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Eva Straub - Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch ...

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1<br />

„Medizinische und berufliche Rehabilitation für Menschen mit<br />

seelischer Erkrankung in Herzogsägmühle“ 34<br />

Trude Thalheimer-Hein, Dipl.- Sozialpädagogin (FH), Leiterin <strong>der</strong> Berufsvorbereitenden<br />

Bildungsmaßnahmen<br />

„Sozialer Dschungel und die <strong>Angehörigen</strong> mittendrin“ 41<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>,<br />

Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

„Und wer soll das bezahlen? Hilfen für <strong>psychisch</strong> kranke<br />

Menschen nach dem SGB II und SGB XII“ 24<br />

Raimund Blattmann, Rechtsanwalt, München<br />

„Was bedeutet Kundenorientierung in einer psychiatrischen<br />

Klinik?“ 14<br />

Prof. Dr. Michael Philipp, Chefarzt des Bezirkskrankenhauses Landshut<br />

Referate<br />

Manfred Hölzlein, 7<br />

Bezirkstagspräsident von Nie<strong>der</strong>bayern, Präsident des Verbandes <strong>der</strong><br />

bayerischen Bezirke<br />

Jacob Entholzner, 12<br />

Bürgermeister <strong>der</strong> Stadt Landshut<br />

Grußworte<br />

„ANGEHÖRIGE IM DSCHUNGEL DER GESETZE“<br />

LANDESTREFFEN AM 14. OKTOBER 2006<br />

IN LANDSHUT<br />

Karl-Heinz Möhrmann, 4<br />

1.Vorsitzen<strong>der</strong><br />

Vorwort<br />

Seite<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 1


2 3<br />

„Unser Weg - <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“ 89<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

e.V.<br />

„Selbsthilfegruppen und Psychoedukation - Was ist ‚AiA’?“ 103<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

e.V.<br />

„ANGEHÖRIGE IM ZUSAMMENLEBEN MIT PSYCHISCH<br />

KRANKEN MENSCHEN“<br />

2. REGIONALTREFFEN AM 1. JULI 2006<br />

IN TRAUNSTEIN<br />

„Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die stationäre Behandlung“ 60<br />

Dr. med. Christoph Mattern, Chefarzt <strong>der</strong> Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie<br />

und Psychosomatik, Bezirksklinikum Obermain, Kutzenberg<br />

„Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante Behandlung“ 65<br />

Dr. med. Rainer Ebner, Facharzt für Psychiatrie, Coburg<br />

„Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes für<br />

Angehörige“ 68<br />

M. Werberich, Leiter des SpDi Coburg<br />

„Bewältigung von Konflikten im Zusammenleben mit einem <strong>psychisch</strong><br />

kranken Familienmitglied“ 72<br />

Heidi Popp, 1. Vorsitzende ApK Hochfranken, Hof<br />

„Noch’n Verein - Warum organisieren sich Angehörige?“ 78<br />

Karl Heinz Möhrmann, 1. Vorsitzen<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>es <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V., München<br />

„FIPS - Beratungsstelle für Familien am BKH Günzburg“ 144<br />

Susanne Kilian, Dipl.- Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin,<br />

Bezirkskrankenhaus Günzburg<br />

„Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme: Unterstützungsangebote für<br />

Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern“ 128<br />

Dipl.- Psych. Ruth Back, Sozialdienst katholischer Frauen, München<br />

„Auf den Weg gemacht - Geschichte eines Erwachsenwerdens<br />

unter sehr schwierigen psychosozialen Startbedingungen“ 113<br />

Angehöriger<br />

„KINDER PSYCHISCH KRANKER ELTERN –<br />

DIE VERGESSENEN ANGEHÖRIGEN?!“<br />

„ANGEHÖRIGE IM ZUSAMMENLEBEN MIT PSYCHISCH<br />

KRANKEN MENSCHEN“<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1. REGIONALTREFFEN AM 25. MÄRZ 2006 IN COBURG<br />

THEMENTAGUNG AM 28. OKTOBER 2006 IM<br />

BEZIRKSKRANKENHAUS HAAR<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 2


4 5<br />

Eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung belastet immer die ganze Familie. Die <strong>Angehörigen</strong><br />

sind aber häufig mit ihren Problemen allein gelassen. Zwar gibt es eine<br />

ganze Anzahl Hilfen für Betroffene und Angehörige, aber wer kennt sich<br />

schon aus im Dschungel <strong>der</strong> Sozialgesetzbücher und <strong>der</strong> behördlichen Zuständigkeiten?<br />

Wir haben daher für unser Landestreffen im Oktober 2006 die<br />

für Betroffene und Angehörige relevanten Hilfemöglichkeiten gemäß <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung<br />

als Schwerpunktthema ausgewählt. Die in diesem Tagungsband<br />

wie<strong>der</strong>gegebenen Vorträge von Herrn Rechtsanwalt Blattmann und von<br />

unserer Bundesvorsitzenden Frau <strong>Straub</strong> geben einen Einblick in die Probleme<br />

und eine gute Übersicht über die verfügbaren Hilfemöglichleiten.<br />

In Fortsetzung unserer Veranstaltungen für Kin<strong>der</strong> und Geschwister <strong>psychisch</strong><br />

Kranker konnten wir im Oktober 2006 in Haar eine Fachtagung „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern – die vergessenen <strong>Angehörigen</strong>?!“ durchführen. Die<br />

Referate dieser Tagung beschäftigten sich mit <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Situation dieser<br />

<strong>Angehörigen</strong>gruppe und sollten Hinweise auf verfügbare Hilfen, aber auch<br />

Bei einem weiteren Regionaltreffen in Traunstein im Juli 2006 sprachen Frau<br />

<strong>Straub</strong> zum Thema „Unser Weg – <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“ und ich selbst<br />

über „Selbsthilfegruppen und Psychoedukation – Unterstützungsangebote für<br />

Angehörige“. Auch die Inhalte dieser Vorträge finden Sie im vorliegenden<br />

Band.<br />

Wir freuen uns, Ihnen auch für das abgelaufene Jahr 2006 eine schriftliche<br />

Zusammenstellung <strong>der</strong> Vorträge von den von uns durchgeführten Tagungen<br />

zur Verfügung stellen zu können. Dieser Tagungsband enthält wie<strong>der</strong> eine<br />

Fülle von interessanten Informationen, welche sicherlich Ihr Interesse finden<br />

werden. Dies soll insbeson<strong>der</strong>e auch eine Hilfe für diejenigen <strong>Angehörigen</strong><br />

darstellen, welche an <strong>der</strong> persönlichen Teilnahme an den einzelnen Veranstaltungen<br />

verhin<strong>der</strong>t waren.<br />

Liebe Mitglie<strong>der</strong>, liebe Freunde und För<strong>der</strong>er!<br />

Vorwort<br />

Das Regionaltreffen in Coburg im März 2006 sollte den <strong>Angehörigen</strong> Informationen<br />

über die in <strong>der</strong> Region verfügbaren Hilfen, aber auch Ratschläge<br />

zum Umgang mit <strong>psychisch</strong> Kranken vermitteln. Zur Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

in die Behandlung liegen Beiträge von Dr. Mattern, Chefarzt <strong>der</strong><br />

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Kutzenberg, und<br />

Dr. Ebner, nie<strong>der</strong>gelassener Facharzt für Psychiatrie in Coburg, vor. In einem<br />

weiteren Beitrag beschreibt Hr. Werberich, Leiter des SPDI Coburg, die Angebote<br />

des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Zum Thema „Bewältigung von<br />

Konflikten im Zusammenleben mit <strong>psychisch</strong> Kranken“ finden Sie einen<br />

Beitrag von Frau Popp, 1. Vorsitzende des ApK Hochfranken. Ich selbst hatte<br />

die Gelegenheit, mit einem Vortrag „Noch’n Verein – Warum organisieren<br />

sich Angehörige?“ unseren Verband vorzustellen.<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>s<br />

<strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />

Kranker e.V.<br />

Patienten (und Angehörige) als „Kunden“ <strong>der</strong> psychiatrischen Klinik und nicht<br />

mehr als unmündige Patienten o<strong>der</strong> Störenfriede? Diese doch relativ neue<br />

Form <strong>der</strong> Zusammenarbeit und <strong>der</strong> gemeinsamen Bemühung um die Gesundung<br />

<strong>der</strong> Betroffenen, für welche sich unser Verband seit langem einsetzt,<br />

stellt ein interessantes Thema für uns Angehörige dar. Hierzu finden Sie einen<br />

Beitrag von Prof. Philipp, Chefarzt des BKH Landshut.<br />

Vorwort<br />

Karl-Heinz Möhrmann<br />

Vorwort<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 4


6 7<br />

Die Bezirke unterstützen mit Nachdruck die <strong>Angehörigen</strong>arbeit und damit<br />

auch den <strong>Landesverband</strong>. Ich erachte es als unabdingbar, dass Angehörige<br />

Es ist eine gute Tradition, dass <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> jedes Jahr in einem an<strong>der</strong>en<br />

Bezirk und eben auch in einem Bezirkskrankenhaus tagt. Darüber freue<br />

ich mich in beson<strong>der</strong>er Weise. Schon zum vierten Mal dürfen wir die <strong>Angehörigen</strong><br />

<strong>psychisch</strong> Kranker zu ihrem Jahrestreffen hier in Nie<strong>der</strong>bayern begrüßen,<br />

zum ersten Mal nun in Landshut.<br />

Karl Heinz Möhrmann<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />

Sehr geehrte Gäste und Mitglie<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>es, Sie sind ja, wie ich<br />

höre, zum Teil von weit her angereist, um sich gemeinsam dem Thema „Angehörige<br />

im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ zu widmen.<br />

Wir bedanken uns bei <strong>der</strong> Firma Lilly Deutschland GmbH für die finanzielle<br />

Unterstützung bei <strong>der</strong> Erstellung und Drucklegung dieses Tagungsbandes,<br />

ohne welche uns die Herausgabe in <strong>der</strong> vorliegenden Form nicht möglich<br />

gewesen wäre.<br />

als ehemalige Landesvorsitzende und heutige Bundesvorsitzende möchte ich<br />

Sie beson<strong>der</strong>s herzlich grüßen, geben Sie doch <strong>Bayern</strong> damit auf Bundesebene<br />

ein starkes Gewicht!<br />

Außerdem gilt mein beson<strong>der</strong>er Gruß Herrn Möhrmann, dem bayerischen<br />

Vorsitzenden des Verbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker.<br />

Der nicht unerhebliche Aufwand für die Vorbereitung und die Erstellung <strong>der</strong><br />

Textversionen ist insofern beson<strong>der</strong>s zu würdigen, weil sich unsere Referenten<br />

ganz allgemein ohne o<strong>der</strong> nur für ein geringes Honorar zur Verfügung stellten.<br />

Daher sprechen wir allen Referenten und Grußwortrednern auch auf diesem<br />

Wege Dank und Anerkennung für ihre Beiträge und für die Ausarbeitung<br />

und Bereitstellung <strong>der</strong> Texte aus.<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />

liebe Frau <strong>Straub</strong>,<br />

Grußwort<br />

auf bestehende Mängel im System geben. Die Inhalte sind allerdings auch für<br />

Eltern, Großeltern und Partner interessant. Von dieser Tagung finden Sie in<br />

diesem Tagungsband das Referat eines <strong>Angehörigen</strong>, sowie Beiträge von Frau<br />

Back vom Sozialdienst katholischer Frauen, München, zu Unterstützungsangeboten<br />

für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern und von Frau Kilian vom BKH<br />

Günzburg über die Beratungsstelle für Familien am BKH Günzburg.<br />

Bezirkstagspräsident von Nie<strong>der</strong>bayern,<br />

Präsident des Verbandes <strong>der</strong> bayerischen<br />

Bezirke<br />

Vorwort<br />

Manfred Hölzlein<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 6


8 9<br />

Weiter haben Sie sich mit <strong>der</strong> medizinischen und beruflichen Rehabilitation<br />

befasst, die lei<strong>der</strong> ein „Stiefkind“ <strong>der</strong> psychiatrischen Versorgung darstellt,<br />

und das, obwohl die Grundlagen <strong>der</strong> Rehabilitationseinrichtungen für <strong>psychisch</strong><br />

Kranke – <strong>der</strong> RPK’s – schon 1986 gelegt wurden. Hier fehlt es weiterhin<br />

deutlich an gemeindenahen Plätzen, um dem Gebot „Reha vor Rente“<br />

Rechnung zu tragen. Vor allem aber fehlt es an ambulanten Angeboten <strong>der</strong><br />

medizinischen Rehabilitation. Ich hoffe sehr, dass die nach langen Diskussionen<br />

endlich gemeinsam verabschiedeten RPK-Empfehlungen ihre Wirkung<br />

entfalten und tatsächlich zu einigen neuen und gemeindenahen Angeboten<br />

führen werden. Alle an<strong>der</strong>en sozialhilfefinanzierten Einrichtungen und Hilfen<br />

bedeuten – mit Ausnahme <strong>der</strong> pauschal finanzierten Tagesstätten – den Rück-<br />

Außerdem können wir in <strong>Bayern</strong> auf ein gut ausgebautes Netz an Psychiatrischen<br />

Institutsambulanzen verweisen, die mit ihrer kostengünstigen Versorgung<br />

nicht nur den Krankenkassen viel Geld sparen, son<strong>der</strong>n vor allem den<br />

betroffenen Menschen häufig belastende stationäre Krankenhausaufenthalte<br />

ersparen helfen.<br />

Mit für Sie wichtigen Themen haben Sie sich heute bereits befasst:<br />

Einmal mit <strong>der</strong> Kundenorientierung hier im Bezirkskrankenhaus Landshut,<br />

<strong>der</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Zertifizierung große Bedeutung beigemessen wurde.<br />

Als nie<strong>der</strong>bayerischer Bezirkstagspräsident bin ich stolz darauf, dass wir die<br />

Plätze in betreuten Wohnformen, wie Wohngemeinschaften, Außenwohngruppen<br />

und betreutem Einzelwohnen, in den vergangenen Jahren auf insgesamt<br />

316 Plätze ausgebaut haben. Ein beson<strong>der</strong>er Schwerpunkt liegt bei den Angeboten<br />

für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen im Hinblick auf verschiedene Zuverdienstarbeitsprojekte.<br />

Die Teilhabe am Arbeitsleben ist nach meiner Auffassung<br />

ein ganz wesentlicher Punkt <strong>der</strong> Gleichstellung behin<strong>der</strong>ter mit nicht<br />

behin<strong>der</strong>ten Menschen, wie dies auch ein wesentlicher Aspekt für die Lebensqualität<br />

<strong>der</strong> Betroffenen ist.<br />

„Angehörige im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ – dieses Tagungsthema drückt aus,<br />

wie Sie sich in unserem geglie<strong>der</strong>ten Sozialleistungssystem mit <strong>der</strong> Zersplitterung<br />

<strong>der</strong> leistungsrechtlichen Zuständigkeiten fühlen müssen. Als Jurist und<br />

Verbandspräsident fühle ich mich hier auch direkt angesprochen. Selbst Fachleute<br />

tun sich schwer, den „Durchblick“ zu behalten. Wie mag es da erst den<br />

<strong>Angehörigen</strong> gehen? Damit meine ich nicht nur die zahlreichen rechtlichen<br />

Feinheiten, die <strong>der</strong> Gesetzgeber so fein ausziseliert hat, dass unsere Sozialverwaltungen<br />

sich häufig mit an<strong>der</strong>en Kostenträgern vor Gericht streiten müssen,<br />

weil <strong>der</strong> Gesetzgeber oftmals keine klaren Aussagen zu den jeweiligen<br />

Zuständigkeiten getroffen hat. Ich meine vielmehr, dass es schon bei den<br />

grundsätzlichen Regelungen deutlich einheitlicherer Strukturen bedurft hätte!<br />

Die Frage „Wer soll das bezahlen?“, mit <strong>der</strong> Sie sich ebenfalls auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />

stellt sich dabei nicht nur für die <strong>Angehörigen</strong>. Auch die Bezirke kamen<br />

in den vergangenen Jahren deutlich an die Grenze ihrer Belastbarkeit<br />

und konnten deswegen Lücken, die an<strong>der</strong>e gerissen haben, nicht immer schließen.<br />

Hier spiele ich beson<strong>der</strong>s auf den Ausstieg <strong>der</strong> Krankenkassen aus <strong>der</strong><br />

Co-Finanzierung <strong>der</strong> Sozialpsychiatrischen Dienste an. Seit einigen Jahren<br />

bemühen sich die Bezirke verstärkt um eine Umsteuerung in die Richtung<br />

„ambulant vor stationär“. Einmal deswegen, um flächendeckend (und damit<br />

wohnortnah) ambulante Hilfen vorzusehen; vor allem aber, um zu erreichen,<br />

dass Menschen mit <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen so selbstständig wie möglich<br />

leben können, damit sie im Erhalt ihrer Fähigkeiten unterstützt werden und<br />

diese nicht durch eine vorschnelle Heimunterbringung regelrecht „abtrainiert“<br />

werden. Eine Hospitalisierung ist hier in niemandes Interesse!<br />

Landestreffen<br />

sichtbar werden in unserer Gesellschaft. Denn sie ermutigen an<strong>der</strong>e, die von<br />

ihnen initiierten <strong>Angehörigen</strong>gruppen zu besuchen und die dort angebotene<br />

Hilfe und Information anzunehmen.<br />

griff auf Einkommen und Vermögen und benachteiligen damit letztlich Menschen<br />

mit <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen.<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 8


10 11<br />

Tatkräftig unterstützt werden die betroffenen <strong>Angehörigen</strong> nicht nur in ihren<br />

Sorgen und Nöten, son<strong>der</strong>n auch durch die politische Arbeit <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>verbände<br />

<strong>psychisch</strong> Kranker.<br />

So gibt es neben dem Gesetzesdschungel, den Sie heute zum Motto Ihrer Veranstaltung<br />

gemacht haben, oft auch einen Dschungel <strong>der</strong> Zuständigkeiten, <strong>der</strong><br />

es den Betroffenen und ihren <strong>Angehörigen</strong> erschwert, sich im Falle einer benötigten<br />

Hilfeleistung zurechtzufinden. Als Beispiel in eigener Sache darf ich<br />

darauf verweisen, dass <strong>der</strong> Bezirk Nie<strong>der</strong>bayern z.B. hierauf im Rahmen seiner<br />

Möglichkeiten reagiert und zumindest die Zuständigkeiten bei <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen im ambulanten und stationären<br />

Bereich seit 1. Juli 2006 in einer Hand vereint hat. Streitigkeiten unter-<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren: In <strong>der</strong> Oktober-Ausgabe von „unbeirrbar“,<br />

ihrem Informationsforum, habe ich dargestellt, dass alles, was an<br />

Leistungen und Angeboten in <strong>Bayern</strong> für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen geschaffen<br />

wurde, ohne die Mithilfe <strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Betroffenen kaum vorstellbar<br />

wäre. Ich möchte auch hier nochmal wie<strong>der</strong>holen, dass mir wohl bewusst ist,<br />

dass die Verkürzung von Verweildauern und die Ambulantisierung im Einzelfall<br />

eine Mehrbelastung für die Familie in wirtschaftlicher, emotionaler und<br />

zeitlicher Hinsicht bedeutet. Es müssen zusätzliche Lasten und Verantwortung<br />

übernommen werden. Ich meine es sehr ernst, wenn ich sage, dass die Bezirke<br />

gut beraten sind, die betroffenen Familien zu unterstützen. Deshalb verstehen<br />

sich die Einrichtungen und Mitarbeiter <strong>der</strong> Bezirke als wichtige Ansprechpartner<br />

bei vielen sozialrechtlichen wie fachlichen Belangen <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen.<br />

Durch die hieraus gewonnenen Einblicke kann das persönliche<br />

Engagement <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> gar nicht genug gewürdigt werden. Sich dieser<br />

großen Verantwortung zu stellen, nicht zuletzt oft auch in wirtschaftlicher<br />

Hinsicht, macht es erst möglich, dass mehr als die Hälfte aller <strong>psychisch</strong> kranken<br />

Menschen weiter in ihrer Familie leben können. Das Umfeld und beson<strong>der</strong>s<br />

die engsten Bezugspersonen <strong>der</strong> Erkrankten sind, das wissen Sie besser<br />

als ich, oft entscheidende Faktoren für den Krankheitsverlauf.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Veranstaltung heute und dem sich anschließenden<br />

Mitglie<strong>der</strong>treffen einen guten Erfolg! Darüber hinaus bin ich gerne<br />

bereit, alles in meiner Macht stehende zu tun, um Angehörige leichter durch<br />

den „Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ zu lotsen!<br />

schiedlicher Sozialhilfeträger gehören damit <strong>der</strong> Vergangenheit an. Es gibt<br />

nun in Nie<strong>der</strong>bayern einheitliche Ansprechpartner für die Hilfesuchenden und<br />

auf Seiten des Kostenträgers bessere Möglichkeiten, die Suche nach <strong>der</strong> am<br />

besten geeigneten Einrichtung, Maßnahme o<strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Hilfe zu<br />

unterstützen. Ein eigener sozialpädagogischer Fachdienst beim Bezirk liefert<br />

hierzu die notwendigen sachkundigen Voraussetzungen. Mit einer möglichst<br />

großen und vielfältigen Anzahl an ambulanten Angeboten versuchen wir, die<br />

Gedanken <strong>der</strong> Gemeindenähe, <strong>der</strong> personenzentrierten Hilfeleistung und <strong>der</strong><br />

För<strong>der</strong>ung einer weitgehend eigenverantwortlichen Lebensführung in die Tat<br />

umzusetzen. Um die Koordination und die Initiierung von geeigneten Maßnahmen<br />

auf Bezirksebene auch künftig sinnvoll gestalten zu können – hierzu<br />

bietet u.a. <strong>der</strong> Planungs- und Koordinierungsausschuss eine geeignete Plattform<br />

–, hoffen wir natürlich weiterhin und verstärkt auf eine fruchtbare und<br />

engagierte Zusammenarbeit mit allen Beteiligten.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 10


Carl Friedrich von Weizsäcker sagte: „Wir haben eine technische Welt geschaffen,<br />

die uns seelisch überfor<strong>der</strong>t.“ Eine außergewöhnliche Belastung<br />

trägt die Schicksalsgemeinschaft Familie, wenn ein Mitglied <strong>psychisch</strong> erkrankt.<br />

Mit Kopf und Herz ein für den Kranken positives Umfeld zu schaffen,<br />

ihn mit offenen Händen und Armen anzunehmen, die Betreuung als Lebensaufgabe<br />

zu betrachten, ist eine große soziale Leistung. Dabei ist es nicht<br />

immer leicht, ein „guter“ Angehöriger zu sein, <strong>der</strong> Ängste, Zeitdruck und Vorwürfe<br />

erträgt und überwindet. Sie erwarten mit Recht von den Mitbürgern<br />

nicht Bedauern und Mitleid, son<strong>der</strong>n helfendes Verständnis, von den Angestellten<br />

und Beamten in den Behörden Wegweisung und Unterstützung im<br />

Dickicht und Dschungel <strong>der</strong> Gesetze und Verordnungen, von <strong>der</strong> Stadt Dank<br />

und Anerkennung für die aufopferungsvolle Hingabe an <strong>psychisch</strong> Erkrankte.<br />

Unbürokratische Hilfe bei <strong>der</strong> Gewährung von Sozial- und Einglie<strong>der</strong>ungshilfe,<br />

von Grundsicherung und Maßnahmen zur medizinischen und beruflichen<br />

Rehabilitation sollte selbstverständlich sein.<br />

12 13<br />

ich überbringe Ihnen die Grüße und guten Wünsche des Oberbürgermeisters<br />

Hans Rampf, <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Stadtrates und <strong>der</strong> Bürgerschaft <strong>der</strong> Stadt<br />

Landshut zu Ihrem Landestreffen unter dem Motto „Angehörige im Dschungel<br />

<strong>der</strong> Gesetze“. Es ehrt unser Gemeinwesen, dass <strong>der</strong> größte gemeinnützige<br />

regionale Selbsthilfeverband in <strong>der</strong> Psychiatrie in <strong>der</strong> BRD dieses wichtige<br />

Treffen in <strong>der</strong> Dreihelmestadt veranstaltet.<br />

Ich wünsche Ihrem Landestreffen einen harmonischen Verlauf, auf dass <strong>der</strong><br />

„Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ etwas gelichtet werden möge.<br />

„Idealist ist, wer Kraft hat für an<strong>der</strong>e“, sagt Novalis. Der ehrenamtlich uneigennützigen<br />

Arbeit des ApK-Vorstandes, an <strong>der</strong> Spitze Herrn Dipl.-Ing. Karl<br />

Heinz Möhrmann, gelten großer Dank und hohe Anerkennung.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

Grußwort<br />

Bürgermeister <strong>der</strong> Stadt Landshut<br />

Jacob Entholzner<br />

Eine große Unterstützung vermag die Selbsthilfeorganisation ApK zu leisten,<br />

ein Verband, <strong>der</strong> die Menschen verbindet, Erfahrungsaustausch und Fortbildung,<br />

also Psychoedukation, ermöglicht, ihre Sorgen und Nöte bündelt und<br />

die berechtigten Wünsche <strong>der</strong> solidarischen und selbstbewussten <strong>Angehörigen</strong><br />

gegenüber Regierung und Gesetzgeber nicht nur artikuliert, son<strong>der</strong>n auch einfor<strong>der</strong>t.<br />

Auch die Kommunen sind gefor<strong>der</strong>t, Beratungsstellen einzurichten,<br />

Kurzzeit- und Tagespflegeinrichtungen zu schaffen. In unserer Stadt hilft das<br />

Landshuter Netzwerk bei „Betreutem Wohnen“, mit <strong>der</strong> Integrationsfirma<br />

„Die Netzwerker“ und <strong>der</strong> Tagesstätte, die Selbsthilfekräfte chronisch <strong>psychisch</strong><br />

kranker Erwachsener zu stärken und die <strong>Angehörigen</strong> zu entlasten.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 12


14 15<br />

Und als wenn dies nicht schon schlimm genug wäre, verpflichtet <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />

die Krankenhausmitarbeiter nun auch noch zum Qualitätsmanagement<br />

und entzieht dem Krankenhaus damit noch mehr finanzielle Ressourcen, die<br />

letztlich <strong>der</strong> direkten Patientenversorgung verloren gehen. Kein Wun<strong>der</strong>, dass<br />

immer mehr Fachärzte die Nase voll haben von diesen Arbeitsbedingungen<br />

und das Krankenhaus verlassen, um etwa in Österreich, England o<strong>der</strong> Skandinavien<br />

einen wesentlich besser bezahlten und weniger durch patientenferne<br />

Tätigkeiten entfremdeten Job zu übernehmen.<br />

Ich muss gestehen, dass die emotionale Ablehnung von „Qualitätsmanagement“<br />

und „Kundenorientierung“ auch meine eigene, durchaus heftige Reaktion<br />

war, als ich vor ziemlich genau 10 Jahren das erste Mal mit diesen Begriffen<br />

konfrontiert wurde. Mein Direktoriumskollege hatte damals in seiner<br />

Funktion als Krankenhausdirektor in <strong>der</strong> Tiefgarage einzelne Parkplätze als<br />

„Kundenparkplätze“ ausgewiesen. Ich war schlicht sauer: „Patienten sind<br />

keine ‚Kunden’, wir sind hier schließlich nicht im Supermarkt, son<strong>der</strong>n in<br />

einem Krankenhaus“, war mein Einwurf. Als <strong>der</strong> Krankenhausdirektor im<br />

gleichen Jahr das Direktorium in Kenntnis setzte, dass Krankenhäuser jetzt<br />

zur Qualitätssicherung gesetzlich verpflichtet seien und wir uns dem sich abzeichnenden<br />

Trend anschließen sollten, ein Qualitätsmanagement einzuführen,<br />

war ich einfach nur resistent und versuchte, diesen Prozess zu blockieren,<br />

was mir - aus heutiger Sicht - damals glücklicherweise aber nicht gelang.<br />

„Angehörige im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ lautet das Motto des diesjährigen<br />

Kongresses des <strong>Landesverband</strong>es <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

e.V. Passend hierzu könnte <strong>der</strong> Titel meines Vortrages abgeleitet werden aus<br />

dem Motto: „Ärzte und Krankenhausmitarbeiter im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze.“<br />

Eine immer dichter werdende Abfolge von Gesundheitsreformgesetzen knebelt<br />

die Handlungsmöglichkeiten <strong>der</strong> Krankenhausmitarbeiter, zunehmende<br />

Dokumentationspflichten und verschärfte Überprüfungen <strong>der</strong> Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit<br />

binden in einem kaum noch erträglichen Maße Arztzeit,<br />

so dass zusammen mit allen an<strong>der</strong>en organisatorischen und kommunikativen<br />

Aufgaben für einen psychiatrischen Stationsarzt nur noch ein Viertel seiner<br />

täglichen Arbeitszeit für den direkten Patientenkontakt übrig bleibt. Lassen<br />

Sie diese Aussage bitte auf sich wirken: Von 8 täglichen Arbeitsstunden kann<br />

<strong>der</strong> Arzt nur noch zwei im direkten Patientenkontakt verbringen!<br />

Muss das so sein? O<strong>der</strong> könnte es vielleicht so sein, dass auf dem Hintergrund<br />

einer tief greifenden Unzufriedenheit mit den rechtlichen und organisatorischen<br />

Rahmenbedingungen ungewohnte neue Begriffe, die zugegebenermaßen<br />

nicht in <strong>der</strong> Medizin, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> produzierenden Industrie und im<br />

Handel entwickelt wurden, falsch verstanden und zu Unrecht verdammt werden?<br />

Was bedeutet Kundenorientierung in einer<br />

psychiatrischen Klinik?<br />

Ärztlicher Direktor, Bezirkskrankenhaus Landshut<br />

Prof. Dr. Michael Philipp, M.A.<br />

Viele Krankenhausmitarbeiter fragen immer wie<strong>der</strong>, ob man denn nicht wenigstens<br />

diesen gesetzlich vorgeschriebenen Ballast des Qualitätsmanagements<br />

auf möglichst kleiner Flamme kochen kann, um nicht unnütz wichtige<br />

Zeitressourcen zu verschwenden. Wenn Sie dann noch hören, dass das Qualitätsmanagement<br />

ihnen eine „Kundenorientierung“ abverlangt, sie also den<br />

Patienten betrachten sollen wie <strong>der</strong> Kaufmann einen Kunden, <strong>der</strong> bei ihm eine<br />

Ware einkauft und so – scheinbar – alle gewachsenen Werte <strong>der</strong> Arzt-Patienten-Beziehung<br />

einer Begrifflichkeit aus <strong>der</strong> kalten Welt des Kommerzes weichen<br />

soll, bei welcher es nur noch um Profitmaximierung und nicht mehr um<br />

den Menschen geht, da platzt den Krankenhausmitarbeitern endgültig <strong>der</strong><br />

Kragen.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 14


16 17<br />

Wo kommt nun die Kundenorientierung ins Spiel? Das kontinuierliche Messen<br />

und Verbessern <strong>der</strong> erreichten Qualität ist das Herzstück jedes Qualitätsmanagements.<br />

Nach <strong>der</strong> eben gegebenen Definition von Qualität kann ich sie<br />

nur dann messen, wenn ich die an die Behandlung gerichteten Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

kenne. Um die Anfor<strong>der</strong>ungen aber zu ermitteln, muss ich wissen, wer denn<br />

die Anfor<strong>der</strong>ungen stellt. Jetzt sind wir beim „Kunden“: als Kunde wird bezeichnet,<br />

wer jene Anfor<strong>der</strong>ungen stellt, die zu erfüllen Aufgabe <strong>der</strong> Behand-<br />

Es beginnt mit dem Begriff „Qualität“. Qualität bezeichnet das Ausmaß, in<br />

dem Gegebenheiten Anfor<strong>der</strong>ungen erfüllen, die an sie gerichtet werden. Erfüllt<br />

eine Behandlung die Anfor<strong>der</strong>ungen, die an sie gerichtet werden, darf ihr<br />

attestiert werden, dass sie Qualität hat. Werden die Anfor<strong>der</strong>ungen nur teilweise<br />

o<strong>der</strong> gar nicht erfüllt, ist die Behandlung von geringer o<strong>der</strong> gar schlechter<br />

Qualität; werden die Anfor<strong>der</strong>ungen übererfüllt, darf dieser Behandlung<br />

hervorragende Qualität attestiert werden. So weit, so gut.<br />

Ist das nicht eigentlich selbstverständlich? Ich muss Ihnen lei<strong>der</strong> sagen: Nein.<br />

Die traditionelle Krankenhausorganisation, oft auch die traditionelle Organisation<br />

von Arztpraxen und Heimen ist gerade nicht am Kunden, son<strong>der</strong>n an<br />

den eigenen Bedürfnissen orientiert. Ich gebe Ihnen zwei einfache Beispiele,<br />

die Sie alle sicherlich kennen. Zunächst das Beispiel Wartezeiten. Es gibt bestimmte<br />

ärztliche Fachrichtungen mit sehr kurzen Behandlungszeiten, z.B.<br />

beim Augenarzt o<strong>der</strong> beim Hautarzt. Bringen Sie sich einmal in Erinnerung,<br />

wie lange Sie nach Eintreffen in <strong>der</strong> Praxis haben warten müssen, bis Sie dran<br />

waren. O<strong>der</strong> denken Sie an ihren letzten Krankenhausaufenthalt. Wie lange<br />

haben Sie auf die Untersuchung warten müssen, als Sie ins Röntgen gebracht<br />

wurden? Ist es Ihnen schon passiert, dass eine Operation um 10 Uhr vormittags<br />

angesetzt wurde, und Sie mussten nüchtern und voller Angst bis zum<br />

Nachmittag warten? Wie lange haben Sie das letzte Mal nach einer Bagatellverletzung<br />

in <strong>der</strong> chirurgischen Notaufnahme auf den sicherlich viel beschäftigten<br />

Arzt warten müssen? Lei<strong>der</strong> werden Sie auch in <strong>der</strong> Psychiatrischen<br />

Klinik folgende Erfahrungen gemacht haben: Ihr Angehöriger ist notfallmäßig<br />

auf eine geschlosssene Akutstation eingeliefert worden, und Sie wollen<br />

Ich werde im folgenden versuchen, Ihnen in <strong>der</strong> gleichen Art und Weise die<br />

Inhalte des Konzepts <strong>der</strong> „Kundenorientierung“ abzuleiten, wie ich dies für<br />

meine eigenen Mitarbeiter tue, wenn ich sie über das Wesen von Qualitätsmanagement<br />

informiere und dabei auf die gleichen Wi<strong>der</strong>stände stoße, die<br />

ich seinerzeit bei mir selber erlebt habe.<br />

In <strong>der</strong> dann ab 1996 notwendigen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Inhalten von<br />

Qualitätsmanagement wurde <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Kundenorientierung“ zu einem<br />

zentralen Reibungspunkt; er ist es auch heute noch, wenn es gilt, neue Mitarbeiter<br />

an das Gedankengut des Qualitätsmanagements herzuführen. Mit vielen<br />

an<strong>der</strong>en Aspekten des Qualitätsmanagements konnte man sich ja viel<br />

leichter anfreunden: Vor allem für das Ziel einer guten Ergebnisqualität<br />

braucht man keine neuen Wege öffnen – war das nicht immer schon das Ziel<br />

aller in <strong>der</strong> direkten Patientenarbeit tätigen Krankenhausmitarbeiter? Warum<br />

also nur dieser schreckliche Begriff <strong>der</strong> Kundenorientierung?<br />

lung sind. Kundenorientierung heißt danach: diejenigen, die die Behandlungsbedingungen<br />

organisieren (das Management also), und diejenigen, die die<br />

Behandlung durchführen (Ärzte, Pflegende, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten),<br />

wie auch diejenigen, die die Behandlungsprozesse unterstützen (Küche,<br />

Apotheke, Wäscherei, Labor, Haustechnik, Verwaltung), orientieren sich an<br />

den Anfor<strong>der</strong>ungen, die die Kunden stellen; sie messen und verbessern die<br />

Qualität ihrer Arbeit daran, wie gut es ihnen gelingt, diese Anfor<strong>der</strong>ungen zu<br />

erfüllen. Da es aber die Kunden sind, die die Anfor<strong>der</strong>ungen stellen, müssen<br />

es auch die Kunden sein, die letztendlich zu befinden haben, ob ihre Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

erfüllt worden sind; das Qualitätsurteil über eine Krankenhausbehandlung,<br />

die ambulante Behandlung durch den nie<strong>der</strong>gelassenen Arzt, die<br />

sozialpädagogische Betreuung in einer geschützten Wohn- und Arbeitseinrichtung,<br />

dieses Qualitätsurteil geben letztlich die Kunden ab.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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18 19<br />

Zunächst einmal, weil die Organisation des Krankenhauses traditionell funktionsorientiert<br />

und nicht kundenorientiert ist. Was heißt das? Das Personal<br />

des Krankenhauses ist in drei großen Berufsgruppen organisiert: medizinischer<br />

Dienst – hierzu gehören Ärzte, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten, Pflegedienst<br />

und Verwaltungsdienst. Je<strong>der</strong> Dienst versucht seinen Job so gut wie<br />

Kundenorientierung setzt nach dem eingangs Gesagten voraus, dass ich weiß,<br />

wer meine Kunden sind: es sind nicht nur die Patienten, son<strong>der</strong>n eben auch<br />

die <strong>Angehörigen</strong> – dann aber auch die Gesellschaft (denken Sie bitte an Situationen,<br />

in denen eine krankhaft bedingte Fremdgefährdung eine Unterbringung<br />

notwendig macht), schließlich auch die einweisenden bzw. weiterbehandelnden<br />

Ärzte und die komplementären Einrichtungen, an die unsere Patienten<br />

zu einem Gutteil nach <strong>der</strong> Entlassung weitervermittelt werden. Es sind aber<br />

auch die Krankenkassen als Kostenträger, es sind – im abstrakten Sinne –<br />

auch die Gesetze und behördlichen Vorschriften, <strong>der</strong>en Befolgung sicherstellt,<br />

sich telefonisch beim behandelnden Arzt informieren, Sie telefonieren sich<br />

die Finger wund und erreichen ihn einfach nicht, weil er ständig akut beschäftigt<br />

ist. Sie besuchen Ihren <strong>Angehörigen</strong> auf Station und haben eine wichtige<br />

Frage an die Pflegenden, sehen auch durch die geschlossene Glastür eine<br />

Gruppe von Pflegenden im Stationszimmer zusammensitzen, außen an <strong>der</strong><br />

Tür hängt aber ein Schild „Übergabe – bitte nicht stören!“; sie kommen sich<br />

schon jetzt wie ein unerwünschter Bittsteller vor, es ist Ihnen aber dringend,<br />

Sie klopfen deshalb trotz des Schildes, Sie winken – keiner reagiert o<strong>der</strong> es<br />

wird erst nach langen Minuten Wartens reagiert, und Sie kriegen als erstes<br />

eine geballte Ladung Belehrung ab, dass es jetzt nicht geht, weil gerade Übergabe<br />

ist, das würde doch auf dem Schild stehen. O<strong>der</strong>: Nach langer stationärer<br />

Behandlung wird Ihr Angehöriger endlich entlassen, Sie wissen aus früherer<br />

Erfahrung, dass er eine starke Tendenz hat, die Medikamente rasch wie<strong>der</strong><br />

abzusetzen o<strong>der</strong> unregelmäßig einzunehmen, Sie werden ihn deshalb in<br />

<strong>der</strong> Medikamenteneinnahme unterstützen müssen und brauchen hierzu vom<br />

Behandlungsteam Informationen über Art und Dosierung <strong>der</strong> Medikamente;<br />

statt eines kurzen Gesprächs hierüber erhält Ihr Angehöriger aber lediglich<br />

einen sorgfältig zugeklebten Kurzarztbrief für den Hausarzt, auf dem aufgestempelt<br />

steht „nur für den behandelnden Arzt bestimmt“; Sie werden also zu<br />

Hause gezwungen sein, gegen die Regel den versiegelten Brief zu öffnen, um<br />

die Medikation nachzulesen, und sehen jetzt schon die Kritik des Hausarztes<br />

auf Sie herabprasseln, weil Sie in die hochheilige schriftliche Geheimkommunikation<br />

zwischen Krankenhaus und Hausarzt „eingebrochen“ sind.<br />

Wie kann es zu einer solchen Nicht-Erfüllung <strong>der</strong> Kunden-Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

kommen?<br />

möglich zu machen, orientiert sich dabei aber daran, wie die Arbeitsabläufe<br />

innerhalb <strong>der</strong> eigenen Berufsgruppe so am besten zu organisieren sind, dass<br />

mit möglichst wenig Leerlaufzeiten möglich effiziente Arbeit geleistet werden<br />

kann. Dies meinte ich vorhin, als ich sagte, die Krankenhausmitarbeiter<br />

sind traditionell an ihren eigenen Bedürfnissen orientiert: wenn das Bedürfnis<br />

nach optimaler Organisation <strong>der</strong> eigenen Arbeitsabläufe sich darin nie<strong>der</strong>schlägt,<br />

dass die Übergabe von einer Schicht auf die nächste möglichst ungestört<br />

abläuft, dann bleibt <strong>der</strong> Kundenwunsch außen vor; wenn <strong>der</strong> Arzt einer<br />

geschlossenen Suchtstation alleine im Dienst ist und fünf Aufnahmen und<br />

Entlassungen am Tag hat, dann versucht er sich möglichst von allen Telefonaten<br />

abzuschotten, die ihn in diesen gestressten Arbeitsabläufen zusätzlich stören<br />

würden. Kundenorientierung würde in diesen Beispielen heißen: grundsätzlich<br />

und zu je<strong>der</strong> Zeit bereit sein, sich stören zu lassen und akute Bedürfnisse<br />

von Patienten und <strong>Angehörigen</strong> wahrzunehmen; grundsätzlich und anhaltend<br />

bemüht zu sein, dem Patienten und <strong>Angehörigen</strong> verständlich zu<br />

machen, warum er in dieser konkreten Situation warten muss, ohne dass sich<br />

dieser als lästiger Bittsteller fühlt; proaktiv daran zu denken, dass die geringe<br />

Medikamentencompliance durch die Unterstützung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> kompensiert<br />

werden muss und nur ihre Information und Einbeziehung sicherstellt,<br />

dass <strong>der</strong> während <strong>der</strong> stationären Behandlung erreichte Erfolg auch langfristig<br />

aufrechterhalten und ausgebaut werden kann.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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20 21<br />

Kunde im Sinne dieser Denkrichtung ist schließlich auch <strong>der</strong> gegenwärtige<br />

Stand <strong>der</strong> wissenschaftlichen Erkenntnis: aus dem Fachwissen leiten sich ganz<br />

wesentliche Anfor<strong>der</strong>ungen über das „Wie“ des Behandlungsprozesses ab.<br />

Für das „Was“ des Behandlungszieles spielt das Fachwissen dagegen in <strong>der</strong><br />

heutigen Zeit eine weitaus geringere Rolle, als dies früher <strong>der</strong> Fall war: Kundenorientierung<br />

im Sinne <strong>der</strong> Respektierung <strong>der</strong> Patientenwünsche und <strong>der</strong><br />

informierten Zustimmung zu Behandlungseingriffen hat hier bereits den Stellenwert<br />

des Fachwissens für die Festlegung <strong>der</strong> Behandlungsziele verdrängt.<br />

War es früher noch üblich, dass <strong>der</strong> Arzt alleine aufgrund seines Fachwissens<br />

und einer herrschenden Fachmeinung entschied, ob und wie bestimmte Erkrankungen<br />

und Symptome zu behandeln sind, beschränkt sich heute diese<br />

Stellvertreterfunktion des Arztes – und des Betreuers! – auf einige wenige<br />

Konstellationen, in denen nach herrschen<strong>der</strong> Rechtsauffassung und fachlicher<br />

Erkenntnis krankheitsbedingt keine ausreichende natürliche Willensbildung<br />

mehr vorliegt. Kundenorientierung bedeutet deshalb nicht zwangläufig buchstabengetreues<br />

Umsetzen expliziter Patientenfor<strong>der</strong>ungen in je<strong>der</strong> Situation,<br />

son<strong>der</strong>n komplexe Abwägung aller Komponenten des vielfältigen situativen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungsspektrums; selbstverständlich wird <strong>der</strong> Arzt sich auch weiterhin<br />

<strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ung des depressiven o<strong>der</strong> wahnhaften Patienten nach Sterbehilfe<br />

verweigern und nötigenfalls nach Herstellung <strong>der</strong> rechtlichen Voraussetzungen<br />

auch gegen den Willen des Betroffenen behandeln; selbstverständlich<br />

Auch dieser Aspekt ist nicht trivial. Es wäre zwar im industriellen Bereich,<br />

im Handel und im Bereich kommerzieller Dienstleistungen kaum denkbar,<br />

dass ein Anbieter sich nicht um die Wahrnehmung – sprich: die Zufriedenheit<br />

seiner Kunden – als zentralem Parameter seines Geschäftserfolges kümmern<br />

würde. Theoretisch denkbar wird es allerdings dann, wenn dieser Anbieter<br />

Monopolist wäre, also kein marktüblicher Wettbewerb bestünde. In <strong>der</strong> vor<br />

16 Jahren überwundenen sozialistischen Planwirtschaft war dies Realität.<br />

Monopolleistungen und weitgehend fehlenden Wettbewerb haben wir allerdings<br />

auch im Krankenhausbereich. Haben Sie in <strong>der</strong> Notfallsituation Alternativen<br />

zu ihrem ortsnahen, aufnahmepflichtigen Bezirkskrankenhaus? Bekommt<br />

<strong>der</strong> depressive Patient in <strong>der</strong> vermeintlich besseren Psychiatrie in<br />

einem an<strong>der</strong>en Bezirk ohne weiteres und so schnell ein Bett? Der Umstand,<br />

dass wir mit unseren Krankenhausleistungen auch heute noch weitgehend<br />

Monopolisten sind und die <strong>psychisch</strong> Kranken kaum mit den Füßen über die<br />

erfahrene Qualität des Hauses abstimmen, indem Sie gegebenenfalls beim<br />

nächsten Mal woan<strong>der</strong>s hingehen, hat uns im Krankenhausbereich blind gemacht<br />

für die Qualitätswahrnehmung <strong>der</strong> Patienten, <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> und <strong>der</strong><br />

Lassen Sie mich zum Abschluss noch den zweiten eingangs erwähnten Aspekt<br />

<strong>der</strong> Kundenorientierung erläutern; er lautet: Es ist <strong>der</strong> Kunde, <strong>der</strong> den Grad<br />

<strong>der</strong> Erfüllung seiner eigenen Anfor<strong>der</strong>ungen und damit die Qualität <strong>der</strong> Behandlungsleistung<br />

zu beurteilen hat. Auf die Kundenwahrnehmung kommt es<br />

also an.<br />

dass unsere Patienten und unsere Mitarbeiter nicht durch mangelnden Brandschutz,<br />

mangelnde Arbeitssicherheitsbedingungen und mangelnde Hygiene<br />

gefährdet werden. Diese Vielschichtigkeit des Kundenbegriffs in <strong>der</strong> Medizin<br />

ist einer <strong>der</strong> vielen Unterschiede zur Industrie und zum Handel. Kundenorientierung<br />

bedeutet die Orientierung <strong>der</strong> Dienstleistung „Behandlung“ an den<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen dieser vielen, gerade genannten Kunden, nicht aber die Umbenennung<br />

<strong>der</strong> Menschen, die wir zu behandeln haben, von Patienten in<br />

Kunden. Es ist die Denkrichtung, die damit gemeint ist, und nicht die Bezeichnung,<br />

um die es geht.<br />

wird sich <strong>der</strong> Arzt auch weiterhin <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ung des hochgradig selbsto<strong>der</strong><br />

fremdgefährdenden Manikers auf sofortige Entlassung verweigern; und<br />

selbstverständlich wird <strong>der</strong> Arzt auch weiterhin den zu einer natürlichen<br />

Willensbildung nicht mehr befähigten, schwer Demenzkranken trotzdem behandeln.<br />

In dieser Stellvertreterfunktion für die Ermittlung des natürlichen<br />

Willens, die <strong>der</strong> Betroffene im gesunden Zustand wohl gehabt hätte, spielt natürlich<br />

die Einbeziehung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> eine wichtige Rolle.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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22 23<br />

Zusammenfassend hoffe ich Ihnen deutlich gemacht zu haben, dass Kundenorientierung<br />

ein zentraler Punkt des für Krankenhäuser (und übrigens auch<br />

Arztpraxen) gesetzlich vorgeschriebenen einrichtungsinternen Qualitätsmanagements<br />

ist. Entgegen erster emotionaler Wi<strong>der</strong>stände gegen ein weite-<br />

Kundenorientierung bedeutet demnach auch, dass die Qualitätswahrnehmung<br />

von Behandlung und Behandlungsumständen durch Patienten, Angehörige,<br />

Einweiser und Weiterbetreuende systematisch vom Krankenhaus wie auch<br />

vom nie<strong>der</strong>gelassenen Arzt erfasst wird und für die Bemühungen um kontinuierliche<br />

Verbesserung genutzt wird.<br />

Die Nichtbeachtung <strong>der</strong> Qualitätswahrnehmung des „Kunden“ Patient durch<br />

die behandelnden Ärzte hängt aber auch damit zusammen, dass diese regelhaft<br />

dem Patienten unterstellen, das ärztliche Können fachlich doch gar nicht<br />

beurteilen zu können. Das ist sicherlich richtig. Aber: kann ich das fachliche<br />

Können eines Jumbo-Piloten beurteilen, nachdem ich einen Flug gebucht<br />

habe? Kann ich das fachliche Können eines Software-Entwicklers beurteilen,<br />

nachdem ich ein Computer-Programm gekauft habe? Kann ich das fachliche<br />

Können eines Strafverteidigers beurteilen, nachdem ich ihn mit meiner Verteidigung<br />

beauftragt habe? Das kann ich nicht. Ich kann aber beurteilen, was<br />

am Schluss herauskommt, genauso wie <strong>der</strong> Patient, <strong>der</strong> Angehörige, <strong>der</strong> einweisende<br />

Arzt den wahrnehmbaren Anteil <strong>der</strong> Befindens- und Verhaltensnormalisierung<br />

beurteilen kann. Und hierauf kommt es dem Patienten und seinen<br />

Bezugspersonen letztlich an.<br />

einweisenden Ärzte. Än<strong>der</strong>n tut sich diese Situation allerdings bereits im Bereich<br />

<strong>der</strong> Psychosomatik, wo von den in <strong>der</strong> Regel landschaftlich schön gelegenen<br />

und vom tradierten schlechten Ruf <strong>der</strong> Psychiatrie unbelasteten Psychosomatischen<br />

Kliniken bereits annähernd die Hälfte aller stationären Behandlungen<br />

erbracht wird. Hier kann <strong>der</strong> Patient und <strong>der</strong> Einweiser wählen,<br />

hier ist Wettbewerb, und das ist auch gut so.<br />

res Ausufern des gesetzlichen Dschungels wird bei näherem Zusehen doch<br />

deutlich, dass die gesetzliche Verpflichtung zum Qualitätsmanagement ganz<br />

wesentliche Chancen mit sich bringt, das Denken und Handeln <strong>der</strong> Krankenhausmitarbeiter<br />

patientenorientiert weiterzuentwickeln. Dass dies noch nicht<br />

Realität ist und auch die Zertifizierung eines Qualitätsmanagementsystems<br />

noch keine Garantie dafür darstellt, dass eine solche Kultur bereits entwikkellt<br />

ist, brauche ich nicht weiter zu betonen. Gleichwohl ist es wichtig, die<br />

Idee <strong>der</strong> Kundenorientierung im Leitbild des Krankenhauses bzw. <strong>der</strong> Arztpraxis<br />

festzuschreiben, damit alle Mitarbeiter wissen, wohin sich die Kultur<br />

<strong>der</strong> Organisation entwickeln will.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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24 25<br />

Schaut man sich dann um nach den Möglichkeiten, die die Sozialsysteme bieten,<br />

fällt es oftmals schwer, die richtigen Hilfen zu finden. Denn das Bild<br />

vom Dschungel <strong>der</strong> Gesetze ist beson<strong>der</strong>s treffend im System <strong>der</strong> Hilfen <strong>der</strong><br />

sozialen Sicherheit, über das ich heute sprechen möchte: Es herrscht eine nur<br />

schwer zu überblickende Anzahl von gesetzlichen Regelungen, bei <strong>der</strong> man<br />

I. SGB II o<strong>der</strong> SGB XII? Auf die Erwerbsfähigkeit kommt es an<br />

Zwei unterschiedliche Systeme <strong>der</strong> Hilfe stehen zur Verfügung: das des<br />

SGB II mit dem sogenannten Arbeitslosengeld II, auch als „Hartz IV“ bekannt,<br />

und das an<strong>der</strong>e des SGB XII mit den Leistungen <strong>der</strong> Grundsicherung<br />

für nicht Erwerbsfähige und <strong>der</strong> Sozialhilfe. Schon die Frage, welche Hilfe in<br />

Frage kommt, ist bei Menschen mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung oft nicht einfach<br />

zu beantworten.<br />

Hilfen <strong>der</strong> sozialen Sicherheit für <strong>psychisch</strong> Kranke nach SGB II<br />

und SGB XII<br />

Wenn ein Familienmitglied <strong>psychisch</strong> erkrankt, dann ist davon regelmäßig die<br />

ganze Familie betroffen. Es ist eine Fülle von Fragestellungen, mit denen Angehörige<br />

<strong>psychisch</strong> erkrankter Menschen sich konfrontiert sehen. Zunächst<br />

sind es sicherlich die Fragen <strong>der</strong> medizinischen Betreuung, die im Vor<strong>der</strong>grund<br />

stehen: die Suche nach dem richtigen Arzt, <strong>der</strong> richtigen Therapie. Ist<br />

ein stationärer Aufenthalt nötig? Gibt es Möglichkeiten <strong>der</strong> ambulanten Betreuung?<br />

Neben den medizinischen Fragen treten dann auch die Fragen auf, wie die Situation<br />

wirtschaftlich gemeistert werden kann. Welche Hilfen gibt es?<br />

Ist es das eigene Kind, das an einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung leidet, so wird es<br />

vielleicht nach Abschluss <strong>der</strong> Schule nicht wie an<strong>der</strong>e eine Ausbildung o<strong>der</strong><br />

ein Studium beginnen, um bald auf eigenen Beinen zu stehen. Die Eltern fragen<br />

sich, ob sie ein Leben lang für ihr Kind aufkommen müssen. Welche Hilfen<br />

können sie in Anspruch nehmen?<br />

• Welche Hilfen gibt es nach SGB II, welche nach SGB XII?<br />

• Wann ist welches Gesetz anwendbar?<br />

• Was gilt für den Einsatz von eigenem Einkommen und Vermögen?<br />

• Wann können Angehörige vom Sozialleistungsträger finanziell herangezogen<br />

werden?<br />

• Welche Möglichkeiten <strong>der</strong> finanziellen Vorsorge haben Angehörige von<br />

Menschen mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung im Erbfall?<br />

Wir wollen heute versuchen, eine Bresche durch das Dickicht zu schlagen.<br />

Fragen, die bei Menschen mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung und <strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong><br />

erfahrungsgemäß immer wie<strong>der</strong> auftreten, sollen dabei den Schwerpunkt bilden:<br />

Und wer soll das bezahlen?<br />

Rechtsanwalt, München<br />

Raimund Blattmann<br />

leicht die Orientierung verlieren kann. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel<br />

eines einheitlichen Sozialgesetzbuches hat bisher zu keiner entscheidenden<br />

Vereinfachung geführt.<br />

Das System ist nicht nur verschlungen; wie in einem Dschungel breitet sich<br />

das Gestrüpp ständig weiter aus: Hastige Reformen in schneller Folge und in<br />

<strong>der</strong> Folge eine Flut von Gerichtsverfahren, die sich mit den vielen Unstimmigkeiten<br />

befassen, bestimmen das Bild. Als <strong>psychisch</strong> erkrankter Mensch o<strong>der</strong><br />

Angehöriger, <strong>der</strong> Hilfe sucht, muss man sich oftmals verloren fühlen in diesem<br />

Dschungel.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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26 27<br />

II. Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialgeld nach<br />

SGB II – Wer bekommt Leistungen?<br />

Mit dem am 1.1.2005 in Kraft getretenen SGB II wurde die frühere Arbeitslosenhilfe<br />

und die Sozialhilfe für Erwerbsfähige zusammengefasst. Leistungen<br />

sind insbeson<strong>der</strong>e das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld. An<strong>der</strong>s als die<br />

frühere Arbeitslosenhilfe orientiert sich die Höhe <strong>der</strong> Leistungen an dem pauschalierten<br />

Bedarf.<br />

Das bestimmende Motto des Gesetzes ist <strong>der</strong> Grundsatz des „For<strong>der</strong>ns und<br />

För<strong>der</strong>ns“.<br />

Welche Leistungen gibt es?<br />

Das Arbeitslosengeld II ist eine pauschalierte Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts<br />

von <strong>der</strong>zeit 345 € für Alleinstehende. Daneben werden die angemessenen<br />

Kosten <strong>der</strong> Unterkunft übernommen.<br />

Einmalige Leistungen sind weitgehend weggefallen bis auf wenige Ausnahmen,<br />

z.B. behin<strong>der</strong>ungsbedingter Mehrbedarf in Höhe von 35 % des Regelsatzes<br />

(§ 21 Abs. 4 SGB II).<br />

Besteht darüber hinaus ein unabweisbarer Mehrbedarf, so kann dieser nur<br />

durch ein Darlehen abgedeckt werden. Das Darlehen ist dann in <strong>der</strong> Folge in<br />

monatlichen Raten von bis zu 10% <strong>der</strong> Regelleistung, also 34,50 € bei Alleinstehenden,<br />

zurückzuzahlen.<br />

Darüber hinaus sind Bezieher von Arbeitslosengeld II gesetzlich kranken-,<br />

pflege- und rentenversichert.<br />

Absehbare Zeit meint einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten. Schon<br />

diese Prognose ist bei <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen oft schwer zu treffen. Psychische<br />

Erkrankungen verlaufen oft in Schüben; Phasen schwerer Erkrankung,<br />

in denen an eine Erwerbsfähigkeit nicht zu denken ist, wechseln sich ab mit<br />

Zeiten, in denen erkrankte Menschen durchaus in <strong>der</strong> Lage sind zu arbeiten.<br />

Im Zweifel müssen hierüber sachverständige Gutachter entscheiden. Bei Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen verschiedenen Leistungsträgern ist eine Einigungsstelle<br />

zur Entscheidung heranzuziehen. Bis zur Entscheidung <strong>der</strong> Einigungsstelle<br />

sind Leistungen nach SGB II zu erbringen; die Unklarheit soll<br />

sich also nicht zu Lasten des Hilfebedürftigen auswirken.<br />

Keine Leistung bei stationärer Unterbringung von mehr als sechs Monaten.<br />

Dies gilt aber nur bei vollstationärer Unterbringung. Betreutes Wohnen fällt<br />

in <strong>der</strong> Regel nicht darunter. Auch Internatsunterbringung gilt nicht als vollstationäre<br />

Unterbringung, wenn Wochenenden und Urlaub zuhause verbracht<br />

werden.<br />

Bedarfsgemeinschaften sind ein weiterer zentraler Begriff des Gesetzes. Gemeint<br />

sind Familien und nichteheliche Lebensgemeinschaften, die zusammen<br />

in häuslicher Gemeinschaft leben. Diese haben zunächst füreinan<strong>der</strong> einzustehen.<br />

Erst wenn das Einkommen und Vermögen <strong>der</strong> gesamten Bedarfsgemeinschaft<br />

für den Lebensunterhalt nicht ausreicht, besteht Anspruch auf Hilfeleistungen.<br />

Die entscheidende Weichenstellung ist hierbei <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Erwerbsfähigkeit.<br />

Für Erwerbsfähige kommen Hilfen nach SGB II in Betracht, für nicht<br />

Erwerbsfähige Hilfen nach SGB XII.<br />

Ob jemand erwerbsfähig ist, bemisst sich nach einer gesetzlichen Definition<br />

in §8 Abs.1 SGB II: „Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />

auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen<br />

des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten.“<br />

Wer ist anspruchsberechtigt?<br />

Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren, die erwerbsfähig und hilfebedürftig<br />

sind, sowie die Personen, die mit erwerbsfähigen Personen in einer<br />

Bedarfsgemeinschaft leben. (§ 7 SGB II).<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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28 29<br />

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />

Der Leistungsumfang entspricht im wesentlichen <strong>der</strong> Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Sozialhilfe.<br />

Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass ein Rückgriff des Sozialhilfeträgers<br />

auf Eltern o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ausgeschlossen ist. Ausnahmsweise werden sie<br />

herangezogen, wenn sie über ein Einkommen von über 100.000 € im Jahr<br />

verfügen.<br />

Eigenes Einkommen ist bei <strong>der</strong> Hilfe zum Lebensunterhalt sowie bei <strong>der</strong><br />

Grundsicherung nach SGB XII unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Zuverdienstgrenzen<br />

vorrangig einzusetzen. Bei den an<strong>der</strong>en Hilfen nach SGB XII ist es oberhalb<br />

bestimmter Einkommensgrenzen (doppelter Regelsatz zuzügl. Kosten<br />

<strong>der</strong> Unterkunft) einzusetzen.<br />

Bei Arbeitslosengeld II ist ein Hinzuverdienst von 100 € ohne Anrechnung<br />

möglich. Darüber hinaus werden 80 % des Zuverdienstes auf die Hilfeleistung<br />

angerechnet.<br />

III. Sozialhilfe nach SGB XII<br />

Hilfe zum Lebensunterhalt für nicht Erwerbsfähige<br />

Die Regelsätze entsprechen im wesentlichen denen, die nach SGB II bezahlt<br />

werden. Daneben werden ebenfalls die angemessenen Kosten <strong>der</strong> Unterkunft<br />

übernommen. Unabweisbare Bedarfe können im Einzelfall zu einer Erhöhung<br />

des Regelsatzes führen.<br />

IV. Einsatz von Einkommen und Vermögen<br />

Nach dem so genannten Nachrangprinzip wird Sozialhilfe erst dann gewährt,<br />

wenn alle an<strong>der</strong>en Möglichkeiten <strong>der</strong> Selbsthilfe o<strong>der</strong> Hilfe durch an<strong>der</strong>e ausgeschöpft<br />

sind.<br />

Weiterhin können erbracht werden Leistungen für<br />

• die Betreuung min<strong>der</strong>jähriger o<strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong><br />

• die häusliche Pflege von <strong>Angehörigen</strong><br />

• Psychosoziale Betreuung<br />

• Suchtberatung<br />

• Einstiegsgeld<br />

Leistungen zur Einglie<strong>der</strong>ung in Arbeit<br />

soll gezahlt werden, um <strong>psychisch</strong> kranken Menschen die Aufnahme einer<br />

Beschäftigung zu ermöglichen. Im wesentlichen handelt es sich hierbei um<br />

Leistungen nach dem Arbeitsför<strong>der</strong>ungsrecht (SGB III), wie sie Arbeitslosengeldbeziehern<br />

gewährt werden. Diese Leistungen werden allerdings nur als<br />

Ermessensleistungen erbracht. D.h. es besteht in <strong>der</strong> Regel kein Rechtsanspruch<br />

auf eine bestimmte Leistung.<br />

Der Leistungsumfang dieser Leistungen wird von an<strong>der</strong>en Gesetzen bestimmt.<br />

So wird Hilfe zur Krankheit geleistet, wenn kein Versicherungsschutz in einer<br />

gesetzlichen Krankenversicherung besteht; <strong>der</strong> Leistungsumfang deckt sich<br />

mit dem <strong>der</strong> gesetzlichen Krankenversicherung. Entsprechendes gilt für die<br />

Hilfe zur Pflege und zur Weiterführung des Haushalts.<br />

Beson<strong>der</strong>e Bedeutung haben die im Rahmen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe geleisteten<br />

Hilfen zur Teilhabe am Leben in <strong>der</strong> Gemeinschaft für die psychiatrische<br />

Versorgung. Da es hier keinen vorrangigen Leistungsträger gibt, werden z.B.<br />

Einrichtungen des betreuten Wohnens häufig durch den Sozialhilfeträger<br />

finanziert.<br />

Sozialgeld<br />

erhalten die nichterwerbsfähigen <strong>Angehörigen</strong>, die mit erwerbsfähigen <strong>Angehörigen</strong><br />

in einer Bedarfsgemeinschaft leben.<br />

Weitere Leistungen nach SGB XII<br />

• Hilfe bei Krankheit<br />

• Einglie<strong>der</strong>ungshilfe für behin<strong>der</strong>te Menschen<br />

• Hilfe zur Pflege<br />

• Hilfe zur Weiterführung des Haushalts<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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30 31<br />

In <strong>der</strong> Regel kein Rückgriff bei ALG II und Grundsicherung nach<br />

SGB XII<br />

Erhält ein <strong>psychisch</strong> erkrankter Mensch Arbeitslosengeld II o<strong>der</strong> Leistungen<br />

<strong>der</strong> Grundsicherung bei Erwerbsmin<strong>der</strong>ung, kann er nur in Ausnahmefällen<br />

auf den Unterhalt durch Angehörige verwiesen werden.<br />

Auch vorhandenes Vermögen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> ist einzusetzen, falls das laufende<br />

Einkommen zur Erfüllung <strong>der</strong> Unterhaltsverpflichtung nicht ausreicht.<br />

V. Heranziehung von <strong>Angehörigen</strong><br />

Nach dem bereits erwähnten Nachrangprinzip <strong>der</strong> Sozialhilfe müssen alle an<strong>der</strong>en<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Hilfe vorrangig eingesetzt werden. Zu den vorrangigen<br />

Leistungen gehört auch <strong>der</strong> Unterhalt, den Angehörige zu leisten haben.<br />

Nach dem BGB sind Verwandte ersten Grades, das sind Kin<strong>der</strong> und Eltern,<br />

einan<strong>der</strong> zum Unterhalt verpflichtet.<br />

Verfügt ein <strong>psychisch</strong> erkrankter Mensch selbst über kein ausreichendes Einkommen<br />

und auch kein anrechenbares Vermögen, so werden ihm auf Antrag<br />

Leistungen <strong>der</strong> Sozialhilfe gewährt. Soweit daneben Unterhaltspflichten von<br />

<strong>Angehörigen</strong> bestehen, kann <strong>der</strong> Sozialhilfeträger bei Ihnen Rückgriff nehmen;<br />

er for<strong>der</strong>t das geleistete Geld von Ihnen zurück. Dabei muss <strong>der</strong> sogenannte<br />

Selbstbehalt berücksichtigt werden: das ist <strong>der</strong> Betrag, <strong>der</strong> den <strong>Angehörigen</strong><br />

für ihren eigenen Unterhalt zugestanden wird. Er liegt vereinfacht bei<br />

1.400 € plus 1.050 € für den Ehegatten. Von dem darüber hinausgehenden<br />

Teil ist die Hälfte für den Unterhalt des Kindes aufzubringen.<br />

Kin<strong>der</strong>geld ist eigentlich „Elterngeld“<br />

Die Bezeichnung „Kin<strong>der</strong>geld“ ist eigentlich irreführend. Treffen<strong>der</strong> müsste<br />

es als „Elterngeld“ bezeichnet werden, da es sich um Einkommen <strong>der</strong> Eltern<br />

handelt. Es dient dazu, sie bei <strong>der</strong> Erbringung ihrer vielleicht lebenslang bestehenden<br />

Unterhaltspflicht gegenüber ihren Kin<strong>der</strong>n zu unterstützen.<br />

Nur wenn Eltern das Kin<strong>der</strong>geld z.B. durch einen Dauerüberweisungsauftrag<br />

an das Kind weiterleiten, wird es zum Einkommen des Kindes. Davon ist dringend<br />

abzuraten, wenn das Kind Sozialleistungen bezieht, die in <strong>der</strong> Folge um<br />

diesen Betrag gekürzt werden.<br />

Auch bei stationärer Unterbringung des Kindes besteht weiter Anspruch auf<br />

Kin<strong>der</strong>geld. Einer Abzweigung des Kindes auf den Sozialhilfeträger, wie es<br />

immer wie<strong>der</strong> versucht wird, sollte man unbedingt wi<strong>der</strong>sprechen und sich<br />

mit Rechtsmitteln wehren. Die Abzweigung ist in <strong>der</strong> Regel rechtswidrig, da<br />

sie nur erfolgen darf, soweit von den Eltern keinerlei Unterhaltsleistungen erbracht<br />

werden (vgl. Beitrag des Verfassers in <strong>der</strong> Oktoberausgabe 2006 von<br />

unbeirrbar).<br />

VI. Kin<strong>der</strong>geld<br />

Auch Kin<strong>der</strong>geld ist Einkommen und wird bei <strong>der</strong> Prüfung <strong>der</strong> Bedürftigkeit<br />

berücksichtigt. Kin<strong>der</strong>geld wird auch über das 27. Lebensjahr hinaus gezahlt,<br />

wenn das Kind wegen einer körperlichen, geistigen o<strong>der</strong> seelischen Behin<strong>der</strong>ung<br />

seinen eigenen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann.<br />

Auch eigenes Vermögen ist aufzubrauchen, bevor Sozialleistungen beantragt<br />

werden können. Bestimmte Vermögensgegenstände werden aber geschont.<br />

Das wichtigste Schonvermögen ist das selbst genutzte Hausgrundstück, das<br />

nicht verwertet werden muss. Im SHB II gibt es mehrere Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Altersvorsorge, die erhalten werden können und so im Alter bereit stehen. Es<br />

ist dringend anzuraten, sich bereits vor <strong>der</strong> Antragstellung umfassend beraten<br />

zu lassen; durch rechtzeitige gezielte Umschichtung können Vermögenswerte<br />

erhalten und somit eine Absicherung im Alter erreicht werden.<br />

Ausnahme bei Leistungen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

Eine Ausnahme gilt auch, wenn volljährige <strong>psychisch</strong> erkrankte Menschen<br />

Leistungen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe o<strong>der</strong> Hilfe zur Pflege erhalten.<br />

Angehörige werden in diesen Fällen nur mit einem Pauschalbetrag von 26 €<br />

herangezogen. Werden zusätzlich Hilfen zum Lebensunterhalt geleistet, kann<br />

eine weitere Pauschale in Höhe von 20 € von den unterhaltspflichtigen <strong>Angehörigen</strong><br />

verlangt werden.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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32 33<br />

Durch ein so genanntes Behin<strong>der</strong>tentestament können die geschil<strong>der</strong>ten negativen<br />

Auswirkungen in vielen Fällen vermieden werden.<br />

Aufgrund dieser Situation versuchen viele Eltern, eine Art Altersvorsorge zugunsten<br />

des erkrankten Kindes über Lebensversicherungen, Sparbücher o<strong>der</strong><br />

Wohnrechte zu schaffen. In <strong>der</strong> Regel hilft diese Altersversorgung dem Kind<br />

aber nicht weiter, weil <strong>der</strong> Sozialhilfeträger solche Vermögen einziehen kann,<br />

so dass dem Kind nur wenig o<strong>der</strong> gar nichts von dem Ersparten bleibt. Darüber<br />

hinaus verlangt <strong>der</strong> Sozialhilfeträger vom überlebenden Ehegatten o<strong>der</strong> Lebenspartner<br />

den Erbanteil bzw. den Pflichtteil des Kindes heraus. Das kann<br />

namentlich dann, wenn das Vermögen <strong>der</strong> Eltern im wesentlichen aus einer<br />

selbst genutzten Immobilie besteht, zu sehr unangenehmen Konsequenzen<br />

zulasten des überlebenden Ehegatten bzw. Lebenspartners führen.<br />

Ich hoffe, Ihnen in <strong>der</strong> kurzen Zeit einen gewissen Überblick verschafft zu<br />

haben über diese sehr unübersichtliche Materie und Ihnen einen Leitfaden zur<br />

Orientierung im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze an die Hand gegeben zu haben, und<br />

bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Im Rahmen des heutigen Vortrags muss ich es bei diesem kurzen Hinweis auf<br />

die Möglichkeiten dieser Art <strong>der</strong> Vorsorge belassen. Im Einzelfall ist eine eingehende<br />

Beratung unerlässlich, da es sich um eine hochkomplexe Materie<br />

handelt und Fehler zum Wegfall des Vermögens führen können.<br />

VII. Möglichkeiten <strong>der</strong> Vorsorge – das „Spezialtestament für<br />

Eltern von Kin<strong>der</strong>n mit Behin<strong>der</strong>ung“<br />

Die Situation von Eltern <strong>psychisch</strong> erkrankter Kin<strong>der</strong> ist durch eine lebenslange<br />

Sorge um die Kin<strong>der</strong> gekennzeichnet.<br />

Mit zunehmendem Alter taucht oft die Frage auf: Wer kümmert sich nach unserem<br />

Tod so intensiv um unser Kind? Wer nimmt es mit in den Urlaub? Wer<br />

nimmt es mit zu Veranstaltungen? Wer stellt das bisherige Lebensniveau unseres<br />

Kindes immateriell und materiell sicher? Das soziale Netz kann diese Aufgabe<br />

in Zeiten des Sparzwangs immer weniger befriedigend lösen.<br />

Eltern <strong>psychisch</strong> erkrankter Kin<strong>der</strong> wissen daher inzwischen, dass sie eine<br />

Art Altersversorgung für ihr erwachsenes Kind aufbauen müssen, wenn sie<br />

dessen jetzigen Lebensstandard nach ihrem eigenen Versterben sichern wollen.<br />

So gilt es, für das eigene Kind Mittel beiseite zu legen, die es z.B. ermöglichen,<br />

von den Kassen nicht bezahlte Therapien zu sichern und eine angemessene<br />

Bekleidung sowie Urlaubsfahrten zu finanzieren.<br />

Da <strong>der</strong> Testamentsvollstrecker nur an die Bestimmungen <strong>der</strong> Erblasser gebunden<br />

ist, kann <strong>der</strong> Sozialhilfeträger nicht von ihm den Einsatz des Erbteils des<br />

Kindes mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung für solche Maßnahmen verlangen, die<br />

<strong>der</strong> Sozialhilfeträger zu tragen hätte.<br />

Der Schutz des Erbteils des Kindes wird dabei auf zweierlei Weise erreicht:<br />

durch die Anordnung <strong>der</strong> Testamentsvollstreckung und die Anordnung <strong>der</strong><br />

Vor- und Nacherbschaft.<br />

Der Testamentsvollstrecker hat die Aufgabe, den Nachlass zu verwalten und<br />

bei einer Erbengemeinschaft ggf. die Erbauseinan<strong>der</strong>setzung unter den Erben<br />

vorzunehmen. Die Erblasser müssen ausdrücklich die Anordnung treffen, dass<br />

das Erbe nur dazu verwendet werden soll, dem <strong>psychisch</strong> erkrankten Kind<br />

einen Lebensstandard über dem Sozialhilfeniveau zu ermöglichen. Zudem<br />

muss ausdrücklich geregelt sein, dass <strong>der</strong> Testamentsvollstrecker nicht berechtigt<br />

ist, durch seine Zahlungen den Sozialhilfeträger zu entlasten.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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34 35<br />

zunächst möchte ich ganz herzliche Grüße überbringen von unserem Rehabilitations-<br />

und Heimleiter Herrn Bräuning-Edelmann, <strong>der</strong> lei<strong>der</strong> aus terminlichen<br />

Gründen heute nicht selbst hier sein kann und den ich heute die Ehre<br />

habe zu vertreten.<br />

Zu meiner Person: Seit über 10 Jahren lebe ich mit meiner Familie in Herzogsägmühle.<br />

Nach dem Abschluss des Sozialpädagogik-Studiums habe ich zunächst<br />

einige Jahre im damaligen „För<strong>der</strong>ungslehrgang“ <strong>der</strong> Herzogsägmühle<br />

gearbeitet, bevor ich vor nun fast 4 Jahren die Leitung <strong>der</strong> heutigen „BVB“<br />

(berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme) übernommen habe.<br />

Wir in Herzogsägmühle verstehen uns als „Ort zum Leben“, als ein Teil <strong>der</strong><br />

Gemeinde Peiting im Landkreis Weilheim-Schongau und nicht als Einrichtung.<br />

Dieses Selbstverständnis nach außen zu tragen ist uns ein wichtiges Anliegen,<br />

an dem wir ständig mit viel Energie arbeiten, und wir sind stolz darauf,<br />

den dörflichen Charakter erhalten zu können, trotz einem großen, breitgefächerten<br />

und mo<strong>der</strong>nen Hilfsangebot. Hierzu gehören neben einem großen<br />

therapeutisch-pädagogischen Wohnbereich mit Wohngemeinschaften für<br />

Jugendliche auch eine Haupt- und eine Berufsschule zur individuellen Lernför<strong>der</strong>ung,<br />

gut 40 Ausbildungsberufe, die hier in eigenen Betrieben gelehrt<br />

1. Medizinische und berufliche Rehabilitation für Menschen mit<br />

seelischer Erkrankung in Herzogsägmühle<br />

Seit nunmehr 20 Jahren finden Menschen mit einer seelischen Erkrankung in<br />

Herzogsägmühle die Möglichkeit zur <strong>psychisch</strong>en Stabilisierung, zu einer<br />

Steigerung ihres Leistungsvermögens und einer Erweiterung ihrer sozialen<br />

und persönlichen Kompetenzen. Für diese Hilfe stehen in Herzogsägmühle<br />

60 Plätze zur Verfügung.<br />

Am Beispiel des Rehabilitationszentrums für Menschen mit seelischer Erkrankung<br />

„Häuser am Latterbach“ und im zweiten Teil meiner Ausführungen<br />

auch mit Blick auf eine berufliche Rehabilitation im „BVB – berufsvorbreitende<br />

Bildungsmaßnahme für Menschen mit seelischer Erkrankung“ (Son<strong>der</strong>lehrgang)<br />

in Herzogsägmühle möchte ich Ihnen den Ablauf und die Kostenträgersituation<br />

in den unterschiedlichen Bereichen <strong>der</strong> Rehabilitation aufzeigen.<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

sehr geehrte Vertreter <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>,<br />

sehr geehrte Tagungsgäste,<br />

Medizinische und berufliche Rehabilitation für<br />

Menschen mit seelischer Erkrankung<br />

in Herzogsägmühle<br />

Dipl.- Sozialpädagogin (FH),<br />

Leiterin <strong>der</strong> Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme Herzogsägmühle<br />

Trude Tahlheimer-Hein<br />

werden, eine Werkstatt für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung, dazu zählt auch ein<br />

eigener Bereich für Menschen mit einer seelischen Erkrankung, Wohngruppen<br />

für Menschen mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung, therapeutische Einrichtungen für<br />

Menschen mit Suchtproblemen sowie ein Altenheim. Und selbstverständlich<br />

das Rehabilitationszentrum für Menschen mit einer seelischen Erkrankung<br />

mit 60 Plätzen, seit über 10 Jahren auch ein Son<strong>der</strong>lehrgang für Menschen<br />

mit seelischer Erkrankung „BVB – berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme“<br />

mit <strong>der</strong> Möglichkeit zur beruflichen Orientierung und Vorbereitung auf Ausbildung<br />

und Berufstätigkeit am Arbeitsmarkt mit 14 Plätzen. Mit über 850<br />

Mitarbeitern zählt Herzogsägmühle zu den größten Arbeitgebern <strong>der</strong> Region.<br />

Anmerken möchte ich, dass unser Weihnachtsmarkt jeweils am 1. Advents-<br />

Wochenende o<strong>der</strong> zum Dorffest jeweils am 1. Juli-Wochenende gute Gelegenheiten<br />

bieten, die Herzogsägmühler und die Dorfgemeinschaft kennen zu<br />

lernen, und ich möchte Sie schon heute dazu herzlich einladen.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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36 37<br />

Ablauf <strong>der</strong> medizinischen Rehabilitation<br />

Im Anschluss an einen Klinikaufenthalt in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus,<br />

aber auch nach Empfehlung durch einen nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiater<br />

erfolgt in <strong>der</strong> Regel eine erste Kontaktaufnahme <strong>der</strong> Rehabilitanden mit <strong>der</strong><br />

Aufnahme unseres Rehabilitationszentrums.<br />

• Jeweils am letzten Dienstag eines Monats findet ein „Offener Info-Tag“<br />

im Rehabilitationszentrum statt. In <strong>der</strong> Zeit von 13.00 bis 15.00 Uhr haben<br />

Betroffene und Angehörige die Möglichkeit, sich vor Ort über die<br />

Arbeit des Rehabilitationszentrums zu informieren. Optional können<br />

auch ein Rehabilitandenzimmer sowie die weiteren Räumlichkeiten des<br />

Rehabilitationszentrums, abwechselnd auch einige Fachbereiche, wie<br />

Ergotherapie o<strong>der</strong> BVB, besichtigt werden. Eine Anmeldung zum Info-<br />

Tag über die Aufnahme <strong>der</strong> „Häuser am Latterbach“ ist erwünscht, aber<br />

nicht zwingend notwendig.<br />

• Bei <strong>der</strong> medizinischen Rehabilitation handelt es sich um eine vollstationäre<br />

Maßnahme, die in <strong>der</strong> Regel für die Dauer von 12 Monaten beantragt<br />

und von den Kostenträgern auch genehmigt wird. Anmeldeformulare<br />

können über das Internet o<strong>der</strong> direkt über Frau Benner bezogen werden.<br />

• Während <strong>der</strong> medizinischen Rehabilitation wohnen die Betroffenen in<br />

Wohngruppen mit bis zu 20 Bewohnern. In jedem Gruppenhaus gibt es<br />

ein Doppelzimmer, im Regelfall bewohnen die Rehabilitanden ein Einzelzimmer<br />

mit Nasszelle. Die Mahlzeitenversorgung erfolgt zunächst<br />

zentral, kann aber individuell an die Möglichkeiten des Rehabilitanden<br />

angepasst werden. Die Betreuung <strong>der</strong> Rehabilitanden erfolgt nach dem<br />

Bezugspersonen-Prinzip.<br />

• Selbstzahler erfahren die Kostensätze über den Rehabilitationsleiter.<br />

• Die Kolleginnen <strong>der</strong> Aufnahme <strong>der</strong> Häuser am Latterbach sind Ihnen<br />

gerne bei <strong>der</strong> Klärung <strong>der</strong> Kostenübernahme durch Krankenversicherung<br />

o<strong>der</strong> Rentenversicherungsträger (DRV Bund/ DRV Land) o<strong>der</strong> den überörtlichen<br />

Sozialhilfeträger behilflich.<br />

• Eine detaillierte „Vermögensberatung“ für Angehörige kann jedoch von<br />

unserer Seite her nicht erfolgen.<br />

Kosten<br />

Organisationsstruktur<br />

Fachbereichsleiter: Herr Dr. Harald Flatz, Psychiater<br />

Heim- und Rehabilitationsleiter: Herr Michael Bräuning-Edelmann<br />

Leiterin Aufnahme: Frau <strong>Eva</strong> Benner<br />

• Im Rahmen einer Aufnahmegruppe haben neue Rehabilitanden die Gelegenheit,<br />

hier anzukommen, sich zu orientieren und ihre lebenspraktischen<br />

Fähigkeiten zu erweitern und zu vertiefen. Die körperliche und<br />

<strong>psychisch</strong>e Leistungsfähigkeit sowie die sozialen Kompetenzen werden<br />

gefestigt und erweitert.<br />

• Nach einer Eingewöhnungs- und Stabilisierungs-Phase können die Rehabilitanden<br />

am Programm <strong>der</strong> Beschäftigungstherapie teilnehmen. Ziel<br />

ist <strong>der</strong> Erhalt und die Steigerung <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit, um den Rehabilitanden<br />

die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.<br />

• Begleitend findet regelmäßige Reha-Beratung, insbeson<strong>der</strong>e auch in bezug<br />

auf die berufliche Rehabilitation durch spezialisierte Mitarbeiter,<br />

aber auch im Rahmen von „In-House-Beratung“ durch den jeweiligen<br />

Kostenträger statt.<br />

• Sport und Entspannungstraining werden kontinuierlich angeboten.<br />

• Regelmäßige qualifizierte psychiatrische, ärztliche, psychologische und<br />

sozialpädagogische Betreuung und Begleitung sind obligatorisch.<br />

• Der Übergang in eine berufliche Tätigkeit bzw. in eine berufliche Vorbereitungsmaßnahme<br />

sowie die lebenspraktische Verselbständigung werden<br />

vom Reha-Team in Zusammenarbeit mit dem Rehabilitanden sorgfältig<br />

vorbreitet und begleitet.<br />

• Auf Wunsch und in Absprache mit den Rehabilitanden werden Angehörige<br />

gerne in die Arbeit des Reha-Zentrums miteinbezogen.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 36


38 39<br />

Ablauf <strong>der</strong> beruflichen Rehabilitation<br />

• Nach erfolgter Medizinischer Rehabilitation können geeignete Teilnehmer<br />

von Juli bis Dezember jeden Jahres die BVB- Maßnahme beginnen.<br />

Ziel <strong>der</strong> Maßnahme ist eine Stabilisierung <strong>der</strong> Arbeitsbelastbarkeit auf<br />

bis zu 8 Stunden, eine Verbesserung <strong>der</strong> Integrationschancen auf dem<br />

Arbeitsmarkt o<strong>der</strong> die Vorbereitung auf eine Ausbildung.<br />

• Nach einer 3-wöchigen Eignungsanalyse erfolgt <strong>der</strong> erste Kontakt mit<br />

dem Kostenträger zur Bestätigung <strong>der</strong> Eignung des Rehabilitanden für<br />

die BVB- Maßnahme.<br />

• Im Rahmen <strong>der</strong> anschließenden 4-monatigen Grundstufe hat <strong>der</strong> Rehabilitand<br />

die Möglichkeit, sich in bis zu 4 Arbeitsfel<strong>der</strong>n zu erproben,<br />

Eignung und Neigung festzustellen. Die angebotenen Bereiche umfassen:<br />

Holz/Handwerk, Garten, Büro/Verwaltung, Hauswirtschaft.<br />

• Die För<strong>der</strong>stufe dient zur zielgerichteten Vertiefung <strong>der</strong> erworbenen<br />

Fähigkeiten mit dem Ziel, eine Ausbildung o<strong>der</strong> Berufstätigkeit aufzu-<br />

Kosten<br />

• Selbstzahler erfahren die Kostensätze für BVB-Maßnahme und Internat<br />

über die Lehrgangsleitung.<br />

• In <strong>der</strong> Regel trägt <strong>der</strong> Kostenträger sowohl die Kosten für die BVB -<br />

Maßnahme als auch für die internatsmässige Unterbringung.<br />

• Wurde die medizinische Rehabilitation von <strong>der</strong> Krankenkasse gezahlt,<br />

wird i.d.R. das Heimatarbeitsamt des Rehabilitanden für die Kostenübernahme<br />

<strong>der</strong> Beruflichen Rehabilitation zuständig sein.<br />

• Wurde die medizinische Rehabilitation von einem Rentenversicherungsträger<br />

gezahlt, wird dieser auch i.d.R. für die Kostenübernahme <strong>der</strong> beruflichen<br />

Rehabilitation zuständig sein.<br />

In jedem Fall erfolgt eine entsprechende Beratung und Hilfestellung bei <strong>der</strong><br />

empfohlenen Anschlussmaßnahme durch die Bezugspersonen.<br />

Dies gilt ebenfalls für die möglichen Anschlussmaßnahmen nach Beendigung<br />

des BVB- Lehrgangs.<br />

Organisationsstruktur<br />

Fachbereichsleiter: Herr Dr. Harald Flatz, Psychiater<br />

BVB Lehrgangsleitung: Frau Trude Thalheimer-Hein<br />

2. Berufliche Rehabilitation für Menschen mit einer seelischen<br />

Erkrankung in Herzogsägmühle am Beispiel <strong>der</strong> Berufsvorbereitenden<br />

Bildungsmaßnahme (BVB)<br />

Seit über 10 Jahren bietet Herzogsägmühle Menschen mit einer seelischen<br />

Erkrankung im Rahmen einer speziellen „Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme“<br />

die Möglichkeit <strong>der</strong> beruflichen Orientierung sowie eine gezielte<br />

Vorbereitung auf die Anfor<strong>der</strong>ungen einer Berufstätigkeit o<strong>der</strong> Ausbildung<br />

an. Für diese Hilfe stehen in Herzogsägmühle 14 Plätze zur Verfügung.<br />

Nach erfolgreichem Abschluss <strong>der</strong> BVB kann bei entsprechen<strong>der</strong> Eignung<br />

eine Ausbildung in Herzogsägmühle absolviert werden. Wir bieten auch die<br />

sog. „Fachwerker“-Ausbildungsgänge an, die für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

entsprechende Lern- und Prüfungs-Hilfestellungen ermöglichen.<br />

nehmen. Im Rahmen von begleiteten Praktika in Herzogsägmühler Betrieben<br />

o<strong>der</strong> in Betrieben in an<strong>der</strong>en Orten haben die Rehabilitanden die<br />

Möglichkeit, ihre erworbenen Fähigkeiten und Vorstellungen an <strong>der</strong> Realität<br />

des Arbeitsalltags zu messen.<br />

• Im Rahmen des pädagogisch-therapeutischen Begleitprogramms haben<br />

Rehabilitanden die Möglichkeit, Schulkenntnisse aufzufrischen und zu<br />

vertiefen, an einem spezifischen Bewerbungstraining teilzunehmen.<br />

Auch Stressmanagement, Kommunikationstraining, Projektarbeit und<br />

Sport gehören zum Begleitprogramm.<br />

• Psychiatrische, psychologische, therapeutische und pädagogische Begleitung<br />

sind obligatorisch und zeichnen die Herzogsägmühler Berufsvorbereitende<br />

Bildungsmaßnahme beson<strong>der</strong>s aus.<br />

• Die Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zeichnet sich neben dem<br />

o.g. Programm weiter durch eine enge Zusammenarbeit mit dem zugehörigen<br />

Internatsbereich aus. Da als „integrierte Maßnahme“ konzipiert,<br />

ist die internatsmässige Unterbringung obligatorisch.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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40 41<br />

Ausbildung<br />

über 60 Berufe in Herzogsägmühle<br />

außerhalb von Herzogsägmühle<br />

schulische Ausbildung<br />

Arbeitsmarkt<br />

I+S<br />

Integration und Service<br />

Selbsthilfefirma<br />

Werkstatt für Behin<strong>der</strong>te<br />

BVB<br />

Hinführung zur Ausbildungs- u. Berufsreife<br />

Leistungs- und Fähigkeitsdiagnostik<br />

Vorbereitung <strong>der</strong> weiteren berufl. Einglie<strong>der</strong>ung<br />

BBM<br />

spezielles Berufstraining für Menschen<br />

mit seelischer Erkrankung<br />

Arbeitstraining<br />

Medizinische Reha<br />

Psychische Stabilisierung<br />

Steigerung des leistungsvermögens<br />

Erweiterung sozialer und persönlicher Kompetenzen<br />

Von Anfang an sind es die nahen <strong>Angehörigen</strong>, die auf vielfältige Weise versuchen,<br />

die Krankheitsfolgen zu überwinden o<strong>der</strong> zu mil<strong>der</strong>n. Ihre oft jahre-,<br />

ja mitunter jahrzehntelange Begleitung besteht nicht nur in <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> mitfühlenden,<br />

ermutigenden, hilfsbereiten, alles aus dem Wege räumenden Begleiter,<br />

zeitweise unterstützen sie die Therapien und motivieren zum Durchhalten,<br />

und sie vertreten die Interessen des <strong>psychisch</strong> kranken, hilfebedürftigen<br />

Familienmitglieds bei Fragen <strong>der</strong> Behandlung, <strong>der</strong> Rehabilitation, bei Be-<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> beruflichen Rehabilitation in Herzogsägmühle<br />

3. Zusammenfassung<br />

Wenn gewünscht, erfolgt die Rehabilitation von Menschen mit einer seelischen<br />

Erkrankung in Herzogsägmühle auf <strong>der</strong> Basis langjähriger Erfahrung<br />

„unter einem Dach“.<br />

Das bietet insbeson<strong>der</strong>e für die Rehabilitanden viele Vorteile:<br />

• Es kann jeweils ein umfassende Reha-Beratung erfolgen, ebenso wie<br />

Hilfestellung bzw. Übernahme <strong>der</strong> Kostenklärung vor Aufnahme ins<br />

Rehabilitationszentrum.<br />

• Aufgebaute soziale Bezüge bleiben stabil, ebenso wie behandelnde Ärzte<br />

und Therapeuten.<br />

• Entwicklungsschritte und -schwankungen können auf dem Erfahrungshintergrund<br />

einer längerfristigen Arbeit mit dem jeweiligen Rehabilitanden<br />

eingeschätzt und objektiviert werden.<br />

• Entwicklungen im lebenspraktischen wie im beruflichen Bereich können<br />

unabhängig voneinan<strong>der</strong> individuell angepasst vollzogen werden.<br />

Zum Ende meiner Ausführungen darf ich Sie nochmals herzlich einladen, den<br />

unverbindlichen Informationstag des Rehabilitationszentrums zu besuchen<br />

o<strong>der</strong> gerne einen Termin zur Einzelberatung mit meinen Kolleginnen o<strong>der</strong> mir<br />

zu vereinbaren.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Trotz aller Fortschritte bei <strong>der</strong> Behandlung und Rehabilitation <strong>psychisch</strong> kranker<br />

Menschen bleibt eine nicht geringe Anzahl <strong>der</strong> Betroffenen auf emotionale,<br />

för<strong>der</strong>nde und ganz praktische Unterstützung angewiesen. Ihnen fällt es<br />

schwer, wie<strong>der</strong> „ins Leben zurückzukehren“, teilzuhaben an Angeboten und<br />

Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens. Irrationale Ängste, depressive Verstimmungen,<br />

Rückzug und Vermeiden von sozialen Kontakten, Wahrnehmungsstörungen<br />

mit Beeinträchtigungen des Urteilsvermögens sind nur einige<br />

krankheitsbedingte Beson<strong>der</strong>heiten <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen, die einer<br />

vielleicht zeitlich begrenzten Unterstützung bedürfen. Es zählt zu den Beson<strong>der</strong>heiten<br />

<strong>psychisch</strong>er Erkrankungen, dass die Erkrankten ihre ganz persönlichen<br />

und erhalten gebliebenen Fähigkeiten, ihre Begabungen und Talente<br />

nicht wirklich nutzen können.<br />

Sozialer Dschungel und die <strong>Angehörigen</strong> mittendrin<br />

Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />

Landestreffen<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong><br />

Gesetzesdschungel<br />

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42 43<br />

Bei <strong>der</strong> Interessenvertretung und bei <strong>der</strong> Einfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Rechte <strong>der</strong> Betroffenen<br />

stoßen Angehörige auf eine Fülle von Gesetzen: Sozialhilfegesetze,<br />

Versicherungsgesetze, Gesundheitsgesetze, Arbeitsgesetze, Datenschutzgesetze,<br />

Betreuungsgesetze, hoheitliche Gesetze, Strafgesetze, Gleichbehandlungsgesetze<br />

und viele an<strong>der</strong>e mehr. Diese Gesetze sind in unterschiedlichen<br />

Gesetzbüchern angesiedelt. Manche Themenbereiche befinden sich gleichzeitig<br />

in mehreren Gesetzbüchern. Welches davon zuständig ist, hängt von vielen<br />

Dingen ab, z.B. von <strong>der</strong> gesundheitlichen Situation <strong>der</strong> betreffenden Person,<br />

seiner sozialen Lage und von <strong>der</strong> Verquickung mit an<strong>der</strong>en rechtlichen<br />

Fragen. Also ein rechter Dschungel <strong>der</strong> Gesetze, <strong>der</strong> für Laien oft nur schwer<br />

zu durchschauen ist?<br />

Gleicher Schutz für alle durch Gesetze<br />

Uns Angehörige beschleicht zudem dann und wann das Gefühl, für <strong>psychisch</strong><br />

Kranke würden manche Gesetze nicht gelten. Und bei manchen Gesetzen, so<br />

meinen Angehörige, gibt es Lücken, was die Berücksichtigung <strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>heiten<br />

<strong>psychisch</strong> kranker Menschen anbelangt. Beruht diese Wahrnehmung<br />

auf Tatsachen, o<strong>der</strong> hat das vielleicht damit zu tun, dass <strong>psychisch</strong> kranke<br />

Menschen und wir <strong>Angehörigen</strong> im Laufe <strong>der</strong> Zeit sehr sensibel in Bezug auf<br />

Ungerechtigkeiten ihnen gegenüber geworden sind? Vergleichen wir vielleicht<br />

argwöhnischer als früher, wie wir behandelt werden und wie die an<strong>der</strong>en?<br />

Das wäre nicht gut – für uns nicht und für unsere gesellschaftliche Situation<br />

nicht! Wir würden verbittern, traumatisierten uns selber, würden gesellschaftliche<br />

Kontakte meiden und würden schließlich selber krank.<br />

Wenn wir versuchen Gesetze, die mit Gleichstellung und Gleichbehandlung<br />

zu tun haben, daraufhin zu überprüfen, müssen wir tatsächlich feststellen,<br />

dass die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen so gut wie keine Beachtung<br />

finden. Das bedeutet für die Betroffenen und ihre <strong>Angehörigen</strong> eine Be-<br />

Konflikte bei Interessenvertretung<br />

Angehörige, die sich Klarheit verschaffen wollen über die Rechte ihres <strong>psychisch</strong><br />

erkrankten Familienmitglieds und über ihre eigenen, das heißt also<br />

über die <strong>der</strong> ganzen Familie, und die diese dann auch wahrzunehmen versuchen,<br />

erleben nicht selten, dass es zu Konflikten kommt, die ohne Heranziehung<br />

von Gesetzen und unter Umständen auch von Gerichten nicht zu lösen<br />

sind. Individualinteressen stoßen auf die an<strong>der</strong>er Personen, auf die Interessen<br />

von Einrichtungen o<strong>der</strong> die des Staates.<br />

Das bedeutet nun nicht unbedingt, dass immer gleich die Gerichte bemüht<br />

werden müssen. Sich aber allein auf sein Gefühl o<strong>der</strong> den eigenen Gerechtigkeitssinn<br />

o<strong>der</strong> den <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu verlassen, seinem logischen Verstand zu<br />

folgen o<strong>der</strong> zu denken „Das war doch immer so“, kann schlimme Überraschungen<br />

bringen. Die Folgen für den Kranken und seine Familie verän<strong>der</strong>n<br />

und erschweren die Existenz möglicherweise dauerhaft.<br />

Schutz und Sicherheit durch Gesetze<br />

Gesetze erfüllen ihren Zweck, wenn je<strong>der</strong> Bürger sich unter ihren Schutz stellen<br />

kann und Ungerechtigkeiten vermieden o<strong>der</strong> beseitigt werden. An<strong>der</strong>erseits<br />

vermittelt die Einhaltung <strong>der</strong> Gesetze das Gefühl, auf <strong>der</strong> richtigen Seite<br />

zu stehen und <strong>der</strong> Sicherheit.<br />

Manch einer unter Ihnen mag schon irgendwann einmal an <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

<strong>der</strong> Gesetze gezweifelt haben. O<strong>der</strong> war es nur das Gefühl, sich in einem undurchsichtigen<br />

Dschungel zu befinden und den richtigen Weg, sprich: das<br />

richtige Gesetz im richtigen Gesetzbuch nicht gefunden zu haben? Schon<br />

möglich, selbst Gerichten fehlt zuweilen <strong>der</strong> richtige Durchblick, sonst gäbe<br />

es nicht so viele erfolgreiche Revisionsverfahren.<br />

Eine zusätzliche Schwierigkeit stellen die häufig wenig eindeutigen Formulierungen<br />

<strong>der</strong> Gesetzestextes dar, die erhebliche Ermessensspielräume für<br />

Entscheidungen zulassen.<br />

hörden, gegenüber Kostenträgern und Leistungserbringern. Wegen <strong>der</strong> immer<br />

noch kursierenden Vorurteile und Stigmatisierungen brauchen <strong>psychisch</strong> kranke<br />

Menschen den Beistand ihrer <strong>Angehörigen</strong> auch bei sozialen Kontakten<br />

mit <strong>der</strong> Außenwelt, und dafür ist mitunter Schutz durch Gesetze notwendig.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 42


44 45<br />

Betreuungsgesetz<br />

Ein weiteres Beispiel ist das Betreuungsgesetz, das ursprünglich für alte Menschen<br />

mit Demenz und für geistig behin<strong>der</strong>te jüngere Menschen geschaffen<br />

wurde. Heute ist ein Großteil <strong>der</strong> gesetzlich betreuten Menschen <strong>psychisch</strong><br />

krank. Diese sind aber we<strong>der</strong> geistig verwirrt, noch brauchen sie lebenslang<br />

eine Betreuung. Das Betreuungsgesetz macht hier keinen Unterschied. Es for<strong>der</strong>t<br />

beispielsweise von gesetzlichen Betreuern keinen Nachweis über Erfahrungen<br />

mit <strong>psychisch</strong> kranken Menschen. Damit fehlt den Betreuern möglicherweise<br />

das Wissen um die große Sensibilität <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranken und<br />

um die Schwankungen im Verlauf <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen. Eine weitere<br />

Benachteiligung für <strong>psychisch</strong> kranke Betreute ergibt sich durch die neuerdings<br />

gesetzlich eingeführten Pauschalvergütungen für Betreuungsaufgaben.<br />

Eine gesetzliche Betreuung ist dann erfolgreich, wenn ein vertrauensvoller<br />

Kontakt zwischen dem Betreuten und dem Betreuer besteht. Dazu ist im Um-<br />

Gleiches Recht für alle?<br />

Psychische Erkrankungen nehmen zu, ihre wirtschaftliche Bedeutung für die<br />

Gesellschaft ist unübersehbar, wie ist es dann erklärlich, dass diesen Menschen<br />

bei <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung weniger Beachtung geschenkt wird als somatisch<br />

Kranken? Gesetze werden von Menschen gemacht. Inwieweit die in<br />

<strong>der</strong> Legislative tätigen Juristen Kenntnis von <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen haben<br />

und die dadurch entstehenden funktionellen, <strong>psychisch</strong> bedingten Handicaps,<br />

wie Probleme beim Einhalten von Fristen, Ängste vor Behördenkontakten,<br />

Antriebslosigkeit, schwankendem Krankheitsverlauf, Belastungseinschränkungen<br />

bei Zeitdruck usw., kennen, kann man nur vermuten. Ein immer<br />

wie<strong>der</strong> vorgebrachtes Argument gegen die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Verbände<br />

nach speziellerem Eingehen auf die beson<strong>der</strong>en Bedarfe <strong>psychisch</strong><br />

Kranker lautet, <strong>der</strong> Gesetzgeber könne nicht alle Individualinteressen berücksichtigen.<br />

Ich nehme an, dass Vorurteile dabei keine Rolle spielen.<br />

Es gehört jedenfalls nach wie vor zu den vordringlichen Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Organisationen,<br />

auf allen gesellschaftlichen Ebenen aufklärend zu<br />

wirken – auch beim Gesetzgeber.<br />

Schwerbehin<strong>der</strong>tengesetz<br />

Ein Beispiel dafür ist das Schwerbehin<strong>der</strong>tengesetz, das <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Situation<br />

<strong>psychisch</strong> behin<strong>der</strong>ter Menschen nicht gerecht wird. Um einen Ausgleich<br />

für körperliche <strong>psychisch</strong>e und geistige Behin<strong>der</strong>ung auf beruflicher, sozialer<br />

und wirtschaftlicher Ebene zu erhalten, bedarf es <strong>der</strong> gesetzlichen Anerkennung<br />

des Behin<strong>der</strong>tenstatus in Form des Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweises. Da es<br />

aber Teil <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Behin<strong>der</strong>ung ist, dass diese Behin<strong>der</strong>ung von den<br />

davon Betroffenen nicht wahrgenommen wird, empfinden Betroffene das Ansinnen,<br />

sich einen solchen Ausweis ausstellen zu lassen, als diskriminierend.<br />

Demotiviert verzichten sie auf die ihnen zustehenden Vorteile und auf die<br />

ihnen rechtmäßig gebührenden Ausgleiche. Notwendig wäre eine eindeutige<br />

Definition von <strong>psychisch</strong>er Behin<strong>der</strong>ung und ein zum Behin<strong>der</strong>tenausweis<br />

equivalentes Papier mit gleicher Rechtskraft.<br />

Pflegeversicherung<br />

Als letztes Beispiel möchte ich die Pflegeversicherung nennen. Die Pflegebedürftigkeit<br />

<strong>psychisch</strong> kranker Menschen ist we<strong>der</strong> deutlich sichtbar noch<br />

messbar. Die zeitliche Pflegeleistung schwankt und ihre Notwendigkeit wird<br />

von den Betroffenen wegen fehlen<strong>der</strong> Krankheitswahrnehmung häufig negiert.<br />

Die Folge ist, dass selbst <strong>psychisch</strong> Kranke mit einem hohen Hilfebedarf<br />

keine Anerkennung ihrer Pflegebedürftigkeit erhalten. Auch hier besteht<br />

also eine unübersehbare Benachteiligung <strong>psychisch</strong> kranker und behin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen. Unsere Hoffnungen ruhen auf <strong>der</strong> vor einem Jahr geschaffenen<br />

„Häuslichen psychiatrischen Pflege“ als Krankenkassenleistung, die aber in<br />

Gefahr ist, an Richtlinienstreitigkeiten zu scheitern.<br />

Landestreffen<br />

nachteiligung. Es bedeutet, dass berechtigte Ansprüche nur schwer durchzusetzen<br />

sind und dass <strong>psychisch</strong> kranke und behin<strong>der</strong>te Menschen hinsichtlich<br />

ihrer Teilhabe am öffentlichen Leben behin<strong>der</strong>t werden.<br />

gang mit <strong>psychisch</strong> Kranken viel Zeit notwendig, die mit einer Pauschalvergütung<br />

nicht honoriert wird.<br />

Gesetzesdschungel<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 44


46 47<br />

Das Grundgesetz<br />

Die Gesetzeslandschaft erscheint uns Laien wie ein Dschungel, und doch<br />

steckt ein durchdachtes System dahinter, und über allem steht ein für alle gültiger<br />

Wertekatalog, das Grundgesetz <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland (GG).<br />

Es ist für alle verbindlich, nach ihm richten sich die Legislative (Gesetzgeber),<br />

die Exekutive (Verwaltung) und die Judikative (Richtergewalt, Rechtsprechung).<br />

Das Grundgesetz ist dazu angetan, uns Familien mit <strong>psychisch</strong> Kranken Vertrauen<br />

in den grundsätzlichen Schutz unserer Persönlichkeit und unserer<br />

Rechte zu geben. Einige Artikel, die das deutlich machen, möchte ich hier<br />

zitieren:<br />

GG Artikel 1<br />

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen<br />

ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.<br />

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen<br />

Menschenrechten als Grundlage je<strong>der</strong> menschlichen Gemeinschaft,<br />

des Friedens und <strong>der</strong> Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Welt.<br />

GG Artikel 2<br />

(1) Je<strong>der</strong> hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit<br />

er nicht die Rechte an<strong>der</strong>er verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige<br />

Ordnung o<strong>der</strong> das Sittengesetz verstößt.<br />

(2) Je<strong>der</strong> hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit<br />

<strong>der</strong> Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes<br />

eingegriffen werden.<br />

GG Artikel 3<br />

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.<br />

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner<br />

Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner<br />

religiösen o<strong>der</strong> politischen Anschauungen benachteiligt o<strong>der</strong> bevorzugt<br />

werden. Niemand darf wegen seiner Behin<strong>der</strong>ung benachteiligt werden.<br />

Unsicherheiten quälen Angehörige<br />

Es liegt an <strong>der</strong> Vielschichtigkeit <strong>der</strong> Aufgaben, dass Angehörige von <strong>psychisch</strong><br />

kranken Menschen mit vielen gesetzlichen Regelungen in Berührung<br />

kommen. Im Vor<strong>der</strong>grund stehen Unsicherheiten über gesetzliche Voraussetz-<br />

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz<br />

Das Grundgesetz ist Richtschnur bei <strong>der</strong> Erstellung neuer Gesetze o<strong>der</strong> bei<br />

<strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ungen. Seine Vorgaben geben den sittlichen und ethischen Rahmen<br />

unserer Gesellschaft ab. Die darin verankerten Rechte sind aber privatrechtlich<br />

nicht einklagbar.<br />

Der zivilrechtliche Benachteiligungsschutz fehlte bis 2006. Das ist kein ausschließlich<br />

deutsches Phänomen. Die EU verlangte daher von allen Mitgliedsstaaten<br />

ein Anti-Diskriminierungsgesetz und gab Mindeststandards zum<br />

Schutz für Randgruppen vor. Eine lange Diskussion über die Inhalte des Anti-<br />

Diskriminierungs-Gesetzes brach in Deutschland los und brachte <strong>der</strong> BRD<br />

beinahe eine hohe europäische Geldstrafe wegen Verzögerung ein. Der Streit<br />

ging darum, welche Benachteiligungen strafrechtliche Folgen haben sollten.<br />

Das fand in diesem Jahr ein Ende mit dem Inkrafttreten vom „Allgemeinen<br />

Gleichbehandlungsgesetz“. Der Name sagt schon, dass die eigentliche Stoßrichtung,<br />

„Anti-Diskriminierung“, verwässert wurde. Es ist beispielsweise<br />

kein wirklicher Schutz vor Benachteiligungen bei Wohnungsvermietungen,<br />

gegen Ungleichbehandlung in Versicherungsangelegenheiten und im Bereich<br />

von Arbeitsangelegenheiten entstanden. Das ist sehr bedauerlich, sind es doch<br />

insbeson<strong>der</strong>e diese Zurücksetzungen, von denen sich <strong>psychisch</strong> kranke Menschen<br />

diskriminiert fühlen und die ihnen das Selbstbewusstsein stehlen.<br />

GG Artikel 6<br />

(1) Ehe und Familie stehen unter dem beson<strong>der</strong>en Schutze <strong>der</strong> staatlichen<br />

Ordnung.<br />

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge <strong>der</strong> Gemeinschaft.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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48 49<br />

Die Sozialgesetzbücher<br />

Diese Fragen zeigen, dass <strong>der</strong> meiste Klärungsbedarf in Bezug auf Sozialleistungen<br />

besteht und dann im Bereich <strong>der</strong> 12 Sozialgesetzbücher (SGB) liegt.<br />

Allein die Kenntnis dieser Gesetzbücher übersteigt das Fassungsvermögen<br />

eines Normalbürgers. Gesunde Menschen, die ihren Lebensunterhalt selber<br />

verdienen können, keine Rehabilitation und keine Arbeitsunterstützung brauchen,<br />

kennen den Begriff „Sozialgesetzbuch“ oft gar nicht. Dabei sind die<br />

Sozialgesetzbücher auch die Basis für unsere Sozialversicherungen, z.B. für<br />

unsere Krankenkassenleistungen, für Pflege und Rehabilitation.<br />

ungen bezüglich <strong>der</strong> Hilfen für den Erkrankten, über die gesetzlich vorgeschriebene<br />

Dauer von Maßnahmen, über die Zugangsrechte zu Hilfen, über<br />

die wirtschaftlichen Folgen <strong>der</strong> Erkrankung für den Kranken und für die Familie,<br />

über Einspruchs- und Beschwerdemöglichkeiten. Alles ist neu und<br />

verunsichernd.<br />

Bei den Beratungsgesprächen im <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

<strong>psychisch</strong> Kranker und in den örtlichen <strong>Angehörigen</strong>-Gruppen tauchen Fragen<br />

wie die folgenden immer wie<strong>der</strong> auf:<br />

Was ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen „Sozialhilfe“ und „Grundsicherung“?<br />

Was müssen <strong>der</strong> Betroffene und seine <strong>Angehörigen</strong> bei welchen Maßnahmen<br />

zuzahlen?<br />

Gibt es ein Recht auf einen Wohngemeinschaftsplatz o<strong>der</strong> auf Arbeit?<br />

Ist es in Ordnung, dass ich so lange auf die Hilfebewilligung warten muss?<br />

Wie lange gibt es Kin<strong>der</strong>geld?<br />

Kann meine Tochter in <strong>der</strong> Werkstatt für behin<strong>der</strong>te Menschen Teilzeit arbeiten?<br />

Darf mein Sohn trotz Behandlung mit Psychopharmaka Auto fahren?<br />

Muss mein Mann bei <strong>der</strong> Arbeitsplatz-Bewerbung die psychiatrische Erkrankung<br />

zugeben?<br />

Kann man einen gesetzlichen Betreuer ablehnen o<strong>der</strong> einen Wechsel verlangen?<br />

Geltungsbereiche <strong>der</strong> einzelnen Sozialgesetzbücher<br />

SGB I Allgemeiner Teil<br />

SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende (in Kraft ab 01.01.2005)<br />

SGB III Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />

SGB IV Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung<br />

SGB V Gesetzliche Krankenversicherung<br />

SGB VI Gesetzliche Rentenversicherung<br />

SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung<br />

SGB VIII Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />

SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />

SGB X Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz<br />

SGB XI Soziale Pflegeversicherung<br />

SGB XII Sozialhilfe (in Kraft ab 01.01.2005)<br />

Niemand muss sich für dumm o<strong>der</strong> rückständig halten, <strong>der</strong> sich im Dschungel<br />

<strong>der</strong> Sozialgesetze verirrt. Es ist eben ein Dschungel, mit den Charakteristika<br />

eines Dschungels: Undurchdringlichkeit, man verirrt sich leicht darin, Unachtsamkeiten<br />

können sich rächen, ungestümes Wachstum; man nimmt am<br />

besten einen Kenner mit, wenn man sich hineinbegibt; man muss Geduld haben,<br />

um dorthin zu gelangen, wo man hin will.<br />

Von Vereinfachung und Reduzierung <strong>der</strong> Gesetzeslandschaft wird immer wie<strong>der</strong><br />

geredet, aber zu spüren ist nichts davon. Eine Gesetzesän<strong>der</strong>ung folgt <strong>der</strong><br />

Jedes <strong>der</strong> Sozialgesetzbücher beschäftigt sich mit einem bestimmten sozialen<br />

Bereich, wobei sich hier und da auch Überschneidungen ergeben können.<br />

Wenn wir uns allein die Gesetzeslage zu Arbeitslosengeldleistungen und Arbeitsrehabilitation<br />

anschauen, dann finden sich dazu Gesetze in vier Sozialgesetzbüchern,<br />

im SGB II, III, IX, XII. Darüber hinaus gibt es dann noch<br />

rechtliche Querverbindungen zu an<strong>der</strong>en Gesetzen.<br />

Die Zuständigkeit von Paragraphen hängt auch von <strong>der</strong> Komplexität des Hilfeund<br />

Unterstützungsbedarfs und den eigenen finanziellen o<strong>der</strong> versorgenden<br />

Ressourcen des Betroffenen und seiner Familie ab.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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50 51<br />

Wi<strong>der</strong>spruchsrecht<br />

Auf jeden Antrag, bei welcher Institution auch immer, erfolgt ein Bescheid.<br />

Wichtig zu wissen ist, dass gegen jeden Bescheid Wi<strong>der</strong>spruch erhoben werden<br />

kann. Auch hierfür gibt es Vorschriften:<br />

Gegen für unrichtig erachtete Bescheide ist zunächst fristgerecht schriftlich,<br />

sicherheitshalber per „Einschreiben-Rückschein“, Wi<strong>der</strong>spruch bei <strong>der</strong> zuständigen<br />

Behörde einzulegen. Also in Sachen Sozialhilfe beim Sozialhilfeträger.<br />

„Enthält <strong>der</strong> Bescheid eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung, ist <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch<br />

innerhalb eines Monats nach <strong>der</strong> Bekanntgabe des Bescheids zu erheben.<br />

Fehlt eine solche Rechtsmittelbelehrung kann man innerhalb eines Jahres<br />

Wi<strong>der</strong>spruch einlegen. Der Wi<strong>der</strong>spruch muss während <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsfrist<br />

noch nicht begründet werden.“ (Quelle: Bundesverband <strong>der</strong> Körper- und<br />

Mehrfachbehin<strong>der</strong>ten e.V. www.bvkm.de). Es reicht aus, zu schreiben:<br />

„Hiermit lege ich gegen Ihren Bescheid vom .... Wi<strong>der</strong>spruch ein. Die Begründung<br />

dieses Wi<strong>der</strong>spruchs erfolgt geson<strong>der</strong>t.“<br />

Bei <strong>der</strong> Begründung sollte man auf die individuellen Umstände des Einzelfalles<br />

eingehen.<br />

Ergeht nach <strong>der</strong> Prüfung durch die Rechtsabteilung des Sozialhilfeträgers ein<br />

Wi<strong>der</strong>spruchsentscheid, kann Klage vor dem Sozialgericht erhoben werden.<br />

Enthält <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsbescheid keine Rechtsmittelbelehrung, hat man für<br />

die Klage ein Jahr Zeit. Vor den Sozialgerichten gibt es in <strong>der</strong> ersten Instanz<br />

keinen Anwaltszwang.<br />

Sozialgerichtsverfahren und ihre Beson<strong>der</strong>heiten<br />

Es gibt ein Gesetz zur Regelung <strong>der</strong> Gebührenordnung für Juristen und Gerichte.<br />

Und dieses besagt, dass Sozialgerichte eine Ausnahme machen in <strong>der</strong><br />

Gebührenordnung.<br />

Gerichtskosten werden in allen drei Instanzen <strong>der</strong> Sozialgerichtssprechung<br />

von den Versicherten, Leistungsempfängern und Behin<strong>der</strong>ten grundsätzlich<br />

nicht erhoben (§183 Sozialgerichtsgesetz).<br />

Lediglich die außergerichtlichen Kosten (Anwaltshonorare) sind von dem<br />

Unterliegenden des Verfahrens zu tragen bzw. anteilmäßig zu übernehmen.<br />

Rechtsuchende, die sich ein Verfahren vor einem Gericht nicht leisten können,<br />

haben Anspruch auf die so genannte Prozesskostenhilfe. Die kann ihr<br />

Anwalt bei Gericht beantragen. Der Anwalt sollte auch prüfen, ob die Rechtschutzversicherung<br />

die Gebühren übernimmt. Hierfür ist erfor<strong>der</strong>lich, dass<br />

<strong>der</strong> Prozess ausreichend Erfolg verspricht.<br />

Allerdings können einem Beteiligten Gerichtskosten auferlegt werden, wenn<br />

er einen Rechtsstreit trotz eines entsprechenden Hinweises des Gerichts missbräuchlich<br />

fortführt.<br />

Gerichtskosten stehen auch an, wenn in einem Rechtsstreit we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kläger<br />

noch <strong>der</strong> Beklagte Versicherter, Leistungsempfänger o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ter ist.<br />

an<strong>der</strong>en, und schaut man genau hin, dann besteht die ganze Än<strong>der</strong>ung im Ersetzen<br />

eines Punktes durch ein Komma, o<strong>der</strong> ein „und“ wird gestrichen, und<br />

schon kann sich die Rechtssituation für den Nutzer erheblich än<strong>der</strong>n.<br />

Gut ist natürlich, wenn man weiß, wo man nachschauen muss, aber sicherer<br />

ist, zu wissen, wen man fragen kann. Hierfür bieten speziell ausgebildet Sozialanwälte<br />

ihre Hilfe an. Sie in Anspruch zu nehmen muss nicht unbedingt<br />

viel Geld kosten, kann aber viel Geld sparen.<br />

So manch einer scheut sich, gerichtlich vorzugehen gegen einen Bescheid mit<br />

den Argumenten, das koste viel Geld und sei langwierig. Das Zweite mag<br />

stimmen.<br />

Sozialgerichtsverfahren können lange dauern, zumal, wenn sie über mehrere<br />

Instanzen gehen. Das finanzielle Argument ist unrichtig, denn gerade bei Gerichtsverfahren<br />

vor den Sozialgerichten ist das unter bestimmten Umständen<br />

nicht <strong>der</strong> Fall.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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52 53<br />

Der Sozialstaat<br />

Es soll im Staat recht und gerecht zugehen, das war <strong>der</strong> Wille <strong>der</strong> Väter des<br />

Grundgesetzes. Sie legten die Grundzüge unseres Sozialstaates fest.<br />

Die offizielle Formulierung des Grundgesetzes zum Sozialstaat (GG Art. 20<br />

Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1) lautet:<br />

„Der Sozialstaat hat zwei Hauptanliegen, soziale Gerechtigkeit und soziale<br />

Es gibt drei Instanzen für sozialgerichtliche Verfahren:<br />

• das Klageverfahren vor den Sozialgerichten (§8 Sozialgerichtsgesetz)<br />

• die Berufungs- und Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht<br />

(§29 Sozialgerichtsgesetz)<br />

• das Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht (§39 Sozialgerichtsgesetz<br />

Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz<br />

Als Interessenvertretung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> und ihrer <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglie<strong>der</strong><br />

setzt sich <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />

Kranker e.V. ebenso wie <strong>der</strong> Bundesverband <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />

Kranker e.V. seit vielen Jahren für die Gleichstellung <strong>psychisch</strong> kranker<br />

Menschen mit körperlich Kranken ein.<br />

Als vor 6 Jahren das Bundesgesetz zur Gleichstellung behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />

(Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz, BGG) – und einige Jahre danach auch das<br />

Bayerische Gleichstellungsgesetz – in Kraft traten, verfolgten die <strong>Angehörigen</strong>-Organisationen<br />

das mit großen Hoffnungen. Es zeigte sich jedoch sehr<br />

bald, dass <strong>psychisch</strong> kranke und behin<strong>der</strong>te Menschen nur mit dem einen Satz<br />

„Den beson<strong>der</strong>en Bedürfnissen <strong>psychisch</strong> behin<strong>der</strong>ter Menschen ist Rechnung<br />

zu tragen“ bedacht wurden. Und auch <strong>der</strong> kam nur in die Gesetze hinein, weil<br />

die <strong>Angehörigen</strong>verbände <strong>psychisch</strong> Kranker und an<strong>der</strong>e nicht locker ließen.<br />

Was aber damit gemeint ist und welche Rechte <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Behin<strong>der</strong>te daraus<br />

ableiten kann, wird in dem Gesetz nicht präzisiert. Detailliert wird z.B.<br />

Zuständigkeit <strong>der</strong> Sozialgerichte<br />

Sozialgerichte sind zum Beispiel zuständig für Streitigkeiten mit Behörden in<br />

den Bereichen:<br />

• Sozialversicherung,<br />

• Grundsicherung,<br />

• gesetzliche Rentenversicherung,<br />

• gesetzliche Krankenversicherung,<br />

• Pflegeversicherung,<br />

• Schwerbehin<strong>der</strong>tenrecht,<br />

• gesetzliche Unfallversicherung,<br />

• Arbeitsför<strong>der</strong>ung (Arbeitslosenversicherung),<br />

• Arbeitslosengeld II (früher: Arbeitslosenhilfe),<br />

• Sozialhilfe (Sozialgesetzbuch 12. Buch).<br />

Zuständig ist das Sozialgericht an dem Ort, an dem die Verwaltungsbehörde<br />

ihren Sitz hat. Prozessbeteiligte sind in <strong>der</strong> Regel Privatpersonen und die Verwaltungsbehörde<br />

(zum Beispiel: Arbeitsämter und Landesversicherungsanstalten<br />

usw.).<br />

Sicherheit. Diese beiden Hauptanliegen haben Gesetzgebung, Rechtsprechung<br />

und Wissenschaft zu wesentlichen Zielen des Sozialstaates konkretisiert, die<br />

für alle Rechtsbereiche Bedeutung haben:<br />

• Gewährung des Existenzminimums und elementarer personaler Dienste<br />

(Erziehung, Betreuung, Pflege)<br />

• Min<strong>der</strong>ung und Kontrolle von Abhängigkeiten<br />

• Ausgleich von Wohlstandsunterschieden<br />

• Sicherung des Lebensstandards gegen wesentliche ökonomische Verschlechterungen<br />

• <strong>der</strong> Einzelne ist nicht Objekt <strong>der</strong> staatlichen Sozialpolitik, son<strong>der</strong>n Träger<br />

von Rechten, die auf Teilhabe an <strong>der</strong> vom Staat geleisteten sozialen För<strong>der</strong>ung<br />

und Sicherheit gerichtet sind.“<br />

Wie, so möchte man fragen, kann es dann sein, dass <strong>psychisch</strong> kranke Menschen<br />

und ihre <strong>Angehörigen</strong> körperlich Kranken nicht gleichgestellt sind?<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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54 55<br />

Wenig bekannte Hilfeangebote<br />

Der Gesetzesdschungel und die immer neu hinzukommenden Regelungen<br />

bringen es mit sich, dass <strong>der</strong> Laie den Überblick verliert über Rechte und<br />

Hilfen, die bereits bestehen und die den psychiatrisch Hilfebedürftigen und<br />

ihren Familien im Lauf <strong>der</strong> Zeit erhebliche Verbesserungen gebracht haben.<br />

Aus unzähligen <strong>Angehörigen</strong>-Beratungen geht hervor, dass die folgenden sowohl<br />

bundesgesetzlich verankerten Leistungen und Rechte, sowie die in <strong>Bayern</strong><br />

verfügbaren Hilfeangebote nicht allen bekannt sind. Auch aus dieser Unkenntnis<br />

mag sich ein Gefühl <strong>der</strong> Zurücksetzung ergeben. Ich zähle im Folgenden<br />

nur die Hilfen auf, die <strong>Angehörigen</strong> und auch in <strong>der</strong> Psychiatrie<br />

Tätigen wenig bekannt sind:<br />

• Soziotherapie<br />

• Häusliche psychiatrisch Pflege als Krankenkassenleistung<br />

• Bezugspersonen<br />

• Integrationsfachdienste<br />

• 14-Tage-Frist zur Entscheidung über die Bewilligung von Hilfen<br />

(SGB XII)<br />

• Persönliches Budget (bisher nur in Mittelfranken)<br />

• Familienpflege<br />

darin beschrieben, was seh- und hörbehin<strong>der</strong>te Menschen an Hilfen brauchen.<br />

Diese ungleiche Berücksichtigung ist erklärbar, aber nicht verständlich und<br />

nicht hinnehmbar. Es geht doch um den Abbau von Barrieren, die Behin<strong>der</strong>te<br />

daran hin<strong>der</strong>n, an <strong>der</strong> Gesellschaft teilzuhaben! Sichtbare Barrieren lassen<br />

sich besser begreifen und beseitigen als unsichtbare, wie sie <strong>psychisch</strong> behin<strong>der</strong>te<br />

Menschen behin<strong>der</strong>n. Etwas Unsichtbares ist schwer zu erklären und<br />

schon gar nicht als Barriere wahrzunehmen.<br />

Der <strong>Landesverband</strong> und die Münchner Psychiatrie Initiative (MüPI), eine trialogische<br />

Gruppierung bestehend aus Psychiatrie-Erfahrenen, <strong>Angehörigen</strong><br />

und Psychiatrie-Fachärzten, die sich für eine bessere Versorgung <strong>psychisch</strong><br />

kranker Menschen einsetzt, for<strong>der</strong>t eine Gesetzesän<strong>der</strong>ung zugunsten <strong>psychisch</strong><br />

behin<strong>der</strong>ter Menschen.<br />

• <strong>Angehörigen</strong>-Gespräch bei nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiatern (10 Minuten<br />

im Quartal)<br />

• Zuverdienst zur Rente<br />

• Recht auf Teilzeitarbeit (nicht immer in Werkstätten für behin<strong>der</strong>te Menschen,<br />

siehe unbeirrbar Dez. 2006)<br />

• Recht auf Arbeitserleichterung o<strong>der</strong> Rehabilitation bei mehr als 6 Wochen<br />

Krankheit<br />

• Freiheitseinschränkungen nur 24 Stunden ohne richterlichen Beschluss<br />

erlaubt (Unterbringungsgesetz)<br />

• Wi<strong>der</strong>spruchsrecht<br />

• Betreuerwechsel<br />

• Beratungspflicht bei den Servicestellen <strong>der</strong> Leistungserbringer (Bezirke<br />

und Rentenversicherung)<br />

• Platzfreihaltedauer in Wohngemeinschaften bei Krankenhausaufenthalt<br />

(30 Tage)<br />

• Verrentung kann wie<strong>der</strong> rückgängig gemacht werden<br />

• Behin<strong>der</strong>tenausweis kann wie<strong>der</strong> zurückgegeben werden<br />

• Gesundheitsauskunft muss bei einer Bewerbung nicht gegeben werden.<br />

• Der Behin<strong>der</strong>tenausweis muss angegeben werden<br />

Wie schon des öfteren erwähnt, kann <strong>der</strong> Umgang mit Gesetzen mehr verwirren<br />

als helfen. Um Ihnen, liebe Zuhörer, den Einstieg in die wichtigsten Problembereiche<br />

zu erleichtern und Hemmungen, sich damit zu beschäftigen, zu<br />

min<strong>der</strong>n, habe ich einige Basisinformationen zusammengetragen. Nähere<br />

Auskunft über die Bedingungen zur Inanspruchnahme <strong>der</strong> genannten Hilfen<br />

und Rechte erteilt <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />

Kranker e.V.; unseren Mitglie<strong>der</strong>n, die kostenlos viermal im Jahr unsere Verbandszeitung<br />

„unbeirrbar“ erhalten, stellen wir regelmäßig neue o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>te<br />

gesetzliche Regelungen für Hilfen und För<strong>der</strong>ungen vor.<br />

In Erinnerung rufen möchte ich auch, dass <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> mit dem VdK<br />

ein Abkommen geschlossen hat, nach dem unsere Mitglie<strong>der</strong> eine kostenlose<br />

Rechtsberatung von den VdK-Fachleuten erhalten können.<br />

Landestreffen<br />

Gesetzesdschungel<br />

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56 57<br />

Gesetze sind dafür da, den Menschen das Miteinan<strong>der</strong>leben und Miteinan<strong>der</strong>arbeiten<br />

möglich zu machen. Sie regeln die Verantwortlichkeiten und den<br />

Schutz aller Bürger eines Staates. Sie sorgen für Ordnung und Sicherheit und<br />

schützen den Schwachen und Kranken. Bei Unstimmigkeiten soll ein Blick in<br />

die Gesetze zu klaren Verhältnissen führen. So in etwa die laienhafte Vorstellung.<br />

Als Interessenvertreter von Familien mit <strong>psychisch</strong> Kranken sammelt man<br />

viele Erfahrungen und hört so manchen Krankheitsbericht, darunter auch<br />

Berichte über juristische Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Diese Informationen zusammenfassend,<br />

muss man feststellen, dass es sich lohnt, sich zur Wehr zu setzen<br />

– wenn es sein muss, auch gerichtlich.<br />

Angehörige<br />

Landestreffen<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 56


58 59<br />

16.00 – 16.30 Uhr: Abschlussplenum<br />

Karl Heinz Möhrmann<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />

1. Regionaltreffen<br />

ab 9.30 Uhr: Eintreffen, Begrüßungskaffee<br />

10.00 Uhr: Begrüßung<br />

10.10 – 11.00 Uhr: „Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die stationäre<br />

Behandlung“.<br />

Dr. med. Christoph Mattern, Chefarzt <strong>der</strong> Klinik für<br />

Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik,<br />

Bezirksklinikum Obermain, Kutzenberg<br />

11.00 -11.20 Uhr: „Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante<br />

Behandlung“<br />

Dr. med. R. Ebner, Facharzt für Psychiatrie, Coburg<br />

11.20 – 11.40 Uhr: Pause<br />

11.40 – 12.00 Uhr: „Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes<br />

für Angehörige“<br />

M. Werberich, Leiter des SPDI Coburg<br />

12.00 – 12.30 Uhr: „Bewältigung von Konflikten im Zusammenleben<br />

mit einem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied“<br />

Heidi Popp, Angehörige, Hof<br />

12.30 – 13.10 Uhr: „Noch’n Verein – Warum organisieren sich<br />

Angehörige?“<br />

Karl-Heinz Möhrmann, Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

<strong>Landesverband</strong>es LApK<br />

13.10 – 14.30 Uhr: Mittagspause<br />

14.30 – 16.00 Uhr: „Sie fragen – wir antworten“ Informations-Service<br />

für Angehörige<br />

Dr. med. C. Mattern und Vertreter des LApK stehen für<br />

Fragen zu Ihrer Verfügung<br />

Eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung belastet nie nur den Betroffenen allein, son<strong>der</strong>n<br />

immer auch die ganze Familie. Diese Tagung soll Ihnen Informationen über<br />

die in Ihrer Region verfügbaren Hilfen, aber auch Ratschläge zum Umgang<br />

mit Ihrem kranken <strong>Angehörigen</strong> vermitteln.<br />

Am Nachmittag laden wir Sie zum Gespräch ein, wobei Sie Gelegenheit<br />

haben, Ihre Fragen zum Umgang mit <strong>psychisch</strong> erkrankten Menschen zu stellen.<br />

Sie haben hier die einmalige Chance, mehrere Fachleute an einem Ort zu<br />

treffen, neue Kontakte zu knüpfen und wertvolle Informationen zu erfragen<br />

und zu sammeln. Wir würden es begrüßen, wenn sich am Ende <strong>der</strong> Tagung<br />

interessierte Angehörige für einen weiteren Erfahrungsaustausch in einer<br />

Selbsthilfegruppe finden. Hier treffen Sie Menschen mit gleichartigen Erfahrungen,<br />

die Ihnen manchen nützlichen Tipp geben können – denn Sie als<br />

Angehöriger brauchen ebenfalls Hilfe!<br />

Nur wenn Sie es schaffen, halbwegs gelassen und souverän mit <strong>der</strong> Erkrankung<br />

des Betroffenen umzugehen, können Sie auch dem Betroffenen und sich<br />

selbst helfen!<br />

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme an <strong>der</strong> Tagung!<br />

Ihr<br />

Angehörige<br />

PROGRAMM<br />

Liebe Angehörige!<br />

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60 61<br />

Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

Seit Jahren ist <strong>der</strong> Angehörige des <strong>psychisch</strong> Kranken ins Blickfeld psychiatrischen<br />

Interesses getreten. Langjährige psychiatrische Hospitalisierungen<br />

sind für die Patienten Geschichte. Dies wird aber auch zu neuen und ungewöhnlichen<br />

Belastungen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, in <strong>der</strong>en Kreis <strong>der</strong> Kranke nach<br />

kurzem, evtl. zu kurzem Krankenhausaufenthalt meist zurückkehrt. Diese Belastungen<br />

zu negieren, würde bedeuten, in einer an<strong>der</strong>en Form inhuman zu<br />

sein. Die För<strong>der</strong>ung des Krankheitsverständnisses bei den <strong>Angehörigen</strong> ist<br />

Die früher geäußerte Ansicht des Psychiaters Dörner, dass die Nichtberücksichtigung<br />

<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> im Therapieplan einem Kunstfehler gleichkomme,<br />

ist heute bei allen Klinikärzten akzeptiert.<br />

Um diese Faktoren in ihrer Bedeutung zu min<strong>der</strong>n, empfiehlt sich den <strong>Angehörigen</strong><br />

von <strong>psychisch</strong> Kranken die Teilnahme an einer entsprechenden <strong>Angehörigen</strong>gruppe.<br />

Das Gefühl von Zusammengehörigkeit, das die <strong>Angehörigen</strong><br />

relativ rasch entwickeln und das diese Gruppe nach einer problematischen<br />

Anfangsphase manchmal über Jahre stabil sein lässt, entsteht durch die<br />

gemeinsame Teilnahme an einem Schicksal, das häufig als Schicksalsschlag<br />

empfunden wurde.<br />

Die Zusammenarbeit mit <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker ist in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

stationären Psychiatrie Routine geworden. Die Verbesserung des Krankheitsverständnisses,<br />

auch bei den <strong>Angehörigen</strong>, führt zu einer merklichen Besserung<br />

<strong>der</strong> Compliance <strong>der</strong> Patienten, zu einer verbesserten Arzt-Patienten-Beziehung,<br />

letztlich zu besseren Behandlungsergebnissen.<br />

Im Vortrag werden Aspekte <strong>der</strong> spezifischen Problematik Angehöriger <strong>psychisch</strong><br />

Kranker herausgearbeitet, aktuelle Probleme <strong>der</strong> Komorbidität (zusätzliche<br />

Erkrankungen), die indirekt wie<strong>der</strong>um sich auf die Beziehung <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

Kranken zu ihren <strong>Angehörigen</strong> auswirken, dargestellt und daraus Wünsche<br />

für die Kooperation mit den <strong>Angehörigen</strong> abgeleitet.<br />

Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die psychiatrische<br />

stationäre Behandlung<br />

20 - 30 % <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> reagieren mit eigenen <strong>psychisch</strong>en und /o<strong>der</strong> somatischen<br />

Reaktionen, Anpassungs- und Beziehungsstörungen. Belastungsmomente<br />

werden vor allem in <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenen Lebensplanung gesehen,<br />

wenn zum Beispiel die Idee, sich in <strong>der</strong> Rentenzeit ein schönes Leben zu<br />

machen, nicht mehr möglich wird, im ständigen Angebundensein, in <strong>der</strong> ausschließlichen<br />

Zuständigkeit, wenn die Verschlechterung des eigenen Gesundheitszustandes<br />

durch die Pflegetätigkeit selbst eintritt, <strong>der</strong> kranke Partner zu<br />

sterben droht, eine Anerkennung für die Pflegetätigkeit fehlt, eine soziale Isolation<br />

eintritt und Ehe- und Erziehungsprobleme massiv werden.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

Chefarzt <strong>der</strong> Klinik<br />

für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am<br />

Bezirksklinikum Obermain, Kutzenberg<br />

Dr. med. Christoph Mattern<br />

heute ein vordringliches Ziel psychoedukativer Programme in <strong>der</strong> Psychiatrie.<br />

Wissenschaftliche Arbeiten, die den Umgang von <strong>Angehörigen</strong> mit körperlich<br />

Kranken analysiert haben, zeigen, dass für Frauen vor allem ein Scheitern <strong>der</strong><br />

Beziehung dann in Frage kommt, wenn eine mangelnde Gesprächsmöglichkeit<br />

über eigene Probleme mit dem Partner besteht, sie angelogen werden o<strong>der</strong><br />

sie spüren, dass <strong>der</strong> Partner Geheimnisse hat. Männer fühlen sich vor allem<br />

belastet durch das Hintergangenwerden und dauernden Streit.<br />

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62 63<br />

Im Zusammentreffen von Depression und Sucht zeigen große Studien, dass<br />

gerade bei bipolaren Störungen Alkohol- und Drogenmissbrauch fast bei je-<br />

Komorbidität bedeutet für den Patienten doppeltes Leid, doppelte Verleugnung,<br />

für die Therapeuten die Fähigkeit zur Doppeldiagnostik und die Verpflichtung<br />

zur doppelten Kompetenz, für die <strong>Angehörigen</strong> ein 2-faches Stigma,<br />

doppelte Belastung.<br />

Gerade bei <strong>der</strong> Doppeldiagnose Sucht und Depression zeigen sich die Schwierigkeiten<br />

durch die Entwicklung zweier Hilfssysteme im psychiatrischen und<br />

im Suchthilfebereich. So wird vielleicht in <strong>der</strong> Psychiatrie das Vorherrschen<br />

<strong>der</strong> Depressivität überbetont, die Sucht negiert und in Kliniken des Suchthilfesystems<br />

die Depression ausgeblendet, was durch eine erhöhte Suizidgefahr<br />

kompliziert werden kann. Das Prinzip <strong>der</strong> möglichst geringen Medikation<br />

führt hier nicht selten zu einer Verhin<strong>der</strong>ung einer adäquaten Behandlung.<br />

Die <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker, die unter einer Doppelproblematik leiden,<br />

sind beson<strong>der</strong>s belastet.<br />

Die Therapieprinzipien bei diesen Doppel-Diagnose-Patienten bestehen darin,<br />

die Selbstbehauptung des Patienten zu för<strong>der</strong>n, ihn engmaschig und langfristig<br />

zu begleiten, eine integrative Therapie für beide Störungen durch dasselbe<br />

Team zu garantieren, ein Krankheitsverständnis für beide Störungen zu<br />

schaffen, eine stabile Lebenssituation zu erreichen, was eine hohe Flexibilität<br />

und Spezialisierung <strong>der</strong> Therapeuten erfor<strong>der</strong>t, den Stufenplan dieser Behandlung<br />

langsam umzusetzen, eine Langzeitperspektive zu entwickeln, die eher<br />

einen langfristigen ambulanten Behandlungsverlauf günstig erscheinen lässt<br />

als kurze intensive stationäre Behandlungsmaßnahmen.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Komorbidität<br />

Eine Beson<strong>der</strong>heit in den letzten Jahren ist die zunehmende Komorbidität<br />

<strong>psychisch</strong> Kranker. Für das Zusammentreffen von Schizophrenie und Suchtmissbrauch<br />

kann festgestellt werden, dass die epidemiologischen Zahlen steigend<br />

sind und die Bedeutung des Substanzmissbrauchs in den USA bereits<br />

das Ausmaß eines negativen Prognosefaktors erreicht hat. So wird in Studien<br />

gezeigt, dass (neben kognitiver Dysfunktion) <strong>der</strong> Substanzmissbrauch eine<br />

schlechtere Compliance, häufigere Aggressionen, aber auch die Tatsache des<br />

Opferwerdens von Gewalt, ein erhöhtes Suizidrisiko, eine geringere Teilnahme<br />

an Behandlungsmaßnahmen und insgesamt einen ungünstigeren Verlauf <strong>der</strong><br />

primär bestehenden Psychose bedingt. Die weit verbreiteten Drogen, zum<br />

Beispiel Cannabinoide, bedeuten bei disponierten Personen eine Gefahr, da<br />

sie nachgewiesenermaßen Psychosen induzieren können.<br />

dem zweiten Patienten festzustellen sind. So beeinflusst zum Beispiel chronischer<br />

Alkoholkonsum das gabaerge Transmittersystem positiv und das glutermaterge<br />

negativ, so dass in einem Entzugssyndrom ängstliche Erregung entstehen<br />

kann. Das dopaminerge System wird durch Alkohol im Sinne eines<br />

positiven Craving getriggert. Das serotonerge System wird negativ beeinflusst,<br />

was sich negativ auf die Stimmung auswirken kann. Die Gleichzeitigkeit<br />

depressiver Zustandsbil<strong>der</strong> und Suchtprobleme führt zu häufigeren<br />

Stimmungsschwankungen, zu einer erhöhten Manifestationsfrequenz bipolarer<br />

Phasen, häufigeren Krankenhauseinweisungen und Suchtmittelrückfällen,<br />

häufigerem Abbruch therapeutischer Beziehungen, einem diskontinuierlichen<br />

Behandlungsverlauf, insgesamt schlechteren Behandlungsergebnissen bei größerem<br />

Aufwand und nicht zuletzt einer schlechteren Lebensqualität des<br />

Patienten. Dabei ist von den Ärzten zu for<strong>der</strong>n, gezielt Antidepressiva mit<br />

Stimmungsstabilisierern und Anti-Craving-Medikamenten zu kombinieren.<br />

Die Stärkung <strong>der</strong> Abstinenzmotivation nach den Prinzipien des motivationalen<br />

Interviewens zu för<strong>der</strong>n, aber dem Ausmaß <strong>der</strong> depressiven Herabgestimmtheit<br />

anzupassen. Spezielle Psychoedukations- und Psychotherapieprogramme<br />

sind hier bei einem doppeltem Verständnis für die Störung durch den<br />

Arzt Pflicht.<br />

Angehörige<br />

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64 65<br />

Viele von Ihnen kennen die Situation:<br />

Das Kind, Sohn o<strong>der</strong> Tochter, das zu den besten Hoffnungen Anlass gegeben<br />

hatte, verän<strong>der</strong>t sich, zieht sich zurück, spricht und isst kaum noch, bringt<br />

nicht mehr die gewohnten Leistungen, geht nicht mehr zur Schule, hat grundlos<br />

Angst, schläft kaum noch, hält das Essen für vergiftet, äußert eigenartige<br />

Vorstellungen, die Gedanken könnten ihm entzogen werden usw.<br />

Sie geraten in Sorge, wollen ihm helfen, ermuntern, erklären, drängen, und<br />

stoßen auf eine Wand; denn das, was da vorgeht, ist nicht zu verstehen und zu<br />

erklären, die Reaktion ist nicht die erhoffte.<br />

Sie erleben es mit eigener Angst, Zweifeln, Grübeln über mögliche eigene<br />

Fehler bis hin zu Schuldgefühlen.<br />

Dann endlich, begleitet von Ihrem Bangen und Hoffen, geht das Kind zum<br />

Arzt.<br />

Welche Lage findet <strong>der</strong> Arzt vor?<br />

Ein junger Mensch mit einem augenscheinlich tiefgreifenden Problem sitzt<br />

Angehörige von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen sind Partner, Eltern, Kin<strong>der</strong>,<br />

Großeltern, Enkel etc. und als solche hautnah ausgesetzt:<br />

Dem Erleben <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung durch die Erkrankung, dem Mitleiden, oft<br />

Angst und Schuldgefühlen, <strong>der</strong> Unwissenheit, Unsicherheit und <strong>der</strong> Hilflosigkeit,<br />

dem Erleben des Unverständnisses im sozialen Umfeld, <strong>der</strong> Isolation<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung durch die Verantwortung.<br />

All dies ist festzustellen und muss berücksichtigt werden.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Kooperation mit den <strong>Angehörigen</strong><br />

Um die Behandlung für die <strong>psychisch</strong> Kranken zu optimieren, ergeben sich<br />

auch von Seiten <strong>der</strong> stationären Behandler Wünsche an den <strong>Angehörigen</strong>verband<br />

<strong>psychisch</strong> Kranker:<br />

• Offenheit für diagnostische und therapeutische Konzepte,<br />

• Rückmeldungen über die Befindlichkeit des Kranken an die Behandler,<br />

• die Wahrnehmung von Angeboten (Psychoedukation in <strong>der</strong> Klinik) durch<br />

die <strong>Angehörigen</strong>,<br />

• konstruktive Rückmeldung an die Kliniken, was an Behandlungsangeboten<br />

weiter gewünscht wird,<br />

• eine Abstimmung bei Betreuungen (Berufsbetreuer versus Familienbetreuer)<br />

nach therapeutischen, nicht finanziellen Erwägungen,<br />

• ein allgemeines Engagement im Rahmen <strong>der</strong> Lobbyarbeit und<br />

• die Schaffung spezieller Freizeitmöglichkeiten für <strong>psychisch</strong> Kranke.<br />

Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante Behandlung<br />

Angehörige<br />

Facharzt für Neurologie und Psychiatrie,<br />

Coburg<br />

Dr. med. Rainer Ebner<br />

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66 67<br />

Der behandelnde Arzt muss dabei grundsätzlich beachten:<br />

• die Schweigepflicht; gibt <strong>der</strong> Patient ausgesprochen sein Einverständnis<br />

zum Gespräch mit den <strong>Angehörigen</strong>?<br />

Der behandelnde nie<strong>der</strong>gelassene Arzt braucht die <strong>Angehörigen</strong><br />

• zur Erhebung <strong>der</strong> Vorgeschichte und damit zur Diagnosestellung;<br />

• für Informationen über ungünstige Entwicklungen, z.B. über Symptomverschlimmerung,<br />

hinzukommende Belastungen, Symptomwandel, Alkohol-<br />

o<strong>der</strong> Drogenkonsum, Unregelmäßigkeiten in <strong>der</strong> Medikamenteneinnahme,<br />

akute Komplikationen und Suizidalität;<br />

• zur Mitarbeit in <strong>der</strong> Behandlung in <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong> Therapie, Motivationsför<strong>der</strong>ung,<br />

emotionalen Entlastung, im Abbau von Schuld- und<br />

Schamgefühlen, bei Angst, Demoralisation, Resignation und im Aufbau<br />

realistischer Hoffnung, Psychoedukation.<br />

Wie können solche Konflikte vermieden werden?<br />

Notwendig sind im Umgang miteinan<strong>der</strong> soviel Offenheit wie möglich, z.B.<br />

im gemeinsamen Gespräch von Patient, <strong>Angehörigen</strong> und Arzt, und soviel Information<br />

und Aufklärung über die Zusammenhänge <strong>der</strong> Krankheiten wie<br />

möglich, nicht zuletzt im Rahmen <strong>der</strong> Selbsthilfegruppen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

<strong>psychisch</strong> Kranker.<br />

In diesem Sinne ist Ihnen, die Sie hier versammelt sind, zu danken, zu Ihrer<br />

Arbeit zu gratulieren und weiterhin viel Erfolg zu wünschen. Nicht zuletzt<br />

sind Sie als Gruppe eine Macht, die zur Überwindung <strong>der</strong> Ohnmacht <strong>der</strong> betroffenen<br />

Patienten und <strong>der</strong> sie betreuenden kleinen Gruppe <strong>der</strong> Nervenärzte<br />

und Psychiater beitragen und die Interessen <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranken angemessen<br />

vertreten kann.<br />

vor ihm und spricht kein Wort außer vielleicht „ja“ und „nein“, ist in sich zurückgezogen,<br />

steht möglicherweise stark unter Spannung und Angst. Der Arzt<br />

bekommt nichts „aus ihm heraus“, er sieht nur den Stupor und das Leiden<br />

und ist zunächst hilflos.<br />

Er braucht einfach Sie als Angehörige; er muss von Ihnen die Geschichte dieses<br />

jungen Kranken erfahren, er muss mit Ihnen zusammen den Patienten<br />

dazu bewegen, die richtigen Schritte einzuleiten und zu akzeptieren.<br />

Auf diesem unserem Fachgebiet ließen sich viele an<strong>der</strong>e Beispiele erzählen,<br />

die Sie alle kennen, von Menschen mit schizophrenen o<strong>der</strong> depressiven<br />

Krankheiten, Alkoholismus, Demenz usw.<br />

Im Gegensatz zu Patienten mit Erkrankungen, die auf an<strong>der</strong>e Organe bezogen<br />

sind, sind <strong>psychisch</strong> Kranke oft nicht in <strong>der</strong> Lage, unmittelbar zu sich und zu<br />

ihren Störungen Auskunft zu geben. An<strong>der</strong>s sind auch die Auswirkungen <strong>psychisch</strong>er<br />

Krankheiten auf die Umgebung.<br />

Das heißt: Mehr als Kollegen an<strong>der</strong>er Fächer ist <strong>der</strong> Psychiater auf die Zusammenarbeit<br />

mit den <strong>Angehörigen</strong> <strong>der</strong> Kranken angewiesen.<br />

Kritik- und Konfliktpunkte können sein:<br />

• die begrenzte Zeit, die dem Arzt zur Verfügung steht;<br />

• Angehörige, die die Krankheit nicht verstehen, die sich selbst angegriffen<br />

fühlen, die v. a. eigene Interessen verfolgen o<strong>der</strong> die an <strong>der</strong> Übernahme<br />

<strong>der</strong> Verantwortung scheitern; z.B. bei Partnerschaftskonflikten o<strong>der</strong><br />

Trennungen, wenn Angehörige Argumente für die eigene Sache suchen<br />

o<strong>der</strong> Informationen erschleichen wollen;<br />

• Informationen z.B. über Alkoholkonsum, Verweigerung <strong>der</strong> Medikation<br />

o<strong>der</strong> Suizidabsichten, die mit dem Vorbehalt verbunden werden, dass <strong>der</strong><br />

<strong>psychisch</strong> Kranke von dieser Mitteilung nichts erfahren darf.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

• welches Verhältnis besteht zwischen dem <strong>psychisch</strong> Kranken und seinen<br />

<strong>Angehörigen</strong>?<br />

• die eigenen Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>; wollen sie sich einbinden<br />

lassen o<strong>der</strong> haben sie selbst Vorbehalte, Ängste, Abwehr o<strong>der</strong> gar Aggressionen,<br />

sodass zunächst daran gearbeitet werden muss?<br />

In aller Regel ist die Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante Behandlung<br />

ein Segen für den Patienten und damit eine große Hilfe für den behandelnden<br />

Arzt.<br />

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68 69<br />

Der nächste Baustein ist <strong>der</strong> „Besuchsdienst“. Hierbei wäre stellvertretend<br />

die aufsuchende Arbeit in Nervenkliniken bzw. Hausbesuche bei <strong>psychisch</strong><br />

kranken Menschen, denen es nicht mehr möglich ist, in den Dienst zu kommen.<br />

Der Bereich Öffentlichkeitsarbeit wird durch Vorträge o<strong>der</strong> Planung von<br />

verschiedenen Veranstaltungen gestaltet.<br />

Die Angebote, die speziell für Angehörige von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen<br />

in SpDi´s vorgehalten werden, sind in <strong>der</strong> Regel: die Möglichkeit zur Einzelberatung<br />

mit und ohne Betroffenen, eine <strong>Angehörigen</strong>gruppe und das Psychoseseminar.<br />

In Coburg speziell gibt es noch eine eigenständige <strong>Angehörigen</strong>gruppe,<br />

die sich selbst organisiert und bis vor kurzem eine Vereinsstruktur<br />

hatte.<br />

Zunächst möchte ich Ihnen die gesamten Aufgaben eines Sozialpsychiatrischen<br />

Dienstes vorstellen und dann speziell auf die Angebote für Angehörige<br />

zu sprechen kommen. Die nachfolgende Übersicht ist eine klassische Darstellung<br />

<strong>der</strong> Angebote von SpDi´s. Die unterschiedliche historische Entwicklung<br />

einzelner Beratungsstellen, ebenso <strong>der</strong> Standort (Großstadt, Kleinstadt, ländlicher<br />

Bezirk) lässt an<strong>der</strong>e Kombinationen natürlich auch zu. Zum Basisangebot<br />

im Bereich „Beratung“ gehören: Einzelgespräche für Betroffene und Angehörige,<br />

ebenso für verschiedene Gruppen. Die Angebote des Sozialpsychiatrischen<br />

Dienstes Coburg in diesem Bereich sind: eine Depressionsgruppe,<br />

eine Angstgruppe, Selbstsicherheitstraining und eine Aktivgruppe speziell für<br />

schizophren erkrankte Klienten.<br />

Der Bereich „Betreutes Wohnen“ für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen umfasst<br />

Therapeutische Wohngemeinschaften und das Betreute Einzelwohnen. Im<br />

Rahmen des Betreuten Einzelwohnens werden Klienten dort betreut, wo sie<br />

zur Zeit ihren Wohnraum haben, also in <strong>der</strong> Familie, alleine lebend o<strong>der</strong> mit<br />

Partner o<strong>der</strong> Partnerin. Bei den Therapeutischen Wohngemeinschaften findet<br />

die Betreuung in den vom Diakonischen Werk Coburg e.V. angemieteten Wohnungen<br />

statt. Die entsprechenden Zimmer werden den Klienten untervermietet.<br />

Ab Mai 2006 wird es zusätzlich eine „Senioren - WG“ für ältere <strong>psychisch</strong><br />

kranke Menschen geben die, neben den baulichen Gegebenheiten, auch in <strong>der</strong><br />

Art <strong>der</strong> Betreuung und <strong>der</strong> Angebote das Alter <strong>der</strong> Menschen mit berücksichtigt.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Sozialpsychiatrische Dienste o<strong>der</strong> kurz SpDi´s genannt existieren seit ungefähr<br />

25 Jahren. Sie haben die Aufgabe <strong>der</strong> Beratung und Betreuung von <strong>psychisch</strong><br />

kranken Menschen und <strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong>. Damit ist die Zusammenarbeit<br />

und ebenso die Beratung von <strong>Angehörigen</strong> in <strong>der</strong> Grundaufgabenstellung<br />

dieser Beratungsstellen verankert.<br />

Angehörige<br />

Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes für<br />

Angehörige<br />

Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes Coburg<br />

M. Werberich<br />

Auf spezielle Planungen für das Jahr 2006 bzgl. Angehöriger werde ich gegen<br />

Ende meines Vortrages noch zu sprechen kommen. Im Rahmen <strong>der</strong> „Kontakt<br />

und Begegnungsstätte“ wird ein umfangreiches Freizeitangebot für <strong>psychisch</strong><br />

kranke Menschen in Freizeitgruppen angeboten.<br />

Die ca. 16 Gruppen finden im Sozialpsychiatrischen Dienst Coburg von Montag<br />

bis Samstag statt. Unter an<strong>der</strong>em sind es: Sportgruppen, Kochtreffs, Kreativgruppen,<br />

Kontakttreffs, eine Schach- und Schrebergartengruppe, es werden<br />

aber auch Tagesfahrten und mehrtägige Freizeiten über das Jahr verteilt angeboten.<br />

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70 71<br />

Jetzt möchte ich Ihnen noch den angekündigten Überblick <strong>der</strong> geplanten<br />

Aktionen für Angehörige <strong>psychisch</strong> kranker Menschen im Jahr 2006 geben:<br />

Am 27. April 2006 diesen Jahres findet das 100. Psychoseseminar statt. Es<br />

wird einen Vortrag durch die Bundesvorsitzende Frau <strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong> mit dem<br />

Thema: „Verantwortung und Recht auf Selbstbestimmung von <strong>Angehörigen</strong>“<br />

geben. Am 20. Juni 2006 wurde von allen oberfränkischen SpDi´s ein „Tag<br />

<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“ festgelegt. Alle SpDi`s verpflichten sich zu einer Telefonbereitschaft,<br />

um eine sofortige Beratung für Angehörige an diesem Tag sicher<br />

zu stellen. Diese Aktion wird vorher in allen oberfränkischen Zeitungen angekündigt.<br />

Am 10. Oktober 2006 findet <strong>der</strong> „Tag des <strong>psychisch</strong> kranken Men-<br />

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank!<br />

In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf unser „schwärzestes Jahr“ in<br />

<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Sozialpsychiatrischen Dienste in <strong>Bayern</strong> hinweisen, das<br />

Jahr 2003. Allein in Oberfranken wurden 5,5 Planstellen im Bereich „Beratung“<br />

in Sozialpsychiatrischen Diensten gestrichen. Der Sozialpsychiatrische<br />

Dienst Coburg verlor eine komplette Stelle im Jahr 2004. Wir hatten 15 Jahre<br />

lang 3 Vollzeitstellen im Bereich „Beratung“ zur Verfügung und können seit<br />

dieser Personalkürzung nur noch mit 2 / 3 <strong>der</strong> bisherigen Arbeitszeit die Beratung<br />

und Betreuung von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen und <strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong><br />

vornehmen. Im Jahr 2005 wurden insgesamt 470 Klienten (<strong>psychisch</strong> kranke<br />

Menschen und <strong>der</strong>en Angehörige) von 2 Vollzeitstellen beraten und betreut.<br />

Ich kann mich noch daran erinnern, wie vor mehr als 20 Jahren Klienten und<br />

Angehörige nur mit großer Überwindung und auch schambesetzt unsere Beratungsstelle<br />

aufsuchten. In diesen mehr als zwei Jahrzehnten hat sich ein stetiger<br />

Bewusstseinswandel durchgesetzt und selbstbewusstere Klienten sowie<br />

Angehörige hervorgebracht. Unter an<strong>der</strong>em ist dies auch <strong>der</strong> kontinuierlichen<br />

Arbeit <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>verbände zu verdanken.<br />

Ich möchte hier ein hohes Kompliment an alle <strong>Angehörigen</strong> richten, die sich<br />

in diesem <strong>Landesverband</strong> organisiert haben und mich bei Herrn Möhrmann<br />

bedanken, <strong>der</strong> die Leitung des <strong>Landesverband</strong>es innehat. Ebenso bei Frau <strong>Eva</strong><br />

<strong>Straub</strong>, die mittlerweile auf Bundesebene diese wichtige Arbeit vorantreibt.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

Um Ihnen einen Einblick in unsere Arbeit für das Jahr 2005 zu geben, möchte<br />

ich Ihnen jetzt einige statistische Zahlen nennen:<br />

Am Psychoseseminar mit 10 Treffen im Jahr waren 32 Angehörige beteiligt,<br />

in <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>gruppe nahmen 12 Teilnehmer/innen an 11 Treffen teil.<br />

Einzelgespräche nur mit <strong>Angehörigen</strong> fanden 58-mal statt, Einzelgespräche<br />

von <strong>Angehörigen</strong> und Klienten 11-mal, ausführliche telefonische Beratungen<br />

wurden 9-mal durchgeführt. Dem eben erwähnten <strong>Angehörigen</strong>verein, <strong>der</strong><br />

sich in den Räumen des SpDI´s trifft, gehören 12 Personen an. Die Gesamtzahl<br />

<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, die im Jahr 2005 beraten wurden, liegt bei 75 Personen.<br />

schen“ statt (eine Idee <strong>der</strong> WHO). Der SpDi Coburg gestaltet diesen Tag mit<br />

einer telefonischen Expertenrunde. In Zusammenarbeit mit einer Coburger<br />

Tageszeitung, die 5 Telefone für diese Runde zur Verfügung stellt, werden<br />

Experten auch <strong>Angehörigen</strong> zu speziellen Fragen zu verschiedenen Themen<br />

zur Verfügung stehen. Schwerpunkte sind: medizinische Fragen, betreute<br />

Wohnformen, rechtliche Informationen und Beratungsmöglichkeiten für <strong>psychisch</strong><br />

kranke Menschen und Angehörige. Am Abend ist eine Filmvorführung<br />

in einem Kino geplant, die das Thema „Psychische Erkrankungen“ <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

in einer gut dargestellten Weise näherbringen möchte.<br />

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72 73<br />

Zu diesem Thema kann ich nur aus meinem eigenen Erleben berichten. Sicher<br />

gibt es viele an<strong>der</strong>e Strategien, letztendlich muss je<strong>der</strong> seinen eigenen Weg<br />

finden.<br />

Ich möchte mich kurz vorstellen. Mein Name ist Heidi Popp, ich bin verheiratet,<br />

habe zwei Kin<strong>der</strong> und wohne in Hof.<br />

Vor zwölf Jahren kam unsere Familie erstmals mit <strong>der</strong> Psychiatrie in Berührung.<br />

Unser damals 22jähriger Sohn musste in die Nervenklinik eingeliefert<br />

werden, d.h. nach langen Auseinan<strong>der</strong>setzungen und Familiendiskussionen<br />

akzeptierte er es endlich, mit mir dort hinzufahren. Zu <strong>der</strong> Zeit war er bei <strong>der</strong><br />

Bundeswehr und glaubte, dass seine „verrückten Zustände“, wie er es nannte,<br />

von Drogen o<strong>der</strong> Tabletten herrührten, die Kameraden ihm ins Essen gemischt<br />

hätten. Schon Wochen vorher fielen uns sein seltsames Verhalten, seine wirren<br />

Gedankengänge und seine Unruhe auf. Wir glaubten natürlich auch, dass<br />

es Alkohol und Drogen waren, obwohl er immer beteuerte, nie welche genommen<br />

zu haben. Drogen konnten schließlich in <strong>der</strong> Klinik auch nicht nachgewiesen<br />

werden.<br />

Trotz unserer Nachfragen bekamen wir von den Ärzten keine Informationen<br />

über Krankheitsverlauf und Diagnose. Nach sechs Wochen wurde er als gesund<br />

entlassen. Man riet ihm, sein geplantes Studium in Berlin, was wir ver-<br />

Vom <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V. bekamen<br />

wir den Tipp, in Hof eine <strong>Angehörigen</strong>selbsthilfegruppe zu suchen, die<br />

wir dann beim Sozialpsychiatrischen Dienst fanden.<br />

Zuerst war es eine Überwindung für mich, dort anzurufen und zu sagen, dass<br />

ich die Mutter eines <strong>psychisch</strong> kranken Sohnes bin, doch die einfühlsame Anteilnahme<br />

und die Erfahrungen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong> machten mir Mut<br />

und haben mir geholfen, die emotionalen Belastungen besser zu ertragen. Aus<br />

dieser Gruppe hat sich dann im Jahr 2001 <strong>der</strong> Verein ApK Hochfranken gegründet,<br />

<strong>der</strong>en Vorsitzende ich seither bin.<br />

Wir waren mit einer Tatsache konfrontiert, <strong>der</strong>en Auswirkungen wir nicht ahnten<br />

und die uns in den folgenden Jahren noch schwer belastete. Wir fühlten<br />

uns allein gelassen, und dem Geschehen um unseren Sohn standen wir<br />

rat- und hilflos gegenüber.<br />

Wir zogen uns von unserem Bekanntenkreis zurück, und in den ersten zwei<br />

Jahren vermieden wir es, mit an<strong>der</strong>en über unsere Probleme zu sprechen.<br />

Die Krankheitsschübe wie<strong>der</strong>holten sich in den folgenden Jahren, weil unser<br />

Sohn die Tabletten immer wie<strong>der</strong> absetzte, sobald es ihm besser ging, und<br />

seine Studienversuche scheiterten immer wie<strong>der</strong>.<br />

Was sollte denn nur werden? Würde er jemals allein und selbstbestimmt leben<br />

können? O<strong>der</strong> waren wir irgendwie schuld an seiner Krankheit? Hatte ich was<br />

falsch gemacht? Ich fand keine Ruhe mehr und hatte Angst vor erneuten<br />

Krankheitseinbrüchen.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Bewältigung <strong>der</strong> Konflikte im Zusammenleben mit<br />

einem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied<br />

Angehörige<br />

1. Vorsitzende<br />

ApK Hochfranken<br />

Heidi Popp<br />

suchten, ihm auszureden, ruhig zu beginnen, die Tabletten sollte er aber mindestens<br />

noch 1 bis 2 Jahre regelmäßig weiter einnehmen. Diese Notwendigkeit<br />

sah er natürlich nicht ein, denn er fühlte sich nicht krank, und es tat ihm auch<br />

nichts weh. Den Begleitbrief an den Hausarzt öffnete ich zu Hause und las<br />

zum ersten Mal fassungslos die Worte: affektive Schizophrenie. Was bedeutete<br />

das, und wie sollten wir damit umgehen? Sollte ich noch einmal in die<br />

Klinik fahren und nachfragen? Aber die Erfahrungen und Erlebnisse dort hatten<br />

mir gereicht, da wollte ich auch nicht noch einmal hin.<br />

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74 75<br />

Diese großartigen Erfahrungen, die wir in München machen konnten, wollten<br />

wir unbedingt unserer Gruppe weitergeben. Sie sollte auch erfahren, dass<br />

mehr Informationen über die Krankheit den Umgang mit den Betroffenen erleichtert<br />

und die familiäre Situation wesentlich entspannt, denn je mehr man<br />

über die Krankheit weiß, desto schneller erkennt man, wann es wie<strong>der</strong> losgeht,<br />

und kann reagieren.<br />

Ich denke, dass sich alle <strong>Angehörigen</strong> für ihre Betroffenen ein selbstbestimmtes<br />

Leben wünschen, mit gleichen Chancen im Arbeitsleben und in <strong>der</strong> ambulanten<br />

Versorgung, genau wie bei somatisch Kranken.<br />

Für die Betroffenen ist es wichtig, den Rückhalt und die Unterstützung <strong>der</strong><br />

Familie zu spüren, und für uns Angehörige ist es wichtig, dass wir uns solidarisieren,<br />

denn nur gemeinsam können wir uns für die im Gesetz stehenden<br />

Rechte für unsere kranken Familienmitglie<strong>der</strong> einsetzen. Diese Verantwortung<br />

müssen wir übernehmen, denn bei den knappen Kassen <strong>der</strong> Bezirke wird<br />

man uns sonst immer mehr Aufgaben und Verantwortungen in die Schuhe<br />

Ich habe unser Familienleben immer für ganz normal gehalten und fand es in<br />

Ordnung, halbtags zu arbeiten, aber die vielen Vorwürfe und Ratschläge von<br />

Verwandten und Bekannten, was wir tun könnten und sollten, z.B. alternative<br />

Methoden ausprobieren, machten mich oftmals unsicher. Hier wurde mir jetzt<br />

endlich gesagt, dass ich nichts falsch gemacht hatte und nicht schuld an <strong>der</strong><br />

Krankheit unseres Sohnes war. Das erleichterte mich unsagbar.<br />

In diesem Kurs erfuhren wir, dass Schizophrenie auch eine Stoffwechselstörung<br />

des Gehirns ist, also eine medikamentöse und psychosoziale Behandlung<br />

unerlässlich ist, dass aber auch <strong>der</strong> Faktor Stress eine bedeutende Rolle spielt.<br />

Wir fühlten uns nicht mehr so hilflos, denn es wurde uns klar, dass auch Angehörige<br />

viel tun können, wenn sie Warnzeichen vor einem Rückfall erkennen<br />

und mit dem Betroffenen zusammen in guten Zeiten einen Krisenplan erstellen.<br />

Die krankhaften Reaktionen unseres Sohnes konnten wir endlich richtig<br />

einordnen und empfanden sie nicht mehr nur als Aggression gegen uns,<br />

son<strong>der</strong>n sahen sie als Teil seiner Krankheit an.<br />

Inzwischen haben wir vier Kurse mit Unterstützung <strong>der</strong> Klinik rechts <strong>der</strong> Isar<br />

selbständig durchgeführt, an denen insgesamt 65 Angehörige teilgenommen<br />

haben. Mit großer Dankbarkeit reagieren die Teilnehmer auf das Angebot und<br />

drücken ihre neuen Erkenntnisse zum Beispiel so aus: „Ja, wenn ich das alles<br />

nur schon früher gewusst hätte. Jetzt verstehe ich erst, warum meine Tochter<br />

die Medikamente immer noch nehmen muss“. O<strong>der</strong>: „Jetzt verstehe ich,<br />

warum mein Sohn aggressiv war, er hatte Angst, und die ist ein Teil seiner<br />

Krankheit.“ Ein Vater sagte: „Mir ist die Rolle <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> klar geworden.<br />

Wir müssen uns noch mehr für einen Trialog zwischen Betroffenen, Profis<br />

und <strong>Angehörigen</strong> einsetzen, denn mit <strong>der</strong> Krankheit allein gelassen, dreht<br />

sich <strong>der</strong> Patient im Kreis und hat kaum eine Chance, ein selbstbestimmtes Leben<br />

mit entsprechen<strong>der</strong> Lebensqualität zu führen.“<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

Angestoßen vom <strong>Landesverband</strong> ApK hatten mein Mann und ich 2003 die<br />

Gelegenheit, am Klinikum rechts <strong>der</strong> Isar in München an einem Psychoedukationskurs<br />

teilzunehmen. Schon nach <strong>der</strong> ersten Stunde waren wir vom Aufbau<br />

des Unterrichts so begeistert, dass wir die 600 Kilometer in den folgenden<br />

acht Wochen einmal pro Woche gern in Kauf nahmen.<br />

Jetzt erfuhren wir, was typische Symptome <strong>der</strong> Schizophrenie sind und wie<br />

sie sich ankündigen. Wir verstanden auch, dass Positiv- und Negativsymptome<br />

durch eine intensive medikamentöse und psychosoziale Behandlung gebessert<br />

werden können und es mehrere Ursachen für diese Krankheit gibt.<br />

Also beschlossen wir, weitere sechs Male nach München zu fahren, um an<br />

dem umfangreichen Ausbildungsprogramm als Mo<strong>der</strong>atoren für Psychoedukation<br />

teilzunehmen. In dem Projekt werden Angehörige in acht, ca. 90-minütigen,<br />

wöchentlich stattfindenden Sitzungen über Symptome, Ursachen, Diagnose,<br />

Medikamente, psychosoziale Behandlungsmöglichkeiten und Warnzeichen<br />

informiert.<br />

„Psychoedukation schafft die Krankheit nicht ab, aber sie hilft, erfolgreicher<br />

damit umzugehen“, sagt Dr. Josef Bäuml vom Klinikum rechts <strong>der</strong> Isar in<br />

München.<br />

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76 77<br />

Es ist nicht so einfach, selbstbewusst die Rolle als Angehöriger eines <strong>psychisch</strong><br />

kranken Menschen anzunehmen und zu ihr zu stehen. Wir müssen unsere<br />

Wertvorstellungen än<strong>der</strong>n und mit unseren eigenen Vorurteilen aufräumen.<br />

Erst dann können wir uns von <strong>der</strong> Macht äußerer Faktoren freimachen;<br />

von <strong>der</strong> Meinung und den Erwartungen an<strong>der</strong>er, vom Zwang unserer eigenen<br />

Bedürfnisse und Wünsche.<br />

Diese innere Freiheit gehört wesentlich zu unserer Würde als Mensch.<br />

Für mich war es ein langer Weg!<br />

Das bedeutet auch, dass wir unseren Betroffenen Eigenverantwortung zurückgeben<br />

müssen und vor lauter Fürsorge und Mitgefühl unsere eigenen Bedürfnisse<br />

nicht vergessen dürfen. Erst dann können wir eine Hilfe bei <strong>der</strong> Krankheitsbewältigung<br />

sein und Ansprechpartner in Krisenzeiten und Notfällen.<br />

Angehörige können Verän<strong>der</strong>ungen im Verhalten des Patienten sehr früh erkennen.<br />

Durch gute Zusammenarbeit zwischen Patient, <strong>Angehörigen</strong> und Behandlungsteam<br />

kann möglicherweise ein Klinikaufenthalt vermieden werden.<br />

Wir <strong>Angehörigen</strong> würden uns wünschen, dass immer mehr Profis erkennen,<br />

dass Angehörige unverzichtbare Partner sind, die ernst genommen werden<br />

wollen und müssen.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

schieben, ohne dass man uns fragen wird und ohne dass wir praktische Hilfe<br />

o<strong>der</strong> finanzielle Erleichterung bekommen werden.<br />

In vielen Fällen sind Angehörige die einzige Verbindung <strong>der</strong> Kranken mit <strong>der</strong><br />

Umwelt und haben oft große Aufgaben und Belastungen zu bestehen: Kontakte<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen, die finanzielle Situation des Betroffenen zu regeln<br />

und vor allem mit Vorurteilen fertig zu werden. All das gelingt nur, wenn man<br />

über die Krankheit aufgeklärt ist und weiß, dass niemand an <strong>der</strong> Erkrankung<br />

schuld ist. Eine Regel sagt: Nur wer für sich selbst verantwortlich ist, kann<br />

auch für an<strong>der</strong>e Verantwortung tragen.<br />

Jetzt lebt unser Sohn allein in einer hübschen kleinen Wohnung in Erlangen<br />

und hat das 1. Semester Soziologie und Politologie erfolgreich abgeschlossen.<br />

Erst kürzlich verbrachte unsere ganze Familie einen herrlichen sonnigen Skiurlaub<br />

in Österreich. Es waren schöne Tage, wir hatten viel Spaß und gute<br />

Gespräche.<br />

Ob er seine Tabletten auch wirklich immer regelmäßig nimmt, das frage ich<br />

nicht mehr!<br />

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78 79<br />

Die Folgen sind:<br />

• Unverständnis: Die Probleme <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> werden nicht akzeptiert.<br />

• Häufig ist <strong>der</strong> nächste Angehörige das Ziel unfundierter Vorwürfe. Er<br />

dient in <strong>der</strong> Krise als bequemes Feindbild.<br />

Dies kann in Krisensituationen dazu führen, dass die <strong>Angehörigen</strong> sogar mehr<br />

leiden als <strong>der</strong> Betroffene selbst.<br />

Unser Verhalten als Angehörige<br />

Bestimmte Verhaltensweisen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> können offensichtlich den<br />

Krankheitsverlauf positiv beeinflussen und somit zu einer niedrigeren Rückfallrate<br />

beitragen. Ein positives Familienklima, das von positiven Gefühlen<br />

Psychische Krankheiten verän<strong>der</strong>n nicht nur die Lebenssituation <strong>der</strong> unmittelbar<br />

Betroffenen, son<strong>der</strong>n auch die ihrer <strong>Angehörigen</strong> grundlegend.<br />

• Bei depressiv Erkrankten müssen sich die <strong>Angehörigen</strong> in eine fremde<br />

Erlebniswelt hineindenken und Aufgaben für einen zeitweilig mehr o<strong>der</strong><br />

weniger lebensunfähigen Menschen übernehmen. Obwohl die Betroffenen<br />

leiden, weigern sie sich häufig, eine Behandlung zu akzeptieren.<br />

• Bei „bipolaren“ Erkrankungen droht zudem je<strong>der</strong>zeit die Umkehr in eine<br />

manische Phase, in welcher oft keinerlei Krankheitseinsicht o<strong>der</strong> Behandlungsbereitschaft<br />

des Betroffenen mehr vorhanden ist.<br />

• Auch bei Schizophrenie fehlt meist die Krankheitseinsicht, da Wahnvorstellungen<br />

ja als real erlebt werden. Bei Bor<strong>der</strong>line-Störungen ist die<br />

Persönlichkeitsstörung für den Betroffenen selbst nur schwer erkennbar.<br />

Schuldgefühle<br />

Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker fragen sich, ob und inwieweit sie selbst schuld<br />

o<strong>der</strong> mitschuldig am Ausbruch <strong>der</strong> Krankheit sind. Angehörige müssen jedoch<br />

aufgrund des Ausbruchs und Verlaufs <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung eines Familienmitglieds<br />

in aller Regel keine Schuldgefühle entwickeln, da sie ja jeweils<br />

versucht haben, aus <strong>der</strong> momentanen Situation heraus das aus ihrer Sicht<br />

Beste zu tun.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Noch’n Verein – Warum organisieren sich<br />

Angehörige?<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>es <strong>Bayern</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />

Karl Heinz Möhrmann<br />

Aber auch die <strong>Angehörigen</strong> wollen eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung zunächst nicht<br />

wahrhaben. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, beispielsweise:<br />

• „Mein Sohn ist doch nicht geisteskrank“<br />

Er hätte es ja sonst womöglich von mir geerbt – Makel <strong>der</strong> eigenen Unvollkommenheit<br />

– „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“<br />

• Angst vor <strong>der</strong> unüberschaubaren Problematik<br />

Was wird denn dann aus meinem Sohn/meiner Tochter/<strong>der</strong> Ausbildung/dem<br />

Beruf/unserer Ehe?<br />

• Angst vor <strong>der</strong> Schande<br />

Es wird als Schande betrachtet, einen <strong>psychisch</strong> Kranken in <strong>der</strong> Familie<br />

zu haben. Nachbarn, Freunde, Bekannte zerreißen sich den Mund.<br />

Problem vor allem in ländlichen Gegenden.<br />

• Angst vor Schuldzuweisungen<br />

„Ich habe es ja schon immer gesagt: daran ist nur Deine Erziehung<br />

schuld!“<br />

• „Medikamente sind Gift, haben Nebenwirkungen, machen abhängig!“<br />

Antidepressiva und Antipsychotika machen nicht abhängig – diese Gefahr<br />

besteht nur bei Tranquilizern.<br />

Angehörige<br />

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80 81<br />

Warum ist <strong>der</strong> Besuch einer Selbsthilfegruppe für Angehörige<br />

nützlich?<br />

• Die Kräfte <strong>der</strong> nahe stehenden <strong>Angehörigen</strong> werden im Alltag oft überfor<strong>der</strong>t.<br />

Sie brauchen Verständnis und einen Ort, an dem sie offen über<br />

ihre Sorgen und Nöte reden können. Dieser Ort kann eine Selbsthilfegruppe<br />

von <strong>Angehörigen</strong> sein, wo sich Menschen in ähnlicher Situation<br />

austauschen können und mit ihren Problemen nicht mehr alleine stehen.<br />

• Hier findet ein Zusammentreffen mit Menschen in gleicher o<strong>der</strong> ähnlicher<br />

Lage statt.<br />

Es gibt keine Diskriminierung o<strong>der</strong> Stigmatisierung. Bei den Teilnehmern<br />

liegt ein ähnlicher Erfahrungs- und Leidenshintergrund vor. Dies<br />

führt zu Verständnis füreinan<strong>der</strong> und zu emotionaler Entlastung und ermöglicht<br />

einen intensiven Erfahrungsaustausch. Die Teilnehmer können<br />

gegenseitig voneinan<strong>der</strong> profitieren.<br />

„Du alleine kannst es, aber Du kannst es nicht alleine!“<br />

• Der Erfahrungsaustausch in <strong>der</strong> Gruppe führt zur Verringerung von<br />

Schuldgefühlen sowie zum Abbau von Vorurteilen und von Stigmatisierung,<br />

und vermittelt Hoffnung.<br />

Warum ist die Mitgliedschaft in <strong>der</strong> Selbsthilfebewegung für<br />

Angehörige nützlich?<br />

• Die betroffenen Familien bekommen kaum Verständnis und Hilfe von<br />

außen, und ihr Wunsch nach Informationen über die Krankheit von professioneller<br />

Seite findet eher selten Gehör. Daher ist die Selbsthilfe und<br />

die gegenseitige Unterstützung auf Orts- und Landesebene ein unverzichtbarer<br />

Halt im Zusammenleben mit dem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied.<br />

• Es gibt „politische“ Gründe:<br />

Die For<strong>der</strong>ungen von Verbesserungen in <strong>der</strong> Psychiatrie und die Vertretung<br />

<strong>der</strong> Interessen und Anliegen <strong>der</strong> Betroffenen und <strong>Angehörigen</strong> auf<br />

kommunaler bzw. regionaler Ebene müssen nachhaltig organisiert und<br />

aufrechterhalten werden.<br />

Als Einzelperson erreichen Sie gar nichts! Nur gemeinsam sind wir stark!<br />

• Neben <strong>der</strong> lokalen <strong>Angehörigen</strong>gruppe ist also eine größere Einheit notwendig,<br />

welche die Interessen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> auch überregional ver-<br />

1. Regionaltreffen<br />

Informieren Sie sich!<br />

Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker sollten bereit sein, sich über die Krankheit zu<br />

informieren und zu lernen, bestmöglich damit umzugehen – sowohl im eigenen<br />

Interesse als auch im Interesse <strong>der</strong> Betroffenen. Wer nicht informiert ist,<br />

wird gesteuert. Nur wer informiert ist, kann selbst steuern!<br />

Und: Eine bekannte Gefahr ist nur noch halb so groß!<br />

und gegenseitiger Wertschätzung getragen wird, wirkt sich positiv auf den<br />

weiteren Krankheitsverlauf einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung aus und hilft, Rückfälle<br />

zu vermeiden.<br />

Es lohnt sich, das eingespielte Verhalten ab und zu zu überdenken, und zu<br />

versuchen, die Toleranz gegenüber dem /<strong>der</strong> Betroffenen zu vergrößern.<br />

• Der Informationsbedarf über die Erkrankung kann befriedigt werden.<br />

Wenn Sie zeigen, dass Sie Bescheid wissen, werden Sie von den Profis<br />

eher ernst genommen!<br />

• Sie haben die Möglichkeit, von an<strong>der</strong>en betroffenen <strong>Angehörigen</strong> zu lernen.<br />

• Dies führt zu mehr Souveränität im Umgang <strong>der</strong> Betroffenen und <strong>Angehörigen</strong><br />

mit <strong>der</strong> Krankheit.<br />

• Es entstehen über die Gruppe hinausgehende Kontakte und Freundschaften.<br />

Dies hilft bei <strong>der</strong> Vermeidung gesellschaftlicher Isolierung.<br />

• Hier lernen und entwickeln Sie auch Techniken des zwischenmenschlichen<br />

Umgangs. Dies erleichtert das Verhalten in <strong>der</strong> Familie bzw. in <strong>der</strong><br />

sozialen Umgebung.<br />

„Selbsthilfe“ beruht auf Gegenseitigkeit. Sie bedeutet nicht, nur sich selbst<br />

helfen zu lassen, son<strong>der</strong>n auch, selbst zu helfen – sich und an<strong>der</strong>en!<br />

Angehörige<br />

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82 83<br />

Der <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> ist mit nahezu 2000 Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

größte regionale Selbsthilfeverband in <strong>der</strong> Psychiatrie in <strong>der</strong> BRD.<br />

Der Verband finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie durch<br />

staatliche und kommunale För<strong>der</strong>ung, durch die gesetzlich verankerte Selbsthilfeför<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Krankenkassen und nur zu einem sehr geringen Anteil<br />

durch Sponsoring. Er ist ein gemeinnütziger, ehrenamtlich geleiteter Verein<br />

und ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) und<br />

bei <strong>der</strong> Landesarbeitsgemeinschaft für Behin<strong>der</strong>te (LAGB).<br />

Der <strong>Landesverband</strong> bietet den <strong>Angehörigen</strong><br />

• Ein flächendeckendes Beratungsnetz<br />

Der <strong>Landesverband</strong> baut sein Beratungsnetz mit Selbsthilfekontaktstellen<br />

in <strong>Bayern</strong> flächendeckend aus. Er berät und unterstützt auch bei <strong>der</strong> Entstehung<br />

neuer <strong>Angehörigen</strong>-Selbsthilfegruppen.<br />

• Spezielle Beratungsangebote<br />

Der <strong>Landesverband</strong> plant beson<strong>der</strong>e Beratungs- und Informationsprogramme<br />

für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern sowie für Geschwister und<br />

Partner von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen.<br />

tritt. Nur gemeinsam lässt sich an den psychiatrischen Versorgungsstrukturen<br />

etwas verän<strong>der</strong>n. Eine selbstbewusste, kompetent argumentierende,<br />

gut organisierte und demokratisch legitimierte Selbsthilfebewegung<br />

ist die beste Lobby.<br />

• Der Informationsbedarf von Betroffenen und <strong>Angehörigen</strong> über die Erkrankung<br />

kann besser befriedigt werden: dazu gibt es Psychoedukation.<br />

Die Teilnahme daran hilft, die Krankheit und die möglichen Behandlungsmethoden<br />

zu verstehen und zu lernen, damit umzugehen. Hier erhalten<br />

Sie Aufklärung über Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten.<br />

• Der <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V. versteht<br />

sich als Stimme <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, Partner und Freunde <strong>psychisch</strong><br />

kranker Menschen in <strong>Bayern</strong>. Er vertritt ihre Interessen in Psychiatrie,<br />

Politik und Gesellschaft. Das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> ist nicht von<br />

dem ihrer <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglie<strong>der</strong> zu trennen. Daher vertritt<br />

<strong>der</strong> Verband neben den etablierten Organisationen <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

Kranken, und wenn möglich in Zusammenarbeit mit diesen, auch <strong>der</strong>en<br />

Anliegen.<br />

Selbstbewusste, informierte und solidarische Angehörige können die mit <strong>psychisch</strong>en<br />

Erkrankungen verbundenen Herausfor<strong>der</strong>ungen besser annehmen<br />

und bewältigen.<br />

Die bayerische <strong>Angehörigen</strong>vertretung strebt eine familiengerechte Psychiatrie<br />

und eine Gesellschaft an, welche die belastete Lebenssituation <strong>der</strong> betroffenen<br />

Familien anerkennt, die ihnen mit Respekt und Verständnis begegnet<br />

und ihnen die notwendige Unterstützung gewährt. Ziel sind aufgeklärte, solidarische<br />

und selbstbewusste Familien, die ihre Rechte kennen und die den<br />

Mut haben, Hilfen einzufor<strong>der</strong>n, die sie zur Bewältigung ihrer schwierigen<br />

Lage brauchen. Der Verband tritt für das gleichberechtigte trialogische Gespräch<br />

zwischen Betroffenen, <strong>Angehörigen</strong> und Fachleuten <strong>der</strong> psychiatrischen<br />

Versorgung ein.<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

Ziele des <strong>Landesverband</strong>es<br />

Es ist nicht leicht, eine <strong>psychisch</strong>e Krankheit zu verstehen. Und es ist ganz<br />

und gar nicht leicht, das eigene Leben als Angehöriger auf diese Krankheit<br />

einzustellen und die verän<strong>der</strong>te Situation zu akzeptieren. Alle Anstrengungen<br />

des <strong>Landesverband</strong>s laufen darauf hinaus, die Lebensqualität <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

von <strong>psychisch</strong> Kranken zu verbessern, ihnen Benachteiligungen zu ersparen<br />

und die Familien im selbstbewussten Umgang mit dem Schicksal einer <strong>psychisch</strong>en<br />

Erkrankung zu stärken.<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 82


84 85<br />

Ferner setzt sich <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> für die folgenden Ziele ein:<br />

• Gleichstellung<br />

Die Gleichstellung <strong>psychisch</strong> kranker und behin<strong>der</strong>ter Menschen und<br />

ihrer <strong>Angehörigen</strong> mit somatisch Kranken und <strong>der</strong>en Familien hat Fortschritte<br />

gemacht. Trotzdem bleibt noch viel zu tun. Zu den unverrückbaren<br />

Zielen des <strong>Landesverband</strong>s zählen verbesserte ambulante und rehabilitative<br />

Versorgungsangebote – vergleichbar gut, wohnortnah und<br />

flächendeckend wie für körperlich Kranke.<br />

• Partnerschaftliche Zusammenarbeit<br />

Der <strong>Landesverband</strong> wird inzwischen als Lobbyorganisation öffentlich<br />

anerkannt und partnerschaftlich in viele gesundheitspolitische Entscheidungen<br />

mit einbezogen. Diese Achtung und Anerkennung for<strong>der</strong>n wir<br />

auch für jeden einzelnen <strong>Angehörigen</strong> und Patienten im Alltag.<br />

• Stärkere Berücksichtigung <strong>der</strong> Familie<br />

Mit allgemeinen Grundsätzen allein ist es nicht getan. Die immer wichtigere<br />

Rolle <strong>der</strong> Familie bleibt hierbei unberücksichtigt. Daher setzt sich<br />

<strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> zusätzlich für folgende Punkte ein:<br />

• Eine familienorientierte Psychiatrie, die auch die berechtigten Anliegen<br />

<strong>der</strong> betreuenden <strong>Angehörigen</strong> berücksichtigt<br />

• Zusammenarbeit <strong>der</strong> professionellen Seite mit betreuenden <strong>Angehörigen</strong><br />

„auf gleicher Augenhöhe“<br />

• Selbstbestimmung und Freiwilligkeit <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> bezüglich<br />

ihres Anteils an Betreuungsleistungen für <strong>psychisch</strong> Kranke<br />

• Schutz aller Familienangehörigen (Grundgesetz Artikel 6: Ehe und<br />

Familie stehen unter dem beson<strong>der</strong>en Schutze <strong>der</strong> staatlichen Ordnung)<br />

• Abbau von Vorurteilen (Entstigmatisierung)<br />

Um diese Ziele zu erreichen, betreibt <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> eine intensive<br />

Öffentlichkeitsarbeit, er pflegt Kontakte zu Vertretern <strong>der</strong> Psychiatrie, zu<br />

Politikern, zu Medien und Behörden und informiert in Schulen und Betrieben.<br />

Unterstützt werden diese Aktivitäten durch Publikationen des <strong>Landesverband</strong>s.<br />

Unterstützen auch Sie unsere Ziele – welche auch die Ihren sind – durch Ihre<br />

Mitgliedschaft!<br />

1. Regionaltreffen<br />

Angebote des <strong>Landesverband</strong>es für seine Mitglie<strong>der</strong> sind:<br />

• Persönliche Beratung und Information<br />

• Unterstützung von <strong>Angehörigen</strong>gruppen<br />

• Informations- und Trainingsprogramme,<br />

z.B. „AiA – Angehörige informieren Angehörige“<br />

• Fortbildungsveranstaltungen für Einzelmitglie<strong>der</strong> und Gruppenleiter/innen<br />

z.B.:<br />

„Führen und Leiten von Gruppen“,<br />

„Ressourcenorientiertes Mo<strong>der</strong>ieren“,<br />

„Umgang mit aggressivem Verhalten eines <strong>psychisch</strong> kranken <strong>Angehörigen</strong>“<br />

usw.<br />

• Landes-, Regional- und spezielle Thementagungen für Angehörige<br />

• Verbandszeitung „unbeirrbar“ und Psychosoziale Umschau für Mitglie<strong>der</strong>,<br />

weitere Publikationen<br />

Die Wahrnehmung dieser Angebote führt zu wachsendem Vertrauen in die<br />

eigenen Ressourcen und Fähigkeiten <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>. Sie dient <strong>der</strong> Motivation<br />

zur aktiven Verbesserung <strong>der</strong> eigenen Lebenssituation und <strong>der</strong> des Betroffenen<br />

und vermittelt Hoffnung und Zuversicht.<br />

Angehörige<br />

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86 87<br />

2. Regionaltreffen<br />

ab 9.30 Uhr: Eintreffen, Begrüßungskaffee<br />

10.00 Uhr: Grußworte Fritz Stahl, Oberbürgermeister <strong>der</strong> Stadt<br />

Traunstein<br />

10.15 – 10.45 Uhr: „Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes<br />

für Angehörige“<br />

Sophie Stadler, Dipl. Psychologin,<br />

Sozialpsychiatrischer Dienst Traunstein<br />

10.45 -11.45 Uhr: „Unser Weg – <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

11.45 – 12.00 Uhr: Pause<br />

12.00 – 13.00 Uhr: „Selbsthilfegruppen und Psychoedukation –<br />

Unterstützungsangebote für Angehörige“<br />

Karl Heinz Möhrmann, Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />

<strong>Landesverband</strong>es ApK<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />

Elisabeth Decker, Angehörige ApK Starnberg<br />

13.00 – 14.00 Uhr: Mittagspause<br />

14.00 – 15.30 Uhr: „Sie fragen – wir antworten“ Informations-Service<br />

für Angehörige<br />

Vertreter des LApK<br />

stehen für Fragen zu Ihrer Verfügung<br />

15.30 – 16.00 Uhr: Kaffeepause<br />

16.00 – 16.30 Uhr: Abschlussplenum<br />

Angehörige<br />

PROGRAMM<br />

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88 89<br />

2. Regionaltreffen<br />

Karl Heinz Möhrmann<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />

Ihr<br />

Je<strong>der</strong> Angehörige hat zunächst an <strong>der</strong> Richtigkeit <strong>der</strong> Diagnose gezweifelt,<br />

hat geglaubt das alles müsse ein Irrtum sein, hat nach Schuldigen gesucht und<br />

war dann zutiefst verzweifelt, als die Zeit verging und sich nichts Wesentliches<br />

än<strong>der</strong>te.<br />

Mal zornig, mal jammernd beklagte man die Ungerechtigkeit des Schicksals.<br />

Verbittert, apathisch und resignierend überließ man sich dem Krankheitsverlauf,<br />

bis sich so allmählich <strong>der</strong> Gedanke durchsetzte: da müsse man doch<br />

etwas tun können, da müssten wir, die <strong>Angehörigen</strong>, doch etwas tun können.<br />

Es stellte sich die Bereitschaft ein, <strong>der</strong> Tatsache ins Auge zu sehen.<br />

Damit einher ging das Bewusstsein, nicht nur für den Betroffenen etwas tun<br />

zu müssen, son<strong>der</strong>n auch für sich selber Verantwortung übernehmen zu müssen,<br />

um zu verhin<strong>der</strong>n, dass <strong>der</strong> wechselnde Krankheitsverlauf sein eigenes<br />

Leben bestimmt. Selber aktiv werden, selber nach Wegen suchen und selber<br />

bestimmen, inwieweit die <strong>psychisch</strong>e Krankheit unseres Kindes, unseres Partners<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Eltern zum Lebensinhalt wird, das stellt uns vor oftmals nicht<br />

leichte Entscheidungen. Aber wir eröffnen uns damit Wege – nicht nur einen<br />

Weg –, und das schafft Zufriedenheit.<br />

Je<strong>der</strong> Angehörige hatte Zeiten, in denen er sich schämte wegen seines Unvermögens,<br />

mit <strong>der</strong> Situation klar zu kommen. Er schämte sich wegen seiner<br />

Zweifel, seiner Wut, seiner Ängste und seiner Hoffnungslosigkeit. Im Fol-<br />

Angehörige<br />

Eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung belastet nie nur den Betroffenen allein, son<strong>der</strong>n<br />

immer auch die ganze Familie. Diese Tagung soll Ihnen Informationen über<br />

die in Ihrer Region verfügbaren Hilfen, aber auch Ratschläge zum Umgang<br />

mit Ihrem kranken <strong>Angehörigen</strong> vermitteln.<br />

Am Nachmittag laden wir Sie zum Gespräch ein, wobei Sie Gelegenheit haben,<br />

Ihre Fragen zum Umgang mit <strong>psychisch</strong> erkrankten Menschen zu stellen.<br />

Sie haben hier die einmalige Chance, mehrere Fachleute an einem Ort<br />

zu treffen, neue Kontakte zu knüpfen und wertvolle Informationen zu erfragen<br />

und zu sammeln.<br />

Nur wenn Sie es schaffen, halbwegs gelassen und souverän mit <strong>der</strong> Erkrankung<br />

des Betroffenen umzugehen, können Sie auch dem Betroffenen und<br />

sich selbst helfen!<br />

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme an <strong>der</strong> Tagung!<br />

Unser Weg – <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

Vorsitzende des Bundesverbands <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />

Liebe Angehörige!<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong><br />

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90 91<br />

Übrigens, dem Betroffenen geht es genauso, auch er versteht die Welt nicht<br />

mehr, kann die Verhaltenweisen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en nicht mehr einordnen. Er muss<br />

erfahren, dass die an<strong>der</strong>en die Dinge an<strong>der</strong>s wahrnehmen, als er sie erlebt und<br />

dass sie seine Erlebnisse und Erkenntnisse in Zweifel ziehen. Sein Vertrauen<br />

in alles – auch in sich selbst – geht verloren. Das, was man „Leben“ nennt,<br />

hat eine an<strong>der</strong>e Bedeutung für ihn angenommen, die ihm mal Angst macht<br />

o<strong>der</strong> ihn über sich hinauswachsen lässt. Und manchmal, nur für ihn selber<br />

spürbar, werden ihm übersinnliche Kräfte verliehen. Niemand versteht ihn,<br />

niemand nimmt seine Ängste ernst, alles ist bedrohlich, und jede Entscheidung<br />

fällt ihm schwer. Er merkt, dass etwas nicht stimmt. Aber was?<br />

Die Suche nach seinem Weg<br />

Ohne es sich so richtig bewusst zu machen, suchen die betroffenen Familien<br />

nach Wegen, mit dem ihnen fremd gewordenen Familienmitglied umzugehen,<br />

sie suchen nach Wegen, demjenigen zu helfen und danach, sich selber zu<br />

schützen und bei alledem ein einigermaßen gewohntes Leben führen zu kön-<br />

Bevor die Krankheit ausbricht<br />

Die <strong>Angehörigen</strong> fühlen sich fassungslos einer Situation ausgeliefert, die sie<br />

nicht beeinflussen können, die sie nicht steuern und nicht umkehren können.<br />

Sie sind Zuschauer einer ängstigenden Entwicklung und sind Mitbetroffene.<br />

Sie wehren sich dagegen, die Verhaltensverän<strong>der</strong>ungen mit einem krankhaften<br />

Zustand in Verbindung zu bringen. Durchschnittlich dauert die Phase vor<br />

<strong>der</strong> Diagnosestellung, die „prodromale“ Phase, bei einer Erkrankung aus dem<br />

schizophrenen Formenkreis fünf bis sieben Jahre – Jahre voller Missverständnisse,<br />

kontinuierlich zunehmen<strong>der</strong> Verunsicherung, immer bedrücken<strong>der</strong> werden<strong>der</strong><br />

Angst vor <strong>der</strong> Zukunft. Erklärungsmodelle für die unerklärlichen Reaktionen<br />

des Betroffenen, für seine o<strong>der</strong> ihre verän<strong>der</strong>te Lebensweise, beruhigen<br />

die Nahestehenden immer nur kurze Zeit.<br />

Die <strong>Angehörigen</strong> sind lange Zeit ratlos und fühlen mit Entsetzen, wie sie<br />

selbst mit hineingezogen werden in den Verän<strong>der</strong>ungsprozess – hilflos ihm<br />

ausgeliefert. Immer schlechter kommen die <strong>Angehörigen</strong> mit dieser Situation<br />

zurecht, je weniger die gewohnten Reaktionen greifen. Verzweiflung macht<br />

sich breit. Das Grübeln führt zu nichts, die Gedanken kreisen nur noch um<br />

das eine: Wohin soll das noch führen?<br />

Bei Rückenschmerzen fragt man Freunde, Nachbarn, Verwandte. Bei <strong>der</strong> Beschreibung<br />

einer beginnenden <strong>psychisch</strong>en Erkrankung ernten die Ratsuchenden<br />

Unverständnis bis Vorwürfe und bestenfalls eine ganze Skala gut gemeinter,<br />

aber in dieser Situation unpraktikabler Vorschläge. Sie ernten schiefe<br />

Blicke statt Erfahrungswissen, Abwehrhaltung statt Mitgefühl. Es ist normal,<br />

dass sich die so betroffene Familie verschließt und die weiteren Entwicklungen<br />

weitestgehend versteckt.<br />

2. Regionaltreffen<br />

Angehörige<br />

Die Familienmitglie<strong>der</strong> sind irritiert – nein, sie sind völlig durcheinan<strong>der</strong>:<br />

Was gestern galt, gilt heute nicht mehr! Freundlichkeit, Vertrautheit und Liebe<br />

lösen Abwehr und Rückzug aus. Unverständliche Handlungsriten und Gefühlsausbrüche<br />

<strong>der</strong> Betroffenen verstören, auf Kontaktversuche kommt keine<br />

Antwort. Der ganze Familienalltag steht Kopf.<br />

Alles verän<strong>der</strong>t sich<br />

Angehörige werden eigentlich immer von <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung eines<br />

Familienmitglieds unvorbereitet erwischt, die einen plötzlich durch einen<br />

abrupten Ausbruch, die meisten aber erleben einen langen schleichenden Verän<strong>der</strong>ungsprozess<br />

des geliebten Partners, Kindes o<strong>der</strong> Elternteils. Anfangs<br />

meinen alle, das geht vorüber. Dann aber – irgendwann – fühlen die <strong>Angehörigen</strong>,<br />

das sprengt das Übliche, übersteigt das, was man schlechte Laune,<br />

schlechte Stimmung, Pubertät, Revoltieren nennt, das muss etwas tiefer sitzen.<br />

genden möchte ich zeigen, dass so gut wie alle <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> kranker<br />

Menschen durch diese Phasen gehen, bewusst o<strong>der</strong> unbewusst, mehr o<strong>der</strong><br />

min<strong>der</strong> intensiv.<br />

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92 93<br />

nen. Manche Familienmitglie<strong>der</strong> wählen den einfachen Weg <strong>der</strong> Trennung.<br />

Denjenigen, die bleiben, die zu dem Erkrankten halten wollen und Verantwortung<br />

übernehmen möchten, steht die vielleicht nie enden wollende Aufgabe<br />

bevor, nach ihrem eigenen Weg zu suchen. Um einerseits bei <strong>der</strong> Krankheitsbewältigung<br />

zu unterstützen und an<strong>der</strong>erseits behilflich zu sein bei <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung in ein „normales Leben“, müssen die <strong>Angehörigen</strong> die<br />

<strong>psychisch</strong>e Krankheit als Krankheit erkennen, anerkennen und bereit sein,<br />

sich vor allem mit Basiswissen über sie auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Das ist Teil<br />

„unseres Weges“. Den ultimativen <strong>Angehörigen</strong>-Weg gibt es nicht, schon deshalb<br />

nicht, weil je<strong>der</strong> Angehörige seine Rolle an<strong>der</strong>s definiert. Und nicht nur<br />

das, <strong>der</strong> einzelne Angehörige sieht seine Rolle heute – und dementsprechend<br />

seinen Weg, damit zurande zu kommen – an<strong>der</strong>s als in einem halben Jahr o<strong>der</strong><br />

gar nach Jahren. Einen „Patentweg“ gibt es ebenso wenig, wie es die typische<br />

<strong>psychisch</strong>e Erkrankung gibt und ebenso wenig, wie es den Prototyp „Angehöriger“<br />

gibt.<br />

In <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Selbsthilfe, in den <strong>Angehörigen</strong>-Gruppen sammeln sich<br />

Erfahrungen und gelungene und weniger gelungene Beispiele für ein gemeinsames<br />

Leben mit psychsich Kranken.<br />

Wie lernt man, mit den Symptomen zu leben, ohne dass sie einem ständig auf<br />

die Nerven gehen, ohne sich dauernd Sorgen zu machen? Sie übersehen? Sie<br />

mit dem Kranken besprechen? Ihn auffor<strong>der</strong>n, sich zusammenzureißen?<br />

Wie schafft man es als Nahestehen<strong>der</strong>, mit wechselhaften Verläufen ohne<br />

Angst und Panik fertig zu werden? Sich selber und seine eigenen Gefühle in<br />

den Griff zu bekommen, das heißt auch, sich nicht von <strong>der</strong> Krankheit total<br />

vereinnahmen zu lassen? Welche Wege haben sich bewährt, man selbst zu<br />

bleiben?<br />

Beispiele von an<strong>der</strong>en, die in einer ähnlichen Situation stecken o<strong>der</strong> steckten,<br />

gibt es viele. Sie inspirieren, nur, ob sie so haargenau auch auf einen selber<br />

zutreffen, ist eher zweifelhaft. Als Mutmacher sind sie Gold wert. Aber durch<br />

die Phasen <strong>der</strong> Krankheitseinsicht, des Begreifens, <strong>der</strong> Akzeptanz und <strong>der</strong><br />

Schicksals-Bewältigung muss je<strong>der</strong> allein seinen ureigenen Weg suchen und<br />

finden.<br />

Der Weg entsteht beim Gehen<br />

Der Weg entsteht beim Gehen, sagt man, wann immer man am Anfang eines<br />

neuen Lebensabschnittes zu stehen meint. Ich kann mir keine an<strong>der</strong>e Lebenssituation<br />

vorstellen, für die dieser Satz besser passen würde als für die Begleitung<br />

<strong>psychisch</strong> kranker Familienmitglie<strong>der</strong>. Erst beim Gehen entdeckt<br />

man nach und nach neue Wege, man entdeckt, dass Wege in kleinen überschaubaren<br />

Etappen mit kleinen Zielen leichter zu bewältigen sind. Die Zufriedenheit,<br />

ein Teilziel nach dem an<strong>der</strong>en erreicht zu haben, ermutigt, auch<br />

schwierigere Wegstrecken anzugehen. Vorwärts drängen, Druck machen ber-<br />

2. Regionaltreffen<br />

Die drei Abschnitte des Gesamtweges<br />

Was den gesamten Verarbeitungsprozess von den ersten wahrgenommenen<br />

Ungereimtheiten im Verhalten eines Familienmitglieds über den zum akuten,<br />

vielleicht dramatischen Ausbruch <strong>der</strong> Diagnosemitteilung bis zum Sich-Einstellen<br />

auf die neue Lebens- und Familiensituation und dem festen Willen,<br />

aktiv mitzuhelfen, angeht, kann man drei für alle Angehörige geltende Abschnitte<br />

erkennen:<br />

• Die Vorlaufzeit vor <strong>der</strong> Akutphase,<br />

• Die Krankheitsphase mit Trauerarbeit nach <strong>der</strong> Diagnosestellung, Verarbeitung<br />

des Schicksals und <strong>der</strong> Zukunftsaussichten<br />

• Die Langzeitbewältigung mit dem eigenen Weg für den langfristigen<br />

Verlauf, die selbstgewählte Rolle wird akzeptiert, aktive und kreative<br />

Mitarbeit bei <strong>der</strong> Bewältigung schafft Selbstbewusstsein. Der Kontakt zu<br />

Mit-Betroffenen erleichtert den Weg.<br />

Diesen Abschnitt zu erreichen und bewusst Verantwortung für sich und, wenn<br />

nötig, für das <strong>psychisch</strong> langfristig kranke Familienmitglied zu übernehmen,<br />

das ist die Belohnung für die erfolgreiche Bewältigung <strong>der</strong> beiden ersten Phasen.<br />

Weitgehend befreit von Ängsten, von Hilflosigkeit und von Hoffnungslosigkeit<br />

wird aktives Mithelfen möglich. Erst wenn <strong>der</strong> Angehörige die ersten<br />

beiden Phasen durchlebt – durchlitten – hat, bringt er die Kraft für die Dauerbegleitung<br />

auf.<br />

Angehörige<br />

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94 95<br />

Zurück zu den drei Abschnitten des Gesamtweges, den sich die <strong>Angehörigen</strong><br />

erarbeiten müssen, wollen sie we<strong>der</strong> an den krankheitsbedingten Herausfor<strong>der</strong>ungen,<br />

noch an den fremden o<strong>der</strong> eigenen Ansprüchen scheitern.<br />

Irgendwann kommt in <strong>der</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger langen Prodromal-Zeit <strong>der</strong> Moment,<br />

wo man sich wünscht, die Unsicherheiten und diffusen Ängste möchten<br />

ein Ende nehmen und <strong>der</strong> Grund dafür möchte endlich einen Namen kriegen.<br />

gen die Gefahr <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung in sich. Ruhepausen dienen nicht nur dem<br />

Ausruhen, sie erlauben, die zurückgelegte Wegstrecke zu überdenken und die<br />

kommende zu planen. Wohl die wichtigste Entdeckung beim Gehen langer<br />

schwieriger Wege ist, auch wie<strong>der</strong> umkehren und zurückgehen zu können,<br />

wenn die Ergebnisse unbefriedigend sind o<strong>der</strong> wenn die Zielrichtung nicht<br />

mehr stimmt. Umkehren und einen Neubeginn wagen zeugt von Mut und Entschlossenheit<br />

und ist allemal besser als Stillstand. Wer still steht, hat aufgegeben.<br />

Es hilft nichts, wir <strong>Angehörigen</strong> müssen nach Wegen suchen, unsere Rolle als<br />

Angehörige zu begreifen und zu akzeptieren. Dazu bedürfen wir Krankheits-<br />

Informationen, Erfahrungen an<strong>der</strong>er und den Erfahrungsaustausch mit Gleichbetroffenen<br />

und das Verständnis professioneller Helfer. Je früher wir anfangen,<br />

aktiv zu werden, und die Lähmung durch den Diagnoseschock zu überwinden,<br />

desto besser ist es. Stillstand heißt aufgeben, und aufgeben heißt<br />

Stillstand – fangen wir an zu gehen! O<strong>der</strong> weiterzugehen!<br />

Wenn Angehörige, die schon längere Zeit ihren <strong>psychisch</strong> Kranken begleitet<br />

haben, zurückblicken auf ihre Erfahrungen, auf die wechselhaften Verläufe<br />

und auf ein längeres Zusammenleben mit dem Betroffenen, erkennen sie sehr<br />

gut, wie schwer es war, einen Weg zu finden, eben ihren Weg zu finden,<br />

einen, auf dem sie selber einigermaßen sicher und mit erträglicher Belastung<br />

gehen können und auf dem auch <strong>der</strong> Betroffene mitgehen kann.<br />

Mit einem tiefen Seufzer sagte mir einmal eine Angehörige: „Es war ein langer<br />

Weg durch Höhen und Tiefen bis heute, ein Weg, <strong>der</strong> mir schwer fiel, aber<br />

<strong>der</strong> mir auch Kräfte verliehen hat, Kräfte, die ich nie in mir vermutet hätte.<br />

Und heute bin ich stolz darauf, durchgehalten zu haben, gelernt zu haben,<br />

mich nicht mehr vor Krisen und Rückfällen zu fürchten.“<br />

2. Abschnitt des Gesamtweges<br />

Die Krankheitsphase mit Trauerarbeit nach <strong>der</strong> Diagnosestellung, Verarbeitung<br />

des Schicksals und <strong>der</strong> Zukunftsaussichten<br />

2. Regionaltreffen<br />

1. Abschnitt des Gesamtweges<br />

Die Vorlaufzeit vor <strong>der</strong> Akutphase<br />

In <strong>der</strong> Zeit vor dem akuten Ausbruch <strong>der</strong> Krankheit (Prodromal-Zeit) fehlt es<br />

dem Betroffenen wie seinen <strong>Angehörigen</strong> an Krankheitswissen und -erfahrung.<br />

Die Folge sind atmosphärische Störungen des Familienklimas, die u.U.<br />

jahrelang nachwirken. Der Weg durch diese Zeit ist gepflastert mit Verhaltensfehlern<br />

auf allen Seiten. Verringern ließe sich die Not <strong>der</strong> betroffenen Familien<br />

durch mehr Aufklärung über <strong>psychisch</strong>e Krankheiten und die Chancen<br />

einer frühen Behandlung einerseits und an<strong>der</strong>erseits durch Verbreitung und<br />

Bekanntmachen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Selbsthilfe, bei <strong>der</strong> ein reicher Erfahrungsschatz<br />

schlummert, <strong>der</strong> gerne auch präventiv weitergegeben wird.<br />

Angehörige<br />

Langzeitbewältigung<br />

Akzeptanz<br />

Der Weg <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong><br />

Krankheitsphase<br />

Realität anerkennen<br />

Vorlaufzeit Diagnoseverarbeitung<br />

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96 97<br />

Der unterschiedliche Umgang mit <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung eines <strong>der</strong> Ihren<br />

führt gar nicht so selten innerhalb <strong>der</strong> Familie zu zusätzlichen Spannungen<br />

und Meinungsverschiedenheiten darüber, ob es denn wirklich eine Krankheit<br />

ist, mit <strong>der</strong> man es zu tun hat, o<strong>der</strong> über die Umgangsweise mit dem Betroffenen.<br />

2. Regionaltreffen<br />

Ist die Diagnose dann gestellt, bricht nicht selten eine Welt zusammen. Die<br />

Diagnose ist ein Schock für alle. Was nun? Was bedeutet das? Was verän<strong>der</strong>t<br />

sich alles?<br />

Für die Verarbeitung von Schicksalsschlägen gibt es den als „Trauerarbeit“<br />

bekannten Verlauf <strong>der</strong> Verarbeitung. Der Verarbeitungsprozess einer psychiatrischen<br />

Diagnose unterscheidet sich nicht wesentlich von dem z. B. nach<br />

einer Krebsdiagnose o<strong>der</strong> eines an<strong>der</strong>en, das Leben verän<strong>der</strong>nden Ereignisses.<br />

Er erfolgt in drei Schritten o<strong>der</strong> besser gesagt in drei Stufen, denn es handelt<br />

sich um eine Weiterentwicklung.<br />

Die Art und Weise wie Angehörige die Krankheit an sich und die möglichen<br />

Folgen für sich selber verarbeiten, von <strong>der</strong> Diagnosestellung bis zur Akzeptanz<br />

<strong>der</strong> Krankheit, verläuft nach einem immer gleichen Schema. Für das Durchleben<br />

<strong>der</strong> drei Stufen benötigt je<strong>der</strong> ganz unterschiedlich viel Zeit braucht. Wir<br />

wissen, dass in ein und <strong>der</strong>selben Familie <strong>der</strong> Verarbeitungsprozess <strong>der</strong> Diagnose<br />

sehr verschieden sein kann. Der eine weigert sich ganz einfach, sich<br />

auf die Situation überhaupt einzulassen und nimmt die Krankheit gar nicht<br />

zur Kenntnis. Ein an<strong>der</strong>er bleibt mitten im Verarbeitungsprozess stecken und<br />

kommt beispielsweise über die Schuldzuweisung an an<strong>der</strong>e nicht hinaus.<br />

Dieses sind entwe<strong>der</strong> Menschen, die selber so sensibel sind, dass sie nicht<br />

aushalten, sich mit <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Krankheit im Allgemeinen und in <strong>der</strong> Familie<br />

im beson<strong>der</strong>en zu beschäftigen. Ihr Verhalten ist eine Schutzhaltung.<br />

O<strong>der</strong> es sind Menschen, die sich selber als das Maß aller Dinge ansehen und<br />

Sensibilität bei an<strong>der</strong>en als Schwäche betrachten. Diejenigen, die es schaffen,<br />

<strong>der</strong> Krankheit gelassen und gefasst zu begegnen, geben dem Patienten Stabilität<br />

und machen den Weg frei für verständnisvolle Hilfe und schützen sich<br />

selber.<br />

Angehörige<br />

1. Stufe<br />

Diagnoseverarbeitung<br />

2. Stufe<br />

Realität<br />

anerkennen<br />

3. Stufe<br />

Akzeptieren<br />

und aktiv<br />

werden<br />

Plattform<br />

für informiertes, selbstbewusstes<br />

und kreatives<br />

handeln, für Fremd- und<br />

Eigenverantwortung<br />

Trauerverarbeitung in 3 Stufen<br />

Die drei Stufen auf dem zweiten Abschnitt des Gesamtweges<br />

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98 99<br />

Die zweite Stufe steht ganz unter <strong>der</strong> Erkenntnis, es könnte ja vielleicht doch<br />

stimmen, was <strong>der</strong> Arzt sagt. Mit diesem Gedanken ist <strong>der</strong> erste Schritt in Rich-<br />

Wut – Schuld – Scham<br />

Realität anerkennen Krankheitszustand erkennen – begreifen<br />

Trauer<br />

2. Stufe<br />

3. Stufe<br />

Verstehen und Verständnis<br />

Aufgaben akzeptieren Akzeptanz <strong>der</strong> eigenen Rolle und<br />

<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Lage<br />

Aktiv werden<br />

2. Regionaltreffen<br />

Ungläubigkeit – Schuldige suchen – Verzweiflung<br />

Immer wie<strong>der</strong> taucht <strong>der</strong> Gedanke auf, <strong>der</strong> Arzt müsse sich irren, es gebe eine<br />

einfache Erklärung für alles. Angehörige suchen nach einfachen Ursachen<br />

und suchen nach Schuldigen für den akuten Zustand, psychiatrische Ursachen<br />

weisen sie noch weit von sich.<br />

Hoffen trotz Hoffnungslosigkeit<br />

Gemäß <strong>der</strong> Vogel-Strauss-Manier Kopf in den Sand stecken, totschweigen –<br />

versucht man sich so normal wie möglich zu verhalten und meidet das<br />

Gespräch über die Diagnose.<br />

Und ganz tief im Innern hoffen alle noch auf das Aufwachen aus dem Albtraum,<br />

auf eine Spontanheilung, auf ein Wun<strong>der</strong>.<br />

Trauer<br />

Sie fühlen die Tragödie, die diese Krankheit für ihr Kind, ihren Partner, den<br />

kranken Elternteil bedeutet, und spüren, dass ihrer aller Zukunft unsicher geworden<br />

ist. Die Traurigkeit darüber scheint nicht vorübergehen zu wollen.<br />

Nur wenn sie sich ihr stellen, werden sie frei für den entscheidenden Schritt<br />

auf die dritte Stufe zur aktiven Hilfe und Unterstützung.<br />

Angehörige<br />

Krankheitszustand erkennen – begreifen<br />

Mit dem Bewusstsein, dass sie es mit einer schweren und vielleicht langwierigen<br />

Erkrankung zu tun haben, begreifen alle Beteiligten, dass sie Abschied<br />

nehmen müssen vom Alten. Sie begreifen, dass <strong>der</strong> Kranke leidet und viel<br />

Kraft aufwenden muss, den Alltag zu bestehen.<br />

Schock – Krise<br />

Es ist geschehen, die Diagnose ist erfolgt und hat bei den <strong>Angehörigen</strong> und<br />

dem Betroffenen einen Schock ausgelöst. Ein ganzer Ansturm von Gefühlen<br />

setzt ein und verhin<strong>der</strong>t klares Denken. Zwanghaft drehen sich die Gedanken<br />

immer um dasselbe: „Was bedeutet das für uns alle? Wie soll es weitergehen?<br />

Wie enden solche Krankheiten?“<br />

Wut – Schuld – Scham<br />

Mit <strong>der</strong> Einsicht, das Familienmitglied ist <strong>psychisch</strong> krank, schleichen sich<br />

Wut auf das Schicksal ein, beschäftigt einen die bedrückende Frage nach den<br />

Auslösern, nach <strong>der</strong> eigenen Schuld an <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Erkrankung. Und<br />

in Unkenntnis <strong>der</strong> hohen psychiatrischen Betroffenheitsrate in <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

von mehr als 25 % schämen sich die <strong>Angehörigen</strong> für das Verhalten und<br />

für die vermeintliche Unfähigkeit, mit dem Problem allein fertig zu werden.<br />

1. Stufe<br />

Schock – Krise<br />

Diagnoseverarbeitung Ungläubigkeit – Schuldige suchen –<br />

Verzweiflung<br />

Hoffen trotz Hoffnungslosigkeit<br />

tung Verarbeitung des Unvermeidlichen getan. Vor <strong>der</strong> definitiven Bereitschaft<br />

aber, sich auf die Krankheit einzulassen, vor <strong>der</strong> Akzeptanz, sind noch viele<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit sich selbst und mit an<strong>der</strong>en durchzustehen.<br />

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100 101<br />

Aktiv werden<br />

Mit mehr Verständnis, mit mehr Krankheitsinformationen und vor allem mit<br />

mehr Erfahrung und Erfahrungsaustausch ist <strong>der</strong> Mut zum Handeln zurückgekommen.<br />

Die Zeit <strong>der</strong> Erduldung und Hilflosigkeit ist vorbei. Dazu tragen<br />

Nun können die <strong>Angehörigen</strong> Ja sagen zum Schicksal, ihre Rolle als Angehörige<br />

annehmen und diese Rolle ihren Fähigkeiten und Ressourcen nach gestalten.<br />

Auch das ist ein Prozess, <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> neu durchdacht und bestanden<br />

werden muss. Angehöriger sein ist kein Zustand, es ist ein Weg.<br />

Inzwischen ist einige Zeit vergangen seit den ersten Anzeichen einer <strong>psychisch</strong>en<br />

Erkrankung. Viele Unsicherheiten sind verschwunden. Regeln für Rückfallvorkehrungen,<br />

Frühwarnzeichen vor einer Verschlechterung gehören jetzt<br />

zum elementaren Grundwissen über <strong>psychisch</strong>e Krankheiten. Wie man allerdings<br />

einen stressarmen und gelassenen Umgang mit <strong>psychisch</strong> kranken Menschen<br />

hinkriegt, wie man bei Krisen ruhig bleibt und die Übersicht behält,<br />

wie man dem Kranken und sich selber Mut und Hoffnung vermittelt, wie man<br />

die Kontaktängste des Rekonvaleszenten min<strong>der</strong>t, seine Zwänge geduldig hinnimmt,<br />

alles das ist <strong>der</strong> individuelle Weg, ist das, was man sich selber erarbeiten<br />

muss.<br />

Die Krönung all dieser Anstrengungen ist es, wenn man schließlich mit seinem<br />

Wissen und seinen Erfahrungen an<strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong> und ihren Betroffenen<br />

helfen kann.<br />

2. Regionaltreffen<br />

Akzeptanz <strong>der</strong> eigenen Rolle und <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Lage<br />

Zur Akzeptanz des Betroffenen mitsamt seiner Krankheit, zur Akzeptanz <strong>der</strong><br />

eigenen Rolle als Begleiter o<strong>der</strong> Begleiterin ist man über Kenntnisse von<br />

Krankheitszusammenhängen gekommen. Als Angehörigem ist einem klar geworden,<br />

dass die Krankheit nicht so schnell vergehen wird. Man hat gelernt,<br />

die Trauer zu beherrschen, die einen beschleicht bei dem Gedanken, dass es<br />

für die Betroffene o<strong>der</strong> den Betroffenen kein Zurück zu <strong>der</strong> Situation vor <strong>der</strong><br />

Erkrankung mehr geben wird.<br />

Angehörige<br />

Verstehen und Verständnis<br />

Dachten sich die <strong>Angehörigen</strong> bisher vielleicht, wenn er nur will, dann kann<br />

er auch, so verstehen sie nun, dass die Krankheit nichts mit Wollen allein zu<br />

tun hat. Sie haben sich informiert und verstehen einen Teil <strong>der</strong> Symptome.<br />

Sie begreifen, dass Symptome auch Schutz und Bewältigung von Problemen<br />

bedeuten. Bei allem Verständnis sehen sie auch ein, dass sie nur bedingt verstehen,<br />

was die Krankheit für den Betroffenen bedeutet.<br />

3. Abschnitt des Gesamtweges<br />

Der eigene Weg für den langfristigen Verlauf<br />

Nun beginnt <strong>der</strong> dritte Abschnitt des <strong>Angehörigen</strong>-Wegs. Auf <strong>der</strong> letzten Stufe,<br />

die eigentlich eine Plattform ist, die große Plattform für informiertes, selbstbewusstes<br />

und kreatives Handeln, ist <strong>der</strong> Moment gekommen, einen individuellen<br />

Weg, eine individuelle Einstellung zum Leben mit <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en<br />

Krankheit, zum Umgang mit dem Erkrankten und zum Zusammenleben in<br />

<strong>der</strong> Familien zu finden. Es ist auch <strong>der</strong> Augenblick gekommen, das selbstgewählte<br />

Schneckenhaus, in das man sich aus Angst vor Vorurteilen verkrochen<br />

hat, wie<strong>der</strong> zu verlassen. Auch das kann zu einem Selbstheilungsprozess des<br />

Familienlebens beitragen. Denn je mehr sich die betroffene Familie von allem<br />

zurückzieht, desto mehr beschäftigt sie sich mit sich selbst, die Gedanken<br />

kreisen um die Krankheits-Situation und die Zukunft. Probleme und Ängste<br />

türmen sich zu immer größeren Bergen auf.<br />

Wie <strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> ersten zur zweiten Stufe vollzieht sich <strong>der</strong> zur dritten<br />

Stufe nicht mit einem plötzlichen Aha-Erlebnis, son<strong>der</strong>n unmerklich, mit<br />

zwei Schritten vor, einem zurück.<br />

vor allem auch die Zusammenkünfte in den <strong>Angehörigen</strong>-Gruppen bei.<br />

Wohl dem, <strong>der</strong> sich bis hierher durchgekämpft und mit dem Zorn und <strong>der</strong><br />

Trauer umgehen gelernt hat!<br />

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102 103<br />

2. Regionaltreffen<br />

„AiA“ steht für „Angehörige informieren Angehörige“, einem Informationsprogramm<br />

auf <strong>der</strong> Basis von Psychoedukation. Entsprechend dem Selbsthilfegedanken<br />

mo<strong>der</strong>ieren hierbei Angehörige Psychoedukationsgruppen mit <strong>Angehörigen</strong><br />

von schizophreniekranken Menschen.<br />

Hinter dem Begriff „Psychoedukation“ verbirgt sich eine Mischung aus Informationsvermittlung<br />

und Erfahrungsaustausch.<br />

Aus England kam in den 80er Jahren eine neue, auf Krankheitsinformation<br />

setzende „Gesprächsgruppentherapie“ für schizophreniekranke Menschen,<br />

die darauf abzielte, den Patienten mehr Wissen und dadurch mehr Verständnis<br />

für ihre Krankheit zu vermitteln. Die Absicht war, ihnen mit Hilfe von psychiatrischem<br />

Basiswissen überhaupt erst einmal zu zeigen, dass das, was sie<br />

immer mal wie<strong>der</strong> zwingt, sich stationär behandeln zu lassen, und sie darin<br />

hin<strong>der</strong>t, ein eigenständiges Leben zu führen, eine behandelbare Krankheit ist.<br />

Mit Informationen über biologische und psychologische Ursachen, über<br />

Symptome, Behandlungsmöglichkeiten und Verlauf steigen Krankheitseinsicht<br />

und Behandlungsbereitschaft, so fanden englische Wissenschaftler heraus.<br />

Messbar wurde <strong>der</strong> Erfolg durch eine statistisch nachweisbare Abnahme<br />

von Rückfällen. Obwohl die Methode relativ neu und <strong>der</strong> Beobachtungszeitraum<br />

noch recht kurz waren, ließ sie viele Psychiater aufhorchen.<br />

Angehörige<br />

Selbsthilfegruppen und Psychoeduktion – Was ist<br />

„AiA“?<br />

Unser Weg – <strong>der</strong> Weg unserer <strong>Angehörigen</strong> – unterscheidet sich in vielem von<br />

den Wegen Angehöriger von körperlich kranken und behin<strong>der</strong>ten Menschen,<br />

auch von Menschen, die einen Verlust verarbeiten müssen, aber <strong>der</strong> Prozess<br />

<strong>der</strong> Verarbeitung und <strong>der</strong> Akzeptanz des Schicksals sind sich bei allem sehr<br />

ähnlich. Je<strong>der</strong> tut sich hart, Unvermeidliches hinzunehmen – das ist das Tröstliche.<br />

Je<strong>der</strong> hat aber auch die Chance, nach dem Trauerprozess seinen ganz<br />

persönlichen Weg zu finden. Den Weg, <strong>der</strong> ihm trotz aller Schwere des Schicksals<br />

Befriedigung und Freude verschafft, <strong>der</strong> ihm den Glauben in die eigenen<br />

Fähigkeiten zurückgibt.<br />

Vorsitzende des Bundesverbands <strong>der</strong><br />

<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />

<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong><br />

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104 105<br />

Informierte Angehörige können Rückfälle verringern<br />

Nebenbei bemerkt: Nicht zu unterschätzen ist auch die Beeinflussung <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranken Patienten durch an<strong>der</strong>e Patienten o<strong>der</strong> Psychiatrie-Erfahrene.<br />

Was dafür spricht, auf breiter Basis Patienten in Psychoedukation einzubinden.<br />

In „Rechts <strong>der</strong> Isar“ und in etwa zeitgleich in ein o<strong>der</strong> zwei an<strong>der</strong>en deutschen<br />

Kliniken entschloss man sich, parallel zu den Psychoedukationsstunden<br />

für Patienten auch Psychoedukation für ihre <strong>Angehörigen</strong> abzuhalten.<br />

Der Erfolg war verblüffend.<br />

In <strong>der</strong> Münchner PIP-Studie (Psychosen-Informations-Projekt), die Dr. Josef<br />

Bäuml und Dr. Gabi Pitschel-Walz 1996 veröffentlichten, konnte gezeigt werden,<br />

dass es bei schizophren erkrankten Patienten zu stationären Wie<strong>der</strong>auf-<br />

2. Regionaltreffen<br />

Psychiatrie-Reform und ihre Folgen<br />

Parallel zu dieser Entwicklung zeitigte gegen Ende <strong>der</strong> siebziger und dann<br />

erst recht in den achtziger Jahren die Psychiatrie-Reform praktische Folgen.<br />

Psychiatrie-Patienten wurden nicht mehr in Langzeitstationen versorgt, sie<br />

wurden und werden zunehmend ambulant vor stationär behandelt und leben<br />

vorwiegend „wohnortnah“. In <strong>der</strong> Praxis heißt das, dass etwas Zweidrittel<br />

aller Patienten in <strong>der</strong> eigenen Familie leben.<br />

Die wohnortnahe ambulante Behandlung von an Schizophrenie leidenden<br />

Menschen wurde vor allem möglich, weil Medikamente entwickelt wurden,<br />

die die Symptome positiv beeinflussen. Aber Medikamente allein, das sah<br />

man schnell, reichen nicht aus, um <strong>psychisch</strong> kranken Menschen zu helfen,<br />

ihre Alltagsfähigkeiten wie<strong>der</strong> zu erlangen, und um Alltagsbelastungen standzuhalten.<br />

Ohne Unterstützung durch begleitende Therapien und ohne Behandlungskontinuität<br />

gelingt die Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung kaum. Es entstanden eine<br />

ganze Reihe von psychosozialen Einrichtungen.<br />

So wichtig auch die begleitenden Therapien wie Psychotherapie, Arbeitstherapie,<br />

Kognitions- und Kontakt-Training, Ergo- und Kunsttherapie auch sein<br />

mögen, so richtig erfolgreich sind sie nur, wenn die <strong>Angehörigen</strong> die Behandlungen<br />

unterstützen.<br />

Angehörige<br />

Das leuchtet ein, denn wenn die Nahestehenden etwa argumentieren, die Pillen<br />

sind Teufelszeug, die brauchst Du doch nicht zu nehmen, muss man sich nicht<br />

wun<strong>der</strong>n, wenn <strong>der</strong> Patient die Medikamente schnell wie<strong>der</strong> absetzt. O<strong>der</strong><br />

wenn <strong>der</strong> über die Wirkung von Beschäftigungstherapie uninformierte Angehörige<br />

die Motivationsschwäche des Betroffenen noch unterstützt, indem er<br />

sagt, die Beschäftigungstherapie – das bisschen Malen – sei nicht so wichtig,<br />

er o<strong>der</strong> sie möge sich ruhig ausschlafen, wird <strong>der</strong> Patient bald aufgeben. Die<br />

Schlussfolgerung ist, dass auch Angehörige Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft<br />

lernen müssen.<br />

Was also lag näher, als auch für Angehörige Psychoedukations-Gruppen zu<br />

etablieren?<br />

In Deutschland fand diese Therapieform sogleich Anhänger und wurde schnell<br />

unter dem eigentlich englischen Begriff „Psychoedukation“ bekannt. Zu den<br />

Kliniken, die diese Methode als Modell ausprobierten, gehörte die Klinik für<br />

Psychiatrie und Psychotherapie <strong>der</strong> TU München rechts <strong>der</strong> Isar. Josef Bäuml,<br />

ltd. Oberarzt in <strong>der</strong> Klinik, <strong>der</strong> sich schon immer sehr dafür einsetzte, die<br />

Wie<strong>der</strong>genesungs-Chancen schizophrener Patienten durch eine größere Behandlungsbereitschaft<br />

zu verbessern und dadurch Rückfälle zu verringern,<br />

konnte in einer gemeinsamen Studie mit Gabi Pitschel-Walz die englischen<br />

Ergebnisse bestätigen.<br />

Einfluss <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> auf Behandlungskontinuität<br />

Je kürzer die Krankenhausaufenthalte wurden (von ehemals 192 Tagen auf<br />

heute 23 Tage durchschnittlich pro Krankenhausbehandlung), desto mehr<br />

stellte sich heraus, wie wichtig – ja geradezu unverzichtbar – das Umfeld <strong>der</strong><br />

Betroffenen ist. Es sind in erster Linie die nahen <strong>Angehörigen</strong>, die mit ihrem<br />

Einfluss positiv, aber auch negativ verstärkend auf die Behandlungsbereitschaft<br />

einwirken.<br />

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106 107<br />

Auch für Angehörige selbst macht sich die Teilnahme an Psychoedukation<br />

„bezahlt“. Durch ihr verbessertes Wissen über die Krankheit und die damit<br />

verbundenen Empfindsamkeiten <strong>der</strong> Patienten erleben sie selber weniger<br />

Stress und können auch zu einem weniger stressvollen Familienklima beitragen.<br />

Alle diese Faktoren begünstigen das Abklingen <strong>der</strong> Erkrankung und den<br />

langfristigen Genesungsverlauf.<br />

Die Konsequenzen dieser Erfahrungen spiegeln sich bei <strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> medikamentösen<br />

Behandlung wie<strong>der</strong>: nach <strong>der</strong> Ersterkrankung 1 – 2 Jahre medikamentöse<br />

Behandlung, und je<strong>der</strong> Rückfall verlängert die medikamentöse Behandlung.<br />

Das heißt nach einem 1. Rückfall sind es bis zu 5 Jahre usw.<br />

(Liebermann 1994)<br />

Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Studie von Hornung und Kollegen (1999).<br />

Sie fanden sogar einen Unterschied von 20 Prozent Rückfallverringerung,<br />

zwischen nur psychoedukativ geschulten Patienten und jenen Verläufen, bei<br />

denen auch die <strong>Angehörigen</strong> an Psychoedukation teilgenommen hatten.<br />

Die PIP-Studie zeigt auch, dass die Patienten, die an Psychoedukation teilgenommen<br />

hatten, noch nach sieben Jahren im Vorteil an<strong>der</strong>en gegenüber waren.<br />

Sie mussten deutlich weniger oft in eine psychiatrische Klinik stationär aufgenommen<br />

werden. Im Durchschnitt 3x so viele Tage mussten Patienten ohne<br />

Psychoedukation in psychiatrischen Kliniken verbringen wie die Patienten<br />

mit Psychoedukation.<br />

Diese Untersuchungen bezogen sich auf Psychoedukation bei schizophrenen<br />

Patienten. Inzwischen laufen vergleichbare Studien bei depressiver, bipolarer<br />

und dementieller Erkrankung. Die bisherigen Ergebnisse zeigen auch hier,<br />

dass in Psychoedukation eingebundene Angehörige einen positiven Einfluss<br />

auf die Häufigkeit von Rückfällen haben.<br />

Dauer des Krankenhausaufenthaltes Erfolgschance<br />

Erstbehandlung 3 zu 8 Wochen 100 %<br />

1. Rückfall 10 bis 12 Wochen 91 %<br />

2. Rückfall bis zu 24 Wochen 67 %<br />

Es gibt eine Faustregel:<br />

2. Regionaltreffen<br />

Dazu gibt es seit 1994 eine statistische Bestätigung, die im Prinzip heute noch<br />

Gültigkeit hat, obwohl die Dauer <strong>der</strong> Aufenthalte insgesamt kürzer geworden<br />

ist, obwohl die Medikamente und die begleitenden Behandlungen besser geworden<br />

sind.<br />

Die Untersuchung besagt: „Der Gesundheitszustand schizophreniekranker<br />

Patienten verschlechtert sich, die Wie<strong>der</strong>stabilisierung dauert länger und die<br />

weiteren Verlaufsaussichten verschlechtern sich, je häufiger Rückfälle auftreten.<br />

Angehörige<br />

nahmen innerhalb des ersten Jahres nach <strong>der</strong> Entlassung aus vollstationärer<br />

Behandlung in folgenden unterschiedlichen Häufigkeiten kam:<br />

• in 38 % <strong>der</strong> Verläufe, wenn keine Psychoedukation stattfand – we<strong>der</strong> für<br />

Patient, noch für Angehörige,<br />

• in 29 % <strong>der</strong> Verläufe, wenn <strong>der</strong> Patient an einem psychoedukativen Programm<br />

teilnahm und lediglich<br />

• in 14 % <strong>der</strong> Verläufe, wenn Patienten und Angehörige an psychoedukativen<br />

Programmen teilgenommen hatten.<br />

Drehtürverlauf erschwert Wie<strong>der</strong>genesung<br />

Zu den schwersten Belastungen, die Angehörige als Begleiter ihrer <strong>psychisch</strong><br />

kranken Familienmitglie<strong>der</strong> tragen, gehört die Angst vor Rückfällen.<br />

Es ist nicht allein die akute Krisensituation, die Angehörige ängstigt. Aus <strong>der</strong><br />

praktischen Erfahrung heraus meinten sie festgestellt zu haben, dass je<strong>der</strong><br />

Rückfall die Wie<strong>der</strong>genesung schwieriger macht und den gefürchteten Drehtürverlauf<br />

för<strong>der</strong>t.<br />

Damit bestätigte sich endlich, was wir <strong>Angehörigen</strong> immer schon sagten und<br />

was wir seit Jahrzehnten for<strong>der</strong>n: die Einbeziehung <strong>der</strong> nahen Bezugspersonen<br />

bringt allen Vorteile.<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 106


108 109<br />

Die rasche Bereitschaft von Dr.Kissling, ltd. Oberarzt des „Centrums für<br />

Disease Management <strong>der</strong> Psychiatrischen Klinik <strong>der</strong> TU München“. und seinem<br />

Team, die fachliche Schulung zu übernehmen, war beeindruckend und<br />

die Anzahl <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, die sich den Bedingungen des <strong>Landesverband</strong>s<br />

stellten und sich bereit erklärten, sich ausbilden zu lassen, ebenso. Zu den<br />

Bedingungen gehört auch die Verpflichtung, nach dem Ausbildungskurs ins<br />

Land hinauszugehen und für Angehörige, <strong>der</strong>en Patienten nicht stationär behandelt<br />

werden, Psychoedukationskurse zu halten.<br />

Auf diese Weise soll die Rate <strong>der</strong> informierten <strong>Angehörigen</strong> steigen, und Angehörige<br />

in entlegenen Ecken <strong>Bayern</strong>s sollen auch in den Genuss dieser Fortbildung<br />

kommen.<br />

„Rechts <strong>der</strong> Isar“ übernimmt die Supervision <strong>der</strong> ausgebildeten <strong>Angehörigen</strong><br />

beim selbständigen Unterrichten und stellt das Unterrichtsmaterial zur Verfügung.<br />

Ich habe selber an einem solchen Kurs teilgenommen und habe viel dazugelernt.<br />

Das Lernpensum war groß, wurde aber von den beiden Damen in geschickt<br />

aufgelockerter Form „verabreicht“. Zu allen acht Lernstufen gibt es<br />

übersichtliche Unterlagen. Immer war ausreichend Zeit für Nachfragen und<br />

Diskussionen. Ich war mit Begeisterung dabei.<br />

2. Regionaltreffen<br />

Der <strong>Landesverband</strong> dankt <strong>der</strong> Psychiatrischen Klinik <strong>der</strong> TU Rechts <strong>der</strong> Isar<br />

und dem Team von Dr. Kissling, Frau Dr. Pitschel-Walz und Frau Dr. Rummel-<br />

Kluge, für die hervorragende Zusammenarbeit und vor allem für die Bereitschaft,<br />

einen Großteil <strong>der</strong> Kosten für Ausbildung und Supervision zu tragen.<br />

Angehörige<br />

Die Idee, Angehörige selber ausbilden zu lassen zu Instruktoren für Psychoedukation,<br />

war geboren. Mit ihr ging <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> nach „Rechts <strong>der</strong><br />

Isar“ und fand dort offene Ohren. Und so entstand das Projekt „Angehörige<br />

informieren Angehörige“, kurz „AiA“.<br />

Der einzige Unterschied zwischen dem Profi-Psychoedukations-Modell und<br />

„AiA“ ist, dass hierbei Angehörige, die über lange Erfahrung im Zusammenleben<br />

mit ihrem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied verfügen, die Gruppenleitung<br />

übernehmen. Hierdurch entsteht eine hohe Vertrauensbasis einerseits,<br />

und an<strong>der</strong>erseits fließt neben psychiatrischen Sachinformationen praktisches<br />

Erfahrungswissen in den Unterricht mit ein.<br />

Der <strong>Landesverband</strong> wird aktiv<br />

Zurück zur Psychoedukation: Angehörige erhalten in psychoedukativen Gruppen<br />

Krankheitskenntnisse durch Sachinformationen und durch gegenseitigen<br />

Erfahrungsaustausch, informierte Angehörige verringern eindeutig Rückfälle.<br />

Außerdem, je<strong>der</strong> Rückfall erschwert die Wie<strong>der</strong>genesung. Rückfallvermeidung<br />

erhöht die Genesungschance. Und als letztes Teilstück des Puzzles: nur<br />

zwei Prozent aller <strong>Angehörigen</strong> erhalten <strong>der</strong>zeit Psychoedukation, und das<br />

sind nur Angehörige, <strong>der</strong>en Patient gerade im Krankenhaus behandelt wird.<br />

Alle diese Ergebnisse lassen nur eine Antwort zu, meinte <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong><br />

<strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker: „Wenn das so ist, dann muss<br />

man handeln. Was können wir tun? Wir müssen auf Selbsthilfeweise handeln.“<br />

Der erste Ausbildungskurs fand im Jahr 2004 statt, und soeben wurde <strong>der</strong><br />

zweite Kurs abgeschlossen. Insgesamt wurden bisher 24 Angehörige zu Psychoedukations-Mo<strong>der</strong>atoren<br />

ausgebildet. Einige haben bereits Erfahrungen<br />

mit eigenständigen Kursen sammeln können. Die an<strong>der</strong>en werden im Laufe<br />

des Jahres 2007 ihre ersten Gehversuche mit Psychoedukationsgruppen<br />

machen.<br />

Die <strong>Eva</strong>luationsergebnisse über die Wissenszunahme <strong>der</strong> Kursteilnehmer an<br />

„AiA“ besagen, dass die <strong>Angehörigen</strong> ebensoviel hinzugelernt haben wie in<br />

professionell geleiteten Psychoeduaktionslehrgängen.<br />

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110 111<br />

Thementagung<br />

Kin<strong>der</strong><br />

09.30 Grußworte<br />

Karl Heinz Möhrmann,<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong> LV <strong>Bayern</strong> ApK<br />

09.45 „Auf den Weg gemacht – Geschichte eines<br />

Erwachsenwerdens unter sehr schwierigen psychosozialen<br />

Startbedingungen“.<br />

Sohn eines <strong>psychisch</strong> kranken Elternteils<br />

10.45 „Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme:<br />

Unterstützungsangebote für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern“<br />

Ruth Back, Dipl. Psychologin,<br />

Sozialdienst katholischer Frauen München<br />

11.45 Kaffeepause<br />

12.00 „Vorstellung des Projektes FIPS – Beratungsstelle<br />

für Familien am BKH Günzburg“<br />

Susanne Kilian, Dipl. Sozialpädagogin,<br />

Systemische Familientherapeutin,<br />

Bezirkskrankenhaus Günzburg<br />

13.00 Mittagspause<br />

14.00 „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker – was erleben sie<br />

und wie verarbeiten Sie das Erlebte?“<br />

Dr. med. Herbert Nickl, Oberarzt <strong>der</strong> psychiatrischen<br />

Klinik am Krankenhaus Agatharied<br />

15.00 Erfahrungsaustausch in Kleingruppen<br />

16.30 Abschlussplenum<br />

Programm<br />

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112 113<br />

Thementagung<br />

Und dann muss ich sagen, dass es mir nicht leicht fällt, heute hier zu stehen<br />

und diesen Vortrag zu halten. Anfangs war ich sehr begeistert von <strong>der</strong> Idee,<br />

die Geschichte meines Großwerdens mit einem Vater, <strong>der</strong> eine <strong>psychisch</strong>e<br />

Krankheit hat, hier vor diesem Plenum zu erzählen. Dann aber kam bei dem<br />

Gedanken immer mehr Scham auf und ich begann zu bezweifeln, ob ich das<br />

Richtige tue.<br />

Ich stellte und stelle mir folgende Fragen: Darf ich denn überhaupt darüber<br />

reden, was eigentlich ein Familiengeheimnis ist? Zeige ich mich dadurch nicht<br />

illoyal gegenüber meiner Familie, speziell gegenüber meinem Vater? Ich muss<br />

dazu sagen, dass meine Familie nicht davon weiß, dass ich hier diesen Vortrag<br />

halte.<br />

An<strong>der</strong>e Ängste waren: Was werden die Leute von mir denken? Werden sie die<br />

Vermutung haben, dass auch mit mir, als Sohn eines <strong>psychisch</strong> kranken El-<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Karl-Heinz Möhrmann<br />

1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />

In den letzten Jahren haben wir auf mehreren Fachtagungen erwachsene<br />

Kin<strong>der</strong> und Geschwister <strong>psychisch</strong> kranker Menschen angesprochen. Die<br />

positive Resonanz auf diese Veranstaltungen bewegt uns dazu, auch in diesem<br />

Jahr wie<strong>der</strong> eine ähnliche Tagung, dieses Mal speziell für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern und insbeson<strong>der</strong>e auch für die auf diesem Gebiet professionell<br />

Tätigen anzubieten. Die Referate <strong>der</strong> vorliegenden Tagung<br />

beschäftigen sich mit <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Situation dieser <strong>Angehörigen</strong>gruppe<br />

und sollen Hinweise auf verfügbare Hilfen, aber auch auf bestehende Mängel<br />

im System geben. Die Inhalte sind allerdings auch für Eltern, Großeltern und<br />

Partner interessant. So vertreten die gesunden Partner eines <strong>psychisch</strong> kranken<br />

Elternteils vielleicht über längere Zeit beide Eltern, o<strong>der</strong> leisten<br />

Großeltern wichtige Betreuungsarbeit und würden deshalb gerne wissen, wie<br />

es in den heranwachsenden Kin<strong>der</strong>n aussieht. Ich möchte daher ganz ausdrücklich<br />

auch die im Titel nicht genannten, aber immer mitbetroffenen<br />

<strong>Angehörigen</strong> - Eltern, Partner, Freunde – , aber vor allem auch alle interessierten<br />

professionell Tätigen zum Besuch dieser Tagung einladen. Ich bin<br />

sicher, dass die Inhalte dieser Tagung uns allen zu verbesserter Souveränität<br />

im Umgang mit <strong>der</strong> Erkrankung verhelfen können. In den nachmittäglichen<br />

Workshops finden Sie zudem ausreichend Gelegenheit, Fragen zu stellen.<br />

Ich freue mich, Sie zu dieser Fachtagung im BKH Haar begrüßen zu dürfen.<br />

Ihr<br />

Ich halte diesen Vortrag nicht als professioneller Diplom-Sozialpädagoge,<br />

auch wenn Wissen und Einsichten, die ich aus diesem Beruf gewonnen habe,<br />

hier einfließen. Vielmehr halte ich diesen Vortrag als Angehöriger eines <strong>psychisch</strong><br />

Kranken. Daher hat dieser Vortrag nicht den Anspruch auf fachliche<br />

Richtigkeit und Vollständigkeit. Denn es ist keine wissenschaftliche Arbeit,<br />

son<strong>der</strong>n lediglich ein kurzer Bericht, <strong>der</strong> sich auf meine eigene Wahrnehmung<br />

gründet. Er ist also nicht vollständig objektiv und hält womöglich nicht dem<br />

Versuch einer wissenschaftlichen Verifizierung stand. Er ist Ausdruck meiner<br />

eigenen Wahrheit, nach <strong>der</strong> ich lebe und die vielleicht auch für an<strong>der</strong>e Menschen,<br />

die sich in ähnlichen Situationen befinden, eine hilfreiche Information<br />

darstellen kann.<br />

Auf den Weg gemacht – Geschichte eines<br />

Erwachsenwerdens unter schwierigen psychosozialen<br />

Voraussetzungen.<br />

Liebe Angehörige!<br />

Angehöriger<br />

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114 115<br />

Thementagung<br />

Und dieses Allgemeingültige lässt sich vielleicht in folgenden Punkten zusammenfassen:<br />

• Akzeptieren Sie die außergewöhnlichen <strong>psychisch</strong>en Zustände ihres <strong>Angehörigen</strong><br />

als Krankheit, für die niemand etwas kann und die wie jede<br />

an<strong>der</strong>e Krankheit behandelt werden muss und vielleicht dadurch geheilt<br />

Diese Tatsache bringt viele Betroffene zur schieren Verzweiflung. Denn man<br />

könnte doch glauben, dass ein <strong>psychisch</strong>er Defekt schon irgendwie aus <strong>der</strong><br />

Welt geschafft werden kann, wenn man sich einfach gemeinsam anstrengt.<br />

Noch nicht allzu verbreitet ist <strong>der</strong> Gedanke daran, dass die Psyche eben auch<br />

erkranken kann, und zwar in verschiedenen Abstufungen. Für viele ist ein<br />

Mensch entwe<strong>der</strong> ganz normal im Kopf, o<strong>der</strong> aber er ist einfach verrückt und<br />

muss in die Klapsmühle. Und bevor man eben seinen <strong>Angehörigen</strong> als völlig<br />

verrückt abstempelt, tut man lieber seinen <strong>psychisch</strong>en Defekt als Lappalie<br />

ab, die man schon irgendwie selbst in den Griff bekommt. Der Gang zum Arzt<br />

wird nicht erwogen, kommt erst dann, wenn die Situation völlig aus dem Ru-<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Je<strong>der</strong> von uns ist dabei seinen eigenen Weg gegangen, o<strong>der</strong> er sucht noch nach<br />

seinem Weg. Diesen Weg zu finden ist nicht leicht und es ist immer etwas<br />

ganz Eigenes, das hier zur Wendung führt. Je<strong>der</strong> schreibt seine eigene Geschichte.<br />

Da kann man nicht sagen, das ist so und jenes ist so. Da gibt es<br />

wenig Allgemeingültiges.<br />

Ich habe mir immer mehr Sorgen über mein öffentliches Auftreten gemacht<br />

und habe sogar erwogen, einen anonymen Vortrag zu halten. Aber dann habe<br />

ich mich wie<strong>der</strong> daran erinnert, dass hier doch Menschen zusammengekommen<br />

sind, die mir und meinem Thema wohlgesonnen sind, da dieses Thema ja<br />

auch ihres ist. Eine Gemeinschaft von Menschen, die Vergleichbares in ihren<br />

Familien erlebt haben, bzw. beruflich als Fachleute mit solchen Menschen zu<br />

tun haben. Und viele könnten wohl auch eine Geschichte erzählen, die auf<br />

ihre ganz eigene Art ebenso schwer ist. Ich finde den Gedanken einer Organisation<br />

gut, in <strong>der</strong> Menschen mit diesen Themen zusammenkommen, um sich<br />

gegenseitig zu unterstützen. Daher bin auch ich heute hierher gekommen, um<br />

meinen Teil zu leisten, auch entgegen meiner Ängste und Zweifel. Ich habe<br />

mich auf die Annahme verlassen, dass es hier Menschen sind, die sich gegenseitig<br />

mit Wertschätzung, Wohlwollen und <strong>der</strong> angemessenen Portion von Respekt<br />

begegnen. Denn viele hier haben ein schweres Schicksal und versuchen<br />

es mit <strong>der</strong> großen Leistung zu verbinden, dieses Schicksal in ein besseres zu<br />

wenden, beziehungsweise dieses Schicksal angemessen zu tragen.<br />

Nun möchte ich zum großen Komplex <strong>der</strong> Helferthematik, Verantwortung<br />

und Schuld kommen, <strong>der</strong> allzu oft mit <strong>der</strong> seelischen Gesundheit<br />

<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker in Konflikt kommt.<br />

Unsere kranken <strong>Angehörigen</strong> haben natürlich all unser Mitgefühl. Wir sorgen<br />

uns um sie, wir leiden um sie o<strong>der</strong> auch für sie, oft schränken wir unser eigenes<br />

Leben o<strong>der</strong> Lebendigsein für sie ein. Selbstverständlich wünschen wir<br />

ihnen das Beste, wir wünschen uns, dass sie wie<strong>der</strong> genesen könnten. Aber<br />

immer merken wir, dass wir sie nicht heilen können.<br />

Das müssen wir dann schon an<strong>der</strong>en überlassen. Wir können zwar unglaublich<br />

viel Mitgefühl für unsere <strong>Angehörigen</strong> haben, aber mehr geht einfach<br />

nicht.<br />

ternteils, nicht alles ganz in Ordnung ist? Sind vielleicht etwa Leute hier, die<br />

mich o<strong>der</strong> meine Familie kennen? Am meisten fürchte ich Verurteilung und<br />

Stigmatisierung von an<strong>der</strong>en Menschen.<br />

o<strong>der</strong> zum Stillstand gebracht werden kann.<br />

• Begeben Sie sich mit Ihrem kranken <strong>Angehörigen</strong> und allen Familienmitglie<strong>der</strong>n,<br />

die davon betroffen sind, schnellstmöglich in ein professionelles<br />

Helfersystem, soweit es notwendig ist und Ihnen gut tut.<br />

• Sorgen Sie für sich, indem Sie für Ihre eigene <strong>psychisch</strong>e Gesundheit<br />

achten. Erinnern Sie auch die an<strong>der</strong>en betroffenen Familienmitglie<strong>der</strong> an<br />

diese Notwendigkeit.<br />

• Gehen Sie gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung von <strong>psychisch</strong><br />

Kranken an und gegen die Verunglimpfung von <strong>psychisch</strong>er Krankheit.<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 114


116 117<br />

Thementagung<br />

Ebenso hat in meinem Fall sehr viel die Schwester meines Vaters in Kooperation<br />

mit meiner Mutter unternommen, da sie meinen Vater gut kennt, Heilpraktikerin<br />

ist und den nötigen Abstand mitbrachte, <strong>der</strong> es leichter macht, die<br />

Kin<strong>der</strong><br />

In welchen Umfang wir in Zeiten <strong>der</strong> krankhaften Krisen unseres <strong>Angehörigen</strong><br />

selbst betreuerisch tätig werden können, hängt davon ab, wie schwer die<br />

Krankheit ist. Dabei muss man sich fragen, wie viel kann man verkraften und<br />

wie viel gibt man an Fachleute ab. Um diese Entscheidung überhaupt treffen<br />

zu können, muss natürlich die psychiatrische Versorgung im Wohnumfeld gesichert<br />

sein. Und ich glaube, das ist in ländlichen Gebieten oft nicht <strong>der</strong> Fall.<br />

Ob man aktiv betreuerisch tätig werden kann, hängt auch davon ab, wie wir<br />

zu dem kranken <strong>Angehörigen</strong> stehen, ob wir Kin<strong>der</strong>, Eltern, Ehepartner, Geschwister<br />

o<strong>der</strong> Großeltern des <strong>psychisch</strong> Kranken sind. Denn zum Beispiel<br />

wird die 18jährige Tochter nicht die Betreuung ihrer <strong>psychisch</strong> kranken Mutter<br />

übernehmen, son<strong>der</strong>n eher <strong>der</strong> Ehepartner, also <strong>der</strong> Vater.<br />

Ganz speziell wir <strong>Angehörigen</strong> können ihnen die Liebe und Geborgenheit geben,<br />

die wir ihnen geben wollen, weil sie unsere <strong>Angehörigen</strong> sind. Und ganz<br />

sicher brauchen unsere kranken <strong>Angehörigen</strong> unsere liebende Zuwendung.<br />

Als Unterstützung in dieser auch für sie schweren Zeit <strong>der</strong> Krankheit, als Trost<br />

und Rettungsanker, als Sinn für ihr Leben. Denn wofür lohnt es sich mehr zu<br />

leben als für seine geliebten Menschen.<br />

Wenn wir als Angehörige betreuerische Aufgaben übernehmen können, müssen<br />

wir gleichzeitig unbedingt darauf achten, dass unser eigenes seelisches<br />

Gleichgewicht nicht aus den Fugen gerät.<br />

Denn nur zu oft entwickeln Familienangehörige, vor allem Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern, das Helfersyndrom o<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>e Störungen, die uns seelisch<br />

krank und ausgebrannt zurücklassen und uns selbst auf die Couch <strong>der</strong><br />

Psychotherapeuten und Psychiater zwingen.<br />

Wir sollten daher sehen, dass wir selbst gesund sind, gesund bleiben o<strong>der</strong> gesund<br />

werden. Wir dürfen o<strong>der</strong> müssen sogar für unsere eigene seelische Gesundheit<br />

sorgen. Denn dies ist für unsere <strong>Angehörigen</strong>, auch die <strong>psychisch</strong><br />

Kranken, äußerst wichtig. Diese möchten doch auch, dass es uns gut geht.<br />

Ein gesundes und stabiles familiäres Umfeld wirkt sich sehr för<strong>der</strong>lich auf<br />

den Heilungsprozess des <strong>psychisch</strong> Kranken aus. Man könnte sagen: Zwei<br />

Ertrinkende können sich nicht gegenseitig aus dem Wasser ziehen. Wir haben<br />

als Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker das Recht auf seelische und <strong>psychisch</strong>e<br />

Gesundheit und sogar das Recht auf Glück.<br />

Daher gilt: Bei allem, was wir für unsere kranken <strong>Angehörigen</strong> tun wollen,<br />

dürfen wir nicht vergessen, dass wir kaum mehr tun können, als für die beste<br />

medizinische und therapeutische Behandlung und Betreuung durch Fachleute<br />

zu sorgen.<br />

<strong>der</strong> läuft. Aber es handelt sich bei <strong>psychisch</strong>en Defekten eben um Krankheiten<br />

und wie auch bei an<strong>der</strong>en Krankheiten, wie z. B. bei Diabetes o<strong>der</strong> Krebs,<br />

können wir ebenfalls nicht selber helfen und müssen daher einen Arzt konsultieren.<br />

notwendigen Entscheidungen zu treffen. Dadurch waren wir Kin<strong>der</strong> nicht so<br />

sehr belastet, da wir zu diesen Zeiten gerade noch Jugendliche waren.<br />

Erst beim letzten Schub meines Vaters, bei dem ich schon 27 Jahre alt war<br />

und mein Bru<strong>der</strong> 25, haben mein Bru<strong>der</strong> und ich sehr viele Aufgaben übernommen.<br />

Wir fuhren ihn zum Beispiel in die Klinik, führten Gespräche mit<br />

den Ärzten. Da mein Bru<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> Zeit noch zuhause wohnte, hat er auch in<br />

<strong>der</strong> Zeit nach dem Klinikaufenthalt sehr viel stabilisierende Betreuungsarbeit<br />

bei meinem Vater geleistet. Und ich muss schon an dieser Stelle darauf hinweisen:<br />

ohne dabei in irgendeiner Weise psychologisch von Fachleuten unterstützt<br />

worden zu sein. Ich glaube, er trägt jetzt noch sehr schwer an dieser<br />

Erfahrung.<br />

tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 116


118 119<br />

Thementagung<br />

Mein Vater bekam seinen ersten schizophrenen Schub als ich 15 Jahre alt war,<br />

das war vor ca. 15 Jahren, also 1991. Ich hatte zu <strong>der</strong> Zeit gerade zum ersten<br />

Mal eine Freundin und begann die typischen Merkmale eines rebellischen Jugendlichen<br />

zu entwickeln. Da geschah es eines Tages, dass mein Vater meine<br />

Freundin und mich mit dem Auto aus <strong>der</strong> benachbarten Stadt abholen sollte.<br />

Als uns mein Vater dort begegnete, war er sehr eigenartig. Er zeigte sehr seltsame<br />

Verhaltensweisen wie zum Beispiel starke Orientierungslosigkeit, ein<br />

starkes „Getrieben-sein“ und Hast, als würde er verfolgt, und Angst. Er wusste<br />

nicht mehr genau, wo sein Auto stand, wir waren zuerst damit beschäftigt,<br />

Ich möchte jetzt davon erzählen, welchen Weg ich als Sohn eines<br />

an Schizophrenie erkrankten Vaters gegangen bin:<br />

Ich wuchs in meiner Familie auf dem oberbayerischen Lande in einem kleinen<br />

Dorf auf. Neben mir gibt es noch einen etwas jüngeren Bru<strong>der</strong>. Mein Vater<br />

arbeitete zu <strong>der</strong> Zeit und meine Mutter warf den Haushalt und erzog uns<br />

zwei Brü<strong>der</strong>. Mein Vater hatte damals große Probleme in seinem Beruf und<br />

war daher schon längere Zeit sehr gestresst und emotional labil. Auch lief es<br />

in <strong>der</strong> Ehe meiner Eltern nicht sehr gut. Schon während meiner gesamten<br />

Kindheit litt ich unter den cholerischen Wutausbrüchen meines Vaters, auch<br />

unter seiner Strenge, die mich emotional einschnürte.<br />

Auch hatte ich schon lange das Empfinden, dass mein Vater sich oft sehr seltsam<br />

verhielt. So kam er sehr häufig plötzlich in mein Zimmer gestürmt, um<br />

mir irgendetwas zu sagen o<strong>der</strong> auch häufig einfach um zu gucken, was ich<br />

machte. Nachts konnte es vorkommen, dass er in mein Bett kriechen wollte,<br />

weil er in meiner Nähe sein wollte. Sehr häufig veräppelte er uns auch, und<br />

oft konnte man nicht zwischen einer seiner komischen Lügen und <strong>der</strong> Wahrheit<br />

unterscheiden. Seltsam war auch, dass er uns Kin<strong>der</strong> häufig erschreckte,<br />

darunter auch abends, wenn es dunkel war, vor dem Einschlafen.<br />

Meine Mutter fungierte, solange ich denken kann, immer als ausgleichendes<br />

Regulativ. Sie musste uns Kin<strong>der</strong> oft vor meinem Vater in Schutz nehmen und<br />

es gab Geheimnisse zwischen Mutter und uns Brü<strong>der</strong>n, die Vater nicht wissen<br />

durfte.<br />

Die nächsten Tage ging es Zuhause mit den Seltsamkeiten weiter. Mein Vater<br />

war sehr paranoid, redete davon, dass er von den Verwandten vergiftet werden<br />

soll, dass das Fernsehprogramm extra gemacht ist, um ihn zu beeinflussen<br />

und zu täuschen. Er behauptete, dass wir Kin<strong>der</strong> und Mutter uns gegen ihn<br />

verschworen hätten.<br />

Eines <strong>der</strong> eigenartigsten Vorkommnisse war, dass er das gejätete Unkraut aus<br />

<strong>der</strong> Biomülltonne fischte und begann, es wie<strong>der</strong> einzupflanzen. Noch dazu<br />

äußerte mein Vater konkrete Selbsttötungsabsichten, er würde gegen einen<br />

Baum fahren.<br />

Zu dieser Zeit sperrte ich nachts mein Zimmer zu, weil ich Angst hatte, mein<br />

Vater könnte reinkommen und etwas Gefährliches machen. In meiner Phantasie<br />

wäre er vielleicht mit einem Messer auf mich los gegangen, man hat ja<br />

schon von ähnlichen Fällen in den Nachrichten gehört, und ich wusste ja, dass<br />

mein Vater sehr aggressiv und jähzornig sein konnte. Ich hatte also eine vage<br />

Angst, dass mein Vater seine Familie umbringen könnte.<br />

Nach mehreren Tagen dieser gespenstischen Szenerie, die wir in Angst und<br />

Schrecken verbrachten, wurde mein Vater durch einen gerichtlichen Beschluss,<br />

den meine Mutter und die Schwester meines Vaters erwirken konnten,<br />

von <strong>der</strong> Polizei abgeholt und zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen.<br />

Dort blieb er aber lei<strong>der</strong> nicht lange. Mein Vater bombardierte meine Mutter<br />

mit Telefonanrufen und bettelte sie an, dass sie ihn sofort wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Klinik<br />

holen soll. Er behauptete, dass wie<strong>der</strong> alles in Ordnung sei, ihm fehle jetzt<br />

nichts mehr und er wisse nicht, was er überhaupt in <strong>der</strong> Psychiatrie solle. Er<br />

Kin<strong>der</strong><br />

den parkenden Wagen zu suchen. Vater war emotional total aufgewühlt und<br />

verzweifelt. Ich musste ihm dann ganz genau den Weg erklären, den er mit<br />

dem Auto zu fahren hatte, obwohl er die Gegend gut kannte. Es war eine sehr<br />

beunruhigende Autofahrt, und mein Vater, den ich sonst eher als recht souveränen<br />

Autofahrer und Menschen kannte, war für mich nicht mehr wie<strong>der</strong>zuerkennen.<br />

Auch meiner Freundin fiel <strong>der</strong> eigenartige Zustand meines Vaters<br />

auf. Kurz gesagt, es war ein gänzlich an<strong>der</strong>er Vater, als <strong>der</strong>, den ich kannte.<br />

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120 121<br />

Thementagung<br />

Das war <strong>der</strong> Tragödie zweiter Teil. Denn unsere Familie hatte einen <strong>psychisch</strong><br />

kranken Vater zuhause, aber niemand, außer <strong>der</strong> Verwandtschaft, wusste<br />

davon.<br />

So gab es über viele Jahre, in denen es noch zwei weitere Zusammenbrüche<br />

meines Vaters gab, keinerlei professionelle Unterstützung für unsere Familie.<br />

Es gab keine soziale Einrichtung, kein Amt, keine Behörde, die unser Fall interessiert<br />

hätte. Lediglich die ambulante medikamentöse Behandlung wurde<br />

weitergeführt, und die Krankenhäuser nahmen meinen Vater für kurze Zeit in<br />

Obhut, wenn es gar nicht mehr ging.<br />

Und ich muss dazu sagen, dass auch meine Mutter wohl nie auf die Idee gekommen<br />

wäre, Hilfe zu holen. Warum sie keine Hilfe beantragte, weiß ich<br />

nicht. Das ist bis heute ihr Geheimnis. Es wäre ein Tabubruch, wenn ich sie<br />

darüber ausfragen würde. Ich glaube, meine Mutter würde diese Frage nicht<br />

Mein Vater blieb weiterhin irgendwie seltsam, und auch wir an<strong>der</strong>en Familienmitglie<strong>der</strong><br />

begannen Symptome von seelischer Verletztheit zu entwickeln<br />

Meine Mutter wurde stark depressiv und übergewichtig, mein Bru<strong>der</strong> entwikkelte<br />

seine Probleme erst etwas später, aber ich habe nie herausgefunden, was<br />

meinen Bru<strong>der</strong> eigentlich bewegt und könnte auch nicht sagen, wo seine Probleme<br />

liegen.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Aber mein Vater war keineswegs gesund. Ich merkte, dass er noch immer sehr<br />

eigenartig war, er musste große Probleme haben. Ich konnte merken, wie er<br />

sich bemühte, einen normalen Anschein zu machen. Medizinisch wurde mein<br />

Vater durch einen nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiater betreut, <strong>der</strong> ihn ab diesem Zeitpunkt<br />

regelmäßig Medikamente in Depotspritzen verabreichte. Aber diese<br />

ambulante medikamentöse Versorgung war alles, was von fachlicher Seite her<br />

getan wurde. Die Betreuung unseres <strong>psychisch</strong> schwer kranken Vaters übernahmen<br />

wir zwei Kin<strong>der</strong> und meine zu diesem Zeitpunkt stark depressiv gewordene<br />

Mutter. Und wir versuchten auch mit unseren bescheidenen Mitteln<br />

Ansätze von einer amateurhaften Therapie. Schließlich wollten wir doch unserem<br />

Vater helfen. Teilweise versuchte auch die Schwester meines Vaters therapierend<br />

auf ihn einzuwirken.<br />

Und ich muss noch einmal betonen: Über Jahre hinweg, bis zu dem heutigen<br />

Zeitpunkt hin, gab es keinerlei professionelle psychosoziale Unterstützung<br />

für unsere Familie!<br />

Hierbei tut sich ein Kuriosum auf: wir wussten scheinbar lange nicht, dass<br />

mein Vater <strong>psychisch</strong> krank war und wir wollten es auch nicht wissen! Das<br />

heißt, natürlich war es irgendwie klar, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber<br />

dass es sich um eine <strong>psychisch</strong>e Krankheit handelte, das wussten wir nicht.<br />

Das haben wir einfach nicht begriffen. Auch Vater selbst pochte immer darauf,<br />

dass mit ihm alles in Ordnung ist. Wie sollte man da als gehorsame Ehefrau<br />

o<strong>der</strong> als gehorsamer Sohn daran zweifeln?<br />

Dieses Ereignis war ein absolutes Tabuthema, von meinem Vater und meiner<br />

Mutter als Nervenzusammenbruch aufgrund von Stress abgetan und verdrängt.<br />

Für uns alle war es nicht wirklich nachzuvollziehen, was eigentlich<br />

geschehen ist. Keiner dachte daran, dass es eine Krankheit namens Schizophrenie<br />

sein könnte. Wir wollten unser Leben so weiterleben, wie wir es<br />

immer gelebt haben. Aber dieses seltsame Ereignis lag wie ein Schatten über<br />

allem. Und in unserer Familie war vieles nicht mehr so, wie es einmal war.<br />

So mussten wir alleine mit dieser dramatischen Erfahrung fertig werden, die<br />

unser Leben zutiefst erschütterte.<br />

klagte, dass er es dort nicht aushält und dass er es vor allem ohne meine Mutter<br />

nicht aushält. Da meine Mutter ein gutes und weiches Herz hat, brachte sie es<br />

nicht fertig, ihren um Rückkehr bittenden und bettelnden Mann für längere<br />

Zeit in <strong>der</strong> Psychiatrie zu lassen. Sie holte ihn nach wenigen Tagen wie<strong>der</strong><br />

nach Hause.<br />

aushalten. Auch mit meinem Vater konnte ich natürlich nicht über seine<br />

Krankheit reden, auch nicht nach seiner Psychoedukation, die er bei seinem<br />

letzten Klinikaufenthalt bekam. Vielleicht wird es einmal möglich sein, wenn<br />

sie schon alt sind.<br />

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122 123<br />

Thementagung<br />

Aber wie sich herausstellte, gelang mir das nicht wirklich. Insgeheim fühlte<br />

ich mich so verantwortlich für die Probleme meiner Familie. Die Verantwortung<br />

verfolgte mich überallhin. Sie drückte auch meine Seele wie ein Mühlstein<br />

auf den Hals eines Ertrinkenden. So sehr ich mich auch anstrengte, mein<br />

Leben leben zu wollen, es gelang mir nicht. Schwere Depressionen holten<br />

mich ein, ich fühlte mich dem Tod näher als dem Leben. Ich fühlte mich nach<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Zu dieser Zeit knüpfte ich auch Kontakt zu einer Gruppe, die sich „Institut<br />

für Gestalt und Erfahrung“ nennt. Hier nahm ich an einigen Selbsterfahrungsseminaren<br />

teil, die auf <strong>der</strong> Basis von Gestalttherapie funktionierten. Hier<br />

machte ich zum ersten Mal die Erfahrung, dass es so etwas wie einen authentischen<br />

eigenen Willen gibt, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Selbstverständlichkeit einer organischen<br />

Bedürfnisbefriedigung heraus resultiert. Ich begriff, dass es die Möglichkeit<br />

gibt, in meinem Leben einen Weg zu gehen, <strong>der</strong> aktiv von meinem<br />

Selbst im Einklang mit meinen eigenen Bedürfnissen gestaltet wird.<br />

Ich begann mich in eine Gleichaltrigengruppe einzuleben, in <strong>der</strong> ich mich<br />

zum ersten Mal sehr frei und selbstbewusst fühlte. Hier begann ich aber auch<br />

exzessiv weiche Drogen wie Cannabis, Alkohol und Zigaretten, zu konsumieren.<br />

Ich flüchtete mit Hilfe dieses Freundeskreises vor meinen Problemen in<br />

eine freie und abenteuerliche Welt von Party, Freundschaft und Rausch.<br />

Gleichzeitig betrieb ich intensivste Selbsterforschung, indem ich regelmäßig<br />

meine Psychotherapeutin besuchte, bewusstseinserweiternde Drogen nahm,<br />

mich mit Psychologie beschäftigte und mein Fachabitur in Sozialwesen<br />

machte.<br />

Aber in dem Maße, wie ich mich mit mir selbst beschäftigte, entfernte ich<br />

mich immer weiter von meiner Familie. Ich begann diese großen Probleme<br />

zuhause einfach hinter mir zu lassen.<br />

Als ich das Gefühl hatte, nicht mehr mit meinen seelischen Problemen zurechtzukommen,<br />

entschloss ich mich, als ich 17 Jahre alt wurde, eine dreijährige<br />

Kin<strong>der</strong>- und Jugendlichen-Psychotherapie zu beginnen. Diese Entscheidung<br />

traf ich alleine, ohne meine Eltern miteinzubeziehen. Zu diesem Zeitpunkt<br />

ging es mir sehr schlecht, mein mangelndes Selbstvertrauen kombinierte<br />

sich mit Depressionen. Zuhause lag <strong>der</strong> Scheinfrieden über meiner Familie,<br />

während meine Mutter und auch mein Vater sehr depressiv waren, mein Bru<strong>der</strong><br />

begann sich immer mehr aus <strong>der</strong> Familie zu distanzieren, indem er sich<br />

zurückzog und schulisch nicht mehr die gewünschten Leistungen brachte und<br />

in seinem sozialen Verhalten problematisch wurde. Es lag ein Hauch von<br />

Scheitern, Zerstörung und Untergang über unserer Familie.<br />

Aus dieser Not heraus entschloss ich mich dann endgültig, dieses rauschhafte<br />

Leben hinter mir zu lassen und beruflich in eine helfende Tätigkeit zu gehen,<br />

und zwar in den Beruf des Sozialpädagogen. Ich begann das Studium. Immerhin<br />

bestand dort die Möglichkeit, noch mehr über die Not herauszufinden<br />

und darüber, wie man sie lin<strong>der</strong>n kann. Somit sah ich die Chance, dass ich<br />

mir erstens selbst helfen konnte und zweitens etwas für meine Familie tun<br />

kann.<br />

Nach wie vor fühlte ich den Auftrag in mir, meiner Familie zu helfen. Diesen<br />

Auftrag gab ich mir selber, er wurde aber auch teilweise von meinen Eltern<br />

an mich gegeben.<br />

Ich fühlte mich sehr behütet in diesem Milieu <strong>der</strong> helfenden Menschen. Ich<br />

kam mir vor wie ein edler weißer Ritter, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e retten kann. Das hat meinem<br />

Ego sehr gut getan. Aber nach wie vor quälten mich selbst schwere Depressionen<br />

und ein geringes Selbstwertgefühl. Und eigentlich war ich selbst<br />

<strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> Hilfe gebraucht hätte. Ich fühlte ständig, dass mir eigentlich<br />

die Kraft mangelte, diesen Beruf ausüben zu können.<br />

wie vor zutiefst mitverantwortlich für all das Schwere und Schlimme, das zuhause<br />

in meiner Familie stattgefunden hat. Und in dem Maße, wie ich erwachsener<br />

und selbständiger wurde, nahmen auch die Schuldgefühle zu.<br />

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124 125<br />

Thementagung<br />

Und ich quälte mich durch das Studium, Monat für Monat. Am Ende stand<br />

sogar eine berufliche Karriere von 2,5 Jahren, in denen ich junge Erwachsene<br />

betreute. Diese Tätigkeit als Pädagoge, die ich auch gut machte, stärkte mein<br />

Selbstwertgefühl ungemein. Jetzt endlich war ich an <strong>der</strong> Stelle, wo nicht mehr<br />

ich <strong>der</strong> Bedürftige war, son<strong>der</strong>n es gab bedürftige Menschen, denen ich helfen<br />

musste. Das war eine wesentlich komfortablere Situation für mich. Und<br />

es war möglich für mich, meine gefühlte Verantwortung für meine Familie<br />

und den Wunsch, ihr zu helfen, an einer an<strong>der</strong>en Stelle kompensatorisch auszuleben.<br />

Ich fühlte mich also in dieser Zeit als werden<strong>der</strong> Übermensch, <strong>der</strong> für alle<br />

Probleme eine Lösung wusste und <strong>der</strong> es vor allem besser wusste als seine<br />

Eltern, und <strong>der</strong> im Grunde wesentlich reifer war als sie und fähig war, ihre<br />

Leiden zu durchschauen und ihnen zu helfen. Aber zu diesem Zeitpunkt ahnte<br />

ich noch nicht, welch großer Irrtum das war und welch ungeheure Anmaßung,<br />

die mir sehr schlecht bekam.<br />

Während meines Studiums und meiner Tätigkeit als Sozialpädagoge machte<br />

ich immer wie<strong>der</strong> Selbsterfahrungsseminare beim Institut für Gestalt und Erfahrung,<br />

absolvierte dort die Ausbildung zum Initiator und Leiter von kreativen<br />

Selbsterfahrungsseminaren. Außerdem durchlief ich meine zweite Psychotherapie,<br />

die wie meine erste wie<strong>der</strong>um ca. drei Jahre dauerte. In dieser<br />

Psychotherapie machte ich sehr wertvolle Erfahrungen und konnte mich mit<br />

Hilfe des Therapeuten maßgeblichen Themen meines Verhältnisses zu mei-<br />

Doch diesmal war <strong>der</strong> Klinikaufenthalt wesentlich erfolgreicher. Er bekam<br />

eine sehr gute therapeutische Behandlung, in <strong>der</strong> er z.B. Psychoedukation bekam<br />

und medikamentös neu eingestellt wurde. Nach <strong>der</strong> Aufklärung über<br />

seine Krankheit weiß mein Vater endlich, was er hat und wie er damit umgehen<br />

kann. Und auch wir an<strong>der</strong>en aus <strong>der</strong> Familie begriffen mit <strong>der</strong> Hilfe <strong>der</strong><br />

dortigen Ärzte jetzt zum ersten Mal, um welche Krankheit es sich bei meinem<br />

Vater handelte.<br />

Denn diese Ärzte leisteten auch bei uns eine hervorragende Aufklärungsarbeit.<br />

Ja, hier entwickelte sich überhaupt zum ersten Mal die Bewusstheit darüber,<br />

dass mein Vater eine <strong>psychisch</strong>e Krankheit hatte. Und dieses Wissen machte<br />

uns alle freier, denn wen kann man schon dafür verantwortlich machen, dass<br />

er krank ist. Und wenn eigenartige <strong>psychisch</strong>e Vorgänge, die man sich nicht<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Damals wuchs mein Gefühl für „mein Eigenes“, so dass ich eines Tages meine<br />

Schauspielausbildung begann. Dies war das Beste, was ich bisher in meinem<br />

Erwachsenenleben entschieden habe. Nach ca. 5 Monaten Schauspielausbildung<br />

und 2,5 Jahren als Sozialpädagoge verließ ich meine Arbeitsstelle des<br />

Sozialpädagogen und wurde für zwei Jahre Küchenhilfe, um mir meine Schauspielausbildung<br />

zu finanzieren. Als ich das meinem Vater mitteilte, reagierte<br />

er doch glatt mit seinem dritten Fall in die schizophrene Psychose.<br />

Damals kristallisierte sich zuerst <strong>der</strong> Wunsch heraus, nicht mehr bei meinen<br />

Eltern zu wohnen, son<strong>der</strong>n eine eigene Wohnung zu beziehen. Damals war<br />

ich 21 Jahre alt und ich begann Sozialpädagogik zu studieren. Ich probierte<br />

verschiedene Wohnsituationen aus, hatte hier und da mal ein Zimmer und<br />

ging für mein Jahrespraktikum sogar in eine weit entfernte fremde Stadt. Der<br />

Kontakt zu meiner Familie reduzierte sich dadurch natürlich auf wenige Treffen<br />

im Monat und gelegentliche Anrufe. Meine Selbständigkeit wuchs von<br />

Monat zu Monat, wurde aber immer noch von depressiven Attacken und starken<br />

Schuldgefühlen begleitet.<br />

nem Vater stellen. Dieser Therapeut erarbeitete mit mir einen neuen Boden,<br />

auf dem ich als Erwachsener funktionieren konnte, ohne an die Rufe aus <strong>der</strong><br />

Vergangenheit gebunden zu sein, die mich in Schuldgefühle und Depressionen<br />

verwickelten.<br />

Außerdem beschäftigte ich mich mit dem systemischen Familienstellen nach<br />

Hellinger. Ich kam immer mehr dahinter, dass ich mich ziemlich fatal an<br />

meine negative Familiengeschichte binden liess und entdeckte gleichzeitig<br />

mein eigentliches Selbst. Ich war aber noch nicht in <strong>der</strong> Lage, den narzisstischen<br />

und anmaßenden Mechanismus, <strong>der</strong> mich an das Helfen und Erziehen<br />

band, zu erkennen und allmählich aufzulösen. Dies geschieht erst jetzt, als<br />

weitere Etappe meines Weges.<br />

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126 127<br />

Thementagung<br />

Und auch mir geht es inzwischen sehr gut. Die langen Jahre <strong>der</strong> Psychotherapie<br />

und Selbsterfahrung haben sich ausgezahlt.<br />

Und ich freue mich wahnsinnig, dass es meiner Familie wie<strong>der</strong> gut geht, und<br />

zwar ohne meine Hilfe. Ich hätte die Heilung meines Vater eh nie bewerkstelligen<br />

können. Ich habe lediglich meine Eltern und meinen Bru<strong>der</strong> entlastet,<br />

indem ich mich um meine eigene Gesundung kümmerte, mein Schicksal<br />

annahm und es wendete.<br />

Und zu wissen, dass es meiner Familie gut geht und sie selber für ihr seelisches<br />

Wohlergehen sorgen können, macht mich so frei! Nach wie vor sehe ich<br />

Eltern und Bru<strong>der</strong> nur wenige Male im Monat, telefoniere hin und wie<strong>der</strong>.<br />

Aber dieser Abstand tut mir sehr gut. Den brauche ich. Zu massiv ist das<br />

Thema noch, und ich könnte wie<strong>der</strong> von unguten Gefühlen weggeschwemmt<br />

werden, wenn ich zu lange und zu oft mit meiner Familie zusammen bin. Das<br />

Eigene bei mir ist noch sehr fragil und muss beschützt werden vor den traumatischen<br />

Bedingungen, die es so lange sabotiert haben. Und ich bin mir<br />

sicher, mit dem Schauspiel habe auch ich etwas gefunden, das mich zur Zeit<br />

sehr erfüllt und das Richtige auf meinem Weg zu mir selbst ist.<br />

Noch eine nachträgliche Anmerkung:<br />

In all den Jahren hatte ich einen treuen Wegbegleiter. Wann immer es mir<br />

schlecht ging, konnte ich mich an Gott wenden. Er hat mich nie verlassen, nie<br />

in guten und nie in schlechten Zeiten. Heute glaube ich mehr denn je an die<br />

Erlösung durch den Glauben. Ich möchte an dieser Stelle Gott danken.<br />

DANKE!<br />

(Sohn eines <strong>psychisch</strong> Kranken, 31 Jahre)<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Zu guter Letzt möchte ich das, was jetzt ist, in drei Sätze zusammenfassen:<br />

Der Nebelschleier über uns hat sich endgültig gelichtet und es herrscht wie<strong>der</strong><br />

klare Sicht.<br />

Es ist passiert, wie es passiert ist, und niemand trägt Schuld.<br />

Wir können wie<strong>der</strong> frei atmen und es fühlt sich gut an.<br />

Nach diesem ca. dreiwöchigen Aufenthalt in <strong>der</strong> Klinik kam mein Vater in<br />

wesentlich besserer Verfassung wie<strong>der</strong> nach Hause. Besser – als ich ihn in<br />

den letzten 14 Jahren erlebt hatte. Und diese Besserung hat sich bis zum heutigen<br />

Tage fortgesetzt. Meinem Vater und meiner Mutter geht es inzwischen<br />

so gut wie schon lange nicht mehr. Sie haben sich beide total stabilisiert, sind<br />

entspannt und beginnen das Leben neu zu genießen und zu entdecken, haben<br />

einfach wie<strong>der</strong> Freude am Leben. Mein Bru<strong>der</strong> wohnt nach einer Phase des<br />

Alleine-Wohnens zwar immer noch zuhause, aber auch er ist stabiler und ausgeglichener.<br />

erklären kann, mit einem Krankheitsbegriff eingefasst werden, dann nimmt<br />

das die Angst und Unsicherheit. Eine Krankheit ist schließlich etwas, mit dem<br />

man umgehen kann.<br />

Noch einmal zurück in die Geschichte:<br />

Gegen Ende <strong>der</strong> Schauspielausbildung arbeitete ich noch mal ein halbes Jahr<br />

als Sozialpädagoge. Das war in <strong>der</strong> ersten Hälfte dieses Jahres. Ich konnte<br />

diesen Weg noch nicht endgültig loslassen. Nach sechs Monaten kam das Ende<br />

an dieser Stelle und gleichzeitig das Ende meiner Helfer -Karriere. Meine<br />

Seele sträubte sich so <strong>der</strong>maßen gegen diese Arbeit, dass sie für ein vorzeitiges<br />

Ende meiner Tätigkeit sorgte. Meine innere Befreiung auf dem Weg zu<br />

mir selbst war schon so weit fortgeschritten, dass ich mich diesem pädagogischen<br />

Helfersystem nicht mehr unterordnen konnte.<br />

Und obwohl es zuerst ein schwerer Schlag für mich war, bin ich jetzt sehr<br />

froh über diese Wendung. Ich bin damit meiner persönlichen Hölle endgültig<br />

entronnen. Ich kehre zurück zu mir, bin jetzt voll und ganz Schauspieler, zwar<br />

noch materiell arm, aber sehr glücklich, allem entronnen zu sein, was mich<br />

von mir selbst entfremdet hat, und dort angekommen zu sein, was ich als eindeutig<br />

zu mir gehörig empfinden kann.<br />

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128 129<br />

Thementagung<br />

Das Beispiel eignet sich gut, um die Reaktionsbreite <strong>der</strong> Menschen auf die<br />

Problematik zu verdeutlichen. Die Spannbreite reicht von „das Problem ignorieren“,<br />

Konsequenz: „die vergessenen Kin<strong>der</strong>“, bis hin zu schnellen, brachia-<br />

Die Antwort auf die Frage, welches Angebot wann das Richtige ist, hängt von<br />

verschiedenen Faktoren ab. Nicht jedes Kind von <strong>psychisch</strong> kranken Eltern ist<br />

gleich stark gefährdet. Wir wissen zwar, dass ein deutlich erhöhtes Risiko besteht,<br />

dass Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern später selbst erkranken o<strong>der</strong> Entwicklungsschäden<br />

nehmen. Dennoch lässt sich die Situation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern nicht über einen Kamm scheren. Es macht einen Unterschied,<br />

ob eine chronisch <strong>psychisch</strong> kranke Mutter ein Kind bekommt, ob<br />

eine Mutter bis zur Geburt gesund war und nach <strong>der</strong> Geburt in eine Psychose<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Ich ließ mich überzeugen, und wir entwickelten ein Konzept für eine stationäre<br />

Übergangseinrichtung für <strong>psychisch</strong> kranke Mütter mit Kin<strong>der</strong>n im Alter<br />

bis zu drei Jahren, dem heutigen Haus Monika. Damals, das war 1998, herrschte<br />

noch eine Informationsbrache zu dem Thema. Es gab so gut wie keine<br />

Einrichtungen, bei denen wir uns als Modell orientieren konnten. Unser Anfang<br />

im Jahr 2000 war schwer, da <strong>psychisch</strong> kranken Müttern mit viel Abwehr<br />

begegnet wurde. Nie werde ich vergessen, wie die Mitarbeiterinnen eine <strong>der</strong><br />

ersten Mütter nach <strong>der</strong> Entbindung im Krankenhaus abholten und sich die<br />

Krankenschwester drohend vor uns aufbaute mit den Worten: „Sie können<br />

dieser Mutter doch kein Kind mitgeben!“<br />

Positiv ist heute: Es sind in <strong>der</strong> Zwischenzeit neue Angebote geschaffen worden,<br />

es wurde einiges geforscht und publiziert. Gerade in Bezug auf München<br />

würde ich sogar sagen, dass wir im bundesweiten Vergleich recht gut ausgestattet<br />

sind. So haben wir neben unserer stationären Einrichtung in München<br />

von verschiedenen Anbietern spezielle Mutter-Kind-Plätze im Betreuten Einzelwohnen.<br />

Meine beruflichen und damit auch persönlichen Erfahrungen mit dem Thema<br />

„Psychisch kranke Eltern und ihre Kin<strong>der</strong>“ begannen durch den Aufbau unserer<br />

Einrichtung „Haus Monika“. Als Psychologin beim Sozialdienst katholischer<br />

Frauen in München arbeitete ich eng mit <strong>der</strong> damaligen Leitung unserer<br />

Mutter-Kind-Häuser zusammen. Diese drängte immer wie<strong>der</strong> vehement darauf,<br />

ein Angebot für <strong>psychisch</strong> kranke Mütter zu schaffen, da die gängigen<br />

Mutter-Kind-Einrichtungen mit <strong>der</strong> Problematik überfor<strong>der</strong>t seien und <strong>psychisch</strong>e<br />

Krankheit damals meist sogar ein Ausschlusskriterium war.<br />

Im Vergleich zu unserem Beginn gibt es heute einiges an positiven Entwicklungen<br />

zu vermelden. Erfreulicherweise kann man sagen, dass die Aufmerksamkeit<br />

und Sensibilität für dieses Thema sehr gestiegen ist und es immer<br />

mehr Menschen gibt, die dafür sorgen, dass „die vergessenen Kin<strong>der</strong>“ nicht<br />

länger in Vergessenheit bleiben.<br />

Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme:<br />

Unterstützungsangebote für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern<br />

Mich persönlich hat die Frage nach <strong>der</strong> richtigen Hilfe für diese Kin<strong>der</strong> und<br />

nach <strong>der</strong> Entscheidung, wann ist es besser, dass dieses Kind bei <strong>der</strong> Mutter<br />

bleibt, wann sollte es von <strong>der</strong> Mutter getrennt werden, um keinen Schaden zu<br />

nehmen, seitdem nicht mehr losgelassen. Ich bin immer noch auf <strong>der</strong> Suche<br />

nach Hilfeansätzen, um die beste Lösung für beide Generationen zu finden.<br />

Und ich glaube, es gäbe sehr vieles, was diesbezüglich getan werden könnte.<br />

Dipl.-Psychologin<br />

Ruth Back<br />

len Lösungen, wenn das Problem wahrgenommen wird, nämlich „diese Mutter<br />

kann das nicht“ und auf eine Trennung von Mutter und Kind zu drängen.<br />

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130 131<br />

Thementagung<br />

Ich möchte jetzt aber bei dieser Gelegenheit nicht näher auf das Erkrankungsrisiko<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> eingehen. Dagegen möchte ich auf die mindestens genauso<br />

Risikofaktoren sind:<br />

• Die Art <strong>der</strong> Erkrankung (Risiko bei schizophrenen Eltern 10 – 15%,<br />

wenn beide erkrankt sind 35 – 50%, Risiko bei depressivem Elternteil<br />

23 – 38%);<br />

• welcher Elternteil betroffen ist: eine Erkrankung <strong>der</strong> Mutter stellt einen<br />

höheren Risikofaktor dar als die Erkrankung des Vaters;<br />

• Schwere und Chronizität <strong>der</strong> Erkrankung;<br />

• Alter des Kindes bei Beginn <strong>der</strong> elterlichen Erkrankung: je jünger das<br />

Kind umso höher ist das Erkrankungsrisiko;<br />

• instabile Familienbeziehungen, allein erziehendes krankes Elternteil;<br />

• soziale Isolation;<br />

• Armut, mangelnde Bildung.<br />

Wichtig ist noch hinzuzufügen, dass das Vorliegen einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung<br />

noch nichts per se über den Umgang <strong>der</strong> erkrankten Mutter mit dem<br />

Kind aussagt. Als Folge <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung, insbeson<strong>der</strong>e bei chronischen<br />

Verläufen, entstehen immer wie<strong>der</strong> Problembündel, die das Verhalten<br />

<strong>der</strong> Mutter/des Vaters manchmal mehr als die Erkrankung selbst beeinflussen<br />

können. Arbeitslosigkeit mit Gefühlen <strong>der</strong> Entwertung, <strong>der</strong> Scham, des Überflüssigseins<br />

und die Folgen von sozialem Abstieg wie Armut und Wohnungsverlust<br />

nagen sehr am Selbstbewusstsein und verursachen konkrete existentielle<br />

Notsituationen. Psychische Erkrankung <strong>der</strong> Eltern ist somit nur ein Risikofaktor<br />

neben an<strong>der</strong>en, die sich jedoch gegenseitig bedingen und verstärken.<br />

Protektive Faktoren für das Kind sind:<br />

• wenn es über die Erkrankung des Elternteils ausreichend aufgeklärt und<br />

informiert ist;<br />

• wenn es ein soziales Netz rund um die Familie gibt;<br />

• wenn an<strong>der</strong>e, gesunde Bezugspersonen für das Kind zur Verfügung stehen;<br />

• wenn es Aussprachemöglichkeiten für das Kind gibt (professionelle o<strong>der</strong><br />

nicht professionelle Unterstützung);<br />

• wenn es Orte hat, wo es kindgerechte „normale“ Möglichkeiten gibt, um<br />

unbeschwert Kind zu sein;<br />

• wenn die Eltern krankheitseinsichtig und behandlungsbereit sind (Bereitschaft<br />

zur Medikamenteneinnahme);<br />

• wenn die Problematik früh erkannt wird und dementsprechend frühe<br />

soziale Hilfen eingesetzt werden;<br />

• wenn die Eltern Entlastungsangebote haben, z.B. Entlastung in <strong>der</strong> Mutterrolle,<br />

bei Erziehungsaufgaben, im Haushalt, bei <strong>der</strong> Alltagsbewältigung;<br />

• wenn die Beziehung des Kindes zum erkrankten Elternteil stabil ist;<br />

• wenn es keine Beziehungsabbrüche gibt;<br />

• wenn das Kind spezifische Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringt<br />

(Intelligenz, soziale Kompetenzen, körperliche Gesundheit);<br />

• wenn die Familie über ausreichende finanzielle Ressourcen und stabile<br />

Lebensbedingungen verfügt.<br />

Kin<strong>der</strong> von <strong>psychisch</strong> kranken Eltern haben dann gute Entwicklungschancen,<br />

wenn Eltern, Angehörige und Fachleute lernen, angemessen mit <strong>der</strong> Erkran-<br />

Kin<strong>der</strong><br />

gerät o<strong>der</strong> ob sie gar erst erkrankt, wenn das Kind älter ist. Natürlich stellt die<br />

Erkrankung eines Elternteiles o<strong>der</strong> gar bei<strong>der</strong> Eltern für Kin<strong>der</strong> immer eine<br />

massive Belastung dar, aber wie hoch die eigene Gefährdung ist, hängt von<br />

verschiedenen Risikofaktoren ab.<br />

wichtige Tatsache zu sprechen kommen, dass <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong> betroffenen<br />

Kin<strong>der</strong> – immerhin ca. 85 Prozent später nicht erkrankt. Und das<br />

ist <strong>der</strong> entscheidende Punkt. Hier gilt es genau hinzuschauen und Antworten<br />

zu finden auf die zentrale Frage: Was hilft den Kin<strong>der</strong>n, gesund zu bleiben?<br />

Was wirkt wie? Die Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen müssen sich an<br />

diesen protektiven Wirkfaktoren ausrichten.<br />

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132 133<br />

Thementagung<br />

Natürlich ist das Verstehen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> abhängig vom Alter und vom jeweiligen<br />

Entwicklungsstand. Aber ich glaube, dass sich auf dem Gebiet einiges<br />

entwickeln ließe, vergleichbar mit den psychoedukativen Ansätzen, wie sie<br />

Möglichkeiten könnten beispielsweise sein:<br />

• Die professionellen Helfer und Helferinnen müssen dem Thema Elternschaft<br />

bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>psychisch</strong> kranker Menschen Beachtung<br />

schenken. Es liegen Untersuchungsergebnisse vor, dass bei einer stationären<br />

Aufnahme selten nach Kin<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>en Alter, <strong>der</strong>en Befindlichkeit<br />

und Lebenssituation gefragt wird. Die Frage nach Kin<strong>der</strong>n muss daher<br />

zwingend in eine Anamnese mit einbezogen werden.<br />

• Weiterhin gibt es Untersuchungsergebnisse aus einer Befragung von Ärzten<br />

und Ärztinnen <strong>der</strong> Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie <strong>der</strong><br />

Universität Freiburg, die ergab, dass zu lediglich 17% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ein<br />

persönlicher Kontakt im Laufe <strong>der</strong> Behandlung stattgefunden hat. Gemeinsame<br />

Gespräche aller Beteiligten würden bei dem Problem Abhilfe<br />

schaffen. Neben <strong>der</strong> Vermittlung von Information und Herstellung von<br />

Transparenz können in diesen Gesprächen die professionellen Helfer<br />

eine anwaltschaftliche Funktion übernehmen und die Bedürfnisse des<br />

Kindes einbringen und es aktiv unterstützen.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Die schützende Wirkung durch Information und Aufklärung basiert darauf,<br />

dass Information unsere Wahrnehmung und die Bewertung einer Situation<br />

und die Bewertung von sich selbst beeinflusst und dadurch zu einer Verän<strong>der</strong>ung<br />

im emotionalen Erleben führt. Für die betroffenen Kin<strong>der</strong> kann dies<br />

bedeuten, dass sie verän<strong>der</strong>te Verhaltensweisen des kranken Elternteils nicht<br />

länger sich selber zuschreiben, nach dem Motto „Ich bin schuld, weil ich böse<br />

war“, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Krankheit und dadurch keine kindlichen Schuldgefühle<br />

entstehen.<br />

1. Ausreichende Aufklärung über die Erkrankung und Behandlung<br />

<strong>der</strong> Eltern<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erhalten oft keine o<strong>der</strong> nur unzureichende Informationen<br />

darüber, was mit <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> dem Vater los ist. Fragen, die sie stellen,<br />

werden oft nur ausweichend beantwortet. Die Kin<strong>der</strong> fühlen, dass sie besser<br />

nicht fragen sollen, sie spüren ein Tabu und beginnen zu verstummen. Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> Resilienzforschung zeigen, dass eine alters- und entwicklungsgemäße<br />

Aufklärung einen wichtigen Schutzfaktor bildet und die Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />

gegenüber den familiären Belastungen durch die Krankheit erhöhen.<br />

2. Die Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen in die<br />

Behandlung<br />

Modelle für die gezielte Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in die Behandlung des <strong>psychisch</strong><br />

kranken Elternteils gibt es so gut wie nicht. Nach dem Grundsatz,<br />

„Kin<strong>der</strong> sind auch Angehörige“, wäre es vonnöten, auch diese kleinen <strong>Angehörigen</strong><br />

ernst zu nehmen und sie in die Behandlung mit einzubinden.<br />

Dafür ist ein differenziertes Hilfesystem notwendig. Wie bereits erwähnt, gibt<br />

es durchaus schon eine breite Palette an Hilfen, aber es gibt auch noch einiges,<br />

woran es fehlt. Hier einige Ideen, was es noch an Möglichkeiten und<br />

Notwendigkeiten gäbe, um diesen Kin<strong>der</strong>n noch wesentlich besser als bisher<br />

Unterstützung zu bieten.<br />

kung umzugehen und dafür gesorgt ist, dass sich die betroffenen Eltern und<br />

die Kin<strong>der</strong> auf tragfähige professionelle und nicht professionelle Beziehungen<br />

stützen können.<br />

für Patienten/Patientinnen mit ihren sonstigen <strong>Angehörigen</strong> bereits existieren.<br />

Erste Schritte sind zum Beispiel die Erstellung und die Verwendung von<br />

schriftlichen Materialien. Ganz gute Informationshefte gibt es schon vom<br />

Dachverband psychosozialer Hilfsvereinigungen für 8 – 11jährige und für<br />

12 – 18jährige. Natürlich reichen schriftliche Materialien nicht aus, um Kin<strong>der</strong><br />

wirklich über die Krankheit <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> des Vaters aufzuklären. Dies<br />

muss im direkten Gespräch erfolgen. Hier komme ich zum nächsten Punkt,<br />

bei dem Verän<strong>der</strong>ungsbedarf besteht.<br />

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134 135<br />

Thementagung<br />

3. Mutter – Kind – Einheiten<br />

In den angloamerikanischen Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e in Großbritannien, gehört<br />

die gemeinsame stationäre Aufnahme <strong>psychisch</strong> kranker Mütter mit ihren<br />

Säuglingen und Kleinkin<strong>der</strong>n, so genannte Mutter-Kind-Einheiten, fast zum<br />

Regelfall und wird in ca. 50% <strong>der</strong> dortigen psychiatrischen Kliniken praktiziert.<br />

Ausgehend von den Ergebnissen <strong>der</strong> Bindungsforschung weiß man, dass<br />

frühe Trennungen von Mutter und Kind, z.B. durch einen längeren Krankenhausaufenthalt<br />

<strong>der</strong> Mutter, gravierende negative Auswirkungen auf die Mutter-<br />

Kind-Bindung zur Folge haben können.<br />

Der Erhalt <strong>der</strong> Beziehung in dieser sensiblen Phase hilft dagegen eine sichere<br />

Es gibt auch von professioneller Seite Erfahrungen damit, Gruppen für die<br />

betroffenen Kin<strong>der</strong> anzubieten. Der Gedanke dabei ist, dass es den Kin<strong>der</strong>n<br />

hilft zu erleben, dass sie nicht alleine von dem Problem betroffen sind, dass<br />

sie ihr Schicksal mit an<strong>der</strong>en teilen, sich aussprechen und damit entlasten<br />

können. Die Erfahrung zeigt, wenn Kin<strong>der</strong> bzw. Jugendliche an solchen Gruppen<br />

teilnehmen, können sie sehr davon profitieren. Allerdings scheint es<br />

schwer zu sein, solche Gruppen zu installieren. Entwe<strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong> haben<br />

Hemmungen, an einer solchen Gruppe teilzunehmen, o<strong>der</strong> die Eltern haben<br />

Angst davor, ihre Kin<strong>der</strong> an einem solchen Angebot teilnehmen zu lassen.<br />

Daher ist es beim Aufbau eines Netzwerkes für die Kin<strong>der</strong> praktikabler, den<br />

Fokus auf Gruppen zu legen, die alltagsorientiert, lebensweltnah und nicht<br />

primär problembezogen sind.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

• Es braucht verbesserte Rahmenbedingungen, damit Kin<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Einbeziehung<br />

überhaupt einen Platz haben. „Platz“ meine ich hier durchaus<br />

wörtlich. Wie sollen Kin<strong>der</strong> die Mutter o<strong>der</strong> den Vater auf einer psychiatrischen<br />

Station besuchen, wenn eine kind- bzw. familiengerechte räumliche<br />

Ausstattung völlig fehlt?<br />

Von einer Station des psychiatrischen Krankenhauses in Pa<strong>der</strong>born ist<br />

mir bekannt, dass sie das Raucherzimmer in ein Familien- und Spielzimmer<br />

umgewandelt haben. Die Verän<strong>der</strong>ungen waren überzeugend!<br />

Nach den Beobachtungen <strong>der</strong> Mitarbeiter wurde daraufhin dieses Angebot<br />

sehr gut angenommen. Die Zahl <strong>der</strong> Besuche von Kin<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong><br />

Station hat seitdem deutlich zugenommen, weil es jetzt einen kindgerechten<br />

Ort gibt und Kin<strong>der</strong> nicht nur stillsitzen und zuhören müssen. Das<br />

Wahrnehmen und die Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> beginnen oft mit Kleinigkeiten.<br />

Es muss auch nicht gleich ein eigenes Spielzimmer sein. Wenn<br />

ich zum Beispiel das stationäre Setting verlasse und das Wartezimmer<br />

des nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiaters nehme, dann gäbe es da die Möglichkeit,<br />

den Wartebereich familienfreundllich zu gestalten, indem eine<br />

Spielecke einrichtet wird. Das sind bereits zwei mögliche kleine Schritte,<br />

die ganz niedrigschwellig <strong>der</strong> Realität Rechnung tragen, dass auch <strong>psychisch</strong><br />

Kranke Kin<strong>der</strong> haben.<br />

4. Normalisierung<br />

Kin<strong>der</strong> brauchen Normalität. Zu einem normalen Leben gehört <strong>der</strong> Kontakt<br />

mit Gleichaltrigen. Dies ist ihnen nicht immer gegeben, da <strong>psychisch</strong> Kranke,<br />

insbeson<strong>der</strong>e wenn kein gesun<strong>der</strong> Partner da ist, oft dazu neigen, sich zurückzuziehen,<br />

sich zu isolieren. Zum Ausgleich bräuchten die Kin<strong>der</strong> ein soziales<br />

Netz, das ihnen ein unbeschwertes Zusammensein mit einer „Peergruppe“ ermöglicht,<br />

zum Beispiel in Vereinen o<strong>der</strong> Jugendgruppen.<br />

Die Möglichkeit einer gemeinsamen Behandlung von Mutter und Kind senkt<br />

für die Mutter die Schwelle für eine Aufnahme in die stationäre Behandlung,<br />

da sie ihr Kind nicht verlassen muss, und hat den positiven Effekt, dass die<br />

Mutter sich selbst und das Kind nicht zu stark überfor<strong>der</strong>t. Insbeson<strong>der</strong>e bei<br />

nach <strong>der</strong> Geburt auftretenden postpartalen Psychosen, die in <strong>der</strong> Regel gut<br />

behandelbar sind, wäre eine Mutter-Kind-Behandlung von unschätzbarem<br />

Vorteil. Lei<strong>der</strong> ist diese Möglichkeit in Deutschland in <strong>der</strong> Regel nicht vorhanden.<br />

Bindung aufzubauen, vermin<strong>der</strong>t die Schuldgefühle <strong>der</strong> kranken Mutter, ihr<br />

Kind nicht selbst versorgen zu können, und verhin<strong>der</strong>t Trennungstraumata.<br />

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136 137<br />

Thementagung<br />

Ein weiterer Aspekt, <strong>der</strong> für Patenschaftsmodelle spricht, ist, dass Paten /<br />

Patinnen als Ansprechpartner/innen gerade auch zu den Zeiten zu Verfügung<br />

Der Kontakt wird möglichst bereits in „guten“ Zeiten des erkrankten Elternteils<br />

vermittelt, so dass sich ein Vertrauensverhältnis zwischen allen Beteiligten<br />

entwickeln kann. In Krisenzeiten, wenn <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> erkrankte Elternteil<br />

mit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>betreuung überfor<strong>der</strong>t ist, können die Kin<strong>der</strong> dann zu den ihnen<br />

vertrauten Bezugspersonen ausweichen, indem diese die Bereitschafts- o<strong>der</strong><br />

Kurzzeitpflege übernehmen.<br />

Die Unterstützung <strong>der</strong> Paten/Patinnen richtet sich in erster Linie an das Kind.<br />

Sie stellen stabile Bezugspersonen im Leben <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> dar, die ihnen Normalität<br />

und Kontinuität bieten können. Falls es sich um eine Patenfamilie handelt,<br />

wird das betreffende Kind in die Familie einbezogen und kann dadurch<br />

ein positives Familienmodell und Kontakt zu an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n erleben.<br />

6. Kooperation <strong>der</strong> Hilfesysteme<br />

Ein gravierendes Problem bei den Hilfen für diese Kin<strong>der</strong> ist bislang die mangelnde<br />

Kooperation <strong>der</strong> beteiligten Hilfesysteme, also des psychiatrisch, medizinischen<br />

Hilfesystems und <strong>der</strong> Jugendhilfe. In <strong>der</strong> Psychiatrie ist das Wissen<br />

um die Situation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und um die differenzierte Angebotspalette <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe gering. In <strong>der</strong> Jugendhilfe dagegen ist das Wissen um die Erkrankung<br />

<strong>der</strong> Eltern und um medizinische Behandlungsweisen nicht son<strong>der</strong>lich<br />

ausgeprägt. Die jeweiligen Wissenslücken stellen große Hin<strong>der</strong>nisse für eine<br />

angemessene Unterstützung <strong>der</strong> familiären Problemlagen dar. Die Behebung<br />

dieser Lücken ist insbeson<strong>der</strong>e deswegen notwendig, weil sich die Interventionen<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Hilfesysteme gegenseitig beeinflussen. Es braucht daher<br />

einen intensiven Kontakt <strong>der</strong> zuständigen Fachkräfte, um jeweils die Entscheidungen<br />

nachvollziehen und wie<strong>der</strong>um im eigenen Behandlungssetting bearbeiten<br />

zu können.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

5. Patenschaften<br />

Eine weitere Möglichkeit, ein Netzwerk für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern<br />

zu schaffen, sind Patenschaften. Patenschaftsprojekte sind in den letzten Jahren<br />

in einigen Städten Deutschlands entstanden und verstehen sich als präventive,<br />

nie<strong>der</strong>schwellige nichtprofessionelle Angebote. Grundgedanke ist, Kin<strong>der</strong>n<br />

mit einem <strong>psychisch</strong> erkrankten Elternteil kontinuierliche Bezugspersonen,<br />

sogenannte Paten/Patinnen o<strong>der</strong> bevorzugt Patenfamilien, an die Seite zu<br />

stellen, auf die sie im Alltag und in Belastungssituationen zurückgreifen können.<br />

Es geht also darum, Familien mit entsprechenden Ressourcen und Familien<br />

ohne stabiles soziales Netz zusammenzubringen und damit quasi ein<br />

nachbarschaftliches o<strong>der</strong> familiäres Modell nachzubilden. Patenschaften sind<br />

eine unbürokratische, alltagsnahe Erweiterung <strong>der</strong> Hilfen für die betroffenen<br />

Familien. Dies kann zum Beispiel ein telefonischer Rat für die Mutter am<br />

Abend sein, wenn das Kind nicht zu Bett gehen möchte, o<strong>der</strong> ein Besuch im<br />

Zoo mit dem Kind.<br />

Zusammenfassend sind die Aufgaben von Paten/Patinnen in erster<br />

Linie:<br />

• Regelmäßige Kontakte zum Kind in Absprache mit den Eltern;<br />

• Betreuung des Kindes in einem geregelten Umfang;<br />

• Gemeinsame Freizeitaktivitäten und Unternehmungen mit dem Kind;<br />

• Schulische Unterstützung, Hausaufgabenhilfe;<br />

• Modellbildung bei Erziehungsfragen;<br />

• Schutz und Entlastung des Kindes bei Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Eltern;<br />

• Vorübergehende Aufnahme des Kindes und gegebenenfalls Bereitschaftspflege<br />

im Falle einer stationären Aufnahme des kranken Elternteils;<br />

• Gegebenenfalls Einbindung in die Familie eines Paten/einer Patin.<br />

stehen, die über die Öffnungszeiten von öffentlichen Institutionen hinausgehen.<br />

Vor allem in schwierigen Situationen und in Krisen sollten sie unbürokratisch<br />

zur Verfügung stehen.<br />

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138 139<br />

Thementagung<br />

Es gibt auch ein Problem, wenn die Hilfen zwar nicht gegeneinan<strong>der</strong>, aber nebeneinan<strong>der</strong><br />

laufen und nicht aufeinan<strong>der</strong> abgestimmt sind. Um richtige Entscheidungen<br />

für weitere Hilfen und eine adäquate Einschätzung <strong>der</strong> häuslichen<br />

Situation und <strong>der</strong> Belastung für das Kind zu ermöglichen, braucht es die<br />

Kooperation aller an dem Fall beteiligten Professionellen.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Gerade die Schulen sind eine wichtige Instanz, wo Probleme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auffallen<br />

durch ein verän<strong>der</strong>tes Sozialverhalten o<strong>der</strong> durch Leistungseinbrüche.<br />

Hier wäre entsprechende Fortbildung für Lehrkräfte mit möglichst konkreten<br />

Handlungskonzepten z.B. einer Anleitung für Gesprächsführung, von großem<br />

Nutzen. Dies könnte dazu verhelfen, dass sie ein Gespür für die Thematik<br />

entwickeln, sich zuständig fühlen und rechtzeitig handeln.<br />

Das eine System kennt kaum die Angebote, Aufgaben, Aufträge, Organisationsabläufe<br />

und Handlungslogiken des an<strong>der</strong>en Systems. Zum Teil misstrauen<br />

sie sich auch und schreiben sich gegenseitig Versäumnisse zu. Die Erwachsenenpsychiatrie<br />

beklagt, dass die Jugendhilfe <strong>psychisch</strong> kranken Eltern<br />

zu schnell die Erziehungsfähigkeit abspreche und ein mangelndes Wissen<br />

über den Umgang mit <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen habe. Die Jugendhilfe beklagt,<br />

dass die Erwachsenenpsychiatrie die Kin<strong>der</strong> instrumentalisiere für das<br />

Wohl <strong>der</strong> Eltern und zu wenig die Gefährdung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> wahrnehme. Natürlich<br />

sind diese wechselseitigen Zuschreibungen nicht ganz unbegründet, aber<br />

wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Jede Seite muss dazulernen!<br />

Und jede Seite muss lernen, dass sie dazulernen muss!<br />

7. Sensibilisierung aller Beteiligten<br />

Über die Sensibilisierung <strong>der</strong> Hilfesysteme hinaus braucht es eine Sensibilisierung<br />

für diese Problematik bei allen, die professionell, aber auch nicht professionell<br />

mit Kin<strong>der</strong>n zu tun haben. In erster Linie betrifft das natürlich wie<br />

bereits ausgeführt die Hilfesysteme <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung und <strong>der</strong> Jugendhilfe.<br />

Aber oft sind die Professionellen dieser Systeme nicht die ersten,<br />

die die betroffenen Kin<strong>der</strong> erleben, son<strong>der</strong>n das können Menschen aus <strong>der</strong><br />

Nachbarschaft o<strong>der</strong> aber in <strong>der</strong> Regel am ehesten die Erzieher/innen in <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>krippe bzw. im Kin<strong>der</strong>garten o<strong>der</strong> etwa die Lehrkräfte in <strong>der</strong> Schule<br />

sein.<br />

Oft erfolgt die Kooperation <strong>der</strong> Systeme erst dann, wenn es nicht mehr zu<br />

vermeiden ist, nämlich in einer bereits eskalierten Krisensituation. Wenn zum<br />

Beispiel von Seiten <strong>der</strong> Psychiatrie erst dann eine Kontaktaufnahme mit <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe erfolgt, wenn es unvermeidlich ist, dann geht es oft schon um die<br />

grundsätzliche Frage, ob das Kind überhaupt noch zu Hause bleiben kann.<br />

Vorherige frühere Hilfemöglichkeiten können dann kaum noch eingesetzt werden<br />

und das Jugendamt agiert dann primär als Kontrollinstanz, um sein<br />

Wächteramt und seinen gesetzlichen Schutzauftrag auszuüben. Dadurch bestätigen<br />

sich die Befürchtungen <strong>der</strong> Eltern, dass das Jugendamt sowieso immer<br />

nur die Kin<strong>der</strong> wegnehmen will, und es kann keine konstruktive und vertrauensvolle<br />

Zusammenarbeit zwischen <strong>der</strong> betroffenen Familie und <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

mehr entstehen.<br />

Wie können diese Kooperationsmängel beseitigt werden? Einige<br />

Ideen hierzu:<br />

• Kooperation muss ein professioneller Standard werden;<br />

• es braucht Möglichkeiten, dass sich die Systeme gegenseitig kennen lernen<br />

und Verständnis füreinan<strong>der</strong> entwickeln können;<br />

• gemeinsame Fortbildung;<br />

• systemübergreifende Fallkonferenzen;<br />

• Schärfung des jeweiligen Wahrnehmungsrasters für die beson<strong>der</strong>e<br />

Situation dieser Personengruppe;<br />

• in den jeweiligen Systemen intern zuständige Personen, die zu dieser<br />

Thematik fachlich beraten und Hilfen koordinieren können.<br />

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140 141<br />

Thementagung<br />

Die Grundkonflikte und Spannungsfel<strong>der</strong> ergeben sich hauptsächlich<br />

aus<br />

• dem Recht auf Elternschaft und dem Recht des Kindes auf eine angemessene,<br />

kindgemäße Versorgung und Erziehung, also dem Spannungsfeld<br />

zwischen Elternwohl und Kindeswohl;<br />

• den inneren Ambivalenzen des kranken Elternteils:<br />

- zwischen dem Wunsch, das Kind optimal versorgen zu wollen, und<br />

<strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> eigenen Grenzen;<br />

- zwischen dem Wunsch nach Unterstützung und <strong>der</strong> Angst vor Kontrolle<br />

durch Außenstehende;<br />

- zwischen dem Bedürfnis, den Professionellen zu vertrauen und dem<br />

Misstrauen, dass Offenheit dazu führt, dass das Kind weggenommen<br />

wird.<br />

• den Ambivalenzen und Parteilichkeiten <strong>der</strong> Professionellen:<br />

- zwischen <strong>der</strong> Anwaltschaft für das kranke Elternteil und <strong>der</strong> Anwaltschaft<br />

für das Kind;<br />

- zwischen Unterstützung und Kontrolle;<br />

- zwischen dem Wunsch, dem <strong>psychisch</strong> kranken Elternteil<br />

Sicherheit zu geben, und <strong>der</strong> Wirklichkeit, die Möglichkeit einer<br />

Fremdunterbringung des Kindes im Blick haben zu müssen;<br />

- zwischen <strong>der</strong> eigenen Einschätzung <strong>der</strong> familiären Situation und<br />

den Aufträgen Externer, wie Kostenträger, Behörden o<strong>der</strong> Gerichte.<br />

Einerseits benötigen die betroffenen Eltern unbedingt die Überzeugung und<br />

Sicherheit, dass sie ihre Kin<strong>der</strong> behalten können. Aus einer Position <strong>der</strong> Sicherheit<br />

können sie viel leichter Hilfe suchen und annehmen. An<strong>der</strong>erseits ist<br />

Realität, dass es zu Trennungen kommen kann, wenn die elterlichen Erziehungs-<br />

und Versorgungskompetenzen nicht mehr ausreichen. Gerade in Krisensituationen<br />

sind die betroffenen Elternteile nicht mehr sicher, wie die Professionellen<br />

zu ihnen stehen. In dieser Situation werden die Helfer/innen<br />

schnell mit Misstrauen überhäuft und hauptsächlich als Kontrollorgan und als<br />

feindliche Instanz wahrgenommen.<br />

Für all diese bestehenden o<strong>der</strong> auch noch nicht bestehenden Angebote gilt: es<br />

ist eine Arbeit in Spannungsfel<strong>der</strong>n. Wenn <strong>der</strong> Titel meine Vortrages lautet<br />

„Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme“, ist von meiner Seite nicht nur die bereits<br />

beschriebene Problematik gemeint, dass sich die Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker<br />

Eltern im Spannungsfeld <strong>der</strong> Hilfesysteme mit den daraus resultierenden<br />

Schnittstellen- und Zuständigkeitsproblematiken bewegen. Weitergehend sind<br />

damit auch die Spannungsfel<strong>der</strong> angesprochen, die beim Aufeinan<strong>der</strong>treffen<br />

eines Familiensystems, bzw. eines Bindungssystems auf ein Helfersystem entstehen.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Wichtige Botschaften im Gespräch mit den Kin<strong>der</strong>n sind:<br />

• Grundbotschaft: Du bist wichtig! Es geht um dich!<br />

• Gefühle: Es kann hilfreich sein, über deine Gefühle und deine Situation<br />

zu Hause zu reden!<br />

• Information: Dein Elternteil ist krank und braucht Unterstützung!<br />

• Entlastung: Du kannst unmöglich alle Aufgaben deines Elternteils übernehmen!<br />

• Verantwortung: Du bist we<strong>der</strong> für die Erkrankung deines Elternteils noch<br />

für dessen Verhalten verantwortlich!<br />

• Erlaubnis geben: Du darfst deine eigenen Sachen machen und dich freuen!<br />

• Trost: Du bist mit deiner Situation nicht allein! Es gibt an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong>,<br />

die ebenfalls <strong>psychisch</strong> kranke Eltern haben!<br />

• Unterstützung: Gibt es jemanden, <strong>der</strong> für dich da ist?<br />

• Klares Vorgehen: Wie kann es jetzt weitergehen? Welche Schritte stehen<br />

als nächstes an?<br />

• Kooperation: Wer muss noch informiert und einbezogen werden? Welche<br />

Hilfen gibt es?<br />

(Quelle: Broschüre „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern – Ein Thema für die<br />

Schule!“ von Katja Beeck)<br />

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142 143<br />

Thementagung<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Schone Reinhold,<br />

Wagenblass Sabine (Hrsg.),<br />

Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie;<br />

Juventa Verlag 2006<br />

Mattejat Fritz,<br />

Lisofsky Beate (Hrsg.),<br />

…nicht von schlechten Eltern;<br />

Psychiatrie-Verlag 2000<br />

Lenz Albert,<br />

Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern;<br />

Hogrefe Verlag 2005<br />

Literatur:<br />

Ruth Back<br />

Fachreferentin/Dipl. Psychologin<br />

Sozialdienst katholischer Frauen e.V.<br />

Marsstr. 5<br />

80335 München<br />

Tel.: 089/55981244<br />

Fax: 089/55981266<br />

Mail: r.back@skf-muenchen.de<br />

Dieses Dilemma ist schwer zu lösen. Es bedarf einer offenen und transparenten<br />

Zusammenarbeit und intensiver Beziehungsarbeit, damit dies gelingen<br />

kann. Vor allem ist wichtig, dass die Mutter/<strong>der</strong> Vater immer weiß, wo die<br />

Helfer/innen stehen und wie sie die Situation einschätzen. Ein differenziertes<br />

Hilfesystem und <strong>der</strong> Einsatz früher und präventiver Unterstützungsangebote<br />

könnte sehr viel dazu beitragen, aus diesem Dilemmata herauszukommen, indem<br />

die Zuspitzung auf die Frage nach einer möglichen Trennung entschärft<br />

würde. Ich freue mich, dass Anfänge hierfür gemacht sind. Aber ich denke,<br />

wir sind auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel.<br />

Kontaktadresse:<br />

Schone Reinhold,<br />

Wagenblass Sabine (Hrsg.),<br />

Wenn Eltern <strong>psychisch</strong> krank sind.... Kindliche Lebenswelten und institutionelle<br />

Handlungsmuster; Juventa Verlag 2006<br />

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144 145<br />

Thementagung<br />

Darüber hinaus werden Kin<strong>der</strong> über die Verän<strong>der</strong>ungen meistens nicht aufgeklärt.<br />

Häufig glauben die Kin<strong>der</strong>, sie hätten die Krise durch ihr (Fehl-)Verhalten<br />

ausgelöst. Sie können die Verhaltensän<strong>der</strong>ungen des erkrankten Elternteils<br />

Hauptsächlich wird von <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit den <strong>Angehörigen</strong> die Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Behandlung erwartet. Angebote <strong>der</strong> Psychiatrie o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er<br />

Stellen zur Unterstützung speziell für Kin<strong>der</strong> von <strong>psychisch</strong> kranken Eltern<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Wenn eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung in einer Familie auftritt, sind alle Familienmitglie<strong>der</strong><br />

belastet. Die erkrankten Elternteile sind mitunter in <strong>der</strong> akuten<br />

Phase <strong>der</strong> Erkrankung nicht in <strong>der</strong> Lage, ihre Erziehungsaufgaben zu bewältigen.<br />

Sie haben Schuldgefühle und Angst, die Kin<strong>der</strong> zu verlieren, sie befürchten,<br />

ihren Kin<strong>der</strong>n durch ihre Erkrankung Schaden zuzufügen.<br />

Die Hilfen konzentrieren sich in akuten Phasen meistens auf den erkrankten<br />

Elternteil, für die Kin<strong>der</strong> ist keine Zeit und Aufmerksamkeit übrig. Ihre Bedürfnisse<br />

müssen zurückstehen.<br />

Die Psychiatrie hat die Aufgabe, den <strong>psychisch</strong> erkrankten Patienten zu stabilisieren,<br />

in den Beruf und die Gesellschaft wie<strong>der</strong> einzuglie<strong>der</strong>n. In den letzten<br />

Jahren gibt es immer mehr die Tendenz, Angehörige und das soziale Umfeld<br />

in die Behandlung mit einzubeziehen und mit ihnen Gespräche über die Erkrankung<br />

zu führen. In <strong>der</strong> Regel werden die Eltern o<strong>der</strong> die Lebenspartner,<br />

aber auch erwachsene Kin<strong>der</strong> hinzugezogen.<br />

Im Verlauf eines Jahres begeben sich in Deutschland ca. 1,6 Millionen Menschen<br />

in psychiatrische Behandlung. Dies entspricht 2% <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung.<br />

Gegenwärtig wissen wir nicht, wie viele dieser von <strong>psychisch</strong>er Erkrankung<br />

betroffenen Menschen Eltern sind. Wir wissen aber, dass ca. 20 % <strong>der</strong><br />

<strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern selbst Eltern haben, die an einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung<br />

leiden. Weiterhin haben ein Drittel <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, die kin<strong>der</strong>- und<br />

jugendpsychiatrisch behandelt werden, <strong>psychisch</strong> erkrankte Eltern.<br />

Das Jugendamt wird von vielen betroffenen Eltern jedoch häufig nur als Institution<br />

zur Wegnahme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> betrachtet. Dadurch werden dessen Hilfsangebote<br />

entwe<strong>der</strong> gar nicht o<strong>der</strong> erst so spät wahrgenommen, dass nicht selten<br />

tatsächlich eine Fremdunterbringung zur Abwendung akuter Gefährdung des<br />

Kindswohls notwendig ist. Für die Eltern kommt es so zu einer selbsterfüllenden<br />

Prophezeiung, weil sie aus Angst vor <strong>der</strong> Wegnahme des Kindes die Situation<br />

so lange eskalieren lassen, bis es dann tatsächlich zu einer <strong>der</strong>artigen<br />

Maßnahme kommt.<br />

FIPS – Beratungsstelle für Familien mit einem <strong>psychisch</strong><br />

erkrankten Elternteil am BKH Günzburg<br />

Dipl.-Sozialpädagogin (FH) und systemische<br />

Familientherapeutin,<br />

Bezirkskrankenhaus Günzburg<br />

Susanne Kilian<br />

nicht verstehen. Diese Kin<strong>der</strong> ziehen sich häufig von <strong>der</strong> Außenwelt zurück;<br />

sie werden still und verschlossen, die Sprachentwicklung kann verzögert sein.<br />

Gesteigerte Aggressivität o<strong>der</strong> sonstige Verhaltensauffälligkeiten machen die<br />

Probleme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sichtbar. Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern werden in <strong>der</strong><br />

Regel erst wahrgenommen, wenn sich Auffälligkeiten herausbilden. Präventive<br />

Angebote gibt es in <strong>der</strong> Bundesrepublik vereinzelt und mit ganz unterschiedlichen<br />

Ansätzen. Kin<strong>der</strong>gärten, Schulen, aber auch Kin<strong>der</strong>- und Jugendtherapeuten,<br />

Jugendamt und viele mehr, die mit diesen Familien zu tun haben,<br />

sind sich oft unsicher, wenn sie mit <strong>psychisch</strong> kranken Eltern arbeiten. Es ist<br />

für die Mitarbeiter <strong>der</strong> Jugendhilfe unklar, was an Hilfe für die Kin<strong>der</strong> und<br />

Eltern notwendig ist, und oft gibt es massive Vorurteile und Berührungsängste<br />

von Erziehern, Lehrern und sogar von Therapeuten.<br />

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146 147<br />

Thementagung<br />

Beson<strong>der</strong>e Schwierigkeiten haben Institutionen für Kin<strong>der</strong>, insbeson<strong>der</strong>e Jugendämter,<br />

mit Eltern, die ihrer Meinung nach <strong>psychisch</strong> auffällig sind, aber<br />

keine Krankheitseinsicht haben. Die wenigsten Mitarbeiter <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

Durch Spendenaufrufe wurde die Finanzierung einer halben Stelle einer Sozialpädagogin<br />

für den Zeitraum eines Jahres erreicht. Am 1.3.2006 nahm die<br />

Beratungsstelle FIPS in <strong>der</strong> Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik<br />

des Bezirkskrankenhauses Günzburg ihre Tätigkeit auf. Es gibt in<br />

Deutschland kein <strong>der</strong>artiges Konzept, in dem innerhalb <strong>der</strong> Erwachsenenpsychiatrie<br />

explizit diese spezielle Unterstützung für die Familien mit einem <strong>psychisch</strong><br />

erkrankten Elternteil angeboten wird. Die Erwachsenenpsychiatrie hat<br />

den Kontakt zu den <strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern. Der Vertrauensvorschuss <strong>der</strong><br />

Eltern gegenüber <strong>der</strong> Psychiatrie wird auf die Arbeit von FIPS übertragen.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Kooperationen zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie<br />

Jugendämter hätten gern eine Einschätzung und Prognose <strong>der</strong> Erziehungsfähigkeit<br />

von <strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern. Dieser Bedarf wurde immer wie<strong>der</strong><br />

vom Jugendamt im Arbeitskreis „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern“ in Günzburg<br />

beschrieben. Ärzte können diese mit den Ergebnissen <strong>der</strong> Behandlung<br />

einschätzen, ihnen fehlt jedoch häufig die Kenntnis des häuslichen Umfeldes.<br />

Erst ein Hausbesuch verschafft oft Klarheit über die tatsächlichen Lebensverhältnisse<br />

<strong>der</strong> Patienten, das Verhalten in <strong>der</strong> Klinik lässt im Grunde keine präzisen<br />

Einschätzungen zu. Auch die Angabe <strong>der</strong> Diagnose und <strong>der</strong> Medikation<br />

sagt nichts über die Erziehungskompetenz aus.<br />

Konzeption von FIPS<br />

2004 wurde <strong>der</strong> Arbeitskreis „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern“ in Günzburg<br />

gegründet. Regionale Einrichtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe, das Jugendamt, die Klinik<br />

für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses<br />

Günzburg, <strong>der</strong> Sozialpsychiatrische Dienst sowie die Forschungsabteilung<br />

<strong>der</strong> Universität Ulm setzten sich zusammen. Es sollte eine Kontaktstelle<br />

im Bezirkskrankenhaus Günzburg für <strong>psychisch</strong> erkrankte Eltern geschaffen<br />

werden. Die Annahme war, dass es eigentlich ausreichende Hilfen in Günzburg<br />

und dem Landkreis gibt, die jedoch nicht von diesen Eltern in Anspruch<br />

genommen werden, und das Vermitteln <strong>der</strong> Hilfen ausreichend sein wird.<br />

Die Aufenthaltsdauer in <strong>der</strong> Psychiatrie verkürzt sich immer mehr. Vor allem<br />

die <strong>Angehörigen</strong> beschreiben, dass sich die Patientinnen und Patienten, wenn<br />

sie entlassen werden, noch nicht um ihre Belange selbst kümmern können.<br />

Für die Haushaltsführung kann relativ schnell und unproblematisch Hilfe über<br />

die Krankenkasse für 4 - 6 Wochen organisiert werden. Darüber hinaus wären<br />

aber für solche Familien eine vorübergehende sozialpädagogische Familienhilfe<br />

(SPFH) unbedingt notwendig, denn die Haushaltshilfen sind nicht geschult<br />

im Umgang mit <strong>psychisch</strong> erkrankten Menschen und häufig überfor<strong>der</strong>t.<br />

Die erkrankten Eltern werden nicht selten abgelehnt; es werden hohe For<strong>der</strong>ungen<br />

an die Bewältigung des Alltags und die Umsetzung des Erziehungsauftrages<br />

gestellt. Jedoch haben <strong>psychisch</strong> erkrankte Eltern häufig nicht die<br />

Kraft, permanent Grenzen zu setzen, Verän<strong>der</strong>ungen zu schaffen, wenn sie<br />

selbst um ihre eigene Stabilität ringen müssen.<br />

gibt es so gut wie nicht. Der Sozialdienst <strong>der</strong> Klinik bemüht sich im Interesse<br />

<strong>der</strong> Behandlung, dass die Kin<strong>der</strong> währenddessen versorgt werden. Spezielle<br />

Ängste und Probleme in <strong>der</strong> Erziehung gehören nicht zu den definierten Aufgaben<br />

des Kliniksozialdienstes. Diese bedeuteten überdies eine zusätzliche<br />

Arbeitsbelastung und darüber hinaus werden für diese Aufgabe zusätzlich<br />

Kenntnisse in <strong>der</strong> Arbeit mit Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen benötigt.<br />

haben Erfahrungen im psychiatrischen Bereich. Aber wie auch bei Eltern ohne<br />

<strong>psychisch</strong>e Erkrankung, die ihrem Erziehungsauftrag aus an<strong>der</strong>en Gründen<br />

nicht gewachsen scheinen, besteht die Fragestellung: inwieweit schadet das<br />

Verhalten den Kin<strong>der</strong>n, wie groß ist die Fähigkeit <strong>der</strong> Eltern, sich in die Situation<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zu versetzen, sich zu verän<strong>der</strong>n und Hilfe anzunehmen?<br />

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148 149<br />

Thementagung<br />

In Trennungssituationen und später gibt es massiven Unterstützungsbedarf.<br />

Meistens bleiben die Kin<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> erkrankten Mutter. Es gibt kaum allein<br />

erziehende <strong>psychisch</strong> erkrankte Väter. Nur in Ausnahmefällen ist <strong>der</strong> Kontakt<br />

<strong>der</strong> erkrankten Mutter zum Vater <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> gut. Die ehemaligen Partner benutzen<br />

nicht selten die Erkrankung <strong>der</strong> Mutter, um zu versuchen, das Sorgerecht<br />

für die Kin<strong>der</strong> zu bekommen o<strong>der</strong> die ehemalige Partnerin zu strafen,<br />

wenn sie ihn verlassen hat. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist es aber auch schon vorge-<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Hausbesuch, Erstkontakt mit den Kin<strong>der</strong>n<br />

Wenn <strong>der</strong> Erstkontakt mit den Kin<strong>der</strong>n im häuslichen Umfeld im Beisein mindestens<br />

eines Elternteils stattfindet, ist es für die Kin<strong>der</strong> weniger belastend.<br />

Die Eltern werden vorher gebeten, den Kin<strong>der</strong>n ausdrücklich zu erlauben,<br />

offen über sich und ihre Situation sprechen zu dürfen. Dies soll helfen, eventuelle<br />

Tabus in <strong>der</strong> familiären Kommunikation für die Kin<strong>der</strong> zu verringern. In<br />

diesen Gesprächen bekommt man nicht nur einen Überblick über die häuslichen<br />

Verhältnisse, man lernt die Atmosphäre und z.B. die Aufteilung <strong>der</strong> Räume<br />

und familiären Umstände schneller kennen. Dieser erste Hausbesuch soll<br />

für die weitere Hilfeplanung einen Eindruck des tatsächlichen Bedarfes vermitteln.<br />

Vor allem sollen in die Planung die Kin<strong>der</strong> selbst mit einbezogen werden.<br />

Begleitung<br />

Bei Schwierigkeiten mit Ämtern bietet FIPS Begleitung an. Häufig schil<strong>der</strong>n<br />

die erkrankten Eltern nicht das ganze Ausmaß <strong>der</strong> Situation o<strong>der</strong> verschweigen<br />

ihre Erkrankung, aus Unsicherheit, wie an<strong>der</strong>e darauf reagieren und aus<br />

Angst vor negativen Konsequenzen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gibt es tatsächlich<br />

Vorbehalte gegenüber <strong>psychisch</strong>er Erkrankung bei den Institutionen, und diese<br />

Eltern benötigen dann dringend jemanden, <strong>der</strong> ihre Situation erklären und<br />

vermitteln kann.<br />

Im Erstgespräch wurde <strong>der</strong> Hilfebedarf ermittelt und die nächsten Schritte geplant.<br />

In 75 % <strong>der</strong> Fälle erfolgte danach ein Hausbesuch. Mitunter fand schon<br />

das erste Gespräch zuhause statt, wenn Klienten sich nicht in <strong>der</strong> Lage sahen,<br />

in die Klinik zu kommen.<br />

Hilfen für die Familien mit einem <strong>psychisch</strong> erkrankten Elternteil<br />

In <strong>der</strong> Regel wandte sich <strong>der</strong> erkrankte Elternteil selbst an FIPS. Bei circa <strong>der</strong><br />

Hälfte stand im Vor<strong>der</strong>grund die Sorge, die Kin<strong>der</strong> könnten Schaden durch<br />

die Erkrankung nehmen. In einem Drittel <strong>der</strong> Fälle gab es Schwierigkeiten<br />

mit <strong>der</strong> Schule, dem Jugendamt o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Stellen.<br />

Ermittlung des Hilfebedarfs<br />

Sollte nach diesen 2-3 Gesprächen ein weiterer Hilfebedarf entstehen, so wird<br />

gemeinsam mit den Eltern geplant, welche weiteren Schritte notwendig sind.<br />

Dann ist es das Ziel, in bestehende Institutionen zu vermitteln. Gegebenenfalls<br />

wird die Familie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> erkrankte Elternteil parallel dazu begleitet, um zum<br />

einen die Intervention zu überprüfen, ob es die richtige ist und ob die Familie<br />

die Termine wahrnehmen kann, zum an<strong>der</strong>en um bei auftretenden Schwierigkeiten<br />

zu vermitteln.<br />

Inzwischen haben 24 Familien den Kontakt zu FIPS aufgenommen. Inwieweit<br />

das Konzept <strong>der</strong> Beratung von den Klienten als hilfreich betrachtet wird, evaluiert<br />

die Universität Ulm mittels einer qualitativen Klientenbefragung. Die<br />

Ergebnisse für das erste Halbjahr werden Ende des Jahres erwartet.<br />

Ebenfalls hilfreich ist es, die ganze Familie kennen zu lernen. Wenn es Großeltern<br />

gibt, die noch eine wichtige Rolle spielen, werden diese zu einem Familiengespräch<br />

eingeladen. Gerade bei allein erziehenden Müttern sind es oft<br />

die Großeltern, die vor allem für die Kin<strong>der</strong> die notwenige Unterstützung geben.<br />

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150 151<br />

Thementagung<br />

2. Psychoedukation für Familien<br />

Die Kin<strong>der</strong> wissen meistens nichts über die Erkrankung und sind oft interessiert<br />

daran, mehr darüber zu erfahren. Je mehr die Eltern ihre Erkrankung akzeptieren,<br />

umso eher ist es möglich, auch mit den Kin<strong>der</strong>n über die Erkrankung<br />

zu sprechen. Die meisten Betroffenen möchten, dass eine an<strong>der</strong>e Person<br />

es den Kin<strong>der</strong>n erklärt, auch wenn sie selbst viel über ihre Erkrankung wissen.<br />

In diesem Gespräch soll herausgefunden werden, was die Kin<strong>der</strong> als Problem<br />

betrachten. Die Offenheit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in diesem Erstgespräch war überraschend.<br />

Meist kamen schon in diesem ersten Gespräch Wut, Vorwürfe und<br />

Verzweiflung zutage.<br />

Es gibt bestimmte Kriterien, die in <strong>der</strong> Literatur zum Thema Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />

kranker Eltern als mögliche Belastungen aufgeführt werden, wie z.B. Isola-<br />

4. Runde Tische und Netzwerke<br />

Sind mehrere Helfer involviert o<strong>der</strong> soll es eine Übergabe geben, wird im<br />

Einverständnis <strong>der</strong> Klienten Kontakt zum Helfersystem aufgenommen. In<br />

mehreren Fällen kam es zu Helferkonferenzen. Sollte das Jugendamt informiert<br />

werden müssen, gegen den Wunsch <strong>der</strong> Eltern, soll dies mit Wissen <strong>der</strong><br />

Betroffenen durchgeführt werden. Bislang gab es jedoch noch keinen Fall, in<br />

dem das Jugendamt tätig werden musste, wenn es die Eltern nicht wünschten.<br />

Kin<strong>der</strong><br />

3. Beratung und Begleitung<br />

Wie oben schon erwähnt, werden die infrage kommenden Hilfen erläutert und<br />

Begleitung gegebenenfalls angeboten. Dabei ist das Ziel, die Eltern und Kin<strong>der</strong><br />

in die Lage zu versetzen, selbständig diese Hilfen einfor<strong>der</strong>n und in Anspruch<br />

nehmen zu können.<br />

Methoden<br />

1. Systemische Familientherapie:<br />

Die therapeutischen Gespräche werden mit den Methoden <strong>der</strong> Systemischen<br />

Familientherapie geführt. Dazu gehört, dass das ganze Umfeld in den Beratungsprozess<br />

mit einbezogen wird und nach Ressourcen gesucht wird. Familienmitglie<strong>der</strong><br />

werden miteinbezogen, wenn sie eine wichtige Rolle spielen.<br />

Schlimmer als eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung eines Elternteils sind die Konsequenzen<br />

für die Kin<strong>der</strong>, wenn sich die Eltern nicht einigen und ihre Konflikte<br />

über die Kin<strong>der</strong> austragen. So muss versucht werden, alle an einen Tisch zu<br />

bekommen, möglichst gemeinsam mit dem Jugendamt, um einvernehmliche<br />

Lösungen zu finden.<br />

kommen, dass tatsächlich <strong>der</strong> gesunde Vater zumindest vorübergehend die für<br />

die Kin<strong>der</strong> bessere Lösung war. Diesen Unterschied herauszufinden ist sehr<br />

schwierig, weil unter Umständen diese Lösung die <strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern<br />

destabilisiert, aber für die Kin<strong>der</strong> zwingend notwendig ist.<br />

tion, Verzicht auf alterstypische Beschäftigung, Kommunikationsverbote, Tabuisierung<br />

<strong>der</strong> Erkrankung.<br />

Mit den Eltern wird über diese möglichen Risiken in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> gesprochen, mit den Kin<strong>der</strong>n darüber, wie sie ihre Situation erleben<br />

und welche Fragen sie zum Thema <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung haben. Es<br />

gibt Materialien für Kin<strong>der</strong>, z.B. Bücher und Prospekte, um mit <strong>der</strong>en Unterstützung<br />

die Erkrankung und ihre Auswirkungen den Kin<strong>der</strong>n verständlich zu<br />

erklären.<br />

Mit <strong>der</strong> Frage, ob sie die Erkrankung „erben“ könnten, muss vorsichtig umgegangen<br />

werden. Die besten Erfahrungen mit den Kin<strong>der</strong>n wurden gemacht,<br />

indem mit spielerischen Angeboten Gespräche geführt wurden, und vor allem<br />

damit, die Kin<strong>der</strong> zu fragen, was sie wirklich wissen wollen und wie es ihnen<br />

geht. Damit muss verantwortlich umgegangen werden, aber auch das Kind<br />

muss als eigenständige Person respektiert werden, wenn es vielleicht auch gegen<br />

den Wunsch <strong>der</strong> Eltern nichts wissen möchte.<br />

Mit den Eltern wird über Schuldgefühle, Versagensängste und die Verantwortung,<br />

Hilfe zu suchen und anzunehmen, gesprochen.<br />

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Thementagung<br />

Universität Ulm Abteilung Psychiatrie II,<br />

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus<br />

Günzburg<br />

Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Thomas Becker<br />

Kin<strong>der</strong><br />

Weitere Aufgaben von FIPS<br />

• Konzeptionsentwicklung<br />

• Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Tagungen, Vorträge, Presseartikel)<br />

• Finanzierung <strong>der</strong> weiteren Arbeit<br />

• Multiplikatorenarbeit (Vorträge, Gespräche mit Institutionen)<br />

• Aufbau von Netzwerken (z.B. Ehrenamtlichen-Agentur, Kin<strong>der</strong>gruppe,<br />

Kin<strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie, gemeinsame Fallkonferenzen)<br />

• Übergeordnete bundesweite Vernetzung mit an<strong>der</strong>en Stellen, die sich<br />

dieses Themas annehmen<br />

Kontaktadresse:<br />

Susanne Kilian<br />

Ludwig-Heilmeyer-Str. 2<br />

89312 Günzburg<br />

Tel: 0 82 21/96 28 74<br />

Email: Susanne.Kilian@bkh-guenzburg.de<br />

Remschmidt, H. / Mattejat, F. 1994:<br />

Kin<strong>der</strong> psychotischer Eltern<br />

Göttingen<br />

5. Gruppenangebot für Kin<strong>der</strong><br />

Ab Ende November 2006 beginnt eine Gruppe für die Kin<strong>der</strong>. Diese Kin<strong>der</strong>gruppe<br />

wird von <strong>der</strong> Erziehungsberatungsstelle und Heilpädagogischen Tagesstätte<br />

für den Landkreis Günzburg <strong>der</strong> Katholischen Jugendfürsorge Augsburg<br />

alle vier Wochen für zweieinhalb Stunden angeboten. Die Gruppe ist<br />

konzipiert für Kin<strong>der</strong> zwischen sieben und vierzehn Jahren. Sie soll den Kin<strong>der</strong>n<br />

Unterstützung geben für ihre spezielle Situation. Der Aspekt <strong>der</strong> Selbsthilfe,<br />

die Erfahrung, dass es an<strong>der</strong>en ähnlich geht, und vor allem die gemeinsame<br />

Freizeitgestaltung und die spielerische Atmosphäre sollen den Kin<strong>der</strong>n<br />

helfen, auch an<strong>der</strong>e Aspekte kennen zu lernen und ihre Möglichkeiten zu erweitern.<br />

Mattejat, F./Lissofsky, B. (Hrsg.) 2001:<br />

... nicht von schlechten Eltern. Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker,<br />

Bonn<br />

Martinius, J. /Frank, R. (Hrsg.)1990:<br />

Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung von Kin<strong>der</strong>n,<br />

Bern<br />

Lenz, A. 2005:<br />

Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern,<br />

Göttingen<br />

Allerdings gab es schon Fälle, in denen die Intervention durch FIPS im Vorfeld<br />

schon klärend wirkte und für die Kin<strong>der</strong> bessere Lösungen gefunden wurden.<br />

Lediglich in einem Fall war diese Intervention gegen den Willen des erkrankten<br />

Elternteils.<br />

Deneke, Ch. 1995:<br />

Psychosoziale Probleme von Kin<strong>der</strong>n <strong>psychisch</strong> kranker Eltern.<br />

In: pro familia magazin, Heft 4, S. 5-7<br />

Literatur:<br />

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154 155<br />

Copyright: <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

<strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />

Wyeth GmbH, Münster<br />

Techniker Krankenkasse<br />

Stadt Landshut<br />

St.-Wolfgangs-Platz 11<br />

81669 München<br />

Tel: 089/1296046<br />

Fax: 089/1237189<br />

E-mail: projekt-print@an<strong>der</strong>werk.de<br />

Lilly Deutschland GmbH, Bad Homburg<br />

Kaufmännische Krankenkasse<br />

Satz<br />

und Druck: PROJEKT PRINT<br />

Janssen-Cilag GmbH, Neuss<br />

Gmün<strong>der</strong> Ersatzkasse<br />

Deutsche Angestellten Krankenkasse<br />

Bezirkskrankenhaus Landshut<br />

Pappenheimstr. 7, 80335 München<br />

Tel: 0 89/51 086 325<br />

Fax: 0 89/51 086 328<br />

E-Mail: lvbayern_apk@t-online.de<br />

Bezirkskrankenhaus Haar<br />

Herausgeber: <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />

<strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />

Bezirksklinikum Obermain<br />

Barmer Ersatzkasse<br />

AstraZeneca GmbH, Wedel<br />

Arbeitsgemeinschaft <strong>der</strong> Krankenkassenverbände<br />

Wir danken allen För<strong>der</strong>ern und Sponsoren für die freundliche<br />

Unterstützung<br />

Sponsoren<br />

För<strong>der</strong>er und Sponsoren<br />

Impressum:<br />

Impressum<br />

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