergibt sich insgesamt:∫x 2 cos(x) dx = x 2 sin(x) + 2x · cos(x) − 2 sin(x) + ˜c3.=⇒∫ 2π∫ 2πcos 2 (x) dx = cos(x) · ( sin(x) ) ′ dx00= ( + cos(x) ) ∣ · sin(x)∫ 2π0∫ 2π∫ 2π= 0 + sin 2 (x) dxcos 2 (x) dx = sin 2 (x) dx00∫∣ 2π2π−00(− sin(x))· sin(x) dx121


1 Analysis und numerische AnalysisWie kommt man weiter? Addierecos 2 (x) + sin 2 (x) = 1:∫2π0cos 2 (x) dx und benutze die Gleichung=⇒∫ 2π2 cos 2 (x) dx =∫ 2π(sin 2 (x) + cos 2 (x) ) =000∫ 2π0cos 2 (x) dx = π∫ 2π1dx = 2π1.15.3 SubstitutionsmethodeDiese Regel entspricht der Kettenregel der Differentialrechnung. Gegeben seien:f(x) = F ′ (x)g(t) = G ′ (t)F, G differenzierbarf, g stetigwobei F (x(t)) = G(t) mit stetig differenzierbarem t ↦→ x(t) ist. (Alle Funktionensind also stetig bzw. stetig differenzierbar.)Die Kettenregel lautet dann F ′ (x(t))x ′ (t) = G ′ (t) bzw. f(x(t))x ′ (t) = g(t).Für das bestimmte Integral∫ ba∫ bag(t) dt erhalten wir dann:g(t)dt = G(b) − G(a) = F (x(b)) − F (x(a)) =∫x(b)x(a)f(x)dx.Damit haben wir die Substitutionsregel für bestimmte Integrale entwickelt:(I)∫x(b)∫ bf(x) dx = f(x(t))x ′ (t)dtx(a)aBeispiel 1.15.3mit∫ 40∫√ 14√2t + 1 dt = 2t + 1 · 2 dt20(I)= 1 2∫ 91√ x dx =13 x3/2 ∣ ∣∣91 = 1 3 (33 − 1 3 ) = 26 3x(t) = 2t + 1, x ′ (t) = 2, f(x) = √ x und g(t) = √ 2t + 1122


1.15 IntegrationsmethodenFür unbestimmte Integrale muss man eine Rücksubstitution durchführen:∫∫(I ′ ) f(x) dx = f(x(t))x ′ (t)dtBeispiel 1.15.4 Obiges Beispiel:∫ ∫ ∫ √2t 1 √2t 1 √x 1+ 1 dt = + 1 · 2 dt = dx =223 x3/2 + cWird nun x rücksubstituiert, so erhält man:∫ √2t+ 1dt =13 (2t + 1)3/2 + cMan rechnet in der Praxis meist wie folgt:∫ √2t+ 1 dt =∫ √x 12 dx = 1 3 x3/2 + c = 1 3 (2t + 1)3/2 + cmit x = 2t + 1 =⇒ dxdt = 2 =⇒ dt ✻= 1 2 dxDabei verwendet man die Umkehrfunktion zu t ↦→ x(t):Im Beispiel:Allgemein gilt die Formelt = t(x) ⇔ x = x(t)x(t) = 2t + 1, t(x) = x − 1 , dt2 dx = 1 2 .(II ′ )∫∫f(x(t)) dt =f(x) dtdx dxFür bestimmte Integrale ist keine Rücksubstitution nötig. Man muss aber Integrationsgrenzenanpassen:(II)∫ baf(x(t)) dt =∫x(b)x(a)f(x) dtdx dxBeispiel 1.15.5123


1 Analysis und numerische Analysis1. Es soll der Inhalt des halben Einheitskreises bestimmt werden:F ==∫ 1−1∫π/2−π/2√1 − x 2 dx√1 − sin 2 (t) · cos(t)dt =Substitution: x = sin(t) mit dx = cos(t) · dt∫π/2−π/2cos 2 (t) dt = 1 2∫ 2π0cos 2 (t) dt = 1 2 π.2. Unbestimmte Integration (Integrand und Substitution wie in 1.):∫ √1 ∫ √∫− x 2 dx Subst. = 1 − sin 2 (t) cos(t) dt = cos 2 (t) dt= 1 2(cos(t) · sin(t) + t)+ c mit partielle Integration= 1 2(√1 − x2 · x + arcsin(x) ) + c mit RücksubstitutionNun kann man das bestimmte Integral mit der Stammfunktion berechnen:∫ 1√1 − x 2 dx = 1 2(√1 − x2 · x + arcsin(x) )∣ ∣ ∣1−1−1( 1 √= · 1 − 12 · 1 + arcsin(1)2( ))( 1 √− · 1 − (−1)2 · 1 + arcsin(−1)2( ))= 0 + 1 2(arcsin(1) − arcsin(−1))= 1 ( π2 2 − ( − π ) ) = π 2 2Nebenrechnung zur partiellen Integration:∫∫∫ (1cos 2 (t) dt = sin(t) · cos(t) + sin 2 (t) = sin(t) cos(t) + − cos 2 (t) ) dt∫⇒ 2 cos 2 (t) dt = sin(t) · cos(t) + t + c3.∫∫cos(3x + 7) dx =cos(s) · 13 ds = 1 3 sin(s) + c = 1 sin(3x + 7) + c3✻s = 3x + 7 =⇒ ds = 3dxFür Integranden spezieller Bauart sind nützliche Substitutionen bekannt. Manfindet diese in Formelsammlungen und – implementiert in CAS – in Rechnern.Zwecks Illustration der Möglichkeiten und Grenzen der Substitutionsmethodebetrachten wir einige Beispiele:124


1.15 IntegrationsmethodenBeispiel 1.15.6(a) Als Spezialfall mit a = 1 haben wir in obigen Beispielen kennengelernt:f(x) = √ a 2 − x 2 mit a > 0Mit der Substitution x = a sin(t) erhält man√a 2 − x 2 = a cos(t) und dx = a cos(t) dtDamit folgt dann∫ √a 2 − x 2 dx =∫a 2 cos 2 (t) dt = a2 ( )sin(t) cos(t) + t + c.2(b) Für die Funktionnutzt man folgende Substitution:x = a cosh(t) =⇒ √ x 2 − a 2 ==⇒ dx = a sinh(t) dtDamit erhält man zum Beispiel:∫∫1√x 2 − 4 dx =(c) Fürf(x) = √ x 2 − a 2√a 2 (cosh 2 (t) − 1) = a sinh(t) für t > 01 · dt = t + c = cosh −1 ( x2f(x) = √ x 2 + a 2kann man folgende Substitutionsmöglichkeit nutzen:Damit ergibt sich zum Beispiel:∫ 20x = a sinh(t) =⇒ √ x 2 + a 2 = a cosh(t)( )sinh −1 √32(∫dx√ = dt = t ∣ sinh−13 + x 200=⇒ dx = a cosh(t) dt)√23)+ c= sinh −1 ( 2 √3)− 0 = sinh −1 ( 2 √3),denn die Umrechnung der Grenzen erfolgt bei der Substitution x = √ 3 sinh(t)wie folgt:0 = √ 3 sinh(a) ⇒ a = 02 = √ ( 3 sinh(b) ⇒ b = sinh −1 2)√3125


1 Analysis und numerische Analysis(d) Für Funktionen mit dem Aufbausubstituiert man wie folgt:f(x) = g(e x ) mit g : R → Rs = e x =⇒ g(e x ) = g(s) und dx = dss .Daher gilt allgemein:∫∫g(e x ) dx =g(s) 1 s dsBeispielsweise erhält man dann:∫ 1 + e2x∫ 1 + s2e x dx =s· dss = ∫ 1 + s2s 2 ds = −s −1 +s+c = e x −e −x +c1.16 Integration rationaler FunktionenWir wollen zunächst einige Begriffe aus Abschnitt 1.9 wieder aufgreifen:Ein Polynom vom Grad n hat die Formp(x) = a n x n + · · · + a 2 x 2 + a 1 x + a 0 mit a n ≠ 0.Eine rationale Funktion besitzt den Aufbaur(x) = p(x) , wobei p und q Polynome sind.q(x)Man nennt r(x) echt gebrochen-rational, wenn der Zählergrad kleiner als derNennergrad ist.So ist z.B. f(x) = 2x4 +x 2 −3eine rationale Funktion. Sie ist nicht echt gebrochenrational,denn bei dieser Funktion ist der Zählergrad 4 größer als der Nenner-x 2 +1grad 2.∫Wie berechnet man nun das unbestimmte Integral f(x) dx?Man geht im Allgemeinen in drei Schritten vor:1. Polynomdivision, falls Zählergrad ≥ Nennergrad.2. Partialbruchzerlegung (PBZ).3. Integration der Summanden der PBZ.126


1.16 Integration rationaler Funktionen1.16.1 PolynomdivisionDie Polynomdivision wird durchgeführt, um Linearfaktoren abzutrennen, undum rationale Funktionen zu zerlegen in einen polynomialen Anteil und einenecht gebrochen-rationalen Anteil.Die Polynomdivision kann durchgeführt werden, wenn der Grad von p(x) größeroder gleich dem Grad von q(x) ist. Dann erhält man eine Zerlegung wiefolgt:p(x)q(x) = p 1(x) + r(x)q(x) mit Grad( r(x) ) < Grad ( q(x) ) .Der Divisionsalgorithmus ist analog zur schriftliche Division von Zahlen. Ersoll am Beispiel gezeigt werden:Beispiel 1.16.1 einer Polynomdivision:Daher folgt: 2x4 + x 2 − 3x 2 + 1(2x 4 + x 2 − 3) : (x 2 + 1) =2x 2 − 1 − 2x 2 + 1−(2x 4 + 2x 2 )− x 2 − 3−(− x 2 − 1)− 2= 2x 2 − 1 − 2x 2 + 1 .Da zu allen Summanden des Ergebnisses die Stammfunktionen bekannt sind,kann man jetzt integrieren:∫ 2x 4 + x 2 ∫ ∫ ∫− 3x 2 dx =2 x 2 dxdx − 1 dx − 2+ 1x 2 + 1= 2 3 x3 − x − 2 arctan(x) + c.1.16.2 PartialbruchzerlegungPartialbruchzerlegung bei einfachen reellen NullstellenZur Vereinfachung einer echt gebrochenen rationalen Funktion führt man einePartialbruchzerlegung durch. Wenn der Nenner nur einfache reelle Nullstellena 0 , . . . , a n besitzt, hat die Partialbruchzerlegung folgende Struktur:(PBZ)p(x)q(x) = A 1+ · · · +A n.x − a 1 x − a nBringt man die rechte Seite auf den Hauptnenner, dann erkennt man, dassgelten muss:- a 1 , . . . , a n sind einfache Nullstellen von q(x)127


1 Analysis und numerische Analysis- Grad p(x) < Grad q(x)Daher geht man bei einer PBZ wie folgt vor:• Voraussetzung prüfen: Grad p(x) < Grad q(x) = n• Linearfaktorzerlegung des Nennerpolynoms bilden:q(x) = c · (x − a 1 ) · . . . · (x − a n ) mit c ≠ 0• Ansatz (PBZ) der Partialbruchzerlegung in ein Gleichungssystem für A 1 ,. . ., A n überführen und dieses lösen.Für den Spezialfall n = 2 und c = 1 sieht das allgemeine Vorgehen so aus:q(x) = x 2 + q 1 x + q 0 = (x − a 1 )(x − a 2 )p(x) = p 1 x + p 0p(x)q(x) = p 1 x + p 0 != A 1+ A 2(x − a 1 )(x − a 2 ) x − a 1 x − a 2Multiplikation mit dem Hauptnenner (x − a 1 ) (x − a 2 ) ergibt:p 1 x + p 0 = A 1 (x − a 2 ) + A 2 (x − a 1 )Da a 1 ≠ a 2 angenommen wird, löst man diese Gleichung durch Einsetzen vonx = a 1 und x = a 2 :Wegenp 1 a 1 + p 0 = A 1 (a 1 − a 2 ) =⇒ A 1 = p 1a 1 + p 0a 1 − a 2p 1 a 2 + p 0 = A 2 (a 2 − a 1 ) =⇒ A 2 = p 1a 2 + p 0a 2 − a 1∫1x − a dx = ln ( |x − a| ) + ckann nach erfolgreicher PBZ das Integral bestimmt werden.Beispiel 1.16.21. Polynomdivision:Also gilt∫ 2x 3 − x 2 − 10x + 19F (x) =x 2 dx =?+ x − 6(2x 3 − x 2 − 10x + 19) : (x 2 + x − 6) =2x − 3 + 5x + 1x 2 + x − 6−(2x 3 + 2x 2 − 12x)− 3x 2 + 2x + 19−(−3x 2 − 3x+ 18)∫F (x) =5x + 1∫(2x − 3) dx +5x + 1x 2 + x − 6 dx.128


1.16 Integration rationaler Funktionen2. PBZ des zweiten Integranden:• Nullstellen des Nenners bestimmen:x 2 + x − 6 = 0 =⇒ x 1/2 = − 1 2 ± √14 + 6 = −1 2 ± 5 2 =⇒ x 1 = 2x 2 = −3• Linearfaktorzerlegung angeben: x 2 + x − 6 = (x − 2)(x + 3).• Gleichungssystem aufstellen:5x + 1x 2 + x − 6 = 5x + 1(x − 2)(x + 3)• Lösen des Gleichungssystems:3. Integration:∫F (x) =!= A 1x − 2 + A 2x + 3⇓5x + 1 = A 1 (x + 3) + A 2 (x − 2)x = 2 : 11 = 5A 1 =⇒ A 1 = 115x = −3 : −14 = −5A 2 =⇒ A 2 = 145∫ ∫ 11/5 14/5(2x − 3) dx +x − 2 dx + x + 3 dx∣ · (x − 2) (x + 3)= x 2 − 3x + 11 5 ln ( |x − 2| ) + 14 5 ln ( |x + 3| ) + c.Partialbruchzerlegung mit mehrfachen reellen NullstellenIm Falle mehrfacher Nullstellen muss der PBZ-Ansatz modifiziert werden. Fürjede mehrfach auftretende Nullstelle a i müssen exakt so viele Terme der BauartA ij /(x − a i ) j in den Ansatz genommen werden wie die Vielfachheit n idieser Nullstelle angibt. Der Zweitindex j läuft von 1 bis zur Vielfachheit derNullstelle n i .Für das allgemeine Nennerpolynom q dritten Grades mit einer doppelten Nullstellesieht das wie folgt aus:im WS 08/09 weggelassen!q(x) = (x − a 2 ) 2 (x − a 1 ) mit a 2 als doppelter Nullstelle (d.h. n 2 = 2).Der Grad von q beträgt 3, daher hat das Zählerpolynom p den allgemeinenAufbau p(x) = p 2 x 2 + p 1 x + p 0 .Der PBZ-Ansatz ist also 9 :p(x)q(x)!= A +x − a 1Bx − a 2+C(x − a 2 ) 2⇒ p 2 x 2 + p 1 x + p 0 = A(x − a 2 ) 2 + B(x − a 1 )(x − a 2 ) + C(x − a 1 ) (1.24)129


1 Analysis und numerische AnalysisBestimme A, B und C durch Koeffizientenvergleich. Dazu multipliziert mandie rechte Seite aus und sortiert anschließend nach Potenzen von x:p 2 x 2 + p 1 x + p 0 = A(x 2 − 2a 2 x + a 2 2) + B(x 2 − a 1 x − a 2 x + a 1 a 2 ) + C(x − a 1 )= Ax 2 − 2Aa 2 x + Aa 2 2 + Bx 2 − Ba 1 x − Ba 2 x + Ba 1 a 2 + Cx − Ca 1= (A + B)x 2 + (−2Aa 2 − Ba 1 − Ba 2 + C)x + (Aa 2 2 + Ba 1 a 2 − Ca 1 )= (A + B)x 2 + (−2a 2 A + (−a 1 − a 2 )B + C)x + (a 2 2A + a 1 a 2 B − a 1 C)Damit linke und rechte Seite der Gleichung übereinstimmen, müssen die Koeffizientenübereinstimmen:p 2 = A + Bp 1 = −2a 2 A + (−a 1 − a 2 )B +p 0 = a 2 2A + a 1 a 2 B + (−a 1 )CCAuch hier kann man zunächst die einfache Nennernullstelle a 1 einsetzen in(1.24) und den zugehörigen Koeffizienten A bestimmen.p 2 a 2 1 + p 1 a 1 + p 0 = A (a 1 − a 2 ) 2 =⇒ A = p 2a 2 1 + p 1a 1 + p 0(a 1 − a 2 ) 2Das verbleibende Gleichungssystem für B und C ist dann einfacher, denn alleTeilterme, die A enthalten, können ausgewertet und auf die andere Seite gestelltwerden.Es verbleibt ein Gleichungssystem für B und C.p 2 − A = Bp 1 + 2a 2 A = (−a 1 − a 2 )B + C (1.25)p 0 − a 2 2A = a 1 a 2 B + (−a 1 )CEs ergibt sich für das Integral der rationalen Funktion:∫ p(x)q(x) dx = A ln ( |x − a 1 | ) + B ln ( |x − a 2 | ) − C 1x − a 2+ cBeispiel 1.16.3 Es soll das folgende Integral ermittelt werden:∫ 15x 2 + 26x − 5x 3 + 3x 2 − 4dxDer Nenner q(x) = x 3 + 3x 2 − 4 muss zunächst in Linearfaktoren zerlegt werden.Da alle Koeffizienten ganzzahlig sind, kommen als eventuelle Nullstellen9 Statt der Koeffizienten A 21 und A 22 aus der allgemeinen Beschreibung verwenden wir zurbesseren Lesbarkeit die Koeffizienten B und C.130


1.16 Integration rationaler Funktionendie Teiler des absoluten Gliedes, hier −4, in Frage. Daher probiert man systematisch,ob ±1, ±2 bzw. ±4 Nullstellen von q(x) sind, bis (mindestens) eineNullstelle gefunden wurde:q(1) = 1 3 + 3 · 1 2 − 4 = 0.Es kann also der Linearfaktor (x − 1) vom q(x) durch Polynomdivision abgespaltenwerden:(x 3 + 3x 2 − 4) : (x − 1) =x 2 + 4x + 4−(x 3 − x 2 )+ 4x 2 + 0x−(+ 4x 2 − 4x)+ 4x − 4−(+ 4x − 4)0Daher folgt: q(x) = x 3 + 3x 2 − 4 = (x − 1) (x 2 + 4x + 4) = (x − 1) (x + 2) 2 .Der PBZ-Ansatz mit a 1 = 1 und a 2 = −2 lautet nun:15x 2 + 26x − 5x 3 + 3x 2 − 4 = Ax − 1 +Bx + 2 +C(x + 2) 2⇒ 15x 2 + 26x − 5 = A(x + 2) 2 + B(x − 1)(x + 2) + C(x − 1)Einsetzen von a 1 = 1 ergibt:15 · 1 2 + 26 · 1 − 5 = A (1 + 2) 2 + B · 0 + C · 0 =⇒ A = 36 9 = 4.Mit p 2 = 15, p 1 = 26, p 0 = −5 und a 2 = −2 ergibt sich nach (1.25) alsGleichungssystem für B und C:11 = B10 = B + C−21 = −2B − CAus der ersten und zweiten Gleichung erhält man B = 11 und C = −1. Diedritte Zeile dient zur Probe: −21 = −2 · 11 − (−1). Die PBZ lautet also:15x 2 + 26x − 5x 3 + 3x 2 − 4 = 4x − 1 + 11x + 2 + −1(x + 2) 2 .Von jedem Summanden ist eine Stammfunktion bekannt. Man erhält als unbestimmtesIntegral:∫ 15x 2 ∫+ 26x − 5 15x 2x 3 + 3x 2 − 4 dx = + 26x − 5(x − 1)(x + 2) 2 dx∫ [4=x − 1 + 11x + 2 − 1](x + 2) 2 dx= 4 ln ( |x − 1| ) + 11 ln ( |x + 2| ) + 1x + 2 + c 131


1 Analysis und numerische Analysisim WS 08/09 weggelassen!Partialbruchzerlegung mit quadratischem Rest ohne reelle NullstellenEin Polynomq(x) = q n x n + . . . + q 0 mit q n ≠ 0vom Grad n kann höchstens n Nullstellen haben, wenn man Vielfachheitenmitzählt. Es kann aber sein, dass es weniger reelle Nullstellen hat. Z.B. hatq(x) = x 2 + 1keine reelle Nullstelle 10 , denn x 2 + 1 ≥ 1 > 0.Da die Integrale∫∫1x 2 dx = arctan(x) + c,+ 1xx 2 + 1 dx = 1 2 ln(x2 + 1) + c,bekannt sind bzw. mit bekannten Methoden zu ermitteln sind, kann man auchin solchen Fällen mit modifizierten PBZen zum Ziel kommen.Der allgemeine Ansatz für einen unzerlegbaren quadratischen Rest ist:p(x)= Ansätze für reelle Nullstellen von q(x) +Cx + Dq(x) x 2 + ax + b .Sollte der unzerlegbare Rest mehrfach Auftreten, geht man analog zu mehrfachenreellen Nullstellen vor:p(x)= Ansätze für reelle Nullstellen von q(x)q(x)+ C 1x + D 1x 2 + ax + b + C 2x + D 2(x 2 + ax + b) 2 + · · · + C kx + D k(x 2 + ax + b) k .Beispiel 1.16.4 Man bestimme eine Stammfunktion der folgenden echt gebrochenrationalenFunktion:p(x)q(x) = 3x 2 + 1x 3 − x 2 + x − 1Der Nenner hat als reelle Nullstelle x = 1. Daher kann man per Polynomdivisionden Linearfaktor (x − 1) abspalten: q(x) = (x − 1) (x 2 + 1).10 Wir sehen in Abschnitt 1.20, dass dies für komplexe Zahlen anders ist.132


1.17 Die TaylorformelDer Ansatz zur PBZ ist dann:3x 2 + 1(x − 1) (x 2 + 1) = Ax − 1 + Bx + Cx 2 + 1⇓∣ · (x − 1) (x 2 + 1)3x 2 + 1 = A(x 2 + 1) + (Bx + C)(x − 1)3x 2 + 0x + 1 = x 2 (A + B) + x (−B + C) + (A − C)A + B = 3−B + C = 0A − C = 1⇓=⇒ A = 2, B = 1 C = 1Damit bestimmt man schließlich die Stammfunktion wie folgt:∫3x 2 ∫+ 1x 3 − x 2 + x − 1 dx ==3x 2 + 1(x − 1)(x 2 + 1)∫ [2x − 1 + 1x 2 + 1 +x ]x 2 dx+ 1= 2 ln ( |x − 1| ) + arctan(x) + 1 2 ln(x2 + 1) + c.1.17 Die Taylorformel1.17.1 PotenzreihenEine Potenzreihe ist eine Reihe der Form∞∑ ( ) k.a k x−x0 Die Koeffizienten akbilden eine reelle Zahlenfolge. x 0 wird Entwicklungspunkt der Reihe genannt.Für jede konkrete Stelle x ∈ R stellt die Potenzreihe ∑ a k(x−x0) k eine Reihegemäß Abschnitt 1.6 dar und kann auf ihre Konvergenz untersucht werden. ImRahmen dieser Untersuchung ist x als Konstante aufzufassen.Jede Potenzreihe definiert eine Funktion x ↦→ ∑ a k(x − x0) k. Der Definitionsbereichbesteht aus allen x, für die die Reihe konvergent ist.Satz 1.17.1 Es seik=0∞∑ ( ) ka k x − x0 eine Potenzreihe. Dann gilt:k=0• Wenn der Grenzwert g := lim ∣ a ∣k+1 ∣∣ existiert, dann ist die Potenzreihek→∞ a∑ k( ) k ak x − x0 absolut konvergent für alle x ∈ R mit |x − x0 | < 1 =: δ.g√k• Wenn der Grenzwert g := lim |ak | existiert, dann ist die Potenzreihek→∞∑ ( ) k ak x − x0 absolut konvergent für alle x ∈ R mit |x − x0 | < 1 =: δ.g133


1 Analysis und numerische AnalysisIst der Grenzwert g = 0, so setzt man δ = ∞.Ist der Grenzwert g = ∞, so setzt man δ = 0.Die Zahl δ nennt man Konvergenzradius der Potenzreihe.Beispiel 1.17.11. Die Potenzreihe∞∑3 k (x − 1) k mit Entwicklungspunkt x 0 = 1 hat denk=0Konvergenzradius δ = 1 , denn es gilt: g := lim3 k→∞√k |3 k | = 3. Der Definitionsbereichfür die zugehörige Funktion umfasst daher das offene Intervall(1 − 1 3 , 1 + 1 3 ) = ( 2 3 , 4 3 ).k→∞∞∑ 12. Die Potenzreihek xk mit dem Entwicklungspunkt x 0 = 0 hat denk=1√kKonvergenzradius δ = 1, denn es gilt: g := lim = 1. Der Definitionsbereichumfasst daher das offene Intervall (−1, 1).Für x = −1 erhält man die alternierende harmonische Reihe, die nachdem Leibniz-Kriterium konvergent ist. Für x = 1 erhält man die harmonischeReihe, welche divergiert.Für |x| > 1 ist der Term 1 k xk keine Nullfolge mehr und damit ist dieReihe dann divergent.Daher ist der maximale Definitionsbereich der zugehörigen Funktion dashalboffene Intervall [−1, 1).3. Die Potenzreihe∞∑k=01k! xk mit Entwicklungspunkt x 0 = 0 hat den Konvergenradiusδ = ∞, denn hier gilt: g := limk→∞1kk!(k+1)! = limk→∞1k+1 = 0.1.17.2 TaylorformelDurch Ableiten von f(x) bei x 0 erhält man die Steigung der Tangente an denGraphen bei (x 0 , y 0 ) mit y 0 = f(x 0 ). Man erhält für x nahe x 0 eine NäherungWie gut ist diese Näherung?f(x) ≈ f(x 0 ) + f ′ (x 0 )(x − x 0 ).Welchen Fehler begeht man, wenn der exakte Wert f(x) durch den Ausdruckf(x 0 ) + f ′ (x 0 )(x − x 0 ) approximiert wird?Ein Spezialfall der Taylorformel besagt für f ∈ C 2 :f(x) = f(x 0 ) + f ′ (x 0 )(x − x 0 ) + 1 2 f ′′ (z)(x − x 0 ) 2 ,wobei z eine Stelle zwischen x 0 und x ist.134


1.17 Die TaylorformelMan leitet dies wie folgt her: (im WS 08/09 weggelassen!)∫ x( Hauptsatz der)f(x) − f(x 0 ) = f ′ (t) dtDifferential- undIntegral-Rechnung==x 0∫ xx 0∫ xx 01 · f ′ (t) dt(t − x) 0 · f ′ (t) dt= (t − x)f ′ ∣(t)∫∣ t=xx−t=x 0= −(x 0 − x)f ′ (x 0 ) +x 0(t − x)f ′′ (t) dt∫ x= (x − x 0 )f ′ (x 0 ) + f ′′ (z)x 0(x − t)f ′′ (t) dt∫ xx 0(x − t) dt= (x − x 0 )f ′ (x 0 ) + f ′′ (z) · 12 (x − x 0) 2 .( Vorbereitung derIntegration(Kunstgriff()))partielle Integration( verallgemeinerterMittelwertsatzIst f hinreichend oft differenzierbar, kann man die partiellen Integrationenfortsetzen. Bei (n+1)-maliger Differenzierbarkeit erhält man die Taylorformel:Sei f ∈ C n+1 (R). Ferner sei eine Stelle x 0 ∈ R gegeben. Diese Stelle nenntman den Entwicklungspunkt. Dann giltf(x) = f(x 0 ) + 1 1! f ′ (x 0 )(x − x 0 ) + 1 2 f ′′ (x 0 )(x − x 0 ) 2Das Restglied R n ist gegeben durch+ · · · + 1 n! f (n) (x 0 )(x − x 0 ) n + R n (x; x 0 , f).∫ xR n (x; x 0 , f) = 1 (x − t) n f (n+1) (t) dtn!x 0=für eine Zwischenstelle z ∈ [x 0 , x].Man nenntT n (x) = T n (x; x 0 , f) =1(n + 1)! f (n+1) (z)(x − x 0 ) n+1n∑j=01j! f (j) (x 0 )(x − x 0 ) jdas Taylorpolynom von f bezüglich des Entwicklungspunktes x 0 . Man kanndie Taylorformel auch so schreiben:f(x) = T n (x) + R n (x))135


1 Analysis und numerische AnalysisFür x → x 0 ist das Restglied vernachlässigbar klein gegenüber dem Polynom:|R n (x)| ≤ const.|x − x 0 | n+1 für x nahe x 0 .Man schreibt 11 : R(x) = O ( |x − x 0 | n+1) .Beispiel 1.17.2 1. Es soll für f(x) = sin(x) die Taylorformel zu n = 5mit Entwicklungspunkt x 0 = 0 bestimmt werden:f(x) = sin(x)f ′ (x) = cos(x), f ′′ (x) = − sin(x), . . . f (6) (x) = − sin(x)f(0) = f (4) (0) = sin(0) = 0, f ′ (0) = f (5) (0) = cos(0) = 1f ′′ (0) = − sin(0) = 0, f ′′′ (0) = − cos(0) = −1sin(x) = 0 + x + 0 + −13! x3 + 0 + 1 5! x5 − 1 sin(z) · x6} {{ } } 6! {{ }Also erhält man:= T 5 (x) + R 5 (x)T 5 (x) = x − 1 3! x3 + 1 5! x5 = x − 1 6 x3 + 1120 x5R 5 (x) = 1 sin(z) · x66!Wenn nun |x| ≤ 1 2gilt, dann folgt mit |sin(x)| ≤ 1:|R 5 (x)| ≤ 1 ∣ 1 ∣ 6 1=6! 2 720 · 64 = 146080 ≤ 140000 = 2.5 · 10−5 .T 1(x)T 3(x)T 5(x)sin(x)1x−12. Die Taylorformel zu f(x) = e x mit x 0 = 0 lautet:T n (x) =n∑k=01k! xk mit R n (x) =1(n + 1)! ez · x n+1 .11 f = O(g) bedeutet inhaltlich, dass |f(x)/g(x)| für x nahe x 0 beschränkt ist.136


1.17 Die Taylorformele x81 + x + x22 + x3 61 + x + x2 21 + x1x3. Die Taylorformel zu f(x) = x 3 um den Punkt x 0 = 1 mit n = 3 ergibtsich wie folgt:f(x) = x 3 , f ′ (x) = 3x 2 , f ′′ (x) = 6x, f ′′′ (x) = 6, f (n) (x) = 0 für alle n ≥ 4,f(1) = 1 3 = 1, f ′ (1) = 3 · 1 2 = 3, f ′′ (1) = 6 · 1 = 6, f ′′′ (1) = 6.f(x) = 1 + 3(x − 1) + 6 2! (x − 1)2 + 6 3! (x − 1)3 + 0= 1 + 3(x − 1) + 3(x − 1) 2 + (x − 1) 3= ( 1 + (x − 1) ) 3(nach binomischer Formel).Mittels Taylorentwicklung kann man komplizierte (aber genügend oft differenzierbare)Funktionen durch einfachere Funktionen – nämlich Polynome –approximieren (annähern).Der Approximationsfehler wird durch das Restglied R n angegeben.Hat man eine (möglichst nicht zu grobe) Abschätzung für die (n + 1)-te Ableitung,d.h. kennt man ein M > 0 mit∣ f (n+1) (x) ∣ ∣ ≤ M,so schätzt man mit einer Restgliedformel wie folgt ab:1∣|R n (x)| = ∣(n + 1)! f (n+1) (z)(x − x 0 ) n+1 ∣∣ M ≤(n + 1)! |x − x 0| n+1 .Wenn f(x) beliebig oft differenzierbar ist, kann man die Taylorreihe von fbezüglich eines Entwicklungspunktes x 0 aufstellen:∞∑a k (x − x 0 ) k mit a k = f (k) (x 0 ).k!k=0137


1 Analysis und numerische AnalysisWenn das Restglied für n → ∞ gegen 0 geht, d.h. R n (x) −→ 0, dann konvergiertdie Reihe gegen f(x) in einem gewissen Intervall um x 0 :∞∑ f (k) (x 0 )f(x) =(x − x 0 ) k für |x − x 0 | < δ.k!k=0Beispiele hierfür (mit Entwicklungspunkt x 0 = 0) sind:∞∑e x 1=k! xk (δ = ∞)sin(x) =cos(x) =k=0∞∑(−1) k 1(2k + 1)! x2k+1 (δ = ∞)∞∑(−1) k 1(2k) x2k (δ = ∞)k=0k=03∞3 − x = ∑ ( 1) kxk3k=0(δ = 3)Satz 1.17.2 Ist f auf einem Intervall (n + 1)-mal differenzierbar und giltf (n+1) (x) = 0 für alle x ∈ I, so ist f ein Polynom vom Grad ≤ n.Grund: f(x) = T n (x) + R n (x) und R n (x) = 0.Die Taylorentwicklung eines Polynoms p(x) = a n x n +a n−1 x n−1 +. . .+a 1 x+a 0gewinnt man auch aus der binomischen Formel, denn für jedes Monom kannman wie folgt rechnen:x n = ( ) nn∑( n(x − x 0 ) + x 0 = x0 k)n−k (x − x 0 ) k=n∑k=01k!k=0n (n − 1) . . . (n − k + 1)xn−k 0} {{ }=(∗)(x − x 0 ) k mit (∗) = (x n ) (k) ∣∣∣x=x0.Setzt man diese Umformungen an den entsprechenden Stellen von p(x) ein, soerhält man das Taylorpolynom um den gewählten Entwicklungspunkt.Dies sieht man z.B. für f(x) = x 3 um x 0 = 1 aus Beispiel 1.17.2.1.17.3 Anwendung I: Extremwert-TestSatz 1.17.3 (Mehrfache Nullstellen) Sei I = ]a, b[, x 0 ∈ I und f ∈ C n (I).Es gelteDann gilt:f ′ (x 0 ) = f ′′ (x 0 ) = . . . = f (n−1) (x 0 ) = 0 und f (n) (x 0 ) ≠ 0.• x 0 ist lokale Extremstelle genau dann, wenn n gerade ist.• Ist n gerade und f (n) (x 0 ) < 0, dann ist x 0 eine lokale Maximumstelle.• Ist n gerade und f (n) (x 0 ) > 0, dann ist x 0 eine lokale Minimumstelle.(Spezialfall n = 2 : f ′′ (x 0 ) < 0 ⇒ x 0 lokale Maximumstelle, etc.)138


1.17 Die Taylorformel1.17.4 Anwendung II: Konvergenz von IterationsverfahrenUm eine nichtlineare Gleichung zu lösen, z.B. eine Nullstelle einer Funktionf(x) zu bestimmen, wendet man oft iterative Methoden der Formwähle: x 0 ∈ R n ;berechne: x i+1 := Φ(x i ), i = 0, 1, 2, · · · , (1.26)an. Als wichtigstes Beispiel haben wir schon im Abschnitt 1.13.2 das Newtonverfahrenx i+1 := x i − f(x i)f ′ (x i ) , f ′ (x i ) ≠ 0,zur Bestimmung einer Nullstelle von f kennen gelernt. Es entspricht also demIterationsverfahren (1.26) mitΦ(x) = x − f(x)f ′ (x)(1.27)Wir wollen jetzt mit Hilfe der Taylorformel die Konvergenz des Newtonverfahrensuntersuchen. Es gilt folgenderSatz 1.17.4 Die Iterationsfunktion Φ sei p + 1 mal stetig differenzierbar:Φ ∈ C p+1 (R) oder Φ ∈ C p+1 ([a, b]).Dann ist das Verfahren (1.26) mindestens linear konvergent 12 , fallsDas Verfahren ist von mindestens p-ter Ordnung, falls|Φ ′ (¯x)| < 1 . (1.28)Φ (k) (¯x) = 0 für k = 1, 2, · · · , p − 1. (1.29)Der Beweis dieses Satzes benutzt die Taylorformel. Wir wollen diesen Satzbenutzen, um das folgende Lemma zu beweisenLemma 1.17.5x ∗ sei eine einfache Nullstelle der Funktion f(x), d.h. f ′ (x ∗ ) ≠ 0.Das Newton-Verfahren konvergiere zu einem gegebenen Startwert x 0 gegen dieseNullstelle x ∗ . Dann konvergiert das Newton-Verfahren quadratisch (im Sinnevon (1.12), d.h. es giltmit einer geeigneten Konstante K.Beweis. Übung.|x i+1 − x ∗ | ≤ K |x i − x ∗ | 212 p ist die Konvergenzordnung des Verfahrens wenn |Φ k+1 (x 0) − ¯x| ≤ K|Φ k (x 0) − ¯x| p 139


1 Analysis und numerische Analysis1.18 Numerische IntegrationIntegralberechnungen sind meistens Teil einer umfassenderen mathematischenProblemstellung. Dabei sind die auftretenden Integrationen oft nicht analytischausführbar, oder ihre analytische Durchführung stellt im Rahmen derGesamtaufgabe eine praktische Schwierigkeit dar. In solchen Fällen wird derzu berechnende Integralausdruck angenähert ausgewertet durch numerische Integration,die auch numerische Quadratur genannt wird. Zu den zahlreichenAnwendungen der numerischen Quadratur gehören die Berechnung von Oberflächen,Volumina, Wahrscheinlichkeiten und Wirkungsquerschnitten.Wir behandeln in diesem Kapitel die Berechnung eines bestimmten Integrals I,das durch eine Summe – die numerische Quadraturformel Ĩ – approximiert wirdI =∫ ban∑f(x) dx −→ Ĩ = w i f(x i ),i=1wobei die Wahl der Koeffizienten oder Integrationsgewichte w i und der Stützstellenx i die Regel festlegen. Für einige Regeln wird von 0 bis n summiert.Die “Integration von Tabellendaten” wird hier nicht behandelt. Durch eineWertetabelle kann eine interpolierende oder approximierende Funktion gelegtwerden, die dann exakt integriert wird.Sollen numerische Integrationsregeln verglichen werden, so wird der Aufwandin Anzahl Funktionsauswertungen gemessen, da dieser rechnerische Aufwandden der anderen Rechenoperationen in allen wichtigen Fällen dominiert.1.18.1 Grundlegende QuadraturregelnZur Approximation von I kann man u.a. die folgenden einfachen Regeln (Formeln)benutzen:Rechteckregel: I ≈ I R = f(a) · (b − a)Trapezregel:Simpson-Regel:f(a) + f(b)I ≈ I T = · (b − a)2I ≈ I S = b − a [ ( a + b) ]f(a) + 4f + f(b)62yyyI TI TaI RbabaxxRechteckregel Trapezregel Simpsonregelbx140


1.18 Numerische IntegrationUm eine höhere Genauigkeit zu erzielen, zerlegt man das Intervall in äquidistanteTeilintervalle:a = x 0 < x 1 < . . . < x n = b,x j = a + jh (j = 0, 1, . . . , n) mit h = b − an > 0.Dann wendet man die gewählte Regel auf jedes Teilintervall an und addiertschließlich die Teilergebnisse auf. Dadurch erhält man für die jeweilige Grundregelzusammengesetzte Verfahren 13 :()f(x 0 ) + 2f(x 1 ) + · · · + 2f(x n−1 ) + f(x n )Trapezverfahren : T (h) = h 2= h 2(n−1∑)f(x 0 ) + 2 · f(x j ) + f(x n )= h (n−1∑)f(a) + 2 · f(a + jh) + f(b)2j=1Simpsonverfahren : S(h) = h (f(a) + 4f(x 1 ) + 2f(x 2 ) + 4f(x 3 ) + 2f(x 4 )3)(n gerade!) + · · · + 2f(x n−2 ) + 4f(x n−1 ) + f(x n )j=1yyyI RI TI SabxaRechteckverfahren Trapezverfahren Simpsonverfahrenjeweils mit derselben Anzahl an benötigten FunktionsauswertungenbxabxDie Quadraturverfahren unterscheiden sich deutlich in ihrer Leistungsfähigkeit.Sind Schranken für die 2. bzw. 4. Ableitung der zu integrierenden Funktionbekannt, so lässt sich der Fehler dieser Regeln wie folgt abschätzen.|I − T (h)| ≤|I − S(h)| ≤|b − a|12 h2 max (x)|,x∈[a,b](1.30)|b − a|180 h4 max (x)|.x∈[a,b](1.31)Die Genauigkeit einer Quadraturregel misst man auch so:13 Die Rechteckregel wird wegen ihrer mangelnden Genauigkeit nicht weiter verfolgt.141


1 Analysis und numerische AnalysisDefinition 1.18.1Eine Quadraturformel besitzt den Genauigkeitsgrad m ∈ N ∗ , wenn sie allePolynome vom Höchstgrad m exakt integriert, und m die größtmögliche Zahlmit dieser Eigenschaft ist.Der Genauigkeitsgrad der Trapezregel ist m = 1; sie integriert offensichtlichalle linearen Polynome exakt, aber kein quadratisches. Der Genauigkeitsgradder Simpsonregel ist m = 2; sie integriert alle quadratischen Polynome exakt,aber keine Polynome höherer Ordnung.Praktisch kann man Regeln vergleichen, indem man sie mit der gleichen Anzahlvon Funktionsauswertungen auf ein Integral anwendet.Beispiel 1.18.1I =∫ π/205.0e π − 2Die Ergebnisse für Trapez- und Simpson-Regel sind:exp(2x) cos(x) dx = 1.0. (1.32)Regel h Ĩ Ĩ − I (1.30), (1.31)Trapez π/8 0.926 −0.074 0.12Simpson π/8 0.9925 −0.0075 0.0181.18.2 Adaptive QuadraturIn den Anwendungen und in Softwaresystemen benötigt man Quadraturregel,die ohne Eingriff des Benutzers eine vorgegebene Genauigkeit haben:Gegeben ist eine integrierbare Funktion f : [a, b] → R (Integrand)sowie eine Fehlertoleranz ε > 0.∫bBestimme eine Näherung Ĩ für das bestimmte Integral I = f(x) dx,welche innerhalb der Toleranz ε liegt, d.h. |I − Ĩ| < ε.Adaptive Quadratur bedeutet, dass man die Punkte, an denen f ausgewertetwird, sorgfältig auswählt, die Genauigkeit der Intervallnäherung prüft, unddann evtl. eine Neuberechnung im ganzen Interval oder in bestimmten Teilintervallendurchführt. Das Ziel ist, die gewünschte Genauigkeit mit möglichstwenigen Funktionsauswertungen zu erzielen. Wir erinnern uns an eine fundamentaleEigenschaft des bestimmten Integrals: Falls c ein Punkt zwischen aund b ist, dann gilt∫ baf(x) dx =∫ caf(x) dx +∫ bcf(x) dx.Wenn wir jetzt jedes der beiden Teilintegrale auf der rechten Seite mit einerbestimmten Genauigkeit approximieren können, dann ergibt die Summe dasa142


1.18 Numerische Integrationgewünschte Resultat für das Interval [a, b]. Können wir die gewünschte Genauigkeitin einem der Teilintervalle nicht erreichen, so werden wir dieses Integralweiter aufteilen, um unsere Quadraturregel auf die kleiner werdenden Intervalleanzuwenden.Wenn wir eine zuverlässige Methode zur Abschätzung der Genauigkeit unserernumerischen Quadraturregel haben, dann stellt diese Vorgehensweise einesogenannte Black-Box-Methode zur adaptiven Quadratur dar.• Anschaulich gesprochen bedeutet die adaptive Quadratur das Folgende:In Teilintervallen, in denen der Integrand wenig variiert, reichen wenigePunkte aus, um genügende Genauigkeit zu erzielen.• Teilintervalle, in denen der Integrand stärker variiert, werden weiter aufgeteilt,bis die gewünschte Genauigkeit erzielt ist.• Diese Methode führt ohne Eingreifen des Benutzers automatisch zu dergewünschten Genauigkeit im gesamten Intervall [a, b].Eine zuverlässige Methode zur Abschätzung der Genauigkeit ist folgende:(0) Setze die Integralsumme Ĩ := 0.(1) Wende zwei Verfahren unterschiedlicher Genauigkeit Ĩ1 und Ĩ2 auf das∫ baf(x) dx an.(2) Teste, ob|Ĩ1 − Ĩ2| < ε(3) Halbiere das Intervall, wenn das nicht der Fall ist.Wenn die Genauigkeitsbedingung erfüllt ist, dann addiere den Integralwertzur Integralsumme Ĩ := Ĩ + Ĩ2.(4) Wende (1) bis (3) auf alle halbierten Intervalle an.(5) Wenn kein Intervall mehr halbiert werden muss, ist Ĩ die gefundene Näherungder Genauigkeit ε für I.Dass die gefundene Näherung wirklich die Bedingung |Ĩ − I| < ε erfüllt, kannmathematisch nicht bewiesen werden, wird aber in den allermeisten Fällenzutreffen. Solche Verfahren nennt man deshalb heuristisch. Das kommt ausdem Griechischen und heißt “ich finde”.Nimmt man für die zwei Verfahren Ĩ1 und Ĩ2 die Trapez- und die Simpson-Regel, dann bekommt man den Algorithmus aus Tab. 1.3.1.18.3 Gauß-QuadraturEine Idee von Gauß führt zu einer erheblichen Steigerung der Genauigkeit,bezogen auf die Anzahl der benötigten Funktionsauswertungen. Sie bestehtdarin, einen Ansatz aufzustellen, der sowohl die Integrationsgewichte als auchdie Stützstellen zur Konstruktion der Quadraturformel benutzt.Damit erreicht Gauß für n Stützstellen einen Genauigkeitsgrad (nach Def. 1.18.1)von 2n − 1, wo Trapez- und Simpsonregel nur n − 1 schaffen. Man kann zeigen,dass dies der maximal erreichbare Genauigkeitsgrad bei n Stützstellen ist.143


1 Analysis und numerische AnalysisTabelle 1.3: Algorithmus zur adaptiven Trapez-Simpson-Quadratur.Start: a 0 = a; a 1 = b; f 0 = f(a); f 1 = f(b); Ĩ = 0j = 0; k = 1; p = 1; l = 1; u 1 = 1HALB: h = a k − a j ; m = (a j + a k )/2; fm = f(m)Ĩ 1 = h × (f j + f k )/2; Ĩ 2 = (Ĩ1 + 2 × h × fm)/3falls |Ĩ1 − Ĩ2| ≥ ε :p = p + 1; a p = m; f p = fm; k = pl = l + 1; u l = p; gehe nach HALBsonstĨ = Ĩ + Ĩ2; j = u l ; l = l − 1; k = u lfalls l > 0 : gehe nach HALBBeispiel 1.18.2 : n = 2, 2n − 1 = 3∫ 1−1f(x) dx ≈2∑w i f(x i ). (1.33)i=1Zur Konstruktion dieser Gauß-Formel müssen x 1 , x 2 , w 1 und w 2 so bestimmtwerden, dass für jedes Polynom 3. Grades p(x)∫ 1−1p(x) dx =∫ 1−1(a 0 + a 1 x + a 2 x 2 + a 3 x 3 ) dx = w 1 p(x 1 ) + w 2 p(x 2 ) (1.34)gilt. Integration und Koeffizientenvergleich ergebenDas ergibt die Quadraturformel∫ 1−1w 1 = 1, w 2 = 1,x 1 = √ −1 , x 2 = √ 1 .3 3f(x) dx ≈ f( −1 √3) + f( 1 √3). (1.35)Diese Formel lässt sich leicht auf ein allgemeines Intervall transformieren:∫ baf(x) dx ≈ b − a2t i = a + b2(f(t 1 ) + f(t 2 )) mit (1.36)+ b − a2 x i, i = 1, 2.Für die hohe Genauigkeit der Gaußregeln muss man zwei Nachteile in Kaufnehmen:• Die Bestimmung der Koeffizienten und Stützstellen hängt vom Integrationsintervallab.144


1.18 Numerische Integration• Es ergeben sich für jedes n andere Koeffizienten und Stützstellen.Der erste Nachteil lässt sich leicht durch die lineare Transformationt = b − a2 x + a + b2ausräumen, wie in Beispiel 1.18.2. Es istI =∫ baf(t)dt = b − a2und die Quadraturformel erhält damit die GestaltQ = b − a2∫ 1−1n∑w k fk=1f( b − a2 x + a + b )dx,2( b − a2 x k + a + b2(1.37)). (1.38)Der zweite Nachteil wiegt schwerer. Zur rechnerischen Anwendung der GaußschenQuadraturformeln werden die für jedes n unterschiedlichen Stützstellenx k und Gewichte w k als Zahlen in ausreichender Genauigkeit (meist 15 Dezimalstellen)benötigt. Um die Genauigkeit über n steuern zu können, müssenalso sehr viele Zahlen verwaltet oder jeweils neu berechnet werden. Sie sindin einschlägigen Tabellen oder Programmbibliotheken enthalten. Der Aufwandfür die Verwaltung dieser Daten wird geringer, wenn man nur gewisse Werte fürn zulässt oder wenn man eingebettete Regeln benutzt, siehe Abschnitt 1.18.4.Eingebettete Regeln sind außerdem ideal für die adaptive Quadratur.Beispiel 1.18.3 Wir wollen Beispiel 1.18.1 aufgreifen, mit der Gauß-Quadraturzwei Näherungen für das Integral berechnen und dann in einer Tabelle die Integrationsregelnvergleichen, die wir bisher kennengelernt haben. Wir benutzenbei jeder Regel 3 bzw. 5 Funktionsauswertungen. Damit kommen wir zu denErgebnissen in Tab. 1.4:Tabelle 1.4: Vergleich der Integrationsregeln.Anz.Fktsausw. Trapez Simpson Gauß3 0.72473 0.90439 1.0015455 0.925565 0.992511 0.99999986Da der exakte Integralwert 1.0 ist, haben wir auf die Angabe des jeweiligenFehlers verzichtet. Die Überlegenheit der Gauß-Integration ist unübersehbar.1.18.4 Eingebettete Gauß-RegelnFür gewisse Werte von n gelingt es, unter geringem Genauigkeitsverlust eingebetteteDatensätze zu bekommen. Solche Paare von Integrationsregeln werdenauch optimal genannt.145


1 Analysis und numerische AnalysisHier ist besonders die Gauß-Kronrod-Quadratur zu erwähnen: Ausgehend vongewissen n-Punkte-Gauß-Formeln ist es Kronrod gelungen, optimale 2n + 1-Punkte-Formeln durch Hinzufügen von n + 1 Punkten zu konstruieren:Ĩ 1 :=n∑i=1n+1∑w i f(x i ) −→ Ĩ2 := Ĩ1 + v j f(y j ). (1.39)j=1Die kombinierte Regel integriert Polynome bis zum Grad 3n + 1 exakt statt4n + 1 für eine unabhängige 2n + 1-Punkte-Formel. Einzelheiten zu diesenAlgorithmen und die Stützwerte und Koeffizienten für die Regelpaare mit n =7, 10, 15, 20, 25 und 30 kann man in der Literatur und den großen Software-Bibliotheken finden.Die eingebetteten Regel-Paare lassen sich ideal für die adaptive Quadraturbenutzen. Man folgt der Vorgehensweise aus Abschnitt 1.18.2, wobei die beidenQuadraturregeln Ĩ1 und Ĩ2 gerade das Gauß-Kronrod-Paar bilden.Beispiel 1.18.4 Wir definieren eine Funktionen mit stark unterschiedlicherVariation und einer Unstetigkeitsstelle:f(x) ={ sin(30 x) exp(3 x) falls x < 13π/605 exp(−(x − 13π/60)) falls x ≥ 13π/60Mit dieser Funktion wollen wir das IntegralI =∫ 30f(x) dx . = 4.56673516941143bestimmen, siehe Abb. 1.11.Zur Genauigkeitssteuerung wird bei der Kronrod-Quadratur die Differenz zwischenden beiden Regeln in jedem Teilintervall genommen. Beide Regeln sindin den NAG-Bibliotheken realisiert und können mit relativen und absolutenGenauigkeitsschranken gesteuert werden.Als relative und absolute Genauigkeitsschranke haben wir δ = 1.0·10 −9 gewählt.Die Kronrod-Regel-Kombination ergibt folgendes Ergebnis:Gauß-Kronrod Fehler Fehlerschätzung4.5667351695951 1.84 · 10 −10 1.32 · 10 −9Funktion und adaptive Intervallunterteilung für I werden in Abb. 1.11 wiedergegeben.Von den 29 Punkten, welche die adaptive Intervallunterteilung für I erzeugt,liegen 21 im Intervall [0.67, 0.7], einer kleinen Umgebung der Unstetigkeitsstelle¯x . = 0.6806784. Die Ergebnisse sind sehr zufriedenstellend. Die Fehlerschätzungist nur sehr wenig größer als der wirkliche Fehler.146


1.19 Uneigentliche IntegraleIntegralberechnung in SoftwarepaketenAlle etablierten Softwarepakete können bestimmte Integrale näherungsweiseberechnen.Matlab nutzt in der Funktion quad eine adaptive Simpson-Regel, MuPADin numeric::quadrature eine adaptive Gauss-Formel ebenso wie Maple mitevalf(int(f(x),x=a..b)).Sowohl bei Maple als auch bei MuPAD können optional andere Verfahrengewählt werden.1.19 Uneigentliche IntegraleDie bisherige Integraldefinition ist nicht geeignet, wenn der Integrand Polstellenhat oder das Integrationsintervall unendlich lang ist. Beispiele hierfür sind:∫ ∞0e −x dx,∫ 101√ xdx,∫ 101x dx,∫∞11x dx.Man kann keine Ober- und Untersummen bilden! Dagegen können für R > 0und 1 > ε > 0 diese Summen gebildet werden:∫ R0e −x dx,∫ 1ε1√ xdx,∫ 1ε1x dx,∫R11x dx.PSfrag replacements8f(x)6042x12 3−2−4−6Abbildung 1.11: Integrand und Intervalleinteilung für I.147


1 Analysis und numerische AnalysisDaher die Idee: Erweitere die Integraldefinition auf solche ”uneigentlichen Integrale”wie folgt:∫ ∞0∫ 10+e −x dx = limR→∞∫ R0∫1ε↓01√ dx = lim xεe −x dx1√ xdx∫ ∞1∫ 10+1x1x∫ R1dx = limR→∞ x dx1dx = limε↓0∫ 1ε1x dxZu klären ist die Konvergenz unter Verwendung der bekannten Konvergenzaussagen:Beispiel 1.19.1Zu⇒∫ ∞0∫ R0∫ ∞0e −x dx :e −x dx = −e −x ∣ ∣∣∣Re −x dx = limR→∞0∫ R0= e 0 − e −R = 1 − e −R R→∞−−−−→ 1e −x dx = 1.Definition 1.19.1 Gegeben sei eine Funktion f : R → R mit D(f) ⊇ [a, b[und −∞ < a < b ≤ +∞. Für jedes c ∈ ]a, b[ sei f über [a, c] integrierbar. Mansagt, dass das uneigentliche Integral von f über [a, b[ konvergiert, wenn derGrenzwert∫b−af(x) dx := limc↑b∫acf(x) dxexistiert. Anderenfalls divergiert das uneigentliche Integral.Analog definiert man die Konvergenz oder Divergenz eines uneigentlichen Integralsbezüglich der unteren Grenze:wenn −∞ ≤ a < b < ∞.∫ ba+f(x) dx := limc↓a∫cbf(x) dx,Bemerkung 1.19.2 Ist f : [a, b] → R integrierbar im Sinne der ursprünglichenDefinition mittels Unter- und Obersummen, dann gilt:∫ ba∫f(x) dx = limε↓0b−εaf(x) dx,148


1.19 Uneigentliche Integraledenn∣∫ baf(x) dx −∫b−εa∣ ∣∣∣f(x) dx∣ =∫bb−εf(x) dx∣ ≤ M · εwobei M eine Schranke für f ist: |f(x)| ≤ M für alle x ∈ [a, b].Also ist das “uneigentliche” hier nichts Neues:∫b−∫ bf(x) dx = f(x) dx.aaEntsprechendes gilt für die untere Grenze. Wir werden daher meist b statt b−und a statt a+ als Integrationsgrenzen schreiben.Beispiel 1.19.2(i) Sofern möglich, bestimme∫1−01√ 1 − xdx.Für 0 < c < 1 gilt:∫ c01√ dx = −2 √ 1 − x1 − x∣c0= 2 − 2 √ 1 − c.Wegen limc↑1√ 1 − c = 0, folgt die Konvergenz:∫1−01√ 1 − xdx = 2.(ii) Sofern möglich, bestimme∫ 10+1x dx.∫ 1ε∣1 ∣∣∣1x dx = ln(x)Daher konvergiert das Integral nicht!ε= − ln(ε) ε↓0−−→ +∞149


1 Analysis und numerische Analysis(iii) Für welche α ∈ R existiertFall α = 1: siehe (ii)Fall α ≠ 1: Für ε > 0 gilt:∫ 1ε∫ 10+x −α dx = 11 − α x1−α ∣ ∣∣∣1x −α dx?ε= 1 (1 − ε1−α ) ε→0−−→ 11 − α1 − αwenn α < 1 ist. Divergenz liegt vor, wenn α > 1 ist.Insgesamt erhält man:∫ 101x α dx = ⎧⎨⎩1wenn α < 1 (Konvergenz)1 − α∞ wenn α ≥ 1 (Divergenz)(iv) Es gilt∫ ∞11x α dx = ⎧⎨⎩1wenn α > 1 (Konvergenz)α − 1∞ wenn α ≤ 1 (Divergenz)denn für c > 1 und α ≠ 1 gilt:Für α = 1 gilt:∫ c11x α dx = 1 ∣ ∣∣∣c1 − α x1−α∫ c1∣1 ∣∣∣cx dx = ln(x)11= 1α − 1 (1 − c1−α )= ln(c) c→∞ −−−→ ∞(v)(vi)∫ ∞cos(x) dx ist divergent, denn für c → ∞ hat0∫ c0keinen Grenzwert.cos(x) dx = sin(x)∣c0= sin(c)∫1−01√1 − x 2 dx = π 2(Konvergenz)150


1.19 Uneigentliche IntegraleDenn für ε > 0 folgt mit der Substitution x = sin(s), dx = cos(s) ds:∫1−ε0Vergleichstests:(i)(ii)∫ ∞amit∫ b0+arcsin(1−ε)∫1√ dx = 11 − x 2 cos(s)0cos(s)ds = arcsin(1 − ε) − 0ε→0−−→ π 2 .f(x) dx konvergiert, wenn es eine Konstante K ≥ 0 und α > 1 gibt|f(x)| ≤ K 1x α für 0 ≤ a ≤ x < ∞.g(x) dx konvergiert, wenn es eine Konstante K ≥ 0 und 0 ≤ α < 1gibt mitBeispiel 1.19.3 1.2.∫ ∞1sin(x)x∫ ∞1|g(x)| ≤ K 1x α für 0 < x ≤ b.cos(x)x 2dx existiert, denn=⇒∫ c1∫ ∞1sin(x)xsin(x)xdx existiert, da cos(x)x 2 ≤ 1 · 1x 2dx = − 1 x cos(x) ∣ ∣∣∣c=1∫ c−1(cos(1) − cos(c)cdx = cos(1) −∫ ∞1cos(x)x 2Die Differenz existiert, da das Integral über cos(x)x 2cos(x)x 2) ∫ c−dx.1dxcos(x)x 2gilt.dxnach 1. existiert.Ein besonders wichtiges Beispiel eines uneigentlichen Integrals ist die Darstellungder Gammafunktion:Γ(x) =∫ ∞0e −t t x−1 dt für x > 0Da hier bezüglich beider Integrationsgrenzen uneigentliche Integrale vorliegen,untersuchen wir die Fälle getrennt auf Konvergenz:Sei x > 0. Setze α := −x + 1 wenn x < 1, sonst α = 0. Also gilt 0 ≤ α < 1.151


1 Analysis und numerische Analysis(a)(b)∫ 10+e −t t x−1 dt konvergiert nach Vergleichstest, denn |e −t t x−1 | ≤ t −α für0 < t ≤ 1.∫ ∞1e −t t x−1 dt konvergiert, denn es gibt ein K ≥ 0 mit |e −t t x−1 | ≤ K 1 t 2t ≥ 1, da tx+1e t → 0 für t → ∞.Also existiert für x > 0:∫1Γ(x) := limδ↓0δe −t t x−1 dt + limR↑∞∫RFunktionalgleichung der Gammafunktion:1e −t t x−1 dt = limΓ(x + 1) = xΓ(x) wenn x > 0.∫RR↑∞1/RHerleitung: Für x > 0, R > 1 ergibt partielle Integration:∫ R1/Re −t t (x+1)−1 dt =∫ R1/Re −t t x dt = −e −t t x ∣ ∣∣∣R1/R+ x∫ R1/Re −t t x−1 dt.e −t t x−1 dtfürWegen: lim e −R R x = 0 und lim e −ε ε xR↑∞ ε↓0angegebene Funktionalgleichung.Spezieller Wert von Γ:= 0 folgt für R → ∞ hieraus die∫ ∞Γ(1) = e −t dt = 1.0Folgerung 1.19.3 Γ(n + 1) = n! für n = 0, 1, 2, . . .1.20 Komplexe Zahlen1.20.1 Definition und RechenregelnEs gibt quadratische Gleichungen, die keine reellen Lösungen haben:x 2 + 4x + 13 = 0, x 2 + 1 = 0.Grund: Für eine reelle Zahl x gilt stets x 2 ≥ 0.Wir erweitern daher unseren Zahlbereich um eine neue (nicht-reelle) Zahl i mitder Eigenschafti 2 = −1,152


1.20 Komplexe Zahlend.h. man kann schreiben: i = √ −1. Man nennt i die imaginäre Einheit. 14Komplexe Zahlen z lassen sich dann schreiben alsz = x + iy mit x, y ∈ R.Der Realteil x = Re(z) und der Imaginärteil y = Im(z) sind eindeutig durch zbestimmt. Daher:z 1 = z 2 ⇐⇒ Re(z 1 ) = Re(z 2 ) und Im(z 1 ) = Im(z 2 ).Speziell gilt: Re(0) = 0 und Im(0) = 0.Zahlen der Form z = iy mit y ∈ R, d.h. Re(z) = 0, heißen imaginär.Die Menge der komplexen Zahlen wird mit C bezeichnet. Man fasst die Mengeder reellen Zahlen als Teilmenge auf:R = {z ∈ C | Im(z) = 0}Die Zahlenmengen haben folgende Teilmengenbeziehungen:N Z Q R CDie Rechenregeln für komplexe Zahlen bei Addition (Subtraktion) und Multiplikation(Division) sind dieselben wie in Q und R. Man hat nur zusätzlich dieRegel i 2 = −1 zu berücksichtigen.Es gelten in C die Körperaxiome. Dazu gehören u.a. die Regeln der Assoziativität,der Kommutativität und das Distributivgesetz.Addition: (x + iy) + (u + iv) = (x + u) + i(y + v)Subtraktion: (x + iy) − (u + iv) = (x − u) + i(y − v)Multiplikation:Beispiel 1.20.1(x + iy) · (u + iv) = (xu − yv) + i(xv + yu)1. (3 + i) + (2 − 2i) = 5 − i2. π + (1 + √ 2 i) = (π + 1) + √ 2 i3. (1 − i)(1 + i) = 1 2 − i 2 = 24. (3 + i)(−4 + 2i) = 3 · (−4) + 3 · 2i − 4i + i · 2i = −14 + 2i5. x 2 + 2x + 10 = (x + 1) 2 + 9 = (x + 1) 2 − (3i) 2Damit sind die Nullstellen bei x 1/2 = −1 ± 3i.Eine Operation auf C, die in den reellen Zahlen keine Entsprechung hat, istdie komplexe Konjugation z ↦→ ¯z mit ¯z = x − yi für z = x + iy. Man hat¯zz = (x − yi)(x + yi) = x 2 + y 2 > 0, wenn z ≠ 0.14 Manchmal wird auch der Buchstabe j für die imaginäre Einheit benutzt.153


1 Analysis und numerische AnalysisFolgerung 1.20.1 z, w ∈ C, z ≠ 0 und zw = 0 ⇒ w = 0Denn für z = x + iy und w = u + iv gilt:0 = ¯zzw = (x 2 + y 2 )(u + iv)⇒ (x 2 + y 2 )u = 0 und (x 2 + y 2 )v = 0⇒ u = 0 = v ⇔ w = 0Folgerung 1.20.2 Für z ≠ 0 gilt:Beispiel 1.20.21z = ¯zz¯z = 1(x 2 + y 2 ) ¯z bzw. 1x + iy = x − iyx 2 + y 213 + 4i = 3 − 4i3 2 + 4 2 = 325 − 4 25 iDurch diese und ähnliche Rechnungen bestätigt man, dass die Körperaxiomein C gelten (vgl. 1.1). Rechenregeln im Zusammenhang mit der Konjugation:Man folgert dann:Für z = x + yi heißt die reelle Zahlder Betrag von z (oder seine Länge).z 1 + z 2 = z 1 + z 2 ,z 1 z 2 = z 1 z 2 ,z = zz + ¯z = 2 Re(z) bzw. z − ¯z = 2 Im(z).|z| = √ z¯z = √ x 2 + y 2 ≥ 0Für den Betrag gelten folgende Rechenregeln:|z| ≥ 0|z| = 0 ⇔ z = 0|z w| = |z||w||z + w| ≤ |z| + |w||¯z| = |z||z| ≥ | Re(z)|, | Im(z)|Die Herleitung der Dreiecksungleichung:|z + w| 2 = (z + w)(z + w) = (z + w)(¯z + ¯w)= z¯z + z ¯w + w¯z + w ¯w= |z| 2 + (z ¯w + z ¯w) + |w| 2= |z| 2 + 2 Re(z ¯w) + |w| 2≤ |z| 2 + 2|z| · |w| + |w| 2= (|z| + |w|) 2154


1.20 Komplexe ZahlenKomplexe Zahlen z = x + iy und w = u + iv können als Punkte in einerZahlenebene interpretiert werden.3Im21z = x + i yRe−3−2−1123−1−2−3w = u + i vEin großer Unterschied zwischen C und R ist die Tatsache, dass man in C Zahlennicht der Größe nach vergleichen kann. Es gibt keine (brauchbare) Anordung< auf C. Daher sind Vergleiche wie ”3 + 4i < 4 − 3i” oder ”1 < i”sinnlos!Korrekt sind dagegenRe(z) ≤ |z| oder 5 = |3 + 4i| > |1 + i| = √ 2,da hier reelle Zahlen verglichen werden!Die Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division geltendagegen mit denselben Grundgesetzen (Körperaxiome) wie in R. Man mussnur beachten, dass i 2 = −1 gilt. Auch das Potenzieren von z ∈ C geschiehtanalog zum Potenzieren in R als mehrfaches Multiplizieren:z n =n-mal{ }} {z · z · · · zi 83 = (i 2 ) 41 · i = (−1) 41 · i = −i.1.20.2 Polarkoordinatendarstellung und ihre AnwendungEine komplexe Zahl z = x + iy mit x, y ∈ R ist in Komponenten- oder Normaldarstellung.Dies entspricht x und y als Koordinaten im rechtwinkligenkartesischen System.Eine andere wichtige Form der Darstellung komplexer Zahlen ist die trigonometrischeDarstellung in Polarkoordinaten:155


1 Analysis und numerische AnalysisImyirz = x + iyϕ1xReEs ist z = r(cos(ϕ) + i sin(ϕ)), wobei r ≥ 0 und ϕ ∈ R gilt. Man liest weiterab: z = x + iy mit x = r cos(ϕ) und y = r sin(ϕ).Die komplexen Zahlen vom Betrag 1 füllen die gesamte Einheitskreislinie aus:|z| = 1 ⇔ z = cos(ϕ) + i sin(ϕ), 0 ≤ ϕ < 2πdenn |z| 2 = cos 2 (ϕ) + sin 2 (ϕ) = 1.r = |z| ist der Abstand von z zum Nullpunkt. Ist z ≠ 0, dann ist z rkomplexe Zahl vom Betrag 1, daher:zrWegen der 2π-Periodizität genügt= cos(ϕ) + i sin(ϕ).eineals Winkelbereich.0 ≤ ϕ < 2π oder − π < ϕ ≤ πMan nennt ϕ den Winkel oder das Argument von z.Von der Normaldarstellung in die trigonometrische Darstellung gelangt manwie folgt:z = x + iy ≠ 0r = |z| = √ x 2 + y 2( yϕ = arctan , denn:x)r sin(ϕ)r cos(ϕ) = tan(ϕ)( x)ϕ = arccos oder cos(ϕ) = x r rDa die Umkehrfunktion der trigonometrischen Funktionen in Rechnern meistensnur die sog. Hauptwerte, das sind Werte aus dem Intervall [−π/2, π/2],156


1.20 Komplexe Zahlenzurückgeben, muss man u. U. den per Rechner ermittelten Wert noch korrigieren!Außerdem wird der Wert x = 0 unterschiedlich gehandhabt. Matlabgibt für s = atan(y/x) mit y=1; x=0 die Warnung Divide by zero aus, abertrotzdem den Wert s = 1.5708, das ist die Kurzform von π/2. Matlab hataber für den allgemeinen Fall die Funktion s = atan2(y,x), die auch Wertex = 0 ohne Warnung korrekt behandelt.Beispiel 1.20.31. Die Zahl z = 1 − i ∈ C liegt im 4. Quadranten der Ebene. Für sie gilt:2.|z| = √ 1 2 + (−1) 2 = √ 2(ϕ = arctan − 1 )= − π 1 4z = √ (2 cos ( − π ) ( π ) )+ i sin −44z = 2 ( cos(30 ◦ ) + i sin(30 ◦ ) ) = √ 3 + i.Die Addition komplexer Zahlen wird geometrisch als Vektoraddition interpretiert.Bei Verwendung von Polarkoordinaten besitzt die Multiplikation mit komplexenZahlen ≠ 0 eine wichtige geometrische Interpretation: Sie entsprichteiner Drehstreckung. Zum Nachweis seien gegeben:z = x + iy = r ( cos(ϕ) + i sin(ϕ) )w = u + iv = ρ ( cos(ψ) + i sin(ψ) ) .Dann ist wz in Normalform gegeben durchund in trigonometrischer Form durchwz = (xu − yv) + i(xv + yu)wz = ρ r ( cos(ϕ + ψ) + i sin(ϕ + ψ) ) .Wir bestätigen dies mit Hilfe der Additonstheoreme. Zur Vereinfachung setzeρ = r = 1. Dann gilt in der Tat:Re(wz) = cos(ϕ) · cos(ψ) − sin(ϕ) · sin(ψ) = cos(ϕ + ψ),Im(wz) = cos(ϕ) · sin(ψ) + sin(ϕ) · cos(ψ) = sin(ϕ + ψ),wz = cos(ϕ + ψ) + i sin(ϕ + ψ).Die Abbildung C → C, z ↦→ wz mit gegebenem w = ρ(cos(ψ) + i sin(ψ))bewirktim Fall |w| = 1 eine Drehung um ψ,im Fall |w| > 1 eine Drehung um ψ und eine Streckung um ρ = |w| > 1,im Fall 0 < ρ < 1 eine Drehung um ψ und eine Stauchung um ρ.157


¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡¡ ¡ ¡ ¡1 Analysis und numerische AnalysisIm¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¤¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢ ¢£ £ £ £ £ £ £ £¢¡ ¡ ¡ ¡ReDrehstreckung um 90 ◦ mit Faktor 2Beispiel 1.20.4 Gegenüber z ist iz um 90 ◦ gedreht.Hier ist w = i = cos ( π2)+ i sin( π2).Quadrieren von z = r ( cos(ϕ) + i sin(ϕ) ) ergibt z 2 = r 2( cos(2ϕ) + i sin(2ϕ) ) .Im Falle höherer Potenzen erhält man die Formel von Moivre:z n = r n( cos(nϕ) + i sin(nϕ) ) .Der Winkel ver-n-facht sich beim Potenzieren. Der Betrag wird in die n-tePotenz erhoben.Beispiel 1.20.5 Zu z = √ 3 + i = 2 ( cos(30 ◦ ) + i sin(30 ◦ ) ) soll z 6 bestimmtwerden:z 6 = 2 6( cos(180 ◦ ) + i sin(180 ◦ ) ) = −2 6 = −64.z 5z 4Imz 3z 6z 2z 1RePotenzen der Zahl z = √ 3 + iNun können wir auch Quadratwurzeln und (allgemeiner) n-te Wurzeln auseiner komplexen Zahl w untersuchen. Nach Definition erfüllen sie die Gleichungenz 2 = w bzw. z n = w.Man möchte schreiben z = √ w bzw. z = n√ w. Es gibt stets genau 2 bzw. nWurzeln aus w, wenn w ≠ 0. Dies ist anders als im Reellen wo es höchstens158


1.20 Komplexe Zahlen2 Wurzeln gibt. Bevor wir hierauf eingehen, beobachten wir wie man in derPolardarstellung eine Wurzel findet:w = ρ ( cos(ψ) + i sin(ψ) ) (ρ > 0)z = n√ w = n√ ( ( ψ) ( ψ))ρ cos + i sinn nBeispiel 1.20.6d.h. z = r ( cos(ϕ) + i sin(ϕ) ) mit r = n√ ρ und ϕ = ψ n1. Zu −1 = 1 · ( cos(π) + i sin(π) ) erhält man als eine der Quadratwurzeln√ −1 =√1(cos(π2 ) + i sin( π 2 )) = i. Die weitere Wurzel ist −i.2. √ i = cos( π 4 ) + i sin( π 4 ) = 1 √2+ 1 √2i = 1 √2(1 + i).3. √ −2i = √ 2 ( cos( 3π 4 ) + i sin( 3π 4 )) = −1 + i.Was ist n√ 1? Zur Beantwortung dieser Frage bestimme man alle n-ten Wurzelnaus 1. Diese Wurzeln z heißen n-te Einheitswurzeln. Sie liegen alle auf demEinheitskreis und bilden ein regelmäßiges n-Eck, dessen eine Ecke bei 1 = 1+0iliegt.z n = 1 ⇔ ( r cos(ϕ) + ir sin(ϕ) ) n = 1⇔ r n (cos(nϕ) + i sin(nϕ)) = 1⇔ r = 1 und n ϕ ∈ 2πZ⇔ r = 1 und ϕ = 2πknmit k ∈ Z( 2πk) ( 2πk)z n = 1 ⇔ z = cos + i sin = ξ knnDies gilt für alle k ∈ {0, 1, . . . , n − 1}.Beispiel 1.20.7 Die 2-ten Einheitswurzeln sind: 1, −1Die 3-ten Einheitswurzeln sind: 1, − 1 √2 + i 32 , − 1 √2 − i 32ImImz31z21z22Rez33Rez32159


1 Analysis und numerische AnalysisEine Probe:(− 1 √3) 3 ( 1 3 (2 + i = − 1 + i2 2) √ ) 33= 1 [(−1) 3 + 3(−1) 2√ 3 · i + 3(−1)( √ 3i) 2 + (i √ 3) 3]8= 1 [− 1 + 3 √ 3i + 9 − i( √ 3) 3]8= 1Sind ξ 0 , ξ 1 , . . . , ξ n−1 die verschiedenen n-ten Einheitswurzeln und ist w ≠ 0,dann sind alle n-ten Wurzeln von w von der Formz, zξ 1 , . . . , zξ n−1wobei z (irgend-)eine n-te Wurzel von w ist.Beispiel 1.20.8 Alle 3-ten Wurzeln aus w = −i:Zunächst wird −i in Polarkoordinaten umgewandelt: −i = cos ( 32 π) +i sin ( 32 π) .z = i ist eine dritte Wurzel, denn i 3 = −i. Alle 3-ten Wurzeln aus −i sinddann:√3z 0 = i, z 1 = −2 − i √32 , z 2 =2 − i 2Die allgemeine Vorgehensweise bei der Bestimmung aller n-ten Wurzeln auseiner Zahl w ∈ C mit w ≠ 0:1. Trigonometrische Darstellung von w = ρ(cos ψ + i sin ψ), ρ > 0 erstellen.2. Eine Wurzel z 0 = n√ ()ρ cos ψ n + i sin ψ nbestimmen.3. n-ten Einheitswurzeln ξ 0 = 1, ξ 1 , . . . , ξ n−1 nutzen:z k = ξ k z 0 für k = 0, 1, . . . , n − 1 sind alle Wurzeln.Quadratische Gleichungenz 2 + pz + q = 0besitzen genau zwei Lösungen, die mit der pq-Formel erhalten werden:z = − p 2 ± √p 2Fundamentalsatz der Algebra. Ein Polynom4 − qf(z) = a n z n + · · · + a 1 z + a 0vom Grade n ≥ 1 (d.h. a n ≠ 0) mit Koeffizienten a 0 , a 1 , . . . , a n hat eine Linearfaktorzerlegungf(z) = a n (z − z 1 ) · · · (z − z n ).Die Zahlen z 1 , . . . , z n ∈ C sind Nullstellen von f(z) = 0. (Eventuell tritt eineNullstelle mehrfach auf.)160


1.21 Die komplexe ExponentialfunktionBeispiel 1.20.9 1. z 2 + 1 = (z + i)(z − i). Dieses Beispiel zeigt, dass derFundamentalsatz nicht über R gilt.2. z n − 1 = (z − ξ 0 )(z − ξ 1 ) · · · (z − ξ n−1 ) (Einheitswurzeln!)Z.B. z 2 − 1 = (z − 1)(z ( + 1)bzw. z 3 − 1 = (z − 1) z + 1 √ ) (2 + i 323. z n = (z − 0) . . . (z − 0).z + 1 2 − i√ 324. z 2 + 2z + 1 = (z + 1) 2 mit der doppelten Nullstelle z = −1.5. z 4 + 4 = (z − 1 − i)(z − 1 + i)(z + 1 − i)(z + 1 + i).Nullstellen:).Im1−11Re−11.21 Die komplexe Exponentialfunktion1.21.1 Übertragung bekannter Begriffe nach CFür eine Folge komplexer Zahlen(z n ) n∈N ⊆ Cdefiniert man die Konvergenz wie im Reellen:Äquivalent hiermit ist:lim z n = z :⇔ lim |z n − z| = 0n→∞ n→∞lim Re(z n) = Re(z) undn→∞lim Im(z n) = Im(z)n→∞In dieser Form wird die Konvergenz komplexer Zahlenfolgen auf die Konvergenzzweier reeller Zahlenfolgen zurückgeführt.Beispiel 1.21.1((i) lim 1n→∞ n + i) 1= limn→∞ n + lim i = i.n→∞(ii) ( )i n nn∈N konvergiert gegen 0. 161


1 Analysis und numerische Analysis(iii) |z| < 1 ⇒ limn→∞ zn = 0.(iv) Geometrische Reihe:∞∑z k = limk=0n∑n→∞k=0z k = 11 − zwenn |z| < 1.Die Konvergenz von Reihen ist wie üblich über die Konvergenz der Teilsummenfolgedefiniert. Die Konjugation z ↦→ ¯z ist mit der Reihe verträglich.∞∑a k = limk=0n→∞n∑a k = ∑k=0 k∑a k = ∑k kRe(a k ) + i ∑ ka kIm(a k )Die bekanntesten Konvergenzkriterien wie Quotienten- und Wurzelkriteriumsind ebenfalls für komplexe Reihen gültig, z.B.limn→∞∣ a k+1 ∣∣∣∣ = 0 =⇒a k∞∑a k konvergiert (a k ≠ 0).k=0Dagegen besitzt das Leibniz’sche Kriterium für alternierende Reihen keine Verallgemeinerungvom Reellen ins Komplexe 15 .1.21.2 Die ExponentialfunktionFür jedes z ∈ C konvergiert die Reiheexp(z) :=∞∑n=01n! zn .Für z = 0 ist dies klar. Für z ≠ 0 setzen wir a n = 1 n! zn und verwenden dasQuotientenkriterium:∣ a n+1 ∣∣∣ ∣ =z n+1a n∣(n + 1)! · n! ∣ ∣∣∣z n =|z| n→∞−−−→ 0n + 1Wie im Reellen heißt die Reihe Exponentialreihe. Die durchexp : C → C, z ↦→ e z = exp(z) =definierte Funktion heißt komplexe Exponentialfunktion. Diese hat folgende Eigenschaften:(a) e 0 = 115 Warum ist dem so?∞∑n=0z nn!162


1.21 Die komplexe Exponentialfunktion(b) e z+w = e z e w(c) e z = e¯zfür alle z, w ∈ C(a) und (b) sind vertraute Aussagen. Begründung für (c):e z =∞∑k=01n! zn =∞∑k=01n! zn =∞∑n=01n! (¯z)n = e¯z .Ist x = z ∈ R, d.h. z = ¯z, dann gilt e z = e z ∈ R und e z stimmt mit derbekannten reellen e-Funktion überein.1.21.3 Verhalten für imaginäre Stellen und AnwendungenWas ist e ix für rein imaginäre Zahlen ix?Als erste Antwort erhält man: e ix ist eine komplexe Zahl vom Betrag |e ix | = 1,denn für x ∈ R gilt:Satz 1.21.1 (Euler)Beweis.e ix = e ix = e −ix = 1e ix=⇒ |e ix | 2 = 1, da z z = |z| 2 .e ix = cos(x) + i sin(x) für alle x ∈ R.∞∑e ix 1=n! (ix)n = 1 + (ix) + 1 2! (ix)2 + 1 3! (ix)3 + · · ·n=0[= 1 − 1 2! x2 + 1 4! x4 − 1 ]6! x6 + − · · ·[+ i x − 1 3! x3 + 1 5! x5 − 1 ]7! x7 + − · · ·= cos(x) + i · sin(x) (Taylorreihe)Speziell für x = π erhält man e iπ = −1, d.h.e iπ + 1 = 0.Dies ist die komprimierteste Verknüpfung der wichtigsten Zahlen der <strong>Mathematik</strong>:0, 1, e, π und i.Man gelangt zu folgender trigonometrischer Darstellung von e z für z = x + iy:e z = e x e iy = e x( cos(y) + i sin(y) ) 163


1 Analysis und numerische AnalysisDaher ergibt sich für z ≠ 0 die trigonometrische Darstellungmit dem Betragund dem Argumentϕ = arctanz = r e iϕr = |z| > 0( Im(z)) ( Re(z))= arccos .Re(z)|z|Für die Multiplikation zweier Zahlen z k = r k e iϕ kmit k ∈ {1, 2} gilt:z 1 z 2 = r 1 r 2 e i(ϕ 1+ϕ 2 ) .Das Argument ist nur bis auf Vielfache von 2π eindeutig, denn die e-Funktionist 2πi-periodisch.Beispiel 1.21.2 Beispiele und Formeln (x reell):1. e iπ/2 = i,2. e iπ = −1,3. e z+2πi = e z für alle z ∈ C,4.(e 1+ 2 3 πi = e 1 · e 2 3 πi = ecos ( 2π3) (2π ) )+ i sin = − e 3 2 + ie√ 32 ,5. Die n-ten Einheitswurzeln kann man nun schreiben alse k 2iπn , k = 0, 1, . . . , n − 1, oder:1 = e 0 2iπn1, e 2πin, e1 2iπn, e2 2iπn , . . . , e(n−1) 2iπn4πi(n−1)2iπ, e n , . . . , e noder:6. Re(e ix ) = cos(x)Im(e ix ) = sin(x)7. sin(x) =2i( 1 e ix − e −ix) .8. cos(x) = 1 (2 e ix + e −ix)9. |e ix | = 1Die Additionstheoreme für cos und sin:cos(α + β) = cos(α) cos(β) − sin(α) sin(β)sin(α + β) = sin(α) cos(β) + sin(β) cos(α)164


1.21 Die komplexe Exponentialfunktionfolgen durch Vergleich aus der einfachen FormeldennBeispiel 1.21.3e i(α+β) = e iα · e iβ ,e i(α+β) = cos(α + β) + i sin(α + β)e iα · e iβ = ( cos(α) + i sin(α) ) · ( cos(β) + i sin(β) )= ( cos(α) cos(β) − sin(α) sin(β) )+ i ( sin(α) cos(β) + sin(β) cos(α) ) .cos(4x) = Re ( e i4x) = Re ( e ix) 4 ( ) 4= Re cos(x) + i sin(x)[= Re cos 4 (x) + 4i cos 3 (x) · sin(x) + 6i 2 cos 2 (x) sin 2 (x)]+ 4i 3 cos(x) · sin 3 (x) + i 4 sin 4 (x)= cos 4 (x) − 6 cos 2 (x) sin 2 (x) + sin 4 (x).165


1 Analysis und numerische AnalysisGraph der komplexen ExponentialfunktionDer grafische Verlauf der komplexen Exponentialfunktion – aufgeteilt in RealundImaginärteil:33Re`(exp(z)´1−1Im`exp(z)´1−1−3−3151510110150.60.850.60.80.40.4Im(z)−50.2Re(z)Im(z)−50.2Re(z)166


1.22 Komplexe Funktionen1.22 Komplexe Funktionen1.22.1 WiederholungWir wiederholen zunächst kurz wichtige Begriffe aus Abschnitt 1.20.Komplexe Zahlen z ∈ C haben eine eindeutige Normal- oder Komponentendarstellungz = x + iymit reellen Zahlen x und y. x = Re(z) heißt Realteil von z und y = Im(z)heißt Imaginärteil von z. Ferner ist i 2 = −1 zu beachten.Zu einer komplexen Zahl z = x + iy definiert man die konjugierte Zahl z undden Betrag |z| durchz = x − iy, |z| = √ zz = √ x 2 + y 2 .Die trigonometrische Darstellung (Darstellung in Polarform) lautet:z = r ( cos(ϕ) + i sin(ϕ) ) = re iϕ ,( y( x)wobei r = |z| der Betrag und ϕ = arctan = arccos das Argumentx)rvon z ist. Für die korrekte Bestimmung des Argumentes ist auf Definitionsbereicheund Vorzeichen zu achten!Es wird die bemerkenswerte Euler’sche Formel verwendet:e it = cos(t) + i sin(t).Man erinnere sich, dass die e-Funktion exp : C → C mittels einer Reihe definiertist,∞∑exp(z) = e z 1=k! zk ,die für alle z ∈ C absolut konvergiert. Charakteristisch für exp ist das Potenzgesetz:e z+w = e z e w mit e 0 = 1.Viele bekannte Formeln – beispielsweise die Additionstheoreme für sin und cos– folgen hieraus.Man veranschaulicht sich C als Zahlenebene, welche die reellen Zahlen R alsx-Achse (reelle Achse) enthält 16 .Die Addition in C entspricht geometrisch der Vektoraddition, die Multiplikationmit w ≠ 0 entspricht einer Drehstreckung 16 . Im Falle |w| = 1 liegt nur eineDrehung vor.Die Rechengesetze (Körperaxiome) für die Grundrechenarten sind in C dieselbenwie in R oder Q. Da man zwei komplexe Zahlen nicht sinnvoll mittels”≤” oder ”


1 Analysis und numerische Analysisauf reelle Zahlen. Ein Vorteil von C gegenüber R besteht darin, dass jedesnicht-konstante Polynom eine Nullstelle hat, d.h. die Gleichungp(z) = a n z n + · · · + a 2 z 2 + a 1 z + a 0 = 0 mit a n ≠ 0, n > 0besitzt mindestens eine Lösung z = z 1 . Dies impliziert eine vollständige Zerlegungin Linearfaktorenp(z) = a n (z − z 1 ) · . . . · (z − z n )(Fundamentalsatz der Algebra), denn nach Division von p(z) durch den Faktor(z − z 1 ) erhält man ein Polynom q(z) mit einem Grad kleiner als n:p(z) = (z − z 1 )q(z) mit q(z) = b n−1 z n−1 + . . . + b 0 .1.22.2 Das Horner-SchemaDas Horner Schema dient sowohl der Berechnung von Werten eines Polynomsals auch zur Abspaltung eines Linearfaktors per Polynomdivision.Die Auswertung eines Polynoms p(z) an einer Stelle z 0 durch das Horner-Schema basiert auf folgender Umschreibung des Polynoms:p(z) = a n z n + a n−1 z n−1 + . . . + a 1 z + a 0( ( ( ) ) )= · · · (an z) + a n−1 z + . . . + a2 z + a1 z + a 0In tabellarischer Form sieht das wie folgt aus:a n a n−1 a n−z · · · a 1 a 0+ z 0 c n−1 z 0 c 1 z 0 c 0❄z 0 · c ✒ ❄n−1 c ✒ n−2 · · · c❄ ✒0 p(z 0 )Beispiel 1.22.1 Es soll für p(z) = z 4 − 1 der Wert an der Stelle z = 2iermittelt werden:1 0 0 0 −1+ 2i −4 −8i 162i · 1 2i −4 −8i 15Eine Polynomdivision durch einen Linearfaktor (z − z 1 ) führt man analogdurch. Zur Herleitung stellt man zunächst fest, dass wegen p(z 1 ) = 0 gilt:p(z) = (z − z 1 )q(z) + p(z 1 ) mit q(z) = b n−1 z n−1 + . . . + b 0Multipliziert man das Produkt aus, so erhält man:a n z n + . . . + a 1 z + a 0= b n−1 z n − b n−1 z n−1 z 1 + b n−2 z n−1 − b n−2 z n−2 z 1 + . . . + b 0 z − b 0 z 1 + p(z 1 )= b n−1 z n + (b n−2 − b n−1 z 1 )z n−1 + . . . + (b 0 − b 1 z 1 )z + (−b 0 z 1 + p(z 1 ))168


1.22 Komplexe FunktionenDurch einen Koeffizientenvergleich erhält man nun:a 0 = p(z 1 ) − b 0 z 1 =⇒ p(z 1 ) = a 0 + b 0 z 1a 1 = b 0 − b 1 z 1 =⇒ b 0 = a 1 + b 1 z 1.a n−1 = b n−2 − b n−1 z 1 =⇒ b n−2 = a n−1 + b n−1 z 1a n = b n−1 =⇒ b n−1 = a n−1Diese rekursive Berechnung führt man bequem (und rechnereffizient) mit demHorner-Schema durch:a n a n−1 a n−z · · · a 1 a 0+ z 1 b n−1 z 1 b 1 z 1 b 0❄z 1 · b ✒ ❄n−1 b ✒ n−2 · · · b❄ ✒0 p(z 1 )Beispiel 1.22.2 p(z) = z 4 − 1 = (z − i)q(z). Nun wird q(z) mit dem Horner-Schema bestimmt:1 0 0 0 −1+ i −1 −i 1i · 1 i −1 −i 0Also gilt: q(z) = z 3 + iz 2 − z − i und p(i) = 0.1.22.3 Potenzreihensin und cos können über die Euler’sche Formel durch die e-Funktion ausgedrücktwerden und haben daher auch Reihendarstellungen:cos(x) = 1 2 (eix + e −ix ) = Re(e ix ) =sin(x) = 1 2i (eix − e −ix ) = Im(e ix ) =∞∑j=0∞∑j=0(−1) j(2j)! x2j(−1) j(2j + 1)! x2j+1Die Reihen konvergieren auch, wenn man x ∈ R durch z ∈ C ersetzt. So erhältman Fortsetzungen von cos und sin zu Funktionencos, sin : C → C.Die Hyperbelfunktionen stehen dann zu den trigonometrischen Funktionen infolgender Beziehung:cosh(x) = cos(ix),sinh(x) = −i sin(ix).169


1 Analysis und numerische AnalysisDementsprechend definiert man auch cosh und sinh für komplexes Argumentund erhält konvergente Reihendarstellungen mit Entwicklungspunkt z 0 = 0 infolgender allgemeiner Form:f(z) =∞∑a k z k .k=0Solche Reihen heißen Potenzreihen. Man lässt dabei auch Entwicklungspunktez 0 ∈ C zu, die verschieden von 0 sein können. Die allgemeine Form einerPotenzreihe lautet in diesem Fallf(z) =∞∑a k (z − z 0 ) k (1.40)k=0f(z) ist dann eine durch eine Potenzreihe um den Entwicklungspunkt z 0 dargestellteFunktion. Die Potenzreihe konvergiert immer für z = z 0 . Unter welchenBedingungen an die Koeffizienten a k konvergiert die Reihe nicht nur in z = z 0 ?Hierauf geben das Quotienten- und das Wurzelkriterium für Reihen Auskunft.Diese gelten auch für Reihen über C statt über R. Wir erinnern in diesemZusammenhang an Abschnitt 1.6 Unendliche Reihen und Abschnitt 1.17.1 Potenzreihen,dort im Zusammenhang mit den Taylorreihen.Anwendung des Quotientenkriteriums:Sei z ≠ z 0 und es gelte a k ≠ 0 (für alle k). Betrachte die Quotientenq k =a k+1 (z − z 0 ) k+1 ∣ ∣ ∣∣∣ ∣ a k (z − z 0 ) k =a k+1 ∣∣∣∣ · |z − z 0 |a kFalls q := lim q k > 1 ist, divergiert die Reihe.Falls lim q k < 1 ist, konvergiert die Reihe.Hieraus folgt: Wenn∣1R = lima k+1 ∣∣∣k→∞∣ < +∞,a kdann konvergiert (1.40) für |z − z 0 | < R und divergiert für |z − z 0 | > R.Entsprechende Überlegungen stellt man mit dem Wurzelkriterium an.Satz 1.22.1 Zu (a k ) ∞ k=0⊂ C existiert genau ein 0 ≤ R ≤ +∞, so dass (1.40)für alle z ∈ C mit |z − z 0 | < R konvergiert und für alle |z − z 0 | > R divergiert.R heißt Konvergenzradius der Potenzreihe. Es giltR −1 = 1 ∣R = lima k+1 ∣∣∣ √kk→∞∣ = lim |ak |,a k k→∞falls die Grenzwerte existieren. Ist der Grenzwert 0, so setzt man R = ∞.170


1.22 Komplexe FunktionenEine Potenzreihe (1.40) heißt konvergent, wenn ihr Konvergenzradius R > 0ist. Dann ist f(z) im Konvergenzkreiseine stetige Funktion.K = {z ∈ C | |z − z 0 | < R}Solche Funktionen haben viele weitere Eigenschaften; sie heißen analytisch oderauch holomorph (Funktionentheorie). Die Reihen für exp, sin, cos, sinh undcosh haben alle den Konvergenzradius R = +∞. Der Tangens tan besitzteine Potenzreihendarstellung um 0, welche wegen der Polstellen bei ± π 2denKonvergenzradius R = π 2 besitzt.Beispiel 1.22.3 Weitere Beispiele für Potenzreihen und ihre Radien:∞∑(i) Die geometrische Reihe z k = 1 hat den Konvergenzradius R = 1.1 − zk=0(ii) Die Funktion z ↦→ 1 z besitzt um den Entwicklungspunkt z 0 = 1 die Potenzreihe(−1) k (z − 1) k mit Konvergenzradius R =∞∑1.k=0(iii) arctan(z) =∞∑k=0(−1) k z2k+12k + 1√2k+1Für diese Reihe ist R = 1, denn 1 R = lim 1k→∞2k+1 = 1.( π)Wegen tan = 1, kann man π als Reihe darstellen und damit den4 4Wert einer Reihe konkret angeben:π∞ 4 = arctan(1) = ∑(−1) k 12k + 1Man kann zeigen, dass eine konvergente Potenzreihe eine in ihrem Konvergenzkreisdifferenzierbare Funktion darstellt und die Reihe gliedweise differenziert 17werden kann. Da wir komplexe Differentiation noch nicht betrachtet haben, beschränkenwir uns auf reelle Definitionsbereiche:∞∑f(x) = a k (x − x 0 ) k mit x, x 0 ∈ R, a k ∈ C (1.41)k=0Das Konvergenzintervall hat dann den Aufbau: ]x 0 − R, x 0 + R [.Die Ableitung einer Potenzreihe ist selbst wieder eine Potenzreihe mitf ′ (x) =∞∑a k k(x − x 0 ) k−1 =k=1k=0∞∑a k+1 (k + 1)(x − x 0 ) k17 Analog kann man zeigen, dass sich eine konvergente Potenzreihe in ihrem Konvergenzkreisgliedweise integrieren läßt und man so eine Stammfunktion der durch die Potenzreihegegebenen Funktion erhält.k=0171


1 Analysis und numerische AnalysisDurch rekursive Anwendung folgt:f(x 0 ) = a 0 , f ′ (x 0 ) = a 1 , f ′′ (x 0 ) = 2 a 2 = 2! · a 2 , . . . , f (n) (x 0 ) = n! · a nSatz 1.22.2 Besitzt f(x) in ]x 0 −R, x 0 +R [ eine Darstellung als Potenzreihe,dann ist f in diesem Intervall beliebig oft differenzierbar und die Potenzreiheist die Taylor-Reihe:f(x) =∞∑k=0f (k) (x 0 )(x − x 0 ) k (|x − x 0 | < R).k!Bemerkung 1.22.3 Es gibt C ∞ -Funktionen, die nicht als Potenz-/Taylor-Reihe darstellbar sind.{0 für x ≤ 0,Ein Beispiel hierfür ist die Funktion f(x) =e −1/x für x > 0.Wir wollen nun auch eine Definition des natürlichen Logarithmus ln für einkomplexes Argument angeben. Im Reellen haben wir y = ln(x) als Umkehrfunktionder e-Funktion kennengelernt:e ln(x) = x für x > 0,ln(e x ) = x für x ∈ R.Gesucht ist ln(z) für z ∈ C mit e ln(z) = z. Für 0 ≠ z ∈ C haben wir dieDarstellung in PolarformDaher setzen wirz = re iϕ = e ln(r) · e iϕ = e ln(r)+iϕ mit r = |z|.ln(z) = ln ( |z| ) + i · ϕ.Das Argument ϕ von z ist mehrdeutig; durch die Anforderung ϕ = 0 für reelleZahlen z > 0 und eine Stetigkeitsforderung wird ϕ in der geschlitzten EbeneC\ ] − ∞, 0 ] festgelegt.\] − ∞,0]0 1172


1.22 Komplexe FunktionenDie Logarithmus-Funktion ln bildet diese geschlitzte Ebene auf den StreifenR + i·] − π, π [ ab:+π+ i·] − π, π ]0 1−πBeispiel 1.22.4 Aus i = 1 · e i π 2 ergibt sich ln(i) = ln(1) + i · π2 = i · π2 .Wegen 1 + i = √ (2 cos ( π ) (π ) )+ i sin erhält man ln(1 + i) = 1 4 42 ln(2) + iπ 4 .In der Kreisscheibe |z − 1| < 1 besitzt der Logarithmus eine Potenzreihenentwicklung:oderln(z) =ln(1 + z) =∞∑k=0∞∑k=0(−1) k(z − 1)k+1k + 1(−1) kk + 1 zk+1 = z − z22 + z33 − z44 ± · · · . 173

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!