Eva Straub - Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch ...
Eva Straub - Landesverband Bayern der Angehörigen psychisch ...
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1<br />
„Medizinische und berufliche Rehabilitation für Menschen mit<br />
seelischer Erkrankung in Herzogsägmühle“ 34<br />
Trude Thalheimer-Hein, Dipl.- Sozialpädagogin (FH), Leiterin <strong>der</strong> Berufsvorbereitenden<br />
Bildungsmaßnahmen<br />
„Sozialer Dschungel und die <strong>Angehörigen</strong> mittendrin“ 41<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>,<br />
Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
„Und wer soll das bezahlen? Hilfen für <strong>psychisch</strong> kranke<br />
Menschen nach dem SGB II und SGB XII“ 24<br />
Raimund Blattmann, Rechtsanwalt, München<br />
„Was bedeutet Kundenorientierung in einer psychiatrischen<br />
Klinik?“ 14<br />
Prof. Dr. Michael Philipp, Chefarzt des Bezirkskrankenhauses Landshut<br />
Referate<br />
Manfred Hölzlein, 7<br />
Bezirkstagspräsident von Nie<strong>der</strong>bayern, Präsident des Verbandes <strong>der</strong><br />
bayerischen Bezirke<br />
Jacob Entholzner, 12<br />
Bürgermeister <strong>der</strong> Stadt Landshut<br />
Grußworte<br />
„ANGEHÖRIGE IM DSCHUNGEL DER GESETZE“<br />
LANDESTREFFEN AM 14. OKTOBER 2006<br />
IN LANDSHUT<br />
Karl-Heinz Möhrmann, 4<br />
1.Vorsitzen<strong>der</strong><br />
Vorwort<br />
Seite<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
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2 3<br />
„Unser Weg - <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“ 89<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
e.V.<br />
„Selbsthilfegruppen und Psychoedukation - Was ist ‚AiA’?“ 103<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
e.V.<br />
„ANGEHÖRIGE IM ZUSAMMENLEBEN MIT PSYCHISCH<br />
KRANKEN MENSCHEN“<br />
2. REGIONALTREFFEN AM 1. JULI 2006<br />
IN TRAUNSTEIN<br />
„Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die stationäre Behandlung“ 60<br />
Dr. med. Christoph Mattern, Chefarzt <strong>der</strong> Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie<br />
und Psychosomatik, Bezirksklinikum Obermain, Kutzenberg<br />
„Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante Behandlung“ 65<br />
Dr. med. Rainer Ebner, Facharzt für Psychiatrie, Coburg<br />
„Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes für<br />
Angehörige“ 68<br />
M. Werberich, Leiter des SpDi Coburg<br />
„Bewältigung von Konflikten im Zusammenleben mit einem <strong>psychisch</strong><br />
kranken Familienmitglied“ 72<br />
Heidi Popp, 1. Vorsitzende ApK Hochfranken, Hof<br />
„Noch’n Verein - Warum organisieren sich Angehörige?“ 78<br />
Karl Heinz Möhrmann, 1. Vorsitzen<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>es <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V., München<br />
„FIPS - Beratungsstelle für Familien am BKH Günzburg“ 144<br />
Susanne Kilian, Dipl.- Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin,<br />
Bezirkskrankenhaus Günzburg<br />
„Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme: Unterstützungsangebote für<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern“ 128<br />
Dipl.- Psych. Ruth Back, Sozialdienst katholischer Frauen, München<br />
„Auf den Weg gemacht - Geschichte eines Erwachsenwerdens<br />
unter sehr schwierigen psychosozialen Startbedingungen“ 113<br />
Angehöriger<br />
„KINDER PSYCHISCH KRANKER ELTERN –<br />
DIE VERGESSENEN ANGEHÖRIGEN?!“<br />
„ANGEHÖRIGE IM ZUSAMMENLEBEN MIT PSYCHISCH<br />
KRANKEN MENSCHEN“<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1. REGIONALTREFFEN AM 25. MÄRZ 2006 IN COBURG<br />
THEMENTAGUNG AM 28. OKTOBER 2006 IM<br />
BEZIRKSKRANKENHAUS HAAR<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
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4 5<br />
Eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung belastet immer die ganze Familie. Die <strong>Angehörigen</strong><br />
sind aber häufig mit ihren Problemen allein gelassen. Zwar gibt es eine<br />
ganze Anzahl Hilfen für Betroffene und Angehörige, aber wer kennt sich<br />
schon aus im Dschungel <strong>der</strong> Sozialgesetzbücher und <strong>der</strong> behördlichen Zuständigkeiten?<br />
Wir haben daher für unser Landestreffen im Oktober 2006 die<br />
für Betroffene und Angehörige relevanten Hilfemöglichkeiten gemäß <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung<br />
als Schwerpunktthema ausgewählt. Die in diesem Tagungsband<br />
wie<strong>der</strong>gegebenen Vorträge von Herrn Rechtsanwalt Blattmann und von<br />
unserer Bundesvorsitzenden Frau <strong>Straub</strong> geben einen Einblick in die Probleme<br />
und eine gute Übersicht über die verfügbaren Hilfemöglichleiten.<br />
In Fortsetzung unserer Veranstaltungen für Kin<strong>der</strong> und Geschwister <strong>psychisch</strong><br />
Kranker konnten wir im Oktober 2006 in Haar eine Fachtagung „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern – die vergessenen <strong>Angehörigen</strong>?!“ durchführen. Die<br />
Referate dieser Tagung beschäftigten sich mit <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Situation dieser<br />
<strong>Angehörigen</strong>gruppe und sollten Hinweise auf verfügbare Hilfen, aber auch<br />
Bei einem weiteren Regionaltreffen in Traunstein im Juli 2006 sprachen Frau<br />
<strong>Straub</strong> zum Thema „Unser Weg – <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“ und ich selbst<br />
über „Selbsthilfegruppen und Psychoedukation – Unterstützungsangebote für<br />
Angehörige“. Auch die Inhalte dieser Vorträge finden Sie im vorliegenden<br />
Band.<br />
Wir freuen uns, Ihnen auch für das abgelaufene Jahr 2006 eine schriftliche<br />
Zusammenstellung <strong>der</strong> Vorträge von den von uns durchgeführten Tagungen<br />
zur Verfügung stellen zu können. Dieser Tagungsband enthält wie<strong>der</strong> eine<br />
Fülle von interessanten Informationen, welche sicherlich Ihr Interesse finden<br />
werden. Dies soll insbeson<strong>der</strong>e auch eine Hilfe für diejenigen <strong>Angehörigen</strong><br />
darstellen, welche an <strong>der</strong> persönlichen Teilnahme an den einzelnen Veranstaltungen<br />
verhin<strong>der</strong>t waren.<br />
Liebe Mitglie<strong>der</strong>, liebe Freunde und För<strong>der</strong>er!<br />
Vorwort<br />
Das Regionaltreffen in Coburg im März 2006 sollte den <strong>Angehörigen</strong> Informationen<br />
über die in <strong>der</strong> Region verfügbaren Hilfen, aber auch Ratschläge<br />
zum Umgang mit <strong>psychisch</strong> Kranken vermitteln. Zur Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
in die Behandlung liegen Beiträge von Dr. Mattern, Chefarzt <strong>der</strong><br />
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Kutzenberg, und<br />
Dr. Ebner, nie<strong>der</strong>gelassener Facharzt für Psychiatrie in Coburg, vor. In einem<br />
weiteren Beitrag beschreibt Hr. Werberich, Leiter des SPDI Coburg, die Angebote<br />
des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Zum Thema „Bewältigung von<br />
Konflikten im Zusammenleben mit <strong>psychisch</strong> Kranken“ finden Sie einen<br />
Beitrag von Frau Popp, 1. Vorsitzende des ApK Hochfranken. Ich selbst hatte<br />
die Gelegenheit, mit einem Vortrag „Noch’n Verein – Warum organisieren<br />
sich Angehörige?“ unseren Verband vorzustellen.<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>s<br />
<strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />
Kranker e.V.<br />
Patienten (und Angehörige) als „Kunden“ <strong>der</strong> psychiatrischen Klinik und nicht<br />
mehr als unmündige Patienten o<strong>der</strong> Störenfriede? Diese doch relativ neue<br />
Form <strong>der</strong> Zusammenarbeit und <strong>der</strong> gemeinsamen Bemühung um die Gesundung<br />
<strong>der</strong> Betroffenen, für welche sich unser Verband seit langem einsetzt,<br />
stellt ein interessantes Thema für uns Angehörige dar. Hierzu finden Sie einen<br />
Beitrag von Prof. Philipp, Chefarzt des BKH Landshut.<br />
Vorwort<br />
Karl-Heinz Möhrmann<br />
Vorwort<br />
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6 7<br />
Die Bezirke unterstützen mit Nachdruck die <strong>Angehörigen</strong>arbeit und damit<br />
auch den <strong>Landesverband</strong>. Ich erachte es als unabdingbar, dass Angehörige<br />
Es ist eine gute Tradition, dass <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> jedes Jahr in einem an<strong>der</strong>en<br />
Bezirk und eben auch in einem Bezirkskrankenhaus tagt. Darüber freue<br />
ich mich in beson<strong>der</strong>er Weise. Schon zum vierten Mal dürfen wir die <strong>Angehörigen</strong><br />
<strong>psychisch</strong> Kranker zu ihrem Jahrestreffen hier in Nie<strong>der</strong>bayern begrüßen,<br />
zum ersten Mal nun in Landshut.<br />
Karl Heinz Möhrmann<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />
Sehr geehrte Gäste und Mitglie<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>es, Sie sind ja, wie ich<br />
höre, zum Teil von weit her angereist, um sich gemeinsam dem Thema „Angehörige<br />
im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ zu widmen.<br />
Wir bedanken uns bei <strong>der</strong> Firma Lilly Deutschland GmbH für die finanzielle<br />
Unterstützung bei <strong>der</strong> Erstellung und Drucklegung dieses Tagungsbandes,<br />
ohne welche uns die Herausgabe in <strong>der</strong> vorliegenden Form nicht möglich<br />
gewesen wäre.<br />
als ehemalige Landesvorsitzende und heutige Bundesvorsitzende möchte ich<br />
Sie beson<strong>der</strong>s herzlich grüßen, geben Sie doch <strong>Bayern</strong> damit auf Bundesebene<br />
ein starkes Gewicht!<br />
Außerdem gilt mein beson<strong>der</strong>er Gruß Herrn Möhrmann, dem bayerischen<br />
Vorsitzenden des Verbandes <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker.<br />
Der nicht unerhebliche Aufwand für die Vorbereitung und die Erstellung <strong>der</strong><br />
Textversionen ist insofern beson<strong>der</strong>s zu würdigen, weil sich unsere Referenten<br />
ganz allgemein ohne o<strong>der</strong> nur für ein geringes Honorar zur Verfügung stellten.<br />
Daher sprechen wir allen Referenten und Grußwortrednern auch auf diesem<br />
Wege Dank und Anerkennung für ihre Beiträge und für die Ausarbeitung<br />
und Bereitstellung <strong>der</strong> Texte aus.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />
liebe Frau <strong>Straub</strong>,<br />
Grußwort<br />
auf bestehende Mängel im System geben. Die Inhalte sind allerdings auch für<br />
Eltern, Großeltern und Partner interessant. Von dieser Tagung finden Sie in<br />
diesem Tagungsband das Referat eines <strong>Angehörigen</strong>, sowie Beiträge von Frau<br />
Back vom Sozialdienst katholischer Frauen, München, zu Unterstützungsangeboten<br />
für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern und von Frau Kilian vom BKH<br />
Günzburg über die Beratungsstelle für Familien am BKH Günzburg.<br />
Bezirkstagspräsident von Nie<strong>der</strong>bayern,<br />
Präsident des Verbandes <strong>der</strong> bayerischen<br />
Bezirke<br />
Vorwort<br />
Manfred Hölzlein<br />
Gesetzesdschungel<br />
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8 9<br />
Weiter haben Sie sich mit <strong>der</strong> medizinischen und beruflichen Rehabilitation<br />
befasst, die lei<strong>der</strong> ein „Stiefkind“ <strong>der</strong> psychiatrischen Versorgung darstellt,<br />
und das, obwohl die Grundlagen <strong>der</strong> Rehabilitationseinrichtungen für <strong>psychisch</strong><br />
Kranke – <strong>der</strong> RPK’s – schon 1986 gelegt wurden. Hier fehlt es weiterhin<br />
deutlich an gemeindenahen Plätzen, um dem Gebot „Reha vor Rente“<br />
Rechnung zu tragen. Vor allem aber fehlt es an ambulanten Angeboten <strong>der</strong><br />
medizinischen Rehabilitation. Ich hoffe sehr, dass die nach langen Diskussionen<br />
endlich gemeinsam verabschiedeten RPK-Empfehlungen ihre Wirkung<br />
entfalten und tatsächlich zu einigen neuen und gemeindenahen Angeboten<br />
führen werden. Alle an<strong>der</strong>en sozialhilfefinanzierten Einrichtungen und Hilfen<br />
bedeuten – mit Ausnahme <strong>der</strong> pauschal finanzierten Tagesstätten – den Rück-<br />
Außerdem können wir in <strong>Bayern</strong> auf ein gut ausgebautes Netz an Psychiatrischen<br />
Institutsambulanzen verweisen, die mit ihrer kostengünstigen Versorgung<br />
nicht nur den Krankenkassen viel Geld sparen, son<strong>der</strong>n vor allem den<br />
betroffenen Menschen häufig belastende stationäre Krankenhausaufenthalte<br />
ersparen helfen.<br />
Mit für Sie wichtigen Themen haben Sie sich heute bereits befasst:<br />
Einmal mit <strong>der</strong> Kundenorientierung hier im Bezirkskrankenhaus Landshut,<br />
<strong>der</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Zertifizierung große Bedeutung beigemessen wurde.<br />
Als nie<strong>der</strong>bayerischer Bezirkstagspräsident bin ich stolz darauf, dass wir die<br />
Plätze in betreuten Wohnformen, wie Wohngemeinschaften, Außenwohngruppen<br />
und betreutem Einzelwohnen, in den vergangenen Jahren auf insgesamt<br />
316 Plätze ausgebaut haben. Ein beson<strong>der</strong>er Schwerpunkt liegt bei den Angeboten<br />
für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen im Hinblick auf verschiedene Zuverdienstarbeitsprojekte.<br />
Die Teilhabe am Arbeitsleben ist nach meiner Auffassung<br />
ein ganz wesentlicher Punkt <strong>der</strong> Gleichstellung behin<strong>der</strong>ter mit nicht<br />
behin<strong>der</strong>ten Menschen, wie dies auch ein wesentlicher Aspekt für die Lebensqualität<br />
<strong>der</strong> Betroffenen ist.<br />
„Angehörige im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ – dieses Tagungsthema drückt aus,<br />
wie Sie sich in unserem geglie<strong>der</strong>ten Sozialleistungssystem mit <strong>der</strong> Zersplitterung<br />
<strong>der</strong> leistungsrechtlichen Zuständigkeiten fühlen müssen. Als Jurist und<br />
Verbandspräsident fühle ich mich hier auch direkt angesprochen. Selbst Fachleute<br />
tun sich schwer, den „Durchblick“ zu behalten. Wie mag es da erst den<br />
<strong>Angehörigen</strong> gehen? Damit meine ich nicht nur die zahlreichen rechtlichen<br />
Feinheiten, die <strong>der</strong> Gesetzgeber so fein ausziseliert hat, dass unsere Sozialverwaltungen<br />
sich häufig mit an<strong>der</strong>en Kostenträgern vor Gericht streiten müssen,<br />
weil <strong>der</strong> Gesetzgeber oftmals keine klaren Aussagen zu den jeweiligen<br />
Zuständigkeiten getroffen hat. Ich meine vielmehr, dass es schon bei den<br />
grundsätzlichen Regelungen deutlich einheitlicherer Strukturen bedurft hätte!<br />
Die Frage „Wer soll das bezahlen?“, mit <strong>der</strong> Sie sich ebenfalls auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />
stellt sich dabei nicht nur für die <strong>Angehörigen</strong>. Auch die Bezirke kamen<br />
in den vergangenen Jahren deutlich an die Grenze ihrer Belastbarkeit<br />
und konnten deswegen Lücken, die an<strong>der</strong>e gerissen haben, nicht immer schließen.<br />
Hier spiele ich beson<strong>der</strong>s auf den Ausstieg <strong>der</strong> Krankenkassen aus <strong>der</strong><br />
Co-Finanzierung <strong>der</strong> Sozialpsychiatrischen Dienste an. Seit einigen Jahren<br />
bemühen sich die Bezirke verstärkt um eine Umsteuerung in die Richtung<br />
„ambulant vor stationär“. Einmal deswegen, um flächendeckend (und damit<br />
wohnortnah) ambulante Hilfen vorzusehen; vor allem aber, um zu erreichen,<br />
dass Menschen mit <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen so selbstständig wie möglich<br />
leben können, damit sie im Erhalt ihrer Fähigkeiten unterstützt werden und<br />
diese nicht durch eine vorschnelle Heimunterbringung regelrecht „abtrainiert“<br />
werden. Eine Hospitalisierung ist hier in niemandes Interesse!<br />
Landestreffen<br />
sichtbar werden in unserer Gesellschaft. Denn sie ermutigen an<strong>der</strong>e, die von<br />
ihnen initiierten <strong>Angehörigen</strong>gruppen zu besuchen und die dort angebotene<br />
Hilfe und Information anzunehmen.<br />
griff auf Einkommen und Vermögen und benachteiligen damit letztlich Menschen<br />
mit <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen.<br />
Gesetzesdschungel<br />
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10 11<br />
Tatkräftig unterstützt werden die betroffenen <strong>Angehörigen</strong> nicht nur in ihren<br />
Sorgen und Nöten, son<strong>der</strong>n auch durch die politische Arbeit <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>verbände<br />
<strong>psychisch</strong> Kranker.<br />
So gibt es neben dem Gesetzesdschungel, den Sie heute zum Motto Ihrer Veranstaltung<br />
gemacht haben, oft auch einen Dschungel <strong>der</strong> Zuständigkeiten, <strong>der</strong><br />
es den Betroffenen und ihren <strong>Angehörigen</strong> erschwert, sich im Falle einer benötigten<br />
Hilfeleistung zurechtzufinden. Als Beispiel in eigener Sache darf ich<br />
darauf verweisen, dass <strong>der</strong> Bezirk Nie<strong>der</strong>bayern z.B. hierauf im Rahmen seiner<br />
Möglichkeiten reagiert und zumindest die Zuständigkeiten bei <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe<br />
für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen im ambulanten und stationären<br />
Bereich seit 1. Juli 2006 in einer Hand vereint hat. Streitigkeiten unter-<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren: In <strong>der</strong> Oktober-Ausgabe von „unbeirrbar“,<br />
ihrem Informationsforum, habe ich dargestellt, dass alles, was an<br />
Leistungen und Angeboten in <strong>Bayern</strong> für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen geschaffen<br />
wurde, ohne die Mithilfe <strong>der</strong> Familien <strong>der</strong> Betroffenen kaum vorstellbar<br />
wäre. Ich möchte auch hier nochmal wie<strong>der</strong>holen, dass mir wohl bewusst ist,<br />
dass die Verkürzung von Verweildauern und die Ambulantisierung im Einzelfall<br />
eine Mehrbelastung für die Familie in wirtschaftlicher, emotionaler und<br />
zeitlicher Hinsicht bedeutet. Es müssen zusätzliche Lasten und Verantwortung<br />
übernommen werden. Ich meine es sehr ernst, wenn ich sage, dass die Bezirke<br />
gut beraten sind, die betroffenen Familien zu unterstützen. Deshalb verstehen<br />
sich die Einrichtungen und Mitarbeiter <strong>der</strong> Bezirke als wichtige Ansprechpartner<br />
bei vielen sozialrechtlichen wie fachlichen Belangen <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen.<br />
Durch die hieraus gewonnenen Einblicke kann das persönliche<br />
Engagement <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> gar nicht genug gewürdigt werden. Sich dieser<br />
großen Verantwortung zu stellen, nicht zuletzt oft auch in wirtschaftlicher<br />
Hinsicht, macht es erst möglich, dass mehr als die Hälfte aller <strong>psychisch</strong> kranken<br />
Menschen weiter in ihrer Familie leben können. Das Umfeld und beson<strong>der</strong>s<br />
die engsten Bezugspersonen <strong>der</strong> Erkrankten sind, das wissen Sie besser<br />
als ich, oft entscheidende Faktoren für den Krankheitsverlauf.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Veranstaltung heute und dem sich anschließenden<br />
Mitglie<strong>der</strong>treffen einen guten Erfolg! Darüber hinaus bin ich gerne<br />
bereit, alles in meiner Macht stehende zu tun, um Angehörige leichter durch<br />
den „Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ zu lotsen!<br />
schiedlicher Sozialhilfeträger gehören damit <strong>der</strong> Vergangenheit an. Es gibt<br />
nun in Nie<strong>der</strong>bayern einheitliche Ansprechpartner für die Hilfesuchenden und<br />
auf Seiten des Kostenträgers bessere Möglichkeiten, die Suche nach <strong>der</strong> am<br />
besten geeigneten Einrichtung, Maßnahme o<strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Hilfe zu<br />
unterstützen. Ein eigener sozialpädagogischer Fachdienst beim Bezirk liefert<br />
hierzu die notwendigen sachkundigen Voraussetzungen. Mit einer möglichst<br />
großen und vielfältigen Anzahl an ambulanten Angeboten versuchen wir, die<br />
Gedanken <strong>der</strong> Gemeindenähe, <strong>der</strong> personenzentrierten Hilfeleistung und <strong>der</strong><br />
För<strong>der</strong>ung einer weitgehend eigenverantwortlichen Lebensführung in die Tat<br />
umzusetzen. Um die Koordination und die Initiierung von geeigneten Maßnahmen<br />
auf Bezirksebene auch künftig sinnvoll gestalten zu können – hierzu<br />
bietet u.a. <strong>der</strong> Planungs- und Koordinierungsausschuss eine geeignete Plattform<br />
–, hoffen wir natürlich weiterhin und verstärkt auf eine fruchtbare und<br />
engagierte Zusammenarbeit mit allen Beteiligten.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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Carl Friedrich von Weizsäcker sagte: „Wir haben eine technische Welt geschaffen,<br />
die uns seelisch überfor<strong>der</strong>t.“ Eine außergewöhnliche Belastung<br />
trägt die Schicksalsgemeinschaft Familie, wenn ein Mitglied <strong>psychisch</strong> erkrankt.<br />
Mit Kopf und Herz ein für den Kranken positives Umfeld zu schaffen,<br />
ihn mit offenen Händen und Armen anzunehmen, die Betreuung als Lebensaufgabe<br />
zu betrachten, ist eine große soziale Leistung. Dabei ist es nicht<br />
immer leicht, ein „guter“ Angehöriger zu sein, <strong>der</strong> Ängste, Zeitdruck und Vorwürfe<br />
erträgt und überwindet. Sie erwarten mit Recht von den Mitbürgern<br />
nicht Bedauern und Mitleid, son<strong>der</strong>n helfendes Verständnis, von den Angestellten<br />
und Beamten in den Behörden Wegweisung und Unterstützung im<br />
Dickicht und Dschungel <strong>der</strong> Gesetze und Verordnungen, von <strong>der</strong> Stadt Dank<br />
und Anerkennung für die aufopferungsvolle Hingabe an <strong>psychisch</strong> Erkrankte.<br />
Unbürokratische Hilfe bei <strong>der</strong> Gewährung von Sozial- und Einglie<strong>der</strong>ungshilfe,<br />
von Grundsicherung und Maßnahmen zur medizinischen und beruflichen<br />
Rehabilitation sollte selbstverständlich sein.<br />
12 13<br />
ich überbringe Ihnen die Grüße und guten Wünsche des Oberbürgermeisters<br />
Hans Rampf, <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> des Stadtrates und <strong>der</strong> Bürgerschaft <strong>der</strong> Stadt<br />
Landshut zu Ihrem Landestreffen unter dem Motto „Angehörige im Dschungel<br />
<strong>der</strong> Gesetze“. Es ehrt unser Gemeinwesen, dass <strong>der</strong> größte gemeinnützige<br />
regionale Selbsthilfeverband in <strong>der</strong> Psychiatrie in <strong>der</strong> BRD dieses wichtige<br />
Treffen in <strong>der</strong> Dreihelmestadt veranstaltet.<br />
Ich wünsche Ihrem Landestreffen einen harmonischen Verlauf, auf dass <strong>der</strong><br />
„Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ etwas gelichtet werden möge.<br />
„Idealist ist, wer Kraft hat für an<strong>der</strong>e“, sagt Novalis. Der ehrenamtlich uneigennützigen<br />
Arbeit des ApK-Vorstandes, an <strong>der</strong> Spitze Herrn Dipl.-Ing. Karl<br />
Heinz Möhrmann, gelten großer Dank und hohe Anerkennung.<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
Grußwort<br />
Bürgermeister <strong>der</strong> Stadt Landshut<br />
Jacob Entholzner<br />
Eine große Unterstützung vermag die Selbsthilfeorganisation ApK zu leisten,<br />
ein Verband, <strong>der</strong> die Menschen verbindet, Erfahrungsaustausch und Fortbildung,<br />
also Psychoedukation, ermöglicht, ihre Sorgen und Nöte bündelt und<br />
die berechtigten Wünsche <strong>der</strong> solidarischen und selbstbewussten <strong>Angehörigen</strong><br />
gegenüber Regierung und Gesetzgeber nicht nur artikuliert, son<strong>der</strong>n auch einfor<strong>der</strong>t.<br />
Auch die Kommunen sind gefor<strong>der</strong>t, Beratungsstellen einzurichten,<br />
Kurzzeit- und Tagespflegeinrichtungen zu schaffen. In unserer Stadt hilft das<br />
Landshuter Netzwerk bei „Betreutem Wohnen“, mit <strong>der</strong> Integrationsfirma<br />
„Die Netzwerker“ und <strong>der</strong> Tagesstätte, die Selbsthilfekräfte chronisch <strong>psychisch</strong><br />
kranker Erwachsener zu stärken und die <strong>Angehörigen</strong> zu entlasten.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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14 15<br />
Und als wenn dies nicht schon schlimm genug wäre, verpflichtet <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />
die Krankenhausmitarbeiter nun auch noch zum Qualitätsmanagement<br />
und entzieht dem Krankenhaus damit noch mehr finanzielle Ressourcen, die<br />
letztlich <strong>der</strong> direkten Patientenversorgung verloren gehen. Kein Wun<strong>der</strong>, dass<br />
immer mehr Fachärzte die Nase voll haben von diesen Arbeitsbedingungen<br />
und das Krankenhaus verlassen, um etwa in Österreich, England o<strong>der</strong> Skandinavien<br />
einen wesentlich besser bezahlten und weniger durch patientenferne<br />
Tätigkeiten entfremdeten Job zu übernehmen.<br />
Ich muss gestehen, dass die emotionale Ablehnung von „Qualitätsmanagement“<br />
und „Kundenorientierung“ auch meine eigene, durchaus heftige Reaktion<br />
war, als ich vor ziemlich genau 10 Jahren das erste Mal mit diesen Begriffen<br />
konfrontiert wurde. Mein Direktoriumskollege hatte damals in seiner<br />
Funktion als Krankenhausdirektor in <strong>der</strong> Tiefgarage einzelne Parkplätze als<br />
„Kundenparkplätze“ ausgewiesen. Ich war schlicht sauer: „Patienten sind<br />
keine ‚Kunden’, wir sind hier schließlich nicht im Supermarkt, son<strong>der</strong>n in<br />
einem Krankenhaus“, war mein Einwurf. Als <strong>der</strong> Krankenhausdirektor im<br />
gleichen Jahr das Direktorium in Kenntnis setzte, dass Krankenhäuser jetzt<br />
zur Qualitätssicherung gesetzlich verpflichtet seien und wir uns dem sich abzeichnenden<br />
Trend anschließen sollten, ein Qualitätsmanagement einzuführen,<br />
war ich einfach nur resistent und versuchte, diesen Prozess zu blockieren,<br />
was mir - aus heutiger Sicht - damals glücklicherweise aber nicht gelang.<br />
„Angehörige im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze“ lautet das Motto des diesjährigen<br />
Kongresses des <strong>Landesverband</strong>es <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
e.V. Passend hierzu könnte <strong>der</strong> Titel meines Vortrages abgeleitet werden aus<br />
dem Motto: „Ärzte und Krankenhausmitarbeiter im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze.“<br />
Eine immer dichter werdende Abfolge von Gesundheitsreformgesetzen knebelt<br />
die Handlungsmöglichkeiten <strong>der</strong> Krankenhausmitarbeiter, zunehmende<br />
Dokumentationspflichten und verschärfte Überprüfungen <strong>der</strong> Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit<br />
binden in einem kaum noch erträglichen Maße Arztzeit,<br />
so dass zusammen mit allen an<strong>der</strong>en organisatorischen und kommunikativen<br />
Aufgaben für einen psychiatrischen Stationsarzt nur noch ein Viertel seiner<br />
täglichen Arbeitszeit für den direkten Patientenkontakt übrig bleibt. Lassen<br />
Sie diese Aussage bitte auf sich wirken: Von 8 täglichen Arbeitsstunden kann<br />
<strong>der</strong> Arzt nur noch zwei im direkten Patientenkontakt verbringen!<br />
Muss das so sein? O<strong>der</strong> könnte es vielleicht so sein, dass auf dem Hintergrund<br />
einer tief greifenden Unzufriedenheit mit den rechtlichen und organisatorischen<br />
Rahmenbedingungen ungewohnte neue Begriffe, die zugegebenermaßen<br />
nicht in <strong>der</strong> Medizin, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> produzierenden Industrie und im<br />
Handel entwickelt wurden, falsch verstanden und zu Unrecht verdammt werden?<br />
Was bedeutet Kundenorientierung in einer<br />
psychiatrischen Klinik?<br />
Ärztlicher Direktor, Bezirkskrankenhaus Landshut<br />
Prof. Dr. Michael Philipp, M.A.<br />
Viele Krankenhausmitarbeiter fragen immer wie<strong>der</strong>, ob man denn nicht wenigstens<br />
diesen gesetzlich vorgeschriebenen Ballast des Qualitätsmanagements<br />
auf möglichst kleiner Flamme kochen kann, um nicht unnütz wichtige<br />
Zeitressourcen zu verschwenden. Wenn Sie dann noch hören, dass das Qualitätsmanagement<br />
ihnen eine „Kundenorientierung“ abverlangt, sie also den<br />
Patienten betrachten sollen wie <strong>der</strong> Kaufmann einen Kunden, <strong>der</strong> bei ihm eine<br />
Ware einkauft und so – scheinbar – alle gewachsenen Werte <strong>der</strong> Arzt-Patienten-Beziehung<br />
einer Begrifflichkeit aus <strong>der</strong> kalten Welt des Kommerzes weichen<br />
soll, bei welcher es nur noch um Profitmaximierung und nicht mehr um<br />
den Menschen geht, da platzt den Krankenhausmitarbeitern endgültig <strong>der</strong><br />
Kragen.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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16 17<br />
Wo kommt nun die Kundenorientierung ins Spiel? Das kontinuierliche Messen<br />
und Verbessern <strong>der</strong> erreichten Qualität ist das Herzstück jedes Qualitätsmanagements.<br />
Nach <strong>der</strong> eben gegebenen Definition von Qualität kann ich sie<br />
nur dann messen, wenn ich die an die Behandlung gerichteten Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
kenne. Um die Anfor<strong>der</strong>ungen aber zu ermitteln, muss ich wissen, wer denn<br />
die Anfor<strong>der</strong>ungen stellt. Jetzt sind wir beim „Kunden“: als Kunde wird bezeichnet,<br />
wer jene Anfor<strong>der</strong>ungen stellt, die zu erfüllen Aufgabe <strong>der</strong> Behand-<br />
Es beginnt mit dem Begriff „Qualität“. Qualität bezeichnet das Ausmaß, in<br />
dem Gegebenheiten Anfor<strong>der</strong>ungen erfüllen, die an sie gerichtet werden. Erfüllt<br />
eine Behandlung die Anfor<strong>der</strong>ungen, die an sie gerichtet werden, darf ihr<br />
attestiert werden, dass sie Qualität hat. Werden die Anfor<strong>der</strong>ungen nur teilweise<br />
o<strong>der</strong> gar nicht erfüllt, ist die Behandlung von geringer o<strong>der</strong> gar schlechter<br />
Qualität; werden die Anfor<strong>der</strong>ungen übererfüllt, darf dieser Behandlung<br />
hervorragende Qualität attestiert werden. So weit, so gut.<br />
Ist das nicht eigentlich selbstverständlich? Ich muss Ihnen lei<strong>der</strong> sagen: Nein.<br />
Die traditionelle Krankenhausorganisation, oft auch die traditionelle Organisation<br />
von Arztpraxen und Heimen ist gerade nicht am Kunden, son<strong>der</strong>n an<br />
den eigenen Bedürfnissen orientiert. Ich gebe Ihnen zwei einfache Beispiele,<br />
die Sie alle sicherlich kennen. Zunächst das Beispiel Wartezeiten. Es gibt bestimmte<br />
ärztliche Fachrichtungen mit sehr kurzen Behandlungszeiten, z.B.<br />
beim Augenarzt o<strong>der</strong> beim Hautarzt. Bringen Sie sich einmal in Erinnerung,<br />
wie lange Sie nach Eintreffen in <strong>der</strong> Praxis haben warten müssen, bis Sie dran<br />
waren. O<strong>der</strong> denken Sie an ihren letzten Krankenhausaufenthalt. Wie lange<br />
haben Sie auf die Untersuchung warten müssen, als Sie ins Röntgen gebracht<br />
wurden? Ist es Ihnen schon passiert, dass eine Operation um 10 Uhr vormittags<br />
angesetzt wurde, und Sie mussten nüchtern und voller Angst bis zum<br />
Nachmittag warten? Wie lange haben Sie das letzte Mal nach einer Bagatellverletzung<br />
in <strong>der</strong> chirurgischen Notaufnahme auf den sicherlich viel beschäftigten<br />
Arzt warten müssen? Lei<strong>der</strong> werden Sie auch in <strong>der</strong> Psychiatrischen<br />
Klinik folgende Erfahrungen gemacht haben: Ihr Angehöriger ist notfallmäßig<br />
auf eine geschlosssene Akutstation eingeliefert worden, und Sie wollen<br />
Ich werde im folgenden versuchen, Ihnen in <strong>der</strong> gleichen Art und Weise die<br />
Inhalte des Konzepts <strong>der</strong> „Kundenorientierung“ abzuleiten, wie ich dies für<br />
meine eigenen Mitarbeiter tue, wenn ich sie über das Wesen von Qualitätsmanagement<br />
informiere und dabei auf die gleichen Wi<strong>der</strong>stände stoße, die<br />
ich seinerzeit bei mir selber erlebt habe.<br />
In <strong>der</strong> dann ab 1996 notwendigen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Inhalten von<br />
Qualitätsmanagement wurde <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Kundenorientierung“ zu einem<br />
zentralen Reibungspunkt; er ist es auch heute noch, wenn es gilt, neue Mitarbeiter<br />
an das Gedankengut des Qualitätsmanagements herzuführen. Mit vielen<br />
an<strong>der</strong>en Aspekten des Qualitätsmanagements konnte man sich ja viel<br />
leichter anfreunden: Vor allem für das Ziel einer guten Ergebnisqualität<br />
braucht man keine neuen Wege öffnen – war das nicht immer schon das Ziel<br />
aller in <strong>der</strong> direkten Patientenarbeit tätigen Krankenhausmitarbeiter? Warum<br />
also nur dieser schreckliche Begriff <strong>der</strong> Kundenorientierung?<br />
lung sind. Kundenorientierung heißt danach: diejenigen, die die Behandlungsbedingungen<br />
organisieren (das Management also), und diejenigen, die die<br />
Behandlung durchführen (Ärzte, Pflegende, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten),<br />
wie auch diejenigen, die die Behandlungsprozesse unterstützen (Küche,<br />
Apotheke, Wäscherei, Labor, Haustechnik, Verwaltung), orientieren sich an<br />
den Anfor<strong>der</strong>ungen, die die Kunden stellen; sie messen und verbessern die<br />
Qualität ihrer Arbeit daran, wie gut es ihnen gelingt, diese Anfor<strong>der</strong>ungen zu<br />
erfüllen. Da es aber die Kunden sind, die die Anfor<strong>der</strong>ungen stellen, müssen<br />
es auch die Kunden sein, die letztendlich zu befinden haben, ob ihre Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
erfüllt worden sind; das Qualitätsurteil über eine Krankenhausbehandlung,<br />
die ambulante Behandlung durch den nie<strong>der</strong>gelassenen Arzt, die<br />
sozialpädagogische Betreuung in einer geschützten Wohn- und Arbeitseinrichtung,<br />
dieses Qualitätsurteil geben letztlich die Kunden ab.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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18 19<br />
Zunächst einmal, weil die Organisation des Krankenhauses traditionell funktionsorientiert<br />
und nicht kundenorientiert ist. Was heißt das? Das Personal<br />
des Krankenhauses ist in drei großen Berufsgruppen organisiert: medizinischer<br />
Dienst – hierzu gehören Ärzte, Sozialpädagogen, Ergotherapeuten, Pflegedienst<br />
und Verwaltungsdienst. Je<strong>der</strong> Dienst versucht seinen Job so gut wie<br />
Kundenorientierung setzt nach dem eingangs Gesagten voraus, dass ich weiß,<br />
wer meine Kunden sind: es sind nicht nur die Patienten, son<strong>der</strong>n eben auch<br />
die <strong>Angehörigen</strong> – dann aber auch die Gesellschaft (denken Sie bitte an Situationen,<br />
in denen eine krankhaft bedingte Fremdgefährdung eine Unterbringung<br />
notwendig macht), schließlich auch die einweisenden bzw. weiterbehandelnden<br />
Ärzte und die komplementären Einrichtungen, an die unsere Patienten<br />
zu einem Gutteil nach <strong>der</strong> Entlassung weitervermittelt werden. Es sind aber<br />
auch die Krankenkassen als Kostenträger, es sind – im abstrakten Sinne –<br />
auch die Gesetze und behördlichen Vorschriften, <strong>der</strong>en Befolgung sicherstellt,<br />
sich telefonisch beim behandelnden Arzt informieren, Sie telefonieren sich<br />
die Finger wund und erreichen ihn einfach nicht, weil er ständig akut beschäftigt<br />
ist. Sie besuchen Ihren <strong>Angehörigen</strong> auf Station und haben eine wichtige<br />
Frage an die Pflegenden, sehen auch durch die geschlossene Glastür eine<br />
Gruppe von Pflegenden im Stationszimmer zusammensitzen, außen an <strong>der</strong><br />
Tür hängt aber ein Schild „Übergabe – bitte nicht stören!“; sie kommen sich<br />
schon jetzt wie ein unerwünschter Bittsteller vor, es ist Ihnen aber dringend,<br />
Sie klopfen deshalb trotz des Schildes, Sie winken – keiner reagiert o<strong>der</strong> es<br />
wird erst nach langen Minuten Wartens reagiert, und Sie kriegen als erstes<br />
eine geballte Ladung Belehrung ab, dass es jetzt nicht geht, weil gerade Übergabe<br />
ist, das würde doch auf dem Schild stehen. O<strong>der</strong>: Nach langer stationärer<br />
Behandlung wird Ihr Angehöriger endlich entlassen, Sie wissen aus früherer<br />
Erfahrung, dass er eine starke Tendenz hat, die Medikamente rasch wie<strong>der</strong><br />
abzusetzen o<strong>der</strong> unregelmäßig einzunehmen, Sie werden ihn deshalb in<br />
<strong>der</strong> Medikamenteneinnahme unterstützen müssen und brauchen hierzu vom<br />
Behandlungsteam Informationen über Art und Dosierung <strong>der</strong> Medikamente;<br />
statt eines kurzen Gesprächs hierüber erhält Ihr Angehöriger aber lediglich<br />
einen sorgfältig zugeklebten Kurzarztbrief für den Hausarzt, auf dem aufgestempelt<br />
steht „nur für den behandelnden Arzt bestimmt“; Sie werden also zu<br />
Hause gezwungen sein, gegen die Regel den versiegelten Brief zu öffnen, um<br />
die Medikation nachzulesen, und sehen jetzt schon die Kritik des Hausarztes<br />
auf Sie herabprasseln, weil Sie in die hochheilige schriftliche Geheimkommunikation<br />
zwischen Krankenhaus und Hausarzt „eingebrochen“ sind.<br />
Wie kann es zu einer solchen Nicht-Erfüllung <strong>der</strong> Kunden-Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
kommen?<br />
möglich zu machen, orientiert sich dabei aber daran, wie die Arbeitsabläufe<br />
innerhalb <strong>der</strong> eigenen Berufsgruppe so am besten zu organisieren sind, dass<br />
mit möglichst wenig Leerlaufzeiten möglich effiziente Arbeit geleistet werden<br />
kann. Dies meinte ich vorhin, als ich sagte, die Krankenhausmitarbeiter<br />
sind traditionell an ihren eigenen Bedürfnissen orientiert: wenn das Bedürfnis<br />
nach optimaler Organisation <strong>der</strong> eigenen Arbeitsabläufe sich darin nie<strong>der</strong>schlägt,<br />
dass die Übergabe von einer Schicht auf die nächste möglichst ungestört<br />
abläuft, dann bleibt <strong>der</strong> Kundenwunsch außen vor; wenn <strong>der</strong> Arzt einer<br />
geschlossenen Suchtstation alleine im Dienst ist und fünf Aufnahmen und<br />
Entlassungen am Tag hat, dann versucht er sich möglichst von allen Telefonaten<br />
abzuschotten, die ihn in diesen gestressten Arbeitsabläufen zusätzlich stören<br />
würden. Kundenorientierung würde in diesen Beispielen heißen: grundsätzlich<br />
und zu je<strong>der</strong> Zeit bereit sein, sich stören zu lassen und akute Bedürfnisse<br />
von Patienten und <strong>Angehörigen</strong> wahrzunehmen; grundsätzlich und anhaltend<br />
bemüht zu sein, dem Patienten und <strong>Angehörigen</strong> verständlich zu<br />
machen, warum er in dieser konkreten Situation warten muss, ohne dass sich<br />
dieser als lästiger Bittsteller fühlt; proaktiv daran zu denken, dass die geringe<br />
Medikamentencompliance durch die Unterstützung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> kompensiert<br />
werden muss und nur ihre Information und Einbeziehung sicherstellt,<br />
dass <strong>der</strong> während <strong>der</strong> stationären Behandlung erreichte Erfolg auch langfristig<br />
aufrechterhalten und ausgebaut werden kann.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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20 21<br />
Kunde im Sinne dieser Denkrichtung ist schließlich auch <strong>der</strong> gegenwärtige<br />
Stand <strong>der</strong> wissenschaftlichen Erkenntnis: aus dem Fachwissen leiten sich ganz<br />
wesentliche Anfor<strong>der</strong>ungen über das „Wie“ des Behandlungsprozesses ab.<br />
Für das „Was“ des Behandlungszieles spielt das Fachwissen dagegen in <strong>der</strong><br />
heutigen Zeit eine weitaus geringere Rolle, als dies früher <strong>der</strong> Fall war: Kundenorientierung<br />
im Sinne <strong>der</strong> Respektierung <strong>der</strong> Patientenwünsche und <strong>der</strong><br />
informierten Zustimmung zu Behandlungseingriffen hat hier bereits den Stellenwert<br />
des Fachwissens für die Festlegung <strong>der</strong> Behandlungsziele verdrängt.<br />
War es früher noch üblich, dass <strong>der</strong> Arzt alleine aufgrund seines Fachwissens<br />
und einer herrschenden Fachmeinung entschied, ob und wie bestimmte Erkrankungen<br />
und Symptome zu behandeln sind, beschränkt sich heute diese<br />
Stellvertreterfunktion des Arztes – und des Betreuers! – auf einige wenige<br />
Konstellationen, in denen nach herrschen<strong>der</strong> Rechtsauffassung und fachlicher<br />
Erkenntnis krankheitsbedingt keine ausreichende natürliche Willensbildung<br />
mehr vorliegt. Kundenorientierung bedeutet deshalb nicht zwangläufig buchstabengetreues<br />
Umsetzen expliziter Patientenfor<strong>der</strong>ungen in je<strong>der</strong> Situation,<br />
son<strong>der</strong>n komplexe Abwägung aller Komponenten des vielfältigen situativen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungsspektrums; selbstverständlich wird <strong>der</strong> Arzt sich auch weiterhin<br />
<strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ung des depressiven o<strong>der</strong> wahnhaften Patienten nach Sterbehilfe<br />
verweigern und nötigenfalls nach Herstellung <strong>der</strong> rechtlichen Voraussetzungen<br />
auch gegen den Willen des Betroffenen behandeln; selbstverständlich<br />
Auch dieser Aspekt ist nicht trivial. Es wäre zwar im industriellen Bereich,<br />
im Handel und im Bereich kommerzieller Dienstleistungen kaum denkbar,<br />
dass ein Anbieter sich nicht um die Wahrnehmung – sprich: die Zufriedenheit<br />
seiner Kunden – als zentralem Parameter seines Geschäftserfolges kümmern<br />
würde. Theoretisch denkbar wird es allerdings dann, wenn dieser Anbieter<br />
Monopolist wäre, also kein marktüblicher Wettbewerb bestünde. In <strong>der</strong> vor<br />
16 Jahren überwundenen sozialistischen Planwirtschaft war dies Realität.<br />
Monopolleistungen und weitgehend fehlenden Wettbewerb haben wir allerdings<br />
auch im Krankenhausbereich. Haben Sie in <strong>der</strong> Notfallsituation Alternativen<br />
zu ihrem ortsnahen, aufnahmepflichtigen Bezirkskrankenhaus? Bekommt<br />
<strong>der</strong> depressive Patient in <strong>der</strong> vermeintlich besseren Psychiatrie in<br />
einem an<strong>der</strong>en Bezirk ohne weiteres und so schnell ein Bett? Der Umstand,<br />
dass wir mit unseren Krankenhausleistungen auch heute noch weitgehend<br />
Monopolisten sind und die <strong>psychisch</strong> Kranken kaum mit den Füßen über die<br />
erfahrene Qualität des Hauses abstimmen, indem Sie gegebenenfalls beim<br />
nächsten Mal woan<strong>der</strong>s hingehen, hat uns im Krankenhausbereich blind gemacht<br />
für die Qualitätswahrnehmung <strong>der</strong> Patienten, <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> und <strong>der</strong><br />
Lassen Sie mich zum Abschluss noch den zweiten eingangs erwähnten Aspekt<br />
<strong>der</strong> Kundenorientierung erläutern; er lautet: Es ist <strong>der</strong> Kunde, <strong>der</strong> den Grad<br />
<strong>der</strong> Erfüllung seiner eigenen Anfor<strong>der</strong>ungen und damit die Qualität <strong>der</strong> Behandlungsleistung<br />
zu beurteilen hat. Auf die Kundenwahrnehmung kommt es<br />
also an.<br />
dass unsere Patienten und unsere Mitarbeiter nicht durch mangelnden Brandschutz,<br />
mangelnde Arbeitssicherheitsbedingungen und mangelnde Hygiene<br />
gefährdet werden. Diese Vielschichtigkeit des Kundenbegriffs in <strong>der</strong> Medizin<br />
ist einer <strong>der</strong> vielen Unterschiede zur Industrie und zum Handel. Kundenorientierung<br />
bedeutet die Orientierung <strong>der</strong> Dienstleistung „Behandlung“ an den<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen dieser vielen, gerade genannten Kunden, nicht aber die Umbenennung<br />
<strong>der</strong> Menschen, die wir zu behandeln haben, von Patienten in<br />
Kunden. Es ist die Denkrichtung, die damit gemeint ist, und nicht die Bezeichnung,<br />
um die es geht.<br />
wird sich <strong>der</strong> Arzt auch weiterhin <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ung des hochgradig selbsto<strong>der</strong><br />
fremdgefährdenden Manikers auf sofortige Entlassung verweigern; und<br />
selbstverständlich wird <strong>der</strong> Arzt auch weiterhin den zu einer natürlichen<br />
Willensbildung nicht mehr befähigten, schwer Demenzkranken trotzdem behandeln.<br />
In dieser Stellvertreterfunktion für die Ermittlung des natürlichen<br />
Willens, die <strong>der</strong> Betroffene im gesunden Zustand wohl gehabt hätte, spielt natürlich<br />
die Einbeziehung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> eine wichtige Rolle.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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22 23<br />
Zusammenfassend hoffe ich Ihnen deutlich gemacht zu haben, dass Kundenorientierung<br />
ein zentraler Punkt des für Krankenhäuser (und übrigens auch<br />
Arztpraxen) gesetzlich vorgeschriebenen einrichtungsinternen Qualitätsmanagements<br />
ist. Entgegen erster emotionaler Wi<strong>der</strong>stände gegen ein weite-<br />
Kundenorientierung bedeutet demnach auch, dass die Qualitätswahrnehmung<br />
von Behandlung und Behandlungsumständen durch Patienten, Angehörige,<br />
Einweiser und Weiterbetreuende systematisch vom Krankenhaus wie auch<br />
vom nie<strong>der</strong>gelassenen Arzt erfasst wird und für die Bemühungen um kontinuierliche<br />
Verbesserung genutzt wird.<br />
Die Nichtbeachtung <strong>der</strong> Qualitätswahrnehmung des „Kunden“ Patient durch<br />
die behandelnden Ärzte hängt aber auch damit zusammen, dass diese regelhaft<br />
dem Patienten unterstellen, das ärztliche Können fachlich doch gar nicht<br />
beurteilen zu können. Das ist sicherlich richtig. Aber: kann ich das fachliche<br />
Können eines Jumbo-Piloten beurteilen, nachdem ich einen Flug gebucht<br />
habe? Kann ich das fachliche Können eines Software-Entwicklers beurteilen,<br />
nachdem ich ein Computer-Programm gekauft habe? Kann ich das fachliche<br />
Können eines Strafverteidigers beurteilen, nachdem ich ihn mit meiner Verteidigung<br />
beauftragt habe? Das kann ich nicht. Ich kann aber beurteilen, was<br />
am Schluss herauskommt, genauso wie <strong>der</strong> Patient, <strong>der</strong> Angehörige, <strong>der</strong> einweisende<br />
Arzt den wahrnehmbaren Anteil <strong>der</strong> Befindens- und Verhaltensnormalisierung<br />
beurteilen kann. Und hierauf kommt es dem Patienten und seinen<br />
Bezugspersonen letztlich an.<br />
einweisenden Ärzte. Än<strong>der</strong>n tut sich diese Situation allerdings bereits im Bereich<br />
<strong>der</strong> Psychosomatik, wo von den in <strong>der</strong> Regel landschaftlich schön gelegenen<br />
und vom tradierten schlechten Ruf <strong>der</strong> Psychiatrie unbelasteten Psychosomatischen<br />
Kliniken bereits annähernd die Hälfte aller stationären Behandlungen<br />
erbracht wird. Hier kann <strong>der</strong> Patient und <strong>der</strong> Einweiser wählen,<br />
hier ist Wettbewerb, und das ist auch gut so.<br />
res Ausufern des gesetzlichen Dschungels wird bei näherem Zusehen doch<br />
deutlich, dass die gesetzliche Verpflichtung zum Qualitätsmanagement ganz<br />
wesentliche Chancen mit sich bringt, das Denken und Handeln <strong>der</strong> Krankenhausmitarbeiter<br />
patientenorientiert weiterzuentwickeln. Dass dies noch nicht<br />
Realität ist und auch die Zertifizierung eines Qualitätsmanagementsystems<br />
noch keine Garantie dafür darstellt, dass eine solche Kultur bereits entwikkellt<br />
ist, brauche ich nicht weiter zu betonen. Gleichwohl ist es wichtig, die<br />
Idee <strong>der</strong> Kundenorientierung im Leitbild des Krankenhauses bzw. <strong>der</strong> Arztpraxis<br />
festzuschreiben, damit alle Mitarbeiter wissen, wohin sich die Kultur<br />
<strong>der</strong> Organisation entwickeln will.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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24 25<br />
Schaut man sich dann um nach den Möglichkeiten, die die Sozialsysteme bieten,<br />
fällt es oftmals schwer, die richtigen Hilfen zu finden. Denn das Bild<br />
vom Dschungel <strong>der</strong> Gesetze ist beson<strong>der</strong>s treffend im System <strong>der</strong> Hilfen <strong>der</strong><br />
sozialen Sicherheit, über das ich heute sprechen möchte: Es herrscht eine nur<br />
schwer zu überblickende Anzahl von gesetzlichen Regelungen, bei <strong>der</strong> man<br />
I. SGB II o<strong>der</strong> SGB XII? Auf die Erwerbsfähigkeit kommt es an<br />
Zwei unterschiedliche Systeme <strong>der</strong> Hilfe stehen zur Verfügung: das des<br />
SGB II mit dem sogenannten Arbeitslosengeld II, auch als „Hartz IV“ bekannt,<br />
und das an<strong>der</strong>e des SGB XII mit den Leistungen <strong>der</strong> Grundsicherung<br />
für nicht Erwerbsfähige und <strong>der</strong> Sozialhilfe. Schon die Frage, welche Hilfe in<br />
Frage kommt, ist bei Menschen mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung oft nicht einfach<br />
zu beantworten.<br />
Hilfen <strong>der</strong> sozialen Sicherheit für <strong>psychisch</strong> Kranke nach SGB II<br />
und SGB XII<br />
Wenn ein Familienmitglied <strong>psychisch</strong> erkrankt, dann ist davon regelmäßig die<br />
ganze Familie betroffen. Es ist eine Fülle von Fragestellungen, mit denen Angehörige<br />
<strong>psychisch</strong> erkrankter Menschen sich konfrontiert sehen. Zunächst<br />
sind es sicherlich die Fragen <strong>der</strong> medizinischen Betreuung, die im Vor<strong>der</strong>grund<br />
stehen: die Suche nach dem richtigen Arzt, <strong>der</strong> richtigen Therapie. Ist<br />
ein stationärer Aufenthalt nötig? Gibt es Möglichkeiten <strong>der</strong> ambulanten Betreuung?<br />
Neben den medizinischen Fragen treten dann auch die Fragen auf, wie die Situation<br />
wirtschaftlich gemeistert werden kann. Welche Hilfen gibt es?<br />
Ist es das eigene Kind, das an einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung leidet, so wird es<br />
vielleicht nach Abschluss <strong>der</strong> Schule nicht wie an<strong>der</strong>e eine Ausbildung o<strong>der</strong><br />
ein Studium beginnen, um bald auf eigenen Beinen zu stehen. Die Eltern fragen<br />
sich, ob sie ein Leben lang für ihr Kind aufkommen müssen. Welche Hilfen<br />
können sie in Anspruch nehmen?<br />
• Welche Hilfen gibt es nach SGB II, welche nach SGB XII?<br />
• Wann ist welches Gesetz anwendbar?<br />
• Was gilt für den Einsatz von eigenem Einkommen und Vermögen?<br />
• Wann können Angehörige vom Sozialleistungsträger finanziell herangezogen<br />
werden?<br />
• Welche Möglichkeiten <strong>der</strong> finanziellen Vorsorge haben Angehörige von<br />
Menschen mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung im Erbfall?<br />
Wir wollen heute versuchen, eine Bresche durch das Dickicht zu schlagen.<br />
Fragen, die bei Menschen mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung und <strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong><br />
erfahrungsgemäß immer wie<strong>der</strong> auftreten, sollen dabei den Schwerpunkt bilden:<br />
Und wer soll das bezahlen?<br />
Rechtsanwalt, München<br />
Raimund Blattmann<br />
leicht die Orientierung verlieren kann. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel<br />
eines einheitlichen Sozialgesetzbuches hat bisher zu keiner entscheidenden<br />
Vereinfachung geführt.<br />
Das System ist nicht nur verschlungen; wie in einem Dschungel breitet sich<br />
das Gestrüpp ständig weiter aus: Hastige Reformen in schneller Folge und in<br />
<strong>der</strong> Folge eine Flut von Gerichtsverfahren, die sich mit den vielen Unstimmigkeiten<br />
befassen, bestimmen das Bild. Als <strong>psychisch</strong> erkrankter Mensch o<strong>der</strong><br />
Angehöriger, <strong>der</strong> Hilfe sucht, muss man sich oftmals verloren fühlen in diesem<br />
Dschungel.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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26 27<br />
II. Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialgeld nach<br />
SGB II – Wer bekommt Leistungen?<br />
Mit dem am 1.1.2005 in Kraft getretenen SGB II wurde die frühere Arbeitslosenhilfe<br />
und die Sozialhilfe für Erwerbsfähige zusammengefasst. Leistungen<br />
sind insbeson<strong>der</strong>e das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld. An<strong>der</strong>s als die<br />
frühere Arbeitslosenhilfe orientiert sich die Höhe <strong>der</strong> Leistungen an dem pauschalierten<br />
Bedarf.<br />
Das bestimmende Motto des Gesetzes ist <strong>der</strong> Grundsatz des „For<strong>der</strong>ns und<br />
För<strong>der</strong>ns“.<br />
Welche Leistungen gibt es?<br />
Das Arbeitslosengeld II ist eine pauschalierte Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts<br />
von <strong>der</strong>zeit 345 € für Alleinstehende. Daneben werden die angemessenen<br />
Kosten <strong>der</strong> Unterkunft übernommen.<br />
Einmalige Leistungen sind weitgehend weggefallen bis auf wenige Ausnahmen,<br />
z.B. behin<strong>der</strong>ungsbedingter Mehrbedarf in Höhe von 35 % des Regelsatzes<br />
(§ 21 Abs. 4 SGB II).<br />
Besteht darüber hinaus ein unabweisbarer Mehrbedarf, so kann dieser nur<br />
durch ein Darlehen abgedeckt werden. Das Darlehen ist dann in <strong>der</strong> Folge in<br />
monatlichen Raten von bis zu 10% <strong>der</strong> Regelleistung, also 34,50 € bei Alleinstehenden,<br />
zurückzuzahlen.<br />
Darüber hinaus sind Bezieher von Arbeitslosengeld II gesetzlich kranken-,<br />
pflege- und rentenversichert.<br />
Absehbare Zeit meint einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten. Schon<br />
diese Prognose ist bei <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen oft schwer zu treffen. Psychische<br />
Erkrankungen verlaufen oft in Schüben; Phasen schwerer Erkrankung,<br />
in denen an eine Erwerbsfähigkeit nicht zu denken ist, wechseln sich ab mit<br />
Zeiten, in denen erkrankte Menschen durchaus in <strong>der</strong> Lage sind zu arbeiten.<br />
Im Zweifel müssen hierüber sachverständige Gutachter entscheiden. Bei Meinungsverschiedenheiten<br />
zwischen verschiedenen Leistungsträgern ist eine Einigungsstelle<br />
zur Entscheidung heranzuziehen. Bis zur Entscheidung <strong>der</strong> Einigungsstelle<br />
sind Leistungen nach SGB II zu erbringen; die Unklarheit soll<br />
sich also nicht zu Lasten des Hilfebedürftigen auswirken.<br />
Keine Leistung bei stationärer Unterbringung von mehr als sechs Monaten.<br />
Dies gilt aber nur bei vollstationärer Unterbringung. Betreutes Wohnen fällt<br />
in <strong>der</strong> Regel nicht darunter. Auch Internatsunterbringung gilt nicht als vollstationäre<br />
Unterbringung, wenn Wochenenden und Urlaub zuhause verbracht<br />
werden.<br />
Bedarfsgemeinschaften sind ein weiterer zentraler Begriff des Gesetzes. Gemeint<br />
sind Familien und nichteheliche Lebensgemeinschaften, die zusammen<br />
in häuslicher Gemeinschaft leben. Diese haben zunächst füreinan<strong>der</strong> einzustehen.<br />
Erst wenn das Einkommen und Vermögen <strong>der</strong> gesamten Bedarfsgemeinschaft<br />
für den Lebensunterhalt nicht ausreicht, besteht Anspruch auf Hilfeleistungen.<br />
Die entscheidende Weichenstellung ist hierbei <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Erwerbsfähigkeit.<br />
Für Erwerbsfähige kommen Hilfen nach SGB II in Betracht, für nicht<br />
Erwerbsfähige Hilfen nach SGB XII.<br />
Ob jemand erwerbsfähig ist, bemisst sich nach einer gesetzlichen Definition<br />
in §8 Abs.1 SGB II: „Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ung<br />
auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen<br />
des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten.“<br />
Wer ist anspruchsberechtigt?<br />
Personen im Alter zwischen 15 und 65 Jahren, die erwerbsfähig und hilfebedürftig<br />
sind, sowie die Personen, die mit erwerbsfähigen Personen in einer<br />
Bedarfsgemeinschaft leben. (§ 7 SGB II).<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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28 29<br />
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsmin<strong>der</strong>ung<br />
Der Leistungsumfang entspricht im wesentlichen <strong>der</strong> Hilfe zum Lebensunterhalt<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Sozialhilfe.<br />
Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass ein Rückgriff des Sozialhilfeträgers<br />
auf Eltern o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ausgeschlossen ist. Ausnahmsweise werden sie<br />
herangezogen, wenn sie über ein Einkommen von über 100.000 € im Jahr<br />
verfügen.<br />
Eigenes Einkommen ist bei <strong>der</strong> Hilfe zum Lebensunterhalt sowie bei <strong>der</strong><br />
Grundsicherung nach SGB XII unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Zuverdienstgrenzen<br />
vorrangig einzusetzen. Bei den an<strong>der</strong>en Hilfen nach SGB XII ist es oberhalb<br />
bestimmter Einkommensgrenzen (doppelter Regelsatz zuzügl. Kosten<br />
<strong>der</strong> Unterkunft) einzusetzen.<br />
Bei Arbeitslosengeld II ist ein Hinzuverdienst von 100 € ohne Anrechnung<br />
möglich. Darüber hinaus werden 80 % des Zuverdienstes auf die Hilfeleistung<br />
angerechnet.<br />
III. Sozialhilfe nach SGB XII<br />
Hilfe zum Lebensunterhalt für nicht Erwerbsfähige<br />
Die Regelsätze entsprechen im wesentlichen denen, die nach SGB II bezahlt<br />
werden. Daneben werden ebenfalls die angemessenen Kosten <strong>der</strong> Unterkunft<br />
übernommen. Unabweisbare Bedarfe können im Einzelfall zu einer Erhöhung<br />
des Regelsatzes führen.<br />
IV. Einsatz von Einkommen und Vermögen<br />
Nach dem so genannten Nachrangprinzip wird Sozialhilfe erst dann gewährt,<br />
wenn alle an<strong>der</strong>en Möglichkeiten <strong>der</strong> Selbsthilfe o<strong>der</strong> Hilfe durch an<strong>der</strong>e ausgeschöpft<br />
sind.<br />
Weiterhin können erbracht werden Leistungen für<br />
• die Betreuung min<strong>der</strong>jähriger o<strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ter Kin<strong>der</strong><br />
• die häusliche Pflege von <strong>Angehörigen</strong><br />
• Psychosoziale Betreuung<br />
• Suchtberatung<br />
• Einstiegsgeld<br />
Leistungen zur Einglie<strong>der</strong>ung in Arbeit<br />
soll gezahlt werden, um <strong>psychisch</strong> kranken Menschen die Aufnahme einer<br />
Beschäftigung zu ermöglichen. Im wesentlichen handelt es sich hierbei um<br />
Leistungen nach dem Arbeitsför<strong>der</strong>ungsrecht (SGB III), wie sie Arbeitslosengeldbeziehern<br />
gewährt werden. Diese Leistungen werden allerdings nur als<br />
Ermessensleistungen erbracht. D.h. es besteht in <strong>der</strong> Regel kein Rechtsanspruch<br />
auf eine bestimmte Leistung.<br />
Der Leistungsumfang dieser Leistungen wird von an<strong>der</strong>en Gesetzen bestimmt.<br />
So wird Hilfe zur Krankheit geleistet, wenn kein Versicherungsschutz in einer<br />
gesetzlichen Krankenversicherung besteht; <strong>der</strong> Leistungsumfang deckt sich<br />
mit dem <strong>der</strong> gesetzlichen Krankenversicherung. Entsprechendes gilt für die<br />
Hilfe zur Pflege und zur Weiterführung des Haushalts.<br />
Beson<strong>der</strong>e Bedeutung haben die im Rahmen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe geleisteten<br />
Hilfen zur Teilhabe am Leben in <strong>der</strong> Gemeinschaft für die psychiatrische<br />
Versorgung. Da es hier keinen vorrangigen Leistungsträger gibt, werden z.B.<br />
Einrichtungen des betreuten Wohnens häufig durch den Sozialhilfeträger<br />
finanziert.<br />
Sozialgeld<br />
erhalten die nichterwerbsfähigen <strong>Angehörigen</strong>, die mit erwerbsfähigen <strong>Angehörigen</strong><br />
in einer Bedarfsgemeinschaft leben.<br />
Weitere Leistungen nach SGB XII<br />
• Hilfe bei Krankheit<br />
• Einglie<strong>der</strong>ungshilfe für behin<strong>der</strong>te Menschen<br />
• Hilfe zur Pflege<br />
• Hilfe zur Weiterführung des Haushalts<br />
Landestreffen<br />
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30 31<br />
In <strong>der</strong> Regel kein Rückgriff bei ALG II und Grundsicherung nach<br />
SGB XII<br />
Erhält ein <strong>psychisch</strong> erkrankter Mensch Arbeitslosengeld II o<strong>der</strong> Leistungen<br />
<strong>der</strong> Grundsicherung bei Erwerbsmin<strong>der</strong>ung, kann er nur in Ausnahmefällen<br />
auf den Unterhalt durch Angehörige verwiesen werden.<br />
Auch vorhandenes Vermögen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> ist einzusetzen, falls das laufende<br />
Einkommen zur Erfüllung <strong>der</strong> Unterhaltsverpflichtung nicht ausreicht.<br />
V. Heranziehung von <strong>Angehörigen</strong><br />
Nach dem bereits erwähnten Nachrangprinzip <strong>der</strong> Sozialhilfe müssen alle an<strong>der</strong>en<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Hilfe vorrangig eingesetzt werden. Zu den vorrangigen<br />
Leistungen gehört auch <strong>der</strong> Unterhalt, den Angehörige zu leisten haben.<br />
Nach dem BGB sind Verwandte ersten Grades, das sind Kin<strong>der</strong> und Eltern,<br />
einan<strong>der</strong> zum Unterhalt verpflichtet.<br />
Verfügt ein <strong>psychisch</strong> erkrankter Mensch selbst über kein ausreichendes Einkommen<br />
und auch kein anrechenbares Vermögen, so werden ihm auf Antrag<br />
Leistungen <strong>der</strong> Sozialhilfe gewährt. Soweit daneben Unterhaltspflichten von<br />
<strong>Angehörigen</strong> bestehen, kann <strong>der</strong> Sozialhilfeträger bei Ihnen Rückgriff nehmen;<br />
er for<strong>der</strong>t das geleistete Geld von Ihnen zurück. Dabei muss <strong>der</strong> sogenannte<br />
Selbstbehalt berücksichtigt werden: das ist <strong>der</strong> Betrag, <strong>der</strong> den <strong>Angehörigen</strong><br />
für ihren eigenen Unterhalt zugestanden wird. Er liegt vereinfacht bei<br />
1.400 € plus 1.050 € für den Ehegatten. Von dem darüber hinausgehenden<br />
Teil ist die Hälfte für den Unterhalt des Kindes aufzubringen.<br />
Kin<strong>der</strong>geld ist eigentlich „Elterngeld“<br />
Die Bezeichnung „Kin<strong>der</strong>geld“ ist eigentlich irreführend. Treffen<strong>der</strong> müsste<br />
es als „Elterngeld“ bezeichnet werden, da es sich um Einkommen <strong>der</strong> Eltern<br />
handelt. Es dient dazu, sie bei <strong>der</strong> Erbringung ihrer vielleicht lebenslang bestehenden<br />
Unterhaltspflicht gegenüber ihren Kin<strong>der</strong>n zu unterstützen.<br />
Nur wenn Eltern das Kin<strong>der</strong>geld z.B. durch einen Dauerüberweisungsauftrag<br />
an das Kind weiterleiten, wird es zum Einkommen des Kindes. Davon ist dringend<br />
abzuraten, wenn das Kind Sozialleistungen bezieht, die in <strong>der</strong> Folge um<br />
diesen Betrag gekürzt werden.<br />
Auch bei stationärer Unterbringung des Kindes besteht weiter Anspruch auf<br />
Kin<strong>der</strong>geld. Einer Abzweigung des Kindes auf den Sozialhilfeträger, wie es<br />
immer wie<strong>der</strong> versucht wird, sollte man unbedingt wi<strong>der</strong>sprechen und sich<br />
mit Rechtsmitteln wehren. Die Abzweigung ist in <strong>der</strong> Regel rechtswidrig, da<br />
sie nur erfolgen darf, soweit von den Eltern keinerlei Unterhaltsleistungen erbracht<br />
werden (vgl. Beitrag des Verfassers in <strong>der</strong> Oktoberausgabe 2006 von<br />
unbeirrbar).<br />
VI. Kin<strong>der</strong>geld<br />
Auch Kin<strong>der</strong>geld ist Einkommen und wird bei <strong>der</strong> Prüfung <strong>der</strong> Bedürftigkeit<br />
berücksichtigt. Kin<strong>der</strong>geld wird auch über das 27. Lebensjahr hinaus gezahlt,<br />
wenn das Kind wegen einer körperlichen, geistigen o<strong>der</strong> seelischen Behin<strong>der</strong>ung<br />
seinen eigenen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann.<br />
Auch eigenes Vermögen ist aufzubrauchen, bevor Sozialleistungen beantragt<br />
werden können. Bestimmte Vermögensgegenstände werden aber geschont.<br />
Das wichtigste Schonvermögen ist das selbst genutzte Hausgrundstück, das<br />
nicht verwertet werden muss. Im SHB II gibt es mehrere Möglichkeiten <strong>der</strong><br />
Altersvorsorge, die erhalten werden können und so im Alter bereit stehen. Es<br />
ist dringend anzuraten, sich bereits vor <strong>der</strong> Antragstellung umfassend beraten<br />
zu lassen; durch rechtzeitige gezielte Umschichtung können Vermögenswerte<br />
erhalten und somit eine Absicherung im Alter erreicht werden.<br />
Ausnahme bei Leistungen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe<br />
Eine Ausnahme gilt auch, wenn volljährige <strong>psychisch</strong> erkrankte Menschen<br />
Leistungen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe o<strong>der</strong> Hilfe zur Pflege erhalten.<br />
Angehörige werden in diesen Fällen nur mit einem Pauschalbetrag von 26 €<br />
herangezogen. Werden zusätzlich Hilfen zum Lebensunterhalt geleistet, kann<br />
eine weitere Pauschale in Höhe von 20 € von den unterhaltspflichtigen <strong>Angehörigen</strong><br />
verlangt werden.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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32 33<br />
Durch ein so genanntes Behin<strong>der</strong>tentestament können die geschil<strong>der</strong>ten negativen<br />
Auswirkungen in vielen Fällen vermieden werden.<br />
Aufgrund dieser Situation versuchen viele Eltern, eine Art Altersvorsorge zugunsten<br />
des erkrankten Kindes über Lebensversicherungen, Sparbücher o<strong>der</strong><br />
Wohnrechte zu schaffen. In <strong>der</strong> Regel hilft diese Altersversorgung dem Kind<br />
aber nicht weiter, weil <strong>der</strong> Sozialhilfeträger solche Vermögen einziehen kann,<br />
so dass dem Kind nur wenig o<strong>der</strong> gar nichts von dem Ersparten bleibt. Darüber<br />
hinaus verlangt <strong>der</strong> Sozialhilfeträger vom überlebenden Ehegatten o<strong>der</strong> Lebenspartner<br />
den Erbanteil bzw. den Pflichtteil des Kindes heraus. Das kann<br />
namentlich dann, wenn das Vermögen <strong>der</strong> Eltern im wesentlichen aus einer<br />
selbst genutzten Immobilie besteht, zu sehr unangenehmen Konsequenzen<br />
zulasten des überlebenden Ehegatten bzw. Lebenspartners führen.<br />
Ich hoffe, Ihnen in <strong>der</strong> kurzen Zeit einen gewissen Überblick verschafft zu<br />
haben über diese sehr unübersichtliche Materie und Ihnen einen Leitfaden zur<br />
Orientierung im Dschungel <strong>der</strong> Gesetze an die Hand gegeben zu haben, und<br />
bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Im Rahmen des heutigen Vortrags muss ich es bei diesem kurzen Hinweis auf<br />
die Möglichkeiten dieser Art <strong>der</strong> Vorsorge belassen. Im Einzelfall ist eine eingehende<br />
Beratung unerlässlich, da es sich um eine hochkomplexe Materie<br />
handelt und Fehler zum Wegfall des Vermögens führen können.<br />
VII. Möglichkeiten <strong>der</strong> Vorsorge – das „Spezialtestament für<br />
Eltern von Kin<strong>der</strong>n mit Behin<strong>der</strong>ung“<br />
Die Situation von Eltern <strong>psychisch</strong> erkrankter Kin<strong>der</strong> ist durch eine lebenslange<br />
Sorge um die Kin<strong>der</strong> gekennzeichnet.<br />
Mit zunehmendem Alter taucht oft die Frage auf: Wer kümmert sich nach unserem<br />
Tod so intensiv um unser Kind? Wer nimmt es mit in den Urlaub? Wer<br />
nimmt es mit zu Veranstaltungen? Wer stellt das bisherige Lebensniveau unseres<br />
Kindes immateriell und materiell sicher? Das soziale Netz kann diese Aufgabe<br />
in Zeiten des Sparzwangs immer weniger befriedigend lösen.<br />
Eltern <strong>psychisch</strong> erkrankter Kin<strong>der</strong> wissen daher inzwischen, dass sie eine<br />
Art Altersversorgung für ihr erwachsenes Kind aufbauen müssen, wenn sie<br />
dessen jetzigen Lebensstandard nach ihrem eigenen Versterben sichern wollen.<br />
So gilt es, für das eigene Kind Mittel beiseite zu legen, die es z.B. ermöglichen,<br />
von den Kassen nicht bezahlte Therapien zu sichern und eine angemessene<br />
Bekleidung sowie Urlaubsfahrten zu finanzieren.<br />
Da <strong>der</strong> Testamentsvollstrecker nur an die Bestimmungen <strong>der</strong> Erblasser gebunden<br />
ist, kann <strong>der</strong> Sozialhilfeträger nicht von ihm den Einsatz des Erbteils des<br />
Kindes mit <strong>psychisch</strong>er Erkrankung für solche Maßnahmen verlangen, die<br />
<strong>der</strong> Sozialhilfeträger zu tragen hätte.<br />
Der Schutz des Erbteils des Kindes wird dabei auf zweierlei Weise erreicht:<br />
durch die Anordnung <strong>der</strong> Testamentsvollstreckung und die Anordnung <strong>der</strong><br />
Vor- und Nacherbschaft.<br />
Der Testamentsvollstrecker hat die Aufgabe, den Nachlass zu verwalten und<br />
bei einer Erbengemeinschaft ggf. die Erbauseinan<strong>der</strong>setzung unter den Erben<br />
vorzunehmen. Die Erblasser müssen ausdrücklich die Anordnung treffen, dass<br />
das Erbe nur dazu verwendet werden soll, dem <strong>psychisch</strong> erkrankten Kind<br />
einen Lebensstandard über dem Sozialhilfeniveau zu ermöglichen. Zudem<br />
muss ausdrücklich geregelt sein, dass <strong>der</strong> Testamentsvollstrecker nicht berechtigt<br />
ist, durch seine Zahlungen den Sozialhilfeträger zu entlasten.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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34 35<br />
zunächst möchte ich ganz herzliche Grüße überbringen von unserem Rehabilitations-<br />
und Heimleiter Herrn Bräuning-Edelmann, <strong>der</strong> lei<strong>der</strong> aus terminlichen<br />
Gründen heute nicht selbst hier sein kann und den ich heute die Ehre<br />
habe zu vertreten.<br />
Zu meiner Person: Seit über 10 Jahren lebe ich mit meiner Familie in Herzogsägmühle.<br />
Nach dem Abschluss des Sozialpädagogik-Studiums habe ich zunächst<br />
einige Jahre im damaligen „För<strong>der</strong>ungslehrgang“ <strong>der</strong> Herzogsägmühle<br />
gearbeitet, bevor ich vor nun fast 4 Jahren die Leitung <strong>der</strong> heutigen „BVB“<br />
(berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme) übernommen habe.<br />
Wir in Herzogsägmühle verstehen uns als „Ort zum Leben“, als ein Teil <strong>der</strong><br />
Gemeinde Peiting im Landkreis Weilheim-Schongau und nicht als Einrichtung.<br />
Dieses Selbstverständnis nach außen zu tragen ist uns ein wichtiges Anliegen,<br />
an dem wir ständig mit viel Energie arbeiten, und wir sind stolz darauf,<br />
den dörflichen Charakter erhalten zu können, trotz einem großen, breitgefächerten<br />
und mo<strong>der</strong>nen Hilfsangebot. Hierzu gehören neben einem großen<br />
therapeutisch-pädagogischen Wohnbereich mit Wohngemeinschaften für<br />
Jugendliche auch eine Haupt- und eine Berufsschule zur individuellen Lernför<strong>der</strong>ung,<br />
gut 40 Ausbildungsberufe, die hier in eigenen Betrieben gelehrt<br />
1. Medizinische und berufliche Rehabilitation für Menschen mit<br />
seelischer Erkrankung in Herzogsägmühle<br />
Seit nunmehr 20 Jahren finden Menschen mit einer seelischen Erkrankung in<br />
Herzogsägmühle die Möglichkeit zur <strong>psychisch</strong>en Stabilisierung, zu einer<br />
Steigerung ihres Leistungsvermögens und einer Erweiterung ihrer sozialen<br />
und persönlichen Kompetenzen. Für diese Hilfe stehen in Herzogsägmühle<br />
60 Plätze zur Verfügung.<br />
Am Beispiel des Rehabilitationszentrums für Menschen mit seelischer Erkrankung<br />
„Häuser am Latterbach“ und im zweiten Teil meiner Ausführungen<br />
auch mit Blick auf eine berufliche Rehabilitation im „BVB – berufsvorbreitende<br />
Bildungsmaßnahme für Menschen mit seelischer Erkrankung“ (Son<strong>der</strong>lehrgang)<br />
in Herzogsägmühle möchte ich Ihnen den Ablauf und die Kostenträgersituation<br />
in den unterschiedlichen Bereichen <strong>der</strong> Rehabilitation aufzeigen.<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
sehr geehrte Vertreter <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>,<br />
sehr geehrte Tagungsgäste,<br />
Medizinische und berufliche Rehabilitation für<br />
Menschen mit seelischer Erkrankung<br />
in Herzogsägmühle<br />
Dipl.- Sozialpädagogin (FH),<br />
Leiterin <strong>der</strong> Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme Herzogsägmühle<br />
Trude Tahlheimer-Hein<br />
werden, eine Werkstatt für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung, dazu zählt auch ein<br />
eigener Bereich für Menschen mit einer seelischen Erkrankung, Wohngruppen<br />
für Menschen mit geistiger Behin<strong>der</strong>ung, therapeutische Einrichtungen für<br />
Menschen mit Suchtproblemen sowie ein Altenheim. Und selbstverständlich<br />
das Rehabilitationszentrum für Menschen mit einer seelischen Erkrankung<br />
mit 60 Plätzen, seit über 10 Jahren auch ein Son<strong>der</strong>lehrgang für Menschen<br />
mit seelischer Erkrankung „BVB – berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme“<br />
mit <strong>der</strong> Möglichkeit zur beruflichen Orientierung und Vorbereitung auf Ausbildung<br />
und Berufstätigkeit am Arbeitsmarkt mit 14 Plätzen. Mit über 850<br />
Mitarbeitern zählt Herzogsägmühle zu den größten Arbeitgebern <strong>der</strong> Region.<br />
Anmerken möchte ich, dass unser Weihnachtsmarkt jeweils am 1. Advents-<br />
Wochenende o<strong>der</strong> zum Dorffest jeweils am 1. Juli-Wochenende gute Gelegenheiten<br />
bieten, die Herzogsägmühler und die Dorfgemeinschaft kennen zu<br />
lernen, und ich möchte Sie schon heute dazu herzlich einladen.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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36 37<br />
Ablauf <strong>der</strong> medizinischen Rehabilitation<br />
Im Anschluss an einen Klinikaufenthalt in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus,<br />
aber auch nach Empfehlung durch einen nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiater<br />
erfolgt in <strong>der</strong> Regel eine erste Kontaktaufnahme <strong>der</strong> Rehabilitanden mit <strong>der</strong><br />
Aufnahme unseres Rehabilitationszentrums.<br />
• Jeweils am letzten Dienstag eines Monats findet ein „Offener Info-Tag“<br />
im Rehabilitationszentrum statt. In <strong>der</strong> Zeit von 13.00 bis 15.00 Uhr haben<br />
Betroffene und Angehörige die Möglichkeit, sich vor Ort über die<br />
Arbeit des Rehabilitationszentrums zu informieren. Optional können<br />
auch ein Rehabilitandenzimmer sowie die weiteren Räumlichkeiten des<br />
Rehabilitationszentrums, abwechselnd auch einige Fachbereiche, wie<br />
Ergotherapie o<strong>der</strong> BVB, besichtigt werden. Eine Anmeldung zum Info-<br />
Tag über die Aufnahme <strong>der</strong> „Häuser am Latterbach“ ist erwünscht, aber<br />
nicht zwingend notwendig.<br />
• Bei <strong>der</strong> medizinischen Rehabilitation handelt es sich um eine vollstationäre<br />
Maßnahme, die in <strong>der</strong> Regel für die Dauer von 12 Monaten beantragt<br />
und von den Kostenträgern auch genehmigt wird. Anmeldeformulare<br />
können über das Internet o<strong>der</strong> direkt über Frau Benner bezogen werden.<br />
• Während <strong>der</strong> medizinischen Rehabilitation wohnen die Betroffenen in<br />
Wohngruppen mit bis zu 20 Bewohnern. In jedem Gruppenhaus gibt es<br />
ein Doppelzimmer, im Regelfall bewohnen die Rehabilitanden ein Einzelzimmer<br />
mit Nasszelle. Die Mahlzeitenversorgung erfolgt zunächst<br />
zentral, kann aber individuell an die Möglichkeiten des Rehabilitanden<br />
angepasst werden. Die Betreuung <strong>der</strong> Rehabilitanden erfolgt nach dem<br />
Bezugspersonen-Prinzip.<br />
• Selbstzahler erfahren die Kostensätze über den Rehabilitationsleiter.<br />
• Die Kolleginnen <strong>der</strong> Aufnahme <strong>der</strong> Häuser am Latterbach sind Ihnen<br />
gerne bei <strong>der</strong> Klärung <strong>der</strong> Kostenübernahme durch Krankenversicherung<br />
o<strong>der</strong> Rentenversicherungsträger (DRV Bund/ DRV Land) o<strong>der</strong> den überörtlichen<br />
Sozialhilfeträger behilflich.<br />
• Eine detaillierte „Vermögensberatung“ für Angehörige kann jedoch von<br />
unserer Seite her nicht erfolgen.<br />
Kosten<br />
Organisationsstruktur<br />
Fachbereichsleiter: Herr Dr. Harald Flatz, Psychiater<br />
Heim- und Rehabilitationsleiter: Herr Michael Bräuning-Edelmann<br />
Leiterin Aufnahme: Frau <strong>Eva</strong> Benner<br />
• Im Rahmen einer Aufnahmegruppe haben neue Rehabilitanden die Gelegenheit,<br />
hier anzukommen, sich zu orientieren und ihre lebenspraktischen<br />
Fähigkeiten zu erweitern und zu vertiefen. Die körperliche und<br />
<strong>psychisch</strong>e Leistungsfähigkeit sowie die sozialen Kompetenzen werden<br />
gefestigt und erweitert.<br />
• Nach einer Eingewöhnungs- und Stabilisierungs-Phase können die Rehabilitanden<br />
am Programm <strong>der</strong> Beschäftigungstherapie teilnehmen. Ziel<br />
ist <strong>der</strong> Erhalt und die Steigerung <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit, um den Rehabilitanden<br />
die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.<br />
• Begleitend findet regelmäßige Reha-Beratung, insbeson<strong>der</strong>e auch in bezug<br />
auf die berufliche Rehabilitation durch spezialisierte Mitarbeiter,<br />
aber auch im Rahmen von „In-House-Beratung“ durch den jeweiligen<br />
Kostenträger statt.<br />
• Sport und Entspannungstraining werden kontinuierlich angeboten.<br />
• Regelmäßige qualifizierte psychiatrische, ärztliche, psychologische und<br />
sozialpädagogische Betreuung und Begleitung sind obligatorisch.<br />
• Der Übergang in eine berufliche Tätigkeit bzw. in eine berufliche Vorbereitungsmaßnahme<br />
sowie die lebenspraktische Verselbständigung werden<br />
vom Reha-Team in Zusammenarbeit mit dem Rehabilitanden sorgfältig<br />
vorbreitet und begleitet.<br />
• Auf Wunsch und in Absprache mit den Rehabilitanden werden Angehörige<br />
gerne in die Arbeit des Reha-Zentrums miteinbezogen.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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38 39<br />
Ablauf <strong>der</strong> beruflichen Rehabilitation<br />
• Nach erfolgter Medizinischer Rehabilitation können geeignete Teilnehmer<br />
von Juli bis Dezember jeden Jahres die BVB- Maßnahme beginnen.<br />
Ziel <strong>der</strong> Maßnahme ist eine Stabilisierung <strong>der</strong> Arbeitsbelastbarkeit auf<br />
bis zu 8 Stunden, eine Verbesserung <strong>der</strong> Integrationschancen auf dem<br />
Arbeitsmarkt o<strong>der</strong> die Vorbereitung auf eine Ausbildung.<br />
• Nach einer 3-wöchigen Eignungsanalyse erfolgt <strong>der</strong> erste Kontakt mit<br />
dem Kostenträger zur Bestätigung <strong>der</strong> Eignung des Rehabilitanden für<br />
die BVB- Maßnahme.<br />
• Im Rahmen <strong>der</strong> anschließenden 4-monatigen Grundstufe hat <strong>der</strong> Rehabilitand<br />
die Möglichkeit, sich in bis zu 4 Arbeitsfel<strong>der</strong>n zu erproben,<br />
Eignung und Neigung festzustellen. Die angebotenen Bereiche umfassen:<br />
Holz/Handwerk, Garten, Büro/Verwaltung, Hauswirtschaft.<br />
• Die För<strong>der</strong>stufe dient zur zielgerichteten Vertiefung <strong>der</strong> erworbenen<br />
Fähigkeiten mit dem Ziel, eine Ausbildung o<strong>der</strong> Berufstätigkeit aufzu-<br />
Kosten<br />
• Selbstzahler erfahren die Kostensätze für BVB-Maßnahme und Internat<br />
über die Lehrgangsleitung.<br />
• In <strong>der</strong> Regel trägt <strong>der</strong> Kostenträger sowohl die Kosten für die BVB -<br />
Maßnahme als auch für die internatsmässige Unterbringung.<br />
• Wurde die medizinische Rehabilitation von <strong>der</strong> Krankenkasse gezahlt,<br />
wird i.d.R. das Heimatarbeitsamt des Rehabilitanden für die Kostenübernahme<br />
<strong>der</strong> Beruflichen Rehabilitation zuständig sein.<br />
• Wurde die medizinische Rehabilitation von einem Rentenversicherungsträger<br />
gezahlt, wird dieser auch i.d.R. für die Kostenübernahme <strong>der</strong> beruflichen<br />
Rehabilitation zuständig sein.<br />
In jedem Fall erfolgt eine entsprechende Beratung und Hilfestellung bei <strong>der</strong><br />
empfohlenen Anschlussmaßnahme durch die Bezugspersonen.<br />
Dies gilt ebenfalls für die möglichen Anschlussmaßnahmen nach Beendigung<br />
des BVB- Lehrgangs.<br />
Organisationsstruktur<br />
Fachbereichsleiter: Herr Dr. Harald Flatz, Psychiater<br />
BVB Lehrgangsleitung: Frau Trude Thalheimer-Hein<br />
2. Berufliche Rehabilitation für Menschen mit einer seelischen<br />
Erkrankung in Herzogsägmühle am Beispiel <strong>der</strong> Berufsvorbereitenden<br />
Bildungsmaßnahme (BVB)<br />
Seit über 10 Jahren bietet Herzogsägmühle Menschen mit einer seelischen<br />
Erkrankung im Rahmen einer speziellen „Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme“<br />
die Möglichkeit <strong>der</strong> beruflichen Orientierung sowie eine gezielte<br />
Vorbereitung auf die Anfor<strong>der</strong>ungen einer Berufstätigkeit o<strong>der</strong> Ausbildung<br />
an. Für diese Hilfe stehen in Herzogsägmühle 14 Plätze zur Verfügung.<br />
Nach erfolgreichem Abschluss <strong>der</strong> BVB kann bei entsprechen<strong>der</strong> Eignung<br />
eine Ausbildung in Herzogsägmühle absolviert werden. Wir bieten auch die<br />
sog. „Fachwerker“-Ausbildungsgänge an, die für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
entsprechende Lern- und Prüfungs-Hilfestellungen ermöglichen.<br />
nehmen. Im Rahmen von begleiteten Praktika in Herzogsägmühler Betrieben<br />
o<strong>der</strong> in Betrieben in an<strong>der</strong>en Orten haben die Rehabilitanden die<br />
Möglichkeit, ihre erworbenen Fähigkeiten und Vorstellungen an <strong>der</strong> Realität<br />
des Arbeitsalltags zu messen.<br />
• Im Rahmen des pädagogisch-therapeutischen Begleitprogramms haben<br />
Rehabilitanden die Möglichkeit, Schulkenntnisse aufzufrischen und zu<br />
vertiefen, an einem spezifischen Bewerbungstraining teilzunehmen.<br />
Auch Stressmanagement, Kommunikationstraining, Projektarbeit und<br />
Sport gehören zum Begleitprogramm.<br />
• Psychiatrische, psychologische, therapeutische und pädagogische Begleitung<br />
sind obligatorisch und zeichnen die Herzogsägmühler Berufsvorbereitende<br />
Bildungsmaßnahme beson<strong>der</strong>s aus.<br />
• Die Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zeichnet sich neben dem<br />
o.g. Programm weiter durch eine enge Zusammenarbeit mit dem zugehörigen<br />
Internatsbereich aus. Da als „integrierte Maßnahme“ konzipiert,<br />
ist die internatsmässige Unterbringung obligatorisch.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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40 41<br />
Ausbildung<br />
über 60 Berufe in Herzogsägmühle<br />
außerhalb von Herzogsägmühle<br />
schulische Ausbildung<br />
Arbeitsmarkt<br />
I+S<br />
Integration und Service<br />
Selbsthilfefirma<br />
Werkstatt für Behin<strong>der</strong>te<br />
BVB<br />
Hinführung zur Ausbildungs- u. Berufsreife<br />
Leistungs- und Fähigkeitsdiagnostik<br />
Vorbereitung <strong>der</strong> weiteren berufl. Einglie<strong>der</strong>ung<br />
BBM<br />
spezielles Berufstraining für Menschen<br />
mit seelischer Erkrankung<br />
Arbeitstraining<br />
Medizinische Reha<br />
Psychische Stabilisierung<br />
Steigerung des leistungsvermögens<br />
Erweiterung sozialer und persönlicher Kompetenzen<br />
Von Anfang an sind es die nahen <strong>Angehörigen</strong>, die auf vielfältige Weise versuchen,<br />
die Krankheitsfolgen zu überwinden o<strong>der</strong> zu mil<strong>der</strong>n. Ihre oft jahre-,<br />
ja mitunter jahrzehntelange Begleitung besteht nicht nur in <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> mitfühlenden,<br />
ermutigenden, hilfsbereiten, alles aus dem Wege räumenden Begleiter,<br />
zeitweise unterstützen sie die Therapien und motivieren zum Durchhalten,<br />
und sie vertreten die Interessen des <strong>psychisch</strong> kranken, hilfebedürftigen<br />
Familienmitglieds bei Fragen <strong>der</strong> Behandlung, <strong>der</strong> Rehabilitation, bei Be-<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> beruflichen Rehabilitation in Herzogsägmühle<br />
3. Zusammenfassung<br />
Wenn gewünscht, erfolgt die Rehabilitation von Menschen mit einer seelischen<br />
Erkrankung in Herzogsägmühle auf <strong>der</strong> Basis langjähriger Erfahrung<br />
„unter einem Dach“.<br />
Das bietet insbeson<strong>der</strong>e für die Rehabilitanden viele Vorteile:<br />
• Es kann jeweils ein umfassende Reha-Beratung erfolgen, ebenso wie<br />
Hilfestellung bzw. Übernahme <strong>der</strong> Kostenklärung vor Aufnahme ins<br />
Rehabilitationszentrum.<br />
• Aufgebaute soziale Bezüge bleiben stabil, ebenso wie behandelnde Ärzte<br />
und Therapeuten.<br />
• Entwicklungsschritte und -schwankungen können auf dem Erfahrungshintergrund<br />
einer längerfristigen Arbeit mit dem jeweiligen Rehabilitanden<br />
eingeschätzt und objektiviert werden.<br />
• Entwicklungen im lebenspraktischen wie im beruflichen Bereich können<br />
unabhängig voneinan<strong>der</strong> individuell angepasst vollzogen werden.<br />
Zum Ende meiner Ausführungen darf ich Sie nochmals herzlich einladen, den<br />
unverbindlichen Informationstag des Rehabilitationszentrums zu besuchen<br />
o<strong>der</strong> gerne einen Termin zur Einzelberatung mit meinen Kolleginnen o<strong>der</strong> mir<br />
zu vereinbaren.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Trotz aller Fortschritte bei <strong>der</strong> Behandlung und Rehabilitation <strong>psychisch</strong> kranker<br />
Menschen bleibt eine nicht geringe Anzahl <strong>der</strong> Betroffenen auf emotionale,<br />
för<strong>der</strong>nde und ganz praktische Unterstützung angewiesen. Ihnen fällt es<br />
schwer, wie<strong>der</strong> „ins Leben zurückzukehren“, teilzuhaben an Angeboten und<br />
Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens. Irrationale Ängste, depressive Verstimmungen,<br />
Rückzug und Vermeiden von sozialen Kontakten, Wahrnehmungsstörungen<br />
mit Beeinträchtigungen des Urteilsvermögens sind nur einige<br />
krankheitsbedingte Beson<strong>der</strong>heiten <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen, die einer<br />
vielleicht zeitlich begrenzten Unterstützung bedürfen. Es zählt zu den Beson<strong>der</strong>heiten<br />
<strong>psychisch</strong>er Erkrankungen, dass die Erkrankten ihre ganz persönlichen<br />
und erhalten gebliebenen Fähigkeiten, ihre Begabungen und Talente<br />
nicht wirklich nutzen können.<br />
Sozialer Dschungel und die <strong>Angehörigen</strong> mittendrin<br />
Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />
Landestreffen<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong><br />
Gesetzesdschungel<br />
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42 43<br />
Bei <strong>der</strong> Interessenvertretung und bei <strong>der</strong> Einfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Rechte <strong>der</strong> Betroffenen<br />
stoßen Angehörige auf eine Fülle von Gesetzen: Sozialhilfegesetze,<br />
Versicherungsgesetze, Gesundheitsgesetze, Arbeitsgesetze, Datenschutzgesetze,<br />
Betreuungsgesetze, hoheitliche Gesetze, Strafgesetze, Gleichbehandlungsgesetze<br />
und viele an<strong>der</strong>e mehr. Diese Gesetze sind in unterschiedlichen<br />
Gesetzbüchern angesiedelt. Manche Themenbereiche befinden sich gleichzeitig<br />
in mehreren Gesetzbüchern. Welches davon zuständig ist, hängt von vielen<br />
Dingen ab, z.B. von <strong>der</strong> gesundheitlichen Situation <strong>der</strong> betreffenden Person,<br />
seiner sozialen Lage und von <strong>der</strong> Verquickung mit an<strong>der</strong>en rechtlichen<br />
Fragen. Also ein rechter Dschungel <strong>der</strong> Gesetze, <strong>der</strong> für Laien oft nur schwer<br />
zu durchschauen ist?<br />
Gleicher Schutz für alle durch Gesetze<br />
Uns Angehörige beschleicht zudem dann und wann das Gefühl, für <strong>psychisch</strong><br />
Kranke würden manche Gesetze nicht gelten. Und bei manchen Gesetzen, so<br />
meinen Angehörige, gibt es Lücken, was die Berücksichtigung <strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>heiten<br />
<strong>psychisch</strong> kranker Menschen anbelangt. Beruht diese Wahrnehmung<br />
auf Tatsachen, o<strong>der</strong> hat das vielleicht damit zu tun, dass <strong>psychisch</strong> kranke<br />
Menschen und wir <strong>Angehörigen</strong> im Laufe <strong>der</strong> Zeit sehr sensibel in Bezug auf<br />
Ungerechtigkeiten ihnen gegenüber geworden sind? Vergleichen wir vielleicht<br />
argwöhnischer als früher, wie wir behandelt werden und wie die an<strong>der</strong>en?<br />
Das wäre nicht gut – für uns nicht und für unsere gesellschaftliche Situation<br />
nicht! Wir würden verbittern, traumatisierten uns selber, würden gesellschaftliche<br />
Kontakte meiden und würden schließlich selber krank.<br />
Wenn wir versuchen Gesetze, die mit Gleichstellung und Gleichbehandlung<br />
zu tun haben, daraufhin zu überprüfen, müssen wir tatsächlich feststellen,<br />
dass die Beson<strong>der</strong>heiten <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen so gut wie keine Beachtung<br />
finden. Das bedeutet für die Betroffenen und ihre <strong>Angehörigen</strong> eine Be-<br />
Konflikte bei Interessenvertretung<br />
Angehörige, die sich Klarheit verschaffen wollen über die Rechte ihres <strong>psychisch</strong><br />
erkrankten Familienmitglieds und über ihre eigenen, das heißt also<br />
über die <strong>der</strong> ganzen Familie, und die diese dann auch wahrzunehmen versuchen,<br />
erleben nicht selten, dass es zu Konflikten kommt, die ohne Heranziehung<br />
von Gesetzen und unter Umständen auch von Gerichten nicht zu lösen<br />
sind. Individualinteressen stoßen auf die an<strong>der</strong>er Personen, auf die Interessen<br />
von Einrichtungen o<strong>der</strong> die des Staates.<br />
Das bedeutet nun nicht unbedingt, dass immer gleich die Gerichte bemüht<br />
werden müssen. Sich aber allein auf sein Gefühl o<strong>der</strong> den eigenen Gerechtigkeitssinn<br />
o<strong>der</strong> den <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu verlassen, seinem logischen Verstand zu<br />
folgen o<strong>der</strong> zu denken „Das war doch immer so“, kann schlimme Überraschungen<br />
bringen. Die Folgen für den Kranken und seine Familie verän<strong>der</strong>n<br />
und erschweren die Existenz möglicherweise dauerhaft.<br />
Schutz und Sicherheit durch Gesetze<br />
Gesetze erfüllen ihren Zweck, wenn je<strong>der</strong> Bürger sich unter ihren Schutz stellen<br />
kann und Ungerechtigkeiten vermieden o<strong>der</strong> beseitigt werden. An<strong>der</strong>erseits<br />
vermittelt die Einhaltung <strong>der</strong> Gesetze das Gefühl, auf <strong>der</strong> richtigen Seite<br />
zu stehen und <strong>der</strong> Sicherheit.<br />
Manch einer unter Ihnen mag schon irgendwann einmal an <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />
<strong>der</strong> Gesetze gezweifelt haben. O<strong>der</strong> war es nur das Gefühl, sich in einem undurchsichtigen<br />
Dschungel zu befinden und den richtigen Weg, sprich: das<br />
richtige Gesetz im richtigen Gesetzbuch nicht gefunden zu haben? Schon<br />
möglich, selbst Gerichten fehlt zuweilen <strong>der</strong> richtige Durchblick, sonst gäbe<br />
es nicht so viele erfolgreiche Revisionsverfahren.<br />
Eine zusätzliche Schwierigkeit stellen die häufig wenig eindeutigen Formulierungen<br />
<strong>der</strong> Gesetzestextes dar, die erhebliche Ermessensspielräume für<br />
Entscheidungen zulassen.<br />
hörden, gegenüber Kostenträgern und Leistungserbringern. Wegen <strong>der</strong> immer<br />
noch kursierenden Vorurteile und Stigmatisierungen brauchen <strong>psychisch</strong> kranke<br />
Menschen den Beistand ihrer <strong>Angehörigen</strong> auch bei sozialen Kontakten<br />
mit <strong>der</strong> Außenwelt, und dafür ist mitunter Schutz durch Gesetze notwendig.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 42
44 45<br />
Betreuungsgesetz<br />
Ein weiteres Beispiel ist das Betreuungsgesetz, das ursprünglich für alte Menschen<br />
mit Demenz und für geistig behin<strong>der</strong>te jüngere Menschen geschaffen<br />
wurde. Heute ist ein Großteil <strong>der</strong> gesetzlich betreuten Menschen <strong>psychisch</strong><br />
krank. Diese sind aber we<strong>der</strong> geistig verwirrt, noch brauchen sie lebenslang<br />
eine Betreuung. Das Betreuungsgesetz macht hier keinen Unterschied. Es for<strong>der</strong>t<br />
beispielsweise von gesetzlichen Betreuern keinen Nachweis über Erfahrungen<br />
mit <strong>psychisch</strong> kranken Menschen. Damit fehlt den Betreuern möglicherweise<br />
das Wissen um die große Sensibilität <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranken und<br />
um die Schwankungen im Verlauf <strong>psychisch</strong>er Erkrankungen. Eine weitere<br />
Benachteiligung für <strong>psychisch</strong> kranke Betreute ergibt sich durch die neuerdings<br />
gesetzlich eingeführten Pauschalvergütungen für Betreuungsaufgaben.<br />
Eine gesetzliche Betreuung ist dann erfolgreich, wenn ein vertrauensvoller<br />
Kontakt zwischen dem Betreuten und dem Betreuer besteht. Dazu ist im Um-<br />
Gleiches Recht für alle?<br />
Psychische Erkrankungen nehmen zu, ihre wirtschaftliche Bedeutung für die<br />
Gesellschaft ist unübersehbar, wie ist es dann erklärlich, dass diesen Menschen<br />
bei <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung weniger Beachtung geschenkt wird als somatisch<br />
Kranken? Gesetze werden von Menschen gemacht. Inwieweit die in<br />
<strong>der</strong> Legislative tätigen Juristen Kenntnis von <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen haben<br />
und die dadurch entstehenden funktionellen, <strong>psychisch</strong> bedingten Handicaps,<br />
wie Probleme beim Einhalten von Fristen, Ängste vor Behördenkontakten,<br />
Antriebslosigkeit, schwankendem Krankheitsverlauf, Belastungseinschränkungen<br />
bei Zeitdruck usw., kennen, kann man nur vermuten. Ein immer<br />
wie<strong>der</strong> vorgebrachtes Argument gegen die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Verbände<br />
nach speziellerem Eingehen auf die beson<strong>der</strong>en Bedarfe <strong>psychisch</strong><br />
Kranker lautet, <strong>der</strong> Gesetzgeber könne nicht alle Individualinteressen berücksichtigen.<br />
Ich nehme an, dass Vorurteile dabei keine Rolle spielen.<br />
Es gehört jedenfalls nach wie vor zu den vordringlichen Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Organisationen,<br />
auf allen gesellschaftlichen Ebenen aufklärend zu<br />
wirken – auch beim Gesetzgeber.<br />
Schwerbehin<strong>der</strong>tengesetz<br />
Ein Beispiel dafür ist das Schwerbehin<strong>der</strong>tengesetz, das <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Situation<br />
<strong>psychisch</strong> behin<strong>der</strong>ter Menschen nicht gerecht wird. Um einen Ausgleich<br />
für körperliche <strong>psychisch</strong>e und geistige Behin<strong>der</strong>ung auf beruflicher, sozialer<br />
und wirtschaftlicher Ebene zu erhalten, bedarf es <strong>der</strong> gesetzlichen Anerkennung<br />
des Behin<strong>der</strong>tenstatus in Form des Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweises. Da es<br />
aber Teil <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Behin<strong>der</strong>ung ist, dass diese Behin<strong>der</strong>ung von den<br />
davon Betroffenen nicht wahrgenommen wird, empfinden Betroffene das Ansinnen,<br />
sich einen solchen Ausweis ausstellen zu lassen, als diskriminierend.<br />
Demotiviert verzichten sie auf die ihnen zustehenden Vorteile und auf die<br />
ihnen rechtmäßig gebührenden Ausgleiche. Notwendig wäre eine eindeutige<br />
Definition von <strong>psychisch</strong>er Behin<strong>der</strong>ung und ein zum Behin<strong>der</strong>tenausweis<br />
equivalentes Papier mit gleicher Rechtskraft.<br />
Pflegeversicherung<br />
Als letztes Beispiel möchte ich die Pflegeversicherung nennen. Die Pflegebedürftigkeit<br />
<strong>psychisch</strong> kranker Menschen ist we<strong>der</strong> deutlich sichtbar noch<br />
messbar. Die zeitliche Pflegeleistung schwankt und ihre Notwendigkeit wird<br />
von den Betroffenen wegen fehlen<strong>der</strong> Krankheitswahrnehmung häufig negiert.<br />
Die Folge ist, dass selbst <strong>psychisch</strong> Kranke mit einem hohen Hilfebedarf<br />
keine Anerkennung ihrer Pflegebedürftigkeit erhalten. Auch hier besteht<br />
also eine unübersehbare Benachteiligung <strong>psychisch</strong> kranker und behin<strong>der</strong>ter<br />
Menschen. Unsere Hoffnungen ruhen auf <strong>der</strong> vor einem Jahr geschaffenen<br />
„Häuslichen psychiatrischen Pflege“ als Krankenkassenleistung, die aber in<br />
Gefahr ist, an Richtlinienstreitigkeiten zu scheitern.<br />
Landestreffen<br />
nachteiligung. Es bedeutet, dass berechtigte Ansprüche nur schwer durchzusetzen<br />
sind und dass <strong>psychisch</strong> kranke und behin<strong>der</strong>te Menschen hinsichtlich<br />
ihrer Teilhabe am öffentlichen Leben behin<strong>der</strong>t werden.<br />
gang mit <strong>psychisch</strong> Kranken viel Zeit notwendig, die mit einer Pauschalvergütung<br />
nicht honoriert wird.<br />
Gesetzesdschungel<br />
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46 47<br />
Das Grundgesetz<br />
Die Gesetzeslandschaft erscheint uns Laien wie ein Dschungel, und doch<br />
steckt ein durchdachtes System dahinter, und über allem steht ein für alle gültiger<br />
Wertekatalog, das Grundgesetz <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland (GG).<br />
Es ist für alle verbindlich, nach ihm richten sich die Legislative (Gesetzgeber),<br />
die Exekutive (Verwaltung) und die Judikative (Richtergewalt, Rechtsprechung).<br />
Das Grundgesetz ist dazu angetan, uns Familien mit <strong>psychisch</strong> Kranken Vertrauen<br />
in den grundsätzlichen Schutz unserer Persönlichkeit und unserer<br />
Rechte zu geben. Einige Artikel, die das deutlich machen, möchte ich hier<br />
zitieren:<br />
GG Artikel 1<br />
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen<br />
ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.<br />
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen<br />
Menschenrechten als Grundlage je<strong>der</strong> menschlichen Gemeinschaft,<br />
des Friedens und <strong>der</strong> Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Welt.<br />
GG Artikel 2<br />
(1) Je<strong>der</strong> hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit<br />
er nicht die Rechte an<strong>der</strong>er verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige<br />
Ordnung o<strong>der</strong> das Sittengesetz verstößt.<br />
(2) Je<strong>der</strong> hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit<br />
<strong>der</strong> Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes<br />
eingegriffen werden.<br />
GG Artikel 3<br />
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.<br />
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner<br />
Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner<br />
religiösen o<strong>der</strong> politischen Anschauungen benachteiligt o<strong>der</strong> bevorzugt<br />
werden. Niemand darf wegen seiner Behin<strong>der</strong>ung benachteiligt werden.<br />
Unsicherheiten quälen Angehörige<br />
Es liegt an <strong>der</strong> Vielschichtigkeit <strong>der</strong> Aufgaben, dass Angehörige von <strong>psychisch</strong><br />
kranken Menschen mit vielen gesetzlichen Regelungen in Berührung<br />
kommen. Im Vor<strong>der</strong>grund stehen Unsicherheiten über gesetzliche Voraussetz-<br />
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz<br />
Das Grundgesetz ist Richtschnur bei <strong>der</strong> Erstellung neuer Gesetze o<strong>der</strong> bei<br />
<strong>der</strong>en Verän<strong>der</strong>ungen. Seine Vorgaben geben den sittlichen und ethischen Rahmen<br />
unserer Gesellschaft ab. Die darin verankerten Rechte sind aber privatrechtlich<br />
nicht einklagbar.<br />
Der zivilrechtliche Benachteiligungsschutz fehlte bis 2006. Das ist kein ausschließlich<br />
deutsches Phänomen. Die EU verlangte daher von allen Mitgliedsstaaten<br />
ein Anti-Diskriminierungsgesetz und gab Mindeststandards zum<br />
Schutz für Randgruppen vor. Eine lange Diskussion über die Inhalte des Anti-<br />
Diskriminierungs-Gesetzes brach in Deutschland los und brachte <strong>der</strong> BRD<br />
beinahe eine hohe europäische Geldstrafe wegen Verzögerung ein. Der Streit<br />
ging darum, welche Benachteiligungen strafrechtliche Folgen haben sollten.<br />
Das fand in diesem Jahr ein Ende mit dem Inkrafttreten vom „Allgemeinen<br />
Gleichbehandlungsgesetz“. Der Name sagt schon, dass die eigentliche Stoßrichtung,<br />
„Anti-Diskriminierung“, verwässert wurde. Es ist beispielsweise<br />
kein wirklicher Schutz vor Benachteiligungen bei Wohnungsvermietungen,<br />
gegen Ungleichbehandlung in Versicherungsangelegenheiten und im Bereich<br />
von Arbeitsangelegenheiten entstanden. Das ist sehr bedauerlich, sind es doch<br />
insbeson<strong>der</strong>e diese Zurücksetzungen, von denen sich <strong>psychisch</strong> kranke Menschen<br />
diskriminiert fühlen und die ihnen das Selbstbewusstsein stehlen.<br />
GG Artikel 6<br />
(1) Ehe und Familie stehen unter dem beson<strong>der</strong>en Schutze <strong>der</strong> staatlichen<br />
Ordnung.<br />
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge <strong>der</strong> Gemeinschaft.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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48 49<br />
Die Sozialgesetzbücher<br />
Diese Fragen zeigen, dass <strong>der</strong> meiste Klärungsbedarf in Bezug auf Sozialleistungen<br />
besteht und dann im Bereich <strong>der</strong> 12 Sozialgesetzbücher (SGB) liegt.<br />
Allein die Kenntnis dieser Gesetzbücher übersteigt das Fassungsvermögen<br />
eines Normalbürgers. Gesunde Menschen, die ihren Lebensunterhalt selber<br />
verdienen können, keine Rehabilitation und keine Arbeitsunterstützung brauchen,<br />
kennen den Begriff „Sozialgesetzbuch“ oft gar nicht. Dabei sind die<br />
Sozialgesetzbücher auch die Basis für unsere Sozialversicherungen, z.B. für<br />
unsere Krankenkassenleistungen, für Pflege und Rehabilitation.<br />
ungen bezüglich <strong>der</strong> Hilfen für den Erkrankten, über die gesetzlich vorgeschriebene<br />
Dauer von Maßnahmen, über die Zugangsrechte zu Hilfen, über<br />
die wirtschaftlichen Folgen <strong>der</strong> Erkrankung für den Kranken und für die Familie,<br />
über Einspruchs- und Beschwerdemöglichkeiten. Alles ist neu und<br />
verunsichernd.<br />
Bei den Beratungsgesprächen im <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
<strong>psychisch</strong> Kranker und in den örtlichen <strong>Angehörigen</strong>-Gruppen tauchen Fragen<br />
wie die folgenden immer wie<strong>der</strong> auf:<br />
Was ist <strong>der</strong> Unterschied zwischen „Sozialhilfe“ und „Grundsicherung“?<br />
Was müssen <strong>der</strong> Betroffene und seine <strong>Angehörigen</strong> bei welchen Maßnahmen<br />
zuzahlen?<br />
Gibt es ein Recht auf einen Wohngemeinschaftsplatz o<strong>der</strong> auf Arbeit?<br />
Ist es in Ordnung, dass ich so lange auf die Hilfebewilligung warten muss?<br />
Wie lange gibt es Kin<strong>der</strong>geld?<br />
Kann meine Tochter in <strong>der</strong> Werkstatt für behin<strong>der</strong>te Menschen Teilzeit arbeiten?<br />
Darf mein Sohn trotz Behandlung mit Psychopharmaka Auto fahren?<br />
Muss mein Mann bei <strong>der</strong> Arbeitsplatz-Bewerbung die psychiatrische Erkrankung<br />
zugeben?<br />
Kann man einen gesetzlichen Betreuer ablehnen o<strong>der</strong> einen Wechsel verlangen?<br />
Geltungsbereiche <strong>der</strong> einzelnen Sozialgesetzbücher<br />
SGB I Allgemeiner Teil<br />
SGB II Grundsicherung für Arbeitsuchende (in Kraft ab 01.01.2005)<br />
SGB III Arbeitsför<strong>der</strong>ung<br />
SGB IV Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung<br />
SGB V Gesetzliche Krankenversicherung<br />
SGB VI Gesetzliche Rentenversicherung<br />
SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung<br />
SGB VIII Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />
SGB X Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz<br />
SGB XI Soziale Pflegeversicherung<br />
SGB XII Sozialhilfe (in Kraft ab 01.01.2005)<br />
Niemand muss sich für dumm o<strong>der</strong> rückständig halten, <strong>der</strong> sich im Dschungel<br />
<strong>der</strong> Sozialgesetze verirrt. Es ist eben ein Dschungel, mit den Charakteristika<br />
eines Dschungels: Undurchdringlichkeit, man verirrt sich leicht darin, Unachtsamkeiten<br />
können sich rächen, ungestümes Wachstum; man nimmt am<br />
besten einen Kenner mit, wenn man sich hineinbegibt; man muss Geduld haben,<br />
um dorthin zu gelangen, wo man hin will.<br />
Von Vereinfachung und Reduzierung <strong>der</strong> Gesetzeslandschaft wird immer wie<strong>der</strong><br />
geredet, aber zu spüren ist nichts davon. Eine Gesetzesän<strong>der</strong>ung folgt <strong>der</strong><br />
Jedes <strong>der</strong> Sozialgesetzbücher beschäftigt sich mit einem bestimmten sozialen<br />
Bereich, wobei sich hier und da auch Überschneidungen ergeben können.<br />
Wenn wir uns allein die Gesetzeslage zu Arbeitslosengeldleistungen und Arbeitsrehabilitation<br />
anschauen, dann finden sich dazu Gesetze in vier Sozialgesetzbüchern,<br />
im SGB II, III, IX, XII. Darüber hinaus gibt es dann noch<br />
rechtliche Querverbindungen zu an<strong>der</strong>en Gesetzen.<br />
Die Zuständigkeit von Paragraphen hängt auch von <strong>der</strong> Komplexität des Hilfeund<br />
Unterstützungsbedarfs und den eigenen finanziellen o<strong>der</strong> versorgenden<br />
Ressourcen des Betroffenen und seiner Familie ab.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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50 51<br />
Wi<strong>der</strong>spruchsrecht<br />
Auf jeden Antrag, bei welcher Institution auch immer, erfolgt ein Bescheid.<br />
Wichtig zu wissen ist, dass gegen jeden Bescheid Wi<strong>der</strong>spruch erhoben werden<br />
kann. Auch hierfür gibt es Vorschriften:<br />
Gegen für unrichtig erachtete Bescheide ist zunächst fristgerecht schriftlich,<br />
sicherheitshalber per „Einschreiben-Rückschein“, Wi<strong>der</strong>spruch bei <strong>der</strong> zuständigen<br />
Behörde einzulegen. Also in Sachen Sozialhilfe beim Sozialhilfeträger.<br />
„Enthält <strong>der</strong> Bescheid eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung, ist <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch<br />
innerhalb eines Monats nach <strong>der</strong> Bekanntgabe des Bescheids zu erheben.<br />
Fehlt eine solche Rechtsmittelbelehrung kann man innerhalb eines Jahres<br />
Wi<strong>der</strong>spruch einlegen. Der Wi<strong>der</strong>spruch muss während <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsfrist<br />
noch nicht begründet werden.“ (Quelle: Bundesverband <strong>der</strong> Körper- und<br />
Mehrfachbehin<strong>der</strong>ten e.V. www.bvkm.de). Es reicht aus, zu schreiben:<br />
„Hiermit lege ich gegen Ihren Bescheid vom .... Wi<strong>der</strong>spruch ein. Die Begründung<br />
dieses Wi<strong>der</strong>spruchs erfolgt geson<strong>der</strong>t.“<br />
Bei <strong>der</strong> Begründung sollte man auf die individuellen Umstände des Einzelfalles<br />
eingehen.<br />
Ergeht nach <strong>der</strong> Prüfung durch die Rechtsabteilung des Sozialhilfeträgers ein<br />
Wi<strong>der</strong>spruchsentscheid, kann Klage vor dem Sozialgericht erhoben werden.<br />
Enthält <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsbescheid keine Rechtsmittelbelehrung, hat man für<br />
die Klage ein Jahr Zeit. Vor den Sozialgerichten gibt es in <strong>der</strong> ersten Instanz<br />
keinen Anwaltszwang.<br />
Sozialgerichtsverfahren und ihre Beson<strong>der</strong>heiten<br />
Es gibt ein Gesetz zur Regelung <strong>der</strong> Gebührenordnung für Juristen und Gerichte.<br />
Und dieses besagt, dass Sozialgerichte eine Ausnahme machen in <strong>der</strong><br />
Gebührenordnung.<br />
Gerichtskosten werden in allen drei Instanzen <strong>der</strong> Sozialgerichtssprechung<br />
von den Versicherten, Leistungsempfängern und Behin<strong>der</strong>ten grundsätzlich<br />
nicht erhoben (§183 Sozialgerichtsgesetz).<br />
Lediglich die außergerichtlichen Kosten (Anwaltshonorare) sind von dem<br />
Unterliegenden des Verfahrens zu tragen bzw. anteilmäßig zu übernehmen.<br />
Rechtsuchende, die sich ein Verfahren vor einem Gericht nicht leisten können,<br />
haben Anspruch auf die so genannte Prozesskostenhilfe. Die kann ihr<br />
Anwalt bei Gericht beantragen. Der Anwalt sollte auch prüfen, ob die Rechtschutzversicherung<br />
die Gebühren übernimmt. Hierfür ist erfor<strong>der</strong>lich, dass<br />
<strong>der</strong> Prozess ausreichend Erfolg verspricht.<br />
Allerdings können einem Beteiligten Gerichtskosten auferlegt werden, wenn<br />
er einen Rechtsstreit trotz eines entsprechenden Hinweises des Gerichts missbräuchlich<br />
fortführt.<br />
Gerichtskosten stehen auch an, wenn in einem Rechtsstreit we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kläger<br />
noch <strong>der</strong> Beklagte Versicherter, Leistungsempfänger o<strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ter ist.<br />
an<strong>der</strong>en, und schaut man genau hin, dann besteht die ganze Än<strong>der</strong>ung im Ersetzen<br />
eines Punktes durch ein Komma, o<strong>der</strong> ein „und“ wird gestrichen, und<br />
schon kann sich die Rechtssituation für den Nutzer erheblich än<strong>der</strong>n.<br />
Gut ist natürlich, wenn man weiß, wo man nachschauen muss, aber sicherer<br />
ist, zu wissen, wen man fragen kann. Hierfür bieten speziell ausgebildet Sozialanwälte<br />
ihre Hilfe an. Sie in Anspruch zu nehmen muss nicht unbedingt<br />
viel Geld kosten, kann aber viel Geld sparen.<br />
So manch einer scheut sich, gerichtlich vorzugehen gegen einen Bescheid mit<br />
den Argumenten, das koste viel Geld und sei langwierig. Das Zweite mag<br />
stimmen.<br />
Sozialgerichtsverfahren können lange dauern, zumal, wenn sie über mehrere<br />
Instanzen gehen. Das finanzielle Argument ist unrichtig, denn gerade bei Gerichtsverfahren<br />
vor den Sozialgerichten ist das unter bestimmten Umständen<br />
nicht <strong>der</strong> Fall.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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52 53<br />
Der Sozialstaat<br />
Es soll im Staat recht und gerecht zugehen, das war <strong>der</strong> Wille <strong>der</strong> Väter des<br />
Grundgesetzes. Sie legten die Grundzüge unseres Sozialstaates fest.<br />
Die offizielle Formulierung des Grundgesetzes zum Sozialstaat (GG Art. 20<br />
Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1) lautet:<br />
„Der Sozialstaat hat zwei Hauptanliegen, soziale Gerechtigkeit und soziale<br />
Es gibt drei Instanzen für sozialgerichtliche Verfahren:<br />
• das Klageverfahren vor den Sozialgerichten (§8 Sozialgerichtsgesetz)<br />
• die Berufungs- und Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht<br />
(§29 Sozialgerichtsgesetz)<br />
• das Revisionsverfahren vor dem Bundessozialgericht (§39 Sozialgerichtsgesetz<br />
Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz<br />
Als Interessenvertretung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> und ihrer <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglie<strong>der</strong><br />
setzt sich <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />
Kranker e.V. ebenso wie <strong>der</strong> Bundesverband <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />
Kranker e.V. seit vielen Jahren für die Gleichstellung <strong>psychisch</strong> kranker<br />
Menschen mit körperlich Kranken ein.<br />
Als vor 6 Jahren das Bundesgesetz zur Gleichstellung behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />
(Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz, BGG) – und einige Jahre danach auch das<br />
Bayerische Gleichstellungsgesetz – in Kraft traten, verfolgten die <strong>Angehörigen</strong>-Organisationen<br />
das mit großen Hoffnungen. Es zeigte sich jedoch sehr<br />
bald, dass <strong>psychisch</strong> kranke und behin<strong>der</strong>te Menschen nur mit dem einen Satz<br />
„Den beson<strong>der</strong>en Bedürfnissen <strong>psychisch</strong> behin<strong>der</strong>ter Menschen ist Rechnung<br />
zu tragen“ bedacht wurden. Und auch <strong>der</strong> kam nur in die Gesetze hinein, weil<br />
die <strong>Angehörigen</strong>verbände <strong>psychisch</strong> Kranker und an<strong>der</strong>e nicht locker ließen.<br />
Was aber damit gemeint ist und welche Rechte <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Behin<strong>der</strong>te daraus<br />
ableiten kann, wird in dem Gesetz nicht präzisiert. Detailliert wird z.B.<br />
Zuständigkeit <strong>der</strong> Sozialgerichte<br />
Sozialgerichte sind zum Beispiel zuständig für Streitigkeiten mit Behörden in<br />
den Bereichen:<br />
• Sozialversicherung,<br />
• Grundsicherung,<br />
• gesetzliche Rentenversicherung,<br />
• gesetzliche Krankenversicherung,<br />
• Pflegeversicherung,<br />
• Schwerbehin<strong>der</strong>tenrecht,<br />
• gesetzliche Unfallversicherung,<br />
• Arbeitsför<strong>der</strong>ung (Arbeitslosenversicherung),<br />
• Arbeitslosengeld II (früher: Arbeitslosenhilfe),<br />
• Sozialhilfe (Sozialgesetzbuch 12. Buch).<br />
Zuständig ist das Sozialgericht an dem Ort, an dem die Verwaltungsbehörde<br />
ihren Sitz hat. Prozessbeteiligte sind in <strong>der</strong> Regel Privatpersonen und die Verwaltungsbehörde<br />
(zum Beispiel: Arbeitsämter und Landesversicherungsanstalten<br />
usw.).<br />
Sicherheit. Diese beiden Hauptanliegen haben Gesetzgebung, Rechtsprechung<br />
und Wissenschaft zu wesentlichen Zielen des Sozialstaates konkretisiert, die<br />
für alle Rechtsbereiche Bedeutung haben:<br />
• Gewährung des Existenzminimums und elementarer personaler Dienste<br />
(Erziehung, Betreuung, Pflege)<br />
• Min<strong>der</strong>ung und Kontrolle von Abhängigkeiten<br />
• Ausgleich von Wohlstandsunterschieden<br />
• Sicherung des Lebensstandards gegen wesentliche ökonomische Verschlechterungen<br />
• <strong>der</strong> Einzelne ist nicht Objekt <strong>der</strong> staatlichen Sozialpolitik, son<strong>der</strong>n Träger<br />
von Rechten, die auf Teilhabe an <strong>der</strong> vom Staat geleisteten sozialen För<strong>der</strong>ung<br />
und Sicherheit gerichtet sind.“<br />
Wie, so möchte man fragen, kann es dann sein, dass <strong>psychisch</strong> kranke Menschen<br />
und ihre <strong>Angehörigen</strong> körperlich Kranken nicht gleichgestellt sind?<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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54 55<br />
Wenig bekannte Hilfeangebote<br />
Der Gesetzesdschungel und die immer neu hinzukommenden Regelungen<br />
bringen es mit sich, dass <strong>der</strong> Laie den Überblick verliert über Rechte und<br />
Hilfen, die bereits bestehen und die den psychiatrisch Hilfebedürftigen und<br />
ihren Familien im Lauf <strong>der</strong> Zeit erhebliche Verbesserungen gebracht haben.<br />
Aus unzähligen <strong>Angehörigen</strong>-Beratungen geht hervor, dass die folgenden sowohl<br />
bundesgesetzlich verankerten Leistungen und Rechte, sowie die in <strong>Bayern</strong><br />
verfügbaren Hilfeangebote nicht allen bekannt sind. Auch aus dieser Unkenntnis<br />
mag sich ein Gefühl <strong>der</strong> Zurücksetzung ergeben. Ich zähle im Folgenden<br />
nur die Hilfen auf, die <strong>Angehörigen</strong> und auch in <strong>der</strong> Psychiatrie<br />
Tätigen wenig bekannt sind:<br />
• Soziotherapie<br />
• Häusliche psychiatrisch Pflege als Krankenkassenleistung<br />
• Bezugspersonen<br />
• Integrationsfachdienste<br />
• 14-Tage-Frist zur Entscheidung über die Bewilligung von Hilfen<br />
(SGB XII)<br />
• Persönliches Budget (bisher nur in Mittelfranken)<br />
• Familienpflege<br />
darin beschrieben, was seh- und hörbehin<strong>der</strong>te Menschen an Hilfen brauchen.<br />
Diese ungleiche Berücksichtigung ist erklärbar, aber nicht verständlich und<br />
nicht hinnehmbar. Es geht doch um den Abbau von Barrieren, die Behin<strong>der</strong>te<br />
daran hin<strong>der</strong>n, an <strong>der</strong> Gesellschaft teilzuhaben! Sichtbare Barrieren lassen<br />
sich besser begreifen und beseitigen als unsichtbare, wie sie <strong>psychisch</strong> behin<strong>der</strong>te<br />
Menschen behin<strong>der</strong>n. Etwas Unsichtbares ist schwer zu erklären und<br />
schon gar nicht als Barriere wahrzunehmen.<br />
Der <strong>Landesverband</strong> und die Münchner Psychiatrie Initiative (MüPI), eine trialogische<br />
Gruppierung bestehend aus Psychiatrie-Erfahrenen, <strong>Angehörigen</strong><br />
und Psychiatrie-Fachärzten, die sich für eine bessere Versorgung <strong>psychisch</strong><br />
kranker Menschen einsetzt, for<strong>der</strong>t eine Gesetzesän<strong>der</strong>ung zugunsten <strong>psychisch</strong><br />
behin<strong>der</strong>ter Menschen.<br />
• <strong>Angehörigen</strong>-Gespräch bei nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiatern (10 Minuten<br />
im Quartal)<br />
• Zuverdienst zur Rente<br />
• Recht auf Teilzeitarbeit (nicht immer in Werkstätten für behin<strong>der</strong>te Menschen,<br />
siehe unbeirrbar Dez. 2006)<br />
• Recht auf Arbeitserleichterung o<strong>der</strong> Rehabilitation bei mehr als 6 Wochen<br />
Krankheit<br />
• Freiheitseinschränkungen nur 24 Stunden ohne richterlichen Beschluss<br />
erlaubt (Unterbringungsgesetz)<br />
• Wi<strong>der</strong>spruchsrecht<br />
• Betreuerwechsel<br />
• Beratungspflicht bei den Servicestellen <strong>der</strong> Leistungserbringer (Bezirke<br />
und Rentenversicherung)<br />
• Platzfreihaltedauer in Wohngemeinschaften bei Krankenhausaufenthalt<br />
(30 Tage)<br />
• Verrentung kann wie<strong>der</strong> rückgängig gemacht werden<br />
• Behin<strong>der</strong>tenausweis kann wie<strong>der</strong> zurückgegeben werden<br />
• Gesundheitsauskunft muss bei einer Bewerbung nicht gegeben werden.<br />
• Der Behin<strong>der</strong>tenausweis muss angegeben werden<br />
Wie schon des öfteren erwähnt, kann <strong>der</strong> Umgang mit Gesetzen mehr verwirren<br />
als helfen. Um Ihnen, liebe Zuhörer, den Einstieg in die wichtigsten Problembereiche<br />
zu erleichtern und Hemmungen, sich damit zu beschäftigen, zu<br />
min<strong>der</strong>n, habe ich einige Basisinformationen zusammengetragen. Nähere<br />
Auskunft über die Bedingungen zur Inanspruchnahme <strong>der</strong> genannten Hilfen<br />
und Rechte erteilt <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong><br />
Kranker e.V.; unseren Mitglie<strong>der</strong>n, die kostenlos viermal im Jahr unsere Verbandszeitung<br />
„unbeirrbar“ erhalten, stellen wir regelmäßig neue o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>te<br />
gesetzliche Regelungen für Hilfen und För<strong>der</strong>ungen vor.<br />
In Erinnerung rufen möchte ich auch, dass <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> mit dem VdK<br />
ein Abkommen geschlossen hat, nach dem unsere Mitglie<strong>der</strong> eine kostenlose<br />
Rechtsberatung von den VdK-Fachleuten erhalten können.<br />
Landestreffen<br />
Gesetzesdschungel<br />
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56 57<br />
Gesetze sind dafür da, den Menschen das Miteinan<strong>der</strong>leben und Miteinan<strong>der</strong>arbeiten<br />
möglich zu machen. Sie regeln die Verantwortlichkeiten und den<br />
Schutz aller Bürger eines Staates. Sie sorgen für Ordnung und Sicherheit und<br />
schützen den Schwachen und Kranken. Bei Unstimmigkeiten soll ein Blick in<br />
die Gesetze zu klaren Verhältnissen führen. So in etwa die laienhafte Vorstellung.<br />
Als Interessenvertreter von Familien mit <strong>psychisch</strong> Kranken sammelt man<br />
viele Erfahrungen und hört so manchen Krankheitsbericht, darunter auch<br />
Berichte über juristische Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Diese Informationen zusammenfassend,<br />
muss man feststellen, dass es sich lohnt, sich zur Wehr zu setzen<br />
– wenn es sein muss, auch gerichtlich.<br />
Angehörige<br />
Landestreffen<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 56
58 59<br />
16.00 – 16.30 Uhr: Abschlussplenum<br />
Karl Heinz Möhrmann<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />
1. Regionaltreffen<br />
ab 9.30 Uhr: Eintreffen, Begrüßungskaffee<br />
10.00 Uhr: Begrüßung<br />
10.10 – 11.00 Uhr: „Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die stationäre<br />
Behandlung“.<br />
Dr. med. Christoph Mattern, Chefarzt <strong>der</strong> Klinik für<br />
Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik,<br />
Bezirksklinikum Obermain, Kutzenberg<br />
11.00 -11.20 Uhr: „Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante<br />
Behandlung“<br />
Dr. med. R. Ebner, Facharzt für Psychiatrie, Coburg<br />
11.20 – 11.40 Uhr: Pause<br />
11.40 – 12.00 Uhr: „Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes<br />
für Angehörige“<br />
M. Werberich, Leiter des SPDI Coburg<br />
12.00 – 12.30 Uhr: „Bewältigung von Konflikten im Zusammenleben<br />
mit einem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied“<br />
Heidi Popp, Angehörige, Hof<br />
12.30 – 13.10 Uhr: „Noch’n Verein – Warum organisieren sich<br />
Angehörige?“<br />
Karl-Heinz Möhrmann, Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
<strong>Landesverband</strong>es LApK<br />
13.10 – 14.30 Uhr: Mittagspause<br />
14.30 – 16.00 Uhr: „Sie fragen – wir antworten“ Informations-Service<br />
für Angehörige<br />
Dr. med. C. Mattern und Vertreter des LApK stehen für<br />
Fragen zu Ihrer Verfügung<br />
Eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung belastet nie nur den Betroffenen allein, son<strong>der</strong>n<br />
immer auch die ganze Familie. Diese Tagung soll Ihnen Informationen über<br />
die in Ihrer Region verfügbaren Hilfen, aber auch Ratschläge zum Umgang<br />
mit Ihrem kranken <strong>Angehörigen</strong> vermitteln.<br />
Am Nachmittag laden wir Sie zum Gespräch ein, wobei Sie Gelegenheit<br />
haben, Ihre Fragen zum Umgang mit <strong>psychisch</strong> erkrankten Menschen zu stellen.<br />
Sie haben hier die einmalige Chance, mehrere Fachleute an einem Ort zu<br />
treffen, neue Kontakte zu knüpfen und wertvolle Informationen zu erfragen<br />
und zu sammeln. Wir würden es begrüßen, wenn sich am Ende <strong>der</strong> Tagung<br />
interessierte Angehörige für einen weiteren Erfahrungsaustausch in einer<br />
Selbsthilfegruppe finden. Hier treffen Sie Menschen mit gleichartigen Erfahrungen,<br />
die Ihnen manchen nützlichen Tipp geben können – denn Sie als<br />
Angehöriger brauchen ebenfalls Hilfe!<br />
Nur wenn Sie es schaffen, halbwegs gelassen und souverän mit <strong>der</strong> Erkrankung<br />
des Betroffenen umzugehen, können Sie auch dem Betroffenen und sich<br />
selbst helfen!<br />
Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme an <strong>der</strong> Tagung!<br />
Ihr<br />
Angehörige<br />
PROGRAMM<br />
Liebe Angehörige!<br />
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60 61<br />
Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
Seit Jahren ist <strong>der</strong> Angehörige des <strong>psychisch</strong> Kranken ins Blickfeld psychiatrischen<br />
Interesses getreten. Langjährige psychiatrische Hospitalisierungen<br />
sind für die Patienten Geschichte. Dies wird aber auch zu neuen und ungewöhnlichen<br />
Belastungen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, in <strong>der</strong>en Kreis <strong>der</strong> Kranke nach<br />
kurzem, evtl. zu kurzem Krankenhausaufenthalt meist zurückkehrt. Diese Belastungen<br />
zu negieren, würde bedeuten, in einer an<strong>der</strong>en Form inhuman zu<br />
sein. Die För<strong>der</strong>ung des Krankheitsverständnisses bei den <strong>Angehörigen</strong> ist<br />
Die früher geäußerte Ansicht des Psychiaters Dörner, dass die Nichtberücksichtigung<br />
<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> im Therapieplan einem Kunstfehler gleichkomme,<br />
ist heute bei allen Klinikärzten akzeptiert.<br />
Um diese Faktoren in ihrer Bedeutung zu min<strong>der</strong>n, empfiehlt sich den <strong>Angehörigen</strong><br />
von <strong>psychisch</strong> Kranken die Teilnahme an einer entsprechenden <strong>Angehörigen</strong>gruppe.<br />
Das Gefühl von Zusammengehörigkeit, das die <strong>Angehörigen</strong><br />
relativ rasch entwickeln und das diese Gruppe nach einer problematischen<br />
Anfangsphase manchmal über Jahre stabil sein lässt, entsteht durch die<br />
gemeinsame Teilnahme an einem Schicksal, das häufig als Schicksalsschlag<br />
empfunden wurde.<br />
Die Zusammenarbeit mit <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker ist in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
stationären Psychiatrie Routine geworden. Die Verbesserung des Krankheitsverständnisses,<br />
auch bei den <strong>Angehörigen</strong>, führt zu einer merklichen Besserung<br />
<strong>der</strong> Compliance <strong>der</strong> Patienten, zu einer verbesserten Arzt-Patienten-Beziehung,<br />
letztlich zu besseren Behandlungsergebnissen.<br />
Im Vortrag werden Aspekte <strong>der</strong> spezifischen Problematik Angehöriger <strong>psychisch</strong><br />
Kranker herausgearbeitet, aktuelle Probleme <strong>der</strong> Komorbidität (zusätzliche<br />
Erkrankungen), die indirekt wie<strong>der</strong>um sich auf die Beziehung <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
Kranken zu ihren <strong>Angehörigen</strong> auswirken, dargestellt und daraus Wünsche<br />
für die Kooperation mit den <strong>Angehörigen</strong> abgeleitet.<br />
Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die psychiatrische<br />
stationäre Behandlung<br />
20 - 30 % <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> reagieren mit eigenen <strong>psychisch</strong>en und /o<strong>der</strong> somatischen<br />
Reaktionen, Anpassungs- und Beziehungsstörungen. Belastungsmomente<br />
werden vor allem in <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> eigenen Lebensplanung gesehen,<br />
wenn zum Beispiel die Idee, sich in <strong>der</strong> Rentenzeit ein schönes Leben zu<br />
machen, nicht mehr möglich wird, im ständigen Angebundensein, in <strong>der</strong> ausschließlichen<br />
Zuständigkeit, wenn die Verschlechterung des eigenen Gesundheitszustandes<br />
durch die Pflegetätigkeit selbst eintritt, <strong>der</strong> kranke Partner zu<br />
sterben droht, eine Anerkennung für die Pflegetätigkeit fehlt, eine soziale Isolation<br />
eintritt und Ehe- und Erziehungsprobleme massiv werden.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
Chefarzt <strong>der</strong> Klinik<br />
für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am<br />
Bezirksklinikum Obermain, Kutzenberg<br />
Dr. med. Christoph Mattern<br />
heute ein vordringliches Ziel psychoedukativer Programme in <strong>der</strong> Psychiatrie.<br />
Wissenschaftliche Arbeiten, die den Umgang von <strong>Angehörigen</strong> mit körperlich<br />
Kranken analysiert haben, zeigen, dass für Frauen vor allem ein Scheitern <strong>der</strong><br />
Beziehung dann in Frage kommt, wenn eine mangelnde Gesprächsmöglichkeit<br />
über eigene Probleme mit dem Partner besteht, sie angelogen werden o<strong>der</strong><br />
sie spüren, dass <strong>der</strong> Partner Geheimnisse hat. Männer fühlen sich vor allem<br />
belastet durch das Hintergangenwerden und dauernden Streit.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 60
62 63<br />
Im Zusammentreffen von Depression und Sucht zeigen große Studien, dass<br />
gerade bei bipolaren Störungen Alkohol- und Drogenmissbrauch fast bei je-<br />
Komorbidität bedeutet für den Patienten doppeltes Leid, doppelte Verleugnung,<br />
für die Therapeuten die Fähigkeit zur Doppeldiagnostik und die Verpflichtung<br />
zur doppelten Kompetenz, für die <strong>Angehörigen</strong> ein 2-faches Stigma,<br />
doppelte Belastung.<br />
Gerade bei <strong>der</strong> Doppeldiagnose Sucht und Depression zeigen sich die Schwierigkeiten<br />
durch die Entwicklung zweier Hilfssysteme im psychiatrischen und<br />
im Suchthilfebereich. So wird vielleicht in <strong>der</strong> Psychiatrie das Vorherrschen<br />
<strong>der</strong> Depressivität überbetont, die Sucht negiert und in Kliniken des Suchthilfesystems<br />
die Depression ausgeblendet, was durch eine erhöhte Suizidgefahr<br />
kompliziert werden kann. Das Prinzip <strong>der</strong> möglichst geringen Medikation<br />
führt hier nicht selten zu einer Verhin<strong>der</strong>ung einer adäquaten Behandlung.<br />
Die <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker, die unter einer Doppelproblematik leiden,<br />
sind beson<strong>der</strong>s belastet.<br />
Die Therapieprinzipien bei diesen Doppel-Diagnose-Patienten bestehen darin,<br />
die Selbstbehauptung des Patienten zu för<strong>der</strong>n, ihn engmaschig und langfristig<br />
zu begleiten, eine integrative Therapie für beide Störungen durch dasselbe<br />
Team zu garantieren, ein Krankheitsverständnis für beide Störungen zu<br />
schaffen, eine stabile Lebenssituation zu erreichen, was eine hohe Flexibilität<br />
und Spezialisierung <strong>der</strong> Therapeuten erfor<strong>der</strong>t, den Stufenplan dieser Behandlung<br />
langsam umzusetzen, eine Langzeitperspektive zu entwickeln, die eher<br />
einen langfristigen ambulanten Behandlungsverlauf günstig erscheinen lässt<br />
als kurze intensive stationäre Behandlungsmaßnahmen.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Komorbidität<br />
Eine Beson<strong>der</strong>heit in den letzten Jahren ist die zunehmende Komorbidität<br />
<strong>psychisch</strong> Kranker. Für das Zusammentreffen von Schizophrenie und Suchtmissbrauch<br />
kann festgestellt werden, dass die epidemiologischen Zahlen steigend<br />
sind und die Bedeutung des Substanzmissbrauchs in den USA bereits<br />
das Ausmaß eines negativen Prognosefaktors erreicht hat. So wird in Studien<br />
gezeigt, dass (neben kognitiver Dysfunktion) <strong>der</strong> Substanzmissbrauch eine<br />
schlechtere Compliance, häufigere Aggressionen, aber auch die Tatsache des<br />
Opferwerdens von Gewalt, ein erhöhtes Suizidrisiko, eine geringere Teilnahme<br />
an Behandlungsmaßnahmen und insgesamt einen ungünstigeren Verlauf <strong>der</strong><br />
primär bestehenden Psychose bedingt. Die weit verbreiteten Drogen, zum<br />
Beispiel Cannabinoide, bedeuten bei disponierten Personen eine Gefahr, da<br />
sie nachgewiesenermaßen Psychosen induzieren können.<br />
dem zweiten Patienten festzustellen sind. So beeinflusst zum Beispiel chronischer<br />
Alkoholkonsum das gabaerge Transmittersystem positiv und das glutermaterge<br />
negativ, so dass in einem Entzugssyndrom ängstliche Erregung entstehen<br />
kann. Das dopaminerge System wird durch Alkohol im Sinne eines<br />
positiven Craving getriggert. Das serotonerge System wird negativ beeinflusst,<br />
was sich negativ auf die Stimmung auswirken kann. Die Gleichzeitigkeit<br />
depressiver Zustandsbil<strong>der</strong> und Suchtprobleme führt zu häufigeren<br />
Stimmungsschwankungen, zu einer erhöhten Manifestationsfrequenz bipolarer<br />
Phasen, häufigeren Krankenhauseinweisungen und Suchtmittelrückfällen,<br />
häufigerem Abbruch therapeutischer Beziehungen, einem diskontinuierlichen<br />
Behandlungsverlauf, insgesamt schlechteren Behandlungsergebnissen bei größerem<br />
Aufwand und nicht zuletzt einer schlechteren Lebensqualität des<br />
Patienten. Dabei ist von den Ärzten zu for<strong>der</strong>n, gezielt Antidepressiva mit<br />
Stimmungsstabilisierern und Anti-Craving-Medikamenten zu kombinieren.<br />
Die Stärkung <strong>der</strong> Abstinenzmotivation nach den Prinzipien des motivationalen<br />
Interviewens zu för<strong>der</strong>n, aber dem Ausmaß <strong>der</strong> depressiven Herabgestimmtheit<br />
anzupassen. Spezielle Psychoedukations- und Psychotherapieprogramme<br />
sind hier bei einem doppeltem Verständnis für die Störung durch den<br />
Arzt Pflicht.<br />
Angehörige<br />
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64 65<br />
Viele von Ihnen kennen die Situation:<br />
Das Kind, Sohn o<strong>der</strong> Tochter, das zu den besten Hoffnungen Anlass gegeben<br />
hatte, verän<strong>der</strong>t sich, zieht sich zurück, spricht und isst kaum noch, bringt<br />
nicht mehr die gewohnten Leistungen, geht nicht mehr zur Schule, hat grundlos<br />
Angst, schläft kaum noch, hält das Essen für vergiftet, äußert eigenartige<br />
Vorstellungen, die Gedanken könnten ihm entzogen werden usw.<br />
Sie geraten in Sorge, wollen ihm helfen, ermuntern, erklären, drängen, und<br />
stoßen auf eine Wand; denn das, was da vorgeht, ist nicht zu verstehen und zu<br />
erklären, die Reaktion ist nicht die erhoffte.<br />
Sie erleben es mit eigener Angst, Zweifeln, Grübeln über mögliche eigene<br />
Fehler bis hin zu Schuldgefühlen.<br />
Dann endlich, begleitet von Ihrem Bangen und Hoffen, geht das Kind zum<br />
Arzt.<br />
Welche Lage findet <strong>der</strong> Arzt vor?<br />
Ein junger Mensch mit einem augenscheinlich tiefgreifenden Problem sitzt<br />
Angehörige von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen sind Partner, Eltern, Kin<strong>der</strong>,<br />
Großeltern, Enkel etc. und als solche hautnah ausgesetzt:<br />
Dem Erleben <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung durch die Erkrankung, dem Mitleiden, oft<br />
Angst und Schuldgefühlen, <strong>der</strong> Unwissenheit, Unsicherheit und <strong>der</strong> Hilflosigkeit,<br />
dem Erleben des Unverständnisses im sozialen Umfeld, <strong>der</strong> Isolation<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung durch die Verantwortung.<br />
All dies ist festzustellen und muss berücksichtigt werden.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Kooperation mit den <strong>Angehörigen</strong><br />
Um die Behandlung für die <strong>psychisch</strong> Kranken zu optimieren, ergeben sich<br />
auch von Seiten <strong>der</strong> stationären Behandler Wünsche an den <strong>Angehörigen</strong>verband<br />
<strong>psychisch</strong> Kranker:<br />
• Offenheit für diagnostische und therapeutische Konzepte,<br />
• Rückmeldungen über die Befindlichkeit des Kranken an die Behandler,<br />
• die Wahrnehmung von Angeboten (Psychoedukation in <strong>der</strong> Klinik) durch<br />
die <strong>Angehörigen</strong>,<br />
• konstruktive Rückmeldung an die Kliniken, was an Behandlungsangeboten<br />
weiter gewünscht wird,<br />
• eine Abstimmung bei Betreuungen (Berufsbetreuer versus Familienbetreuer)<br />
nach therapeutischen, nicht finanziellen Erwägungen,<br />
• ein allgemeines Engagement im Rahmen <strong>der</strong> Lobbyarbeit und<br />
• die Schaffung spezieller Freizeitmöglichkeiten für <strong>psychisch</strong> Kranke.<br />
Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante Behandlung<br />
Angehörige<br />
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie,<br />
Coburg<br />
Dr. med. Rainer Ebner<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 64
66 67<br />
Der behandelnde Arzt muss dabei grundsätzlich beachten:<br />
• die Schweigepflicht; gibt <strong>der</strong> Patient ausgesprochen sein Einverständnis<br />
zum Gespräch mit den <strong>Angehörigen</strong>?<br />
Der behandelnde nie<strong>der</strong>gelassene Arzt braucht die <strong>Angehörigen</strong><br />
• zur Erhebung <strong>der</strong> Vorgeschichte und damit zur Diagnosestellung;<br />
• für Informationen über ungünstige Entwicklungen, z.B. über Symptomverschlimmerung,<br />
hinzukommende Belastungen, Symptomwandel, Alkohol-<br />
o<strong>der</strong> Drogenkonsum, Unregelmäßigkeiten in <strong>der</strong> Medikamenteneinnahme,<br />
akute Komplikationen und Suizidalität;<br />
• zur Mitarbeit in <strong>der</strong> Behandlung in <strong>der</strong> Überwachung <strong>der</strong> Therapie, Motivationsför<strong>der</strong>ung,<br />
emotionalen Entlastung, im Abbau von Schuld- und<br />
Schamgefühlen, bei Angst, Demoralisation, Resignation und im Aufbau<br />
realistischer Hoffnung, Psychoedukation.<br />
Wie können solche Konflikte vermieden werden?<br />
Notwendig sind im Umgang miteinan<strong>der</strong> soviel Offenheit wie möglich, z.B.<br />
im gemeinsamen Gespräch von Patient, <strong>Angehörigen</strong> und Arzt, und soviel Information<br />
und Aufklärung über die Zusammenhänge <strong>der</strong> Krankheiten wie<br />
möglich, nicht zuletzt im Rahmen <strong>der</strong> Selbsthilfegruppen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
<strong>psychisch</strong> Kranker.<br />
In diesem Sinne ist Ihnen, die Sie hier versammelt sind, zu danken, zu Ihrer<br />
Arbeit zu gratulieren und weiterhin viel Erfolg zu wünschen. Nicht zuletzt<br />
sind Sie als Gruppe eine Macht, die zur Überwindung <strong>der</strong> Ohnmacht <strong>der</strong> betroffenen<br />
Patienten und <strong>der</strong> sie betreuenden kleinen Gruppe <strong>der</strong> Nervenärzte<br />
und Psychiater beitragen und die Interessen <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranken angemessen<br />
vertreten kann.<br />
vor ihm und spricht kein Wort außer vielleicht „ja“ und „nein“, ist in sich zurückgezogen,<br />
steht möglicherweise stark unter Spannung und Angst. Der Arzt<br />
bekommt nichts „aus ihm heraus“, er sieht nur den Stupor und das Leiden<br />
und ist zunächst hilflos.<br />
Er braucht einfach Sie als Angehörige; er muss von Ihnen die Geschichte dieses<br />
jungen Kranken erfahren, er muss mit Ihnen zusammen den Patienten<br />
dazu bewegen, die richtigen Schritte einzuleiten und zu akzeptieren.<br />
Auf diesem unserem Fachgebiet ließen sich viele an<strong>der</strong>e Beispiele erzählen,<br />
die Sie alle kennen, von Menschen mit schizophrenen o<strong>der</strong> depressiven<br />
Krankheiten, Alkoholismus, Demenz usw.<br />
Im Gegensatz zu Patienten mit Erkrankungen, die auf an<strong>der</strong>e Organe bezogen<br />
sind, sind <strong>psychisch</strong> Kranke oft nicht in <strong>der</strong> Lage, unmittelbar zu sich und zu<br />
ihren Störungen Auskunft zu geben. An<strong>der</strong>s sind auch die Auswirkungen <strong>psychisch</strong>er<br />
Krankheiten auf die Umgebung.<br />
Das heißt: Mehr als Kollegen an<strong>der</strong>er Fächer ist <strong>der</strong> Psychiater auf die Zusammenarbeit<br />
mit den <strong>Angehörigen</strong> <strong>der</strong> Kranken angewiesen.<br />
Kritik- und Konfliktpunkte können sein:<br />
• die begrenzte Zeit, die dem Arzt zur Verfügung steht;<br />
• Angehörige, die die Krankheit nicht verstehen, die sich selbst angegriffen<br />
fühlen, die v. a. eigene Interessen verfolgen o<strong>der</strong> die an <strong>der</strong> Übernahme<br />
<strong>der</strong> Verantwortung scheitern; z.B. bei Partnerschaftskonflikten o<strong>der</strong><br />
Trennungen, wenn Angehörige Argumente für die eigene Sache suchen<br />
o<strong>der</strong> Informationen erschleichen wollen;<br />
• Informationen z.B. über Alkoholkonsum, Verweigerung <strong>der</strong> Medikation<br />
o<strong>der</strong> Suizidabsichten, die mit dem Vorbehalt verbunden werden, dass <strong>der</strong><br />
<strong>psychisch</strong> Kranke von dieser Mitteilung nichts erfahren darf.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
• welches Verhältnis besteht zwischen dem <strong>psychisch</strong> Kranken und seinen<br />
<strong>Angehörigen</strong>?<br />
• die eigenen Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>; wollen sie sich einbinden<br />
lassen o<strong>der</strong> haben sie selbst Vorbehalte, Ängste, Abwehr o<strong>der</strong> gar Aggressionen,<br />
sodass zunächst daran gearbeitet werden muss?<br />
In aller Regel ist die Einbindung <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> in die ambulante Behandlung<br />
ein Segen für den Patienten und damit eine große Hilfe für den behandelnden<br />
Arzt.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 66
68 69<br />
Der nächste Baustein ist <strong>der</strong> „Besuchsdienst“. Hierbei wäre stellvertretend<br />
die aufsuchende Arbeit in Nervenkliniken bzw. Hausbesuche bei <strong>psychisch</strong><br />
kranken Menschen, denen es nicht mehr möglich ist, in den Dienst zu kommen.<br />
Der Bereich Öffentlichkeitsarbeit wird durch Vorträge o<strong>der</strong> Planung von<br />
verschiedenen Veranstaltungen gestaltet.<br />
Die Angebote, die speziell für Angehörige von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen<br />
in SpDi´s vorgehalten werden, sind in <strong>der</strong> Regel: die Möglichkeit zur Einzelberatung<br />
mit und ohne Betroffenen, eine <strong>Angehörigen</strong>gruppe und das Psychoseseminar.<br />
In Coburg speziell gibt es noch eine eigenständige <strong>Angehörigen</strong>gruppe,<br />
die sich selbst organisiert und bis vor kurzem eine Vereinsstruktur<br />
hatte.<br />
Zunächst möchte ich Ihnen die gesamten Aufgaben eines Sozialpsychiatrischen<br />
Dienstes vorstellen und dann speziell auf die Angebote für Angehörige<br />
zu sprechen kommen. Die nachfolgende Übersicht ist eine klassische Darstellung<br />
<strong>der</strong> Angebote von SpDi´s. Die unterschiedliche historische Entwicklung<br />
einzelner Beratungsstellen, ebenso <strong>der</strong> Standort (Großstadt, Kleinstadt, ländlicher<br />
Bezirk) lässt an<strong>der</strong>e Kombinationen natürlich auch zu. Zum Basisangebot<br />
im Bereich „Beratung“ gehören: Einzelgespräche für Betroffene und Angehörige,<br />
ebenso für verschiedene Gruppen. Die Angebote des Sozialpsychiatrischen<br />
Dienstes Coburg in diesem Bereich sind: eine Depressionsgruppe,<br />
eine Angstgruppe, Selbstsicherheitstraining und eine Aktivgruppe speziell für<br />
schizophren erkrankte Klienten.<br />
Der Bereich „Betreutes Wohnen“ für <strong>psychisch</strong> kranke Menschen umfasst<br />
Therapeutische Wohngemeinschaften und das Betreute Einzelwohnen. Im<br />
Rahmen des Betreuten Einzelwohnens werden Klienten dort betreut, wo sie<br />
zur Zeit ihren Wohnraum haben, also in <strong>der</strong> Familie, alleine lebend o<strong>der</strong> mit<br />
Partner o<strong>der</strong> Partnerin. Bei den Therapeutischen Wohngemeinschaften findet<br />
die Betreuung in den vom Diakonischen Werk Coburg e.V. angemieteten Wohnungen<br />
statt. Die entsprechenden Zimmer werden den Klienten untervermietet.<br />
Ab Mai 2006 wird es zusätzlich eine „Senioren - WG“ für ältere <strong>psychisch</strong><br />
kranke Menschen geben die, neben den baulichen Gegebenheiten, auch in <strong>der</strong><br />
Art <strong>der</strong> Betreuung und <strong>der</strong> Angebote das Alter <strong>der</strong> Menschen mit berücksichtigt.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Sozialpsychiatrische Dienste o<strong>der</strong> kurz SpDi´s genannt existieren seit ungefähr<br />
25 Jahren. Sie haben die Aufgabe <strong>der</strong> Beratung und Betreuung von <strong>psychisch</strong><br />
kranken Menschen und <strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong>. Damit ist die Zusammenarbeit<br />
und ebenso die Beratung von <strong>Angehörigen</strong> in <strong>der</strong> Grundaufgabenstellung<br />
dieser Beratungsstellen verankert.<br />
Angehörige<br />
Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes für<br />
Angehörige<br />
Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes Coburg<br />
M. Werberich<br />
Auf spezielle Planungen für das Jahr 2006 bzgl. Angehöriger werde ich gegen<br />
Ende meines Vortrages noch zu sprechen kommen. Im Rahmen <strong>der</strong> „Kontakt<br />
und Begegnungsstätte“ wird ein umfangreiches Freizeitangebot für <strong>psychisch</strong><br />
kranke Menschen in Freizeitgruppen angeboten.<br />
Die ca. 16 Gruppen finden im Sozialpsychiatrischen Dienst Coburg von Montag<br />
bis Samstag statt. Unter an<strong>der</strong>em sind es: Sportgruppen, Kochtreffs, Kreativgruppen,<br />
Kontakttreffs, eine Schach- und Schrebergartengruppe, es werden<br />
aber auch Tagesfahrten und mehrtägige Freizeiten über das Jahr verteilt angeboten.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 68
70 71<br />
Jetzt möchte ich Ihnen noch den angekündigten Überblick <strong>der</strong> geplanten<br />
Aktionen für Angehörige <strong>psychisch</strong> kranker Menschen im Jahr 2006 geben:<br />
Am 27. April 2006 diesen Jahres findet das 100. Psychoseseminar statt. Es<br />
wird einen Vortrag durch die Bundesvorsitzende Frau <strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong> mit dem<br />
Thema: „Verantwortung und Recht auf Selbstbestimmung von <strong>Angehörigen</strong>“<br />
geben. Am 20. Juni 2006 wurde von allen oberfränkischen SpDi´s ein „Tag<br />
<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“ festgelegt. Alle SpDi`s verpflichten sich zu einer Telefonbereitschaft,<br />
um eine sofortige Beratung für Angehörige an diesem Tag sicher<br />
zu stellen. Diese Aktion wird vorher in allen oberfränkischen Zeitungen angekündigt.<br />
Am 10. Oktober 2006 findet <strong>der</strong> „Tag des <strong>psychisch</strong> kranken Men-<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank!<br />
In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf unser „schwärzestes Jahr“ in<br />
<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Sozialpsychiatrischen Dienste in <strong>Bayern</strong> hinweisen, das<br />
Jahr 2003. Allein in Oberfranken wurden 5,5 Planstellen im Bereich „Beratung“<br />
in Sozialpsychiatrischen Diensten gestrichen. Der Sozialpsychiatrische<br />
Dienst Coburg verlor eine komplette Stelle im Jahr 2004. Wir hatten 15 Jahre<br />
lang 3 Vollzeitstellen im Bereich „Beratung“ zur Verfügung und können seit<br />
dieser Personalkürzung nur noch mit 2 / 3 <strong>der</strong> bisherigen Arbeitszeit die Beratung<br />
und Betreuung von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen und <strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong><br />
vornehmen. Im Jahr 2005 wurden insgesamt 470 Klienten (<strong>psychisch</strong> kranke<br />
Menschen und <strong>der</strong>en Angehörige) von 2 Vollzeitstellen beraten und betreut.<br />
Ich kann mich noch daran erinnern, wie vor mehr als 20 Jahren Klienten und<br />
Angehörige nur mit großer Überwindung und auch schambesetzt unsere Beratungsstelle<br />
aufsuchten. In diesen mehr als zwei Jahrzehnten hat sich ein stetiger<br />
Bewusstseinswandel durchgesetzt und selbstbewusstere Klienten sowie<br />
Angehörige hervorgebracht. Unter an<strong>der</strong>em ist dies auch <strong>der</strong> kontinuierlichen<br />
Arbeit <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>verbände zu verdanken.<br />
Ich möchte hier ein hohes Kompliment an alle <strong>Angehörigen</strong> richten, die sich<br />
in diesem <strong>Landesverband</strong> organisiert haben und mich bei Herrn Möhrmann<br />
bedanken, <strong>der</strong> die Leitung des <strong>Landesverband</strong>es innehat. Ebenso bei Frau <strong>Eva</strong><br />
<strong>Straub</strong>, die mittlerweile auf Bundesebene diese wichtige Arbeit vorantreibt.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
Um Ihnen einen Einblick in unsere Arbeit für das Jahr 2005 zu geben, möchte<br />
ich Ihnen jetzt einige statistische Zahlen nennen:<br />
Am Psychoseseminar mit 10 Treffen im Jahr waren 32 Angehörige beteiligt,<br />
in <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>gruppe nahmen 12 Teilnehmer/innen an 11 Treffen teil.<br />
Einzelgespräche nur mit <strong>Angehörigen</strong> fanden 58-mal statt, Einzelgespräche<br />
von <strong>Angehörigen</strong> und Klienten 11-mal, ausführliche telefonische Beratungen<br />
wurden 9-mal durchgeführt. Dem eben erwähnten <strong>Angehörigen</strong>verein, <strong>der</strong><br />
sich in den Räumen des SpDI´s trifft, gehören 12 Personen an. Die Gesamtzahl<br />
<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, die im Jahr 2005 beraten wurden, liegt bei 75 Personen.<br />
schen“ statt (eine Idee <strong>der</strong> WHO). Der SpDi Coburg gestaltet diesen Tag mit<br />
einer telefonischen Expertenrunde. In Zusammenarbeit mit einer Coburger<br />
Tageszeitung, die 5 Telefone für diese Runde zur Verfügung stellt, werden<br />
Experten auch <strong>Angehörigen</strong> zu speziellen Fragen zu verschiedenen Themen<br />
zur Verfügung stehen. Schwerpunkte sind: medizinische Fragen, betreute<br />
Wohnformen, rechtliche Informationen und Beratungsmöglichkeiten für <strong>psychisch</strong><br />
kranke Menschen und Angehörige. Am Abend ist eine Filmvorführung<br />
in einem Kino geplant, die das Thema „Psychische Erkrankungen“ <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
in einer gut dargestellten Weise näherbringen möchte.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 70
72 73<br />
Zu diesem Thema kann ich nur aus meinem eigenen Erleben berichten. Sicher<br />
gibt es viele an<strong>der</strong>e Strategien, letztendlich muss je<strong>der</strong> seinen eigenen Weg<br />
finden.<br />
Ich möchte mich kurz vorstellen. Mein Name ist Heidi Popp, ich bin verheiratet,<br />
habe zwei Kin<strong>der</strong> und wohne in Hof.<br />
Vor zwölf Jahren kam unsere Familie erstmals mit <strong>der</strong> Psychiatrie in Berührung.<br />
Unser damals 22jähriger Sohn musste in die Nervenklinik eingeliefert<br />
werden, d.h. nach langen Auseinan<strong>der</strong>setzungen und Familiendiskussionen<br />
akzeptierte er es endlich, mit mir dort hinzufahren. Zu <strong>der</strong> Zeit war er bei <strong>der</strong><br />
Bundeswehr und glaubte, dass seine „verrückten Zustände“, wie er es nannte,<br />
von Drogen o<strong>der</strong> Tabletten herrührten, die Kameraden ihm ins Essen gemischt<br />
hätten. Schon Wochen vorher fielen uns sein seltsames Verhalten, seine wirren<br />
Gedankengänge und seine Unruhe auf. Wir glaubten natürlich auch, dass<br />
es Alkohol und Drogen waren, obwohl er immer beteuerte, nie welche genommen<br />
zu haben. Drogen konnten schließlich in <strong>der</strong> Klinik auch nicht nachgewiesen<br />
werden.<br />
Trotz unserer Nachfragen bekamen wir von den Ärzten keine Informationen<br />
über Krankheitsverlauf und Diagnose. Nach sechs Wochen wurde er als gesund<br />
entlassen. Man riet ihm, sein geplantes Studium in Berlin, was wir ver-<br />
Vom <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V. bekamen<br />
wir den Tipp, in Hof eine <strong>Angehörigen</strong>selbsthilfegruppe zu suchen, die<br />
wir dann beim Sozialpsychiatrischen Dienst fanden.<br />
Zuerst war es eine Überwindung für mich, dort anzurufen und zu sagen, dass<br />
ich die Mutter eines <strong>psychisch</strong> kranken Sohnes bin, doch die einfühlsame Anteilnahme<br />
und die Erfahrungen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong> machten mir Mut<br />
und haben mir geholfen, die emotionalen Belastungen besser zu ertragen. Aus<br />
dieser Gruppe hat sich dann im Jahr 2001 <strong>der</strong> Verein ApK Hochfranken gegründet,<br />
<strong>der</strong>en Vorsitzende ich seither bin.<br />
Wir waren mit einer Tatsache konfrontiert, <strong>der</strong>en Auswirkungen wir nicht ahnten<br />
und die uns in den folgenden Jahren noch schwer belastete. Wir fühlten<br />
uns allein gelassen, und dem Geschehen um unseren Sohn standen wir<br />
rat- und hilflos gegenüber.<br />
Wir zogen uns von unserem Bekanntenkreis zurück, und in den ersten zwei<br />
Jahren vermieden wir es, mit an<strong>der</strong>en über unsere Probleme zu sprechen.<br />
Die Krankheitsschübe wie<strong>der</strong>holten sich in den folgenden Jahren, weil unser<br />
Sohn die Tabletten immer wie<strong>der</strong> absetzte, sobald es ihm besser ging, und<br />
seine Studienversuche scheiterten immer wie<strong>der</strong>.<br />
Was sollte denn nur werden? Würde er jemals allein und selbstbestimmt leben<br />
können? O<strong>der</strong> waren wir irgendwie schuld an seiner Krankheit? Hatte ich was<br />
falsch gemacht? Ich fand keine Ruhe mehr und hatte Angst vor erneuten<br />
Krankheitseinbrüchen.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Bewältigung <strong>der</strong> Konflikte im Zusammenleben mit<br />
einem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied<br />
Angehörige<br />
1. Vorsitzende<br />
ApK Hochfranken<br />
Heidi Popp<br />
suchten, ihm auszureden, ruhig zu beginnen, die Tabletten sollte er aber mindestens<br />
noch 1 bis 2 Jahre regelmäßig weiter einnehmen. Diese Notwendigkeit<br />
sah er natürlich nicht ein, denn er fühlte sich nicht krank, und es tat ihm auch<br />
nichts weh. Den Begleitbrief an den Hausarzt öffnete ich zu Hause und las<br />
zum ersten Mal fassungslos die Worte: affektive Schizophrenie. Was bedeutete<br />
das, und wie sollten wir damit umgehen? Sollte ich noch einmal in die<br />
Klinik fahren und nachfragen? Aber die Erfahrungen und Erlebnisse dort hatten<br />
mir gereicht, da wollte ich auch nicht noch einmal hin.<br />
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74 75<br />
Diese großartigen Erfahrungen, die wir in München machen konnten, wollten<br />
wir unbedingt unserer Gruppe weitergeben. Sie sollte auch erfahren, dass<br />
mehr Informationen über die Krankheit den Umgang mit den Betroffenen erleichtert<br />
und die familiäre Situation wesentlich entspannt, denn je mehr man<br />
über die Krankheit weiß, desto schneller erkennt man, wann es wie<strong>der</strong> losgeht,<br />
und kann reagieren.<br />
Ich denke, dass sich alle <strong>Angehörigen</strong> für ihre Betroffenen ein selbstbestimmtes<br />
Leben wünschen, mit gleichen Chancen im Arbeitsleben und in <strong>der</strong> ambulanten<br />
Versorgung, genau wie bei somatisch Kranken.<br />
Für die Betroffenen ist es wichtig, den Rückhalt und die Unterstützung <strong>der</strong><br />
Familie zu spüren, und für uns Angehörige ist es wichtig, dass wir uns solidarisieren,<br />
denn nur gemeinsam können wir uns für die im Gesetz stehenden<br />
Rechte für unsere kranken Familienmitglie<strong>der</strong> einsetzen. Diese Verantwortung<br />
müssen wir übernehmen, denn bei den knappen Kassen <strong>der</strong> Bezirke wird<br />
man uns sonst immer mehr Aufgaben und Verantwortungen in die Schuhe<br />
Ich habe unser Familienleben immer für ganz normal gehalten und fand es in<br />
Ordnung, halbtags zu arbeiten, aber die vielen Vorwürfe und Ratschläge von<br />
Verwandten und Bekannten, was wir tun könnten und sollten, z.B. alternative<br />
Methoden ausprobieren, machten mich oftmals unsicher. Hier wurde mir jetzt<br />
endlich gesagt, dass ich nichts falsch gemacht hatte und nicht schuld an <strong>der</strong><br />
Krankheit unseres Sohnes war. Das erleichterte mich unsagbar.<br />
In diesem Kurs erfuhren wir, dass Schizophrenie auch eine Stoffwechselstörung<br />
des Gehirns ist, also eine medikamentöse und psychosoziale Behandlung<br />
unerlässlich ist, dass aber auch <strong>der</strong> Faktor Stress eine bedeutende Rolle spielt.<br />
Wir fühlten uns nicht mehr so hilflos, denn es wurde uns klar, dass auch Angehörige<br />
viel tun können, wenn sie Warnzeichen vor einem Rückfall erkennen<br />
und mit dem Betroffenen zusammen in guten Zeiten einen Krisenplan erstellen.<br />
Die krankhaften Reaktionen unseres Sohnes konnten wir endlich richtig<br />
einordnen und empfanden sie nicht mehr nur als Aggression gegen uns,<br />
son<strong>der</strong>n sahen sie als Teil seiner Krankheit an.<br />
Inzwischen haben wir vier Kurse mit Unterstützung <strong>der</strong> Klinik rechts <strong>der</strong> Isar<br />
selbständig durchgeführt, an denen insgesamt 65 Angehörige teilgenommen<br />
haben. Mit großer Dankbarkeit reagieren die Teilnehmer auf das Angebot und<br />
drücken ihre neuen Erkenntnisse zum Beispiel so aus: „Ja, wenn ich das alles<br />
nur schon früher gewusst hätte. Jetzt verstehe ich erst, warum meine Tochter<br />
die Medikamente immer noch nehmen muss“. O<strong>der</strong>: „Jetzt verstehe ich,<br />
warum mein Sohn aggressiv war, er hatte Angst, und die ist ein Teil seiner<br />
Krankheit.“ Ein Vater sagte: „Mir ist die Rolle <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> klar geworden.<br />
Wir müssen uns noch mehr für einen Trialog zwischen Betroffenen, Profis<br />
und <strong>Angehörigen</strong> einsetzen, denn mit <strong>der</strong> Krankheit allein gelassen, dreht<br />
sich <strong>der</strong> Patient im Kreis und hat kaum eine Chance, ein selbstbestimmtes Leben<br />
mit entsprechen<strong>der</strong> Lebensqualität zu führen.“<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
Angestoßen vom <strong>Landesverband</strong> ApK hatten mein Mann und ich 2003 die<br />
Gelegenheit, am Klinikum rechts <strong>der</strong> Isar in München an einem Psychoedukationskurs<br />
teilzunehmen. Schon nach <strong>der</strong> ersten Stunde waren wir vom Aufbau<br />
des Unterrichts so begeistert, dass wir die 600 Kilometer in den folgenden<br />
acht Wochen einmal pro Woche gern in Kauf nahmen.<br />
Jetzt erfuhren wir, was typische Symptome <strong>der</strong> Schizophrenie sind und wie<br />
sie sich ankündigen. Wir verstanden auch, dass Positiv- und Negativsymptome<br />
durch eine intensive medikamentöse und psychosoziale Behandlung gebessert<br />
werden können und es mehrere Ursachen für diese Krankheit gibt.<br />
Also beschlossen wir, weitere sechs Male nach München zu fahren, um an<br />
dem umfangreichen Ausbildungsprogramm als Mo<strong>der</strong>atoren für Psychoedukation<br />
teilzunehmen. In dem Projekt werden Angehörige in acht, ca. 90-minütigen,<br />
wöchentlich stattfindenden Sitzungen über Symptome, Ursachen, Diagnose,<br />
Medikamente, psychosoziale Behandlungsmöglichkeiten und Warnzeichen<br />
informiert.<br />
„Psychoedukation schafft die Krankheit nicht ab, aber sie hilft, erfolgreicher<br />
damit umzugehen“, sagt Dr. Josef Bäuml vom Klinikum rechts <strong>der</strong> Isar in<br />
München.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 74
76 77<br />
Es ist nicht so einfach, selbstbewusst die Rolle als Angehöriger eines <strong>psychisch</strong><br />
kranken Menschen anzunehmen und zu ihr zu stehen. Wir müssen unsere<br />
Wertvorstellungen än<strong>der</strong>n und mit unseren eigenen Vorurteilen aufräumen.<br />
Erst dann können wir uns von <strong>der</strong> Macht äußerer Faktoren freimachen;<br />
von <strong>der</strong> Meinung und den Erwartungen an<strong>der</strong>er, vom Zwang unserer eigenen<br />
Bedürfnisse und Wünsche.<br />
Diese innere Freiheit gehört wesentlich zu unserer Würde als Mensch.<br />
Für mich war es ein langer Weg!<br />
Das bedeutet auch, dass wir unseren Betroffenen Eigenverantwortung zurückgeben<br />
müssen und vor lauter Fürsorge und Mitgefühl unsere eigenen Bedürfnisse<br />
nicht vergessen dürfen. Erst dann können wir eine Hilfe bei <strong>der</strong> Krankheitsbewältigung<br />
sein und Ansprechpartner in Krisenzeiten und Notfällen.<br />
Angehörige können Verän<strong>der</strong>ungen im Verhalten des Patienten sehr früh erkennen.<br />
Durch gute Zusammenarbeit zwischen Patient, <strong>Angehörigen</strong> und Behandlungsteam<br />
kann möglicherweise ein Klinikaufenthalt vermieden werden.<br />
Wir <strong>Angehörigen</strong> würden uns wünschen, dass immer mehr Profis erkennen,<br />
dass Angehörige unverzichtbare Partner sind, die ernst genommen werden<br />
wollen und müssen.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
schieben, ohne dass man uns fragen wird und ohne dass wir praktische Hilfe<br />
o<strong>der</strong> finanzielle Erleichterung bekommen werden.<br />
In vielen Fällen sind Angehörige die einzige Verbindung <strong>der</strong> Kranken mit <strong>der</strong><br />
Umwelt und haben oft große Aufgaben und Belastungen zu bestehen: Kontakte<br />
wie<strong>der</strong> herzustellen, die finanzielle Situation des Betroffenen zu regeln<br />
und vor allem mit Vorurteilen fertig zu werden. All das gelingt nur, wenn man<br />
über die Krankheit aufgeklärt ist und weiß, dass niemand an <strong>der</strong> Erkrankung<br />
schuld ist. Eine Regel sagt: Nur wer für sich selbst verantwortlich ist, kann<br />
auch für an<strong>der</strong>e Verantwortung tragen.<br />
Jetzt lebt unser Sohn allein in einer hübschen kleinen Wohnung in Erlangen<br />
und hat das 1. Semester Soziologie und Politologie erfolgreich abgeschlossen.<br />
Erst kürzlich verbrachte unsere ganze Familie einen herrlichen sonnigen Skiurlaub<br />
in Österreich. Es waren schöne Tage, wir hatten viel Spaß und gute<br />
Gespräche.<br />
Ob er seine Tabletten auch wirklich immer regelmäßig nimmt, das frage ich<br />
nicht mehr!<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 76
78 79<br />
Die Folgen sind:<br />
• Unverständnis: Die Probleme <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> werden nicht akzeptiert.<br />
• Häufig ist <strong>der</strong> nächste Angehörige das Ziel unfundierter Vorwürfe. Er<br />
dient in <strong>der</strong> Krise als bequemes Feindbild.<br />
Dies kann in Krisensituationen dazu führen, dass die <strong>Angehörigen</strong> sogar mehr<br />
leiden als <strong>der</strong> Betroffene selbst.<br />
Unser Verhalten als Angehörige<br />
Bestimmte Verhaltensweisen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> können offensichtlich den<br />
Krankheitsverlauf positiv beeinflussen und somit zu einer niedrigeren Rückfallrate<br />
beitragen. Ein positives Familienklima, das von positiven Gefühlen<br />
Psychische Krankheiten verän<strong>der</strong>n nicht nur die Lebenssituation <strong>der</strong> unmittelbar<br />
Betroffenen, son<strong>der</strong>n auch die ihrer <strong>Angehörigen</strong> grundlegend.<br />
• Bei depressiv Erkrankten müssen sich die <strong>Angehörigen</strong> in eine fremde<br />
Erlebniswelt hineindenken und Aufgaben für einen zeitweilig mehr o<strong>der</strong><br />
weniger lebensunfähigen Menschen übernehmen. Obwohl die Betroffenen<br />
leiden, weigern sie sich häufig, eine Behandlung zu akzeptieren.<br />
• Bei „bipolaren“ Erkrankungen droht zudem je<strong>der</strong>zeit die Umkehr in eine<br />
manische Phase, in welcher oft keinerlei Krankheitseinsicht o<strong>der</strong> Behandlungsbereitschaft<br />
des Betroffenen mehr vorhanden ist.<br />
• Auch bei Schizophrenie fehlt meist die Krankheitseinsicht, da Wahnvorstellungen<br />
ja als real erlebt werden. Bei Bor<strong>der</strong>line-Störungen ist die<br />
Persönlichkeitsstörung für den Betroffenen selbst nur schwer erkennbar.<br />
Schuldgefühle<br />
Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker fragen sich, ob und inwieweit sie selbst schuld<br />
o<strong>der</strong> mitschuldig am Ausbruch <strong>der</strong> Krankheit sind. Angehörige müssen jedoch<br />
aufgrund des Ausbruchs und Verlaufs <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung eines Familienmitglieds<br />
in aller Regel keine Schuldgefühle entwickeln, da sie ja jeweils<br />
versucht haben, aus <strong>der</strong> momentanen Situation heraus das aus ihrer Sicht<br />
Beste zu tun.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Noch’n Verein – Warum organisieren sich<br />
Angehörige?<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> des <strong>Landesverband</strong>es <strong>Bayern</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />
Karl Heinz Möhrmann<br />
Aber auch die <strong>Angehörigen</strong> wollen eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung zunächst nicht<br />
wahrhaben. Dafür gibt es zahlreiche Gründe, beispielsweise:<br />
• „Mein Sohn ist doch nicht geisteskrank“<br />
Er hätte es ja sonst womöglich von mir geerbt – Makel <strong>der</strong> eigenen Unvollkommenheit<br />
– „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“<br />
• Angst vor <strong>der</strong> unüberschaubaren Problematik<br />
Was wird denn dann aus meinem Sohn/meiner Tochter/<strong>der</strong> Ausbildung/dem<br />
Beruf/unserer Ehe?<br />
• Angst vor <strong>der</strong> Schande<br />
Es wird als Schande betrachtet, einen <strong>psychisch</strong> Kranken in <strong>der</strong> Familie<br />
zu haben. Nachbarn, Freunde, Bekannte zerreißen sich den Mund.<br />
Problem vor allem in ländlichen Gegenden.<br />
• Angst vor Schuldzuweisungen<br />
„Ich habe es ja schon immer gesagt: daran ist nur Deine Erziehung<br />
schuld!“<br />
• „Medikamente sind Gift, haben Nebenwirkungen, machen abhängig!“<br />
Antidepressiva und Antipsychotika machen nicht abhängig – diese Gefahr<br />
besteht nur bei Tranquilizern.<br />
Angehörige<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 78
80 81<br />
Warum ist <strong>der</strong> Besuch einer Selbsthilfegruppe für Angehörige<br />
nützlich?<br />
• Die Kräfte <strong>der</strong> nahe stehenden <strong>Angehörigen</strong> werden im Alltag oft überfor<strong>der</strong>t.<br />
Sie brauchen Verständnis und einen Ort, an dem sie offen über<br />
ihre Sorgen und Nöte reden können. Dieser Ort kann eine Selbsthilfegruppe<br />
von <strong>Angehörigen</strong> sein, wo sich Menschen in ähnlicher Situation<br />
austauschen können und mit ihren Problemen nicht mehr alleine stehen.<br />
• Hier findet ein Zusammentreffen mit Menschen in gleicher o<strong>der</strong> ähnlicher<br />
Lage statt.<br />
Es gibt keine Diskriminierung o<strong>der</strong> Stigmatisierung. Bei den Teilnehmern<br />
liegt ein ähnlicher Erfahrungs- und Leidenshintergrund vor. Dies<br />
führt zu Verständnis füreinan<strong>der</strong> und zu emotionaler Entlastung und ermöglicht<br />
einen intensiven Erfahrungsaustausch. Die Teilnehmer können<br />
gegenseitig voneinan<strong>der</strong> profitieren.<br />
„Du alleine kannst es, aber Du kannst es nicht alleine!“<br />
• Der Erfahrungsaustausch in <strong>der</strong> Gruppe führt zur Verringerung von<br />
Schuldgefühlen sowie zum Abbau von Vorurteilen und von Stigmatisierung,<br />
und vermittelt Hoffnung.<br />
Warum ist die Mitgliedschaft in <strong>der</strong> Selbsthilfebewegung für<br />
Angehörige nützlich?<br />
• Die betroffenen Familien bekommen kaum Verständnis und Hilfe von<br />
außen, und ihr Wunsch nach Informationen über die Krankheit von professioneller<br />
Seite findet eher selten Gehör. Daher ist die Selbsthilfe und<br />
die gegenseitige Unterstützung auf Orts- und Landesebene ein unverzichtbarer<br />
Halt im Zusammenleben mit dem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied.<br />
• Es gibt „politische“ Gründe:<br />
Die For<strong>der</strong>ungen von Verbesserungen in <strong>der</strong> Psychiatrie und die Vertretung<br />
<strong>der</strong> Interessen und Anliegen <strong>der</strong> Betroffenen und <strong>Angehörigen</strong> auf<br />
kommunaler bzw. regionaler Ebene müssen nachhaltig organisiert und<br />
aufrechterhalten werden.<br />
Als Einzelperson erreichen Sie gar nichts! Nur gemeinsam sind wir stark!<br />
• Neben <strong>der</strong> lokalen <strong>Angehörigen</strong>gruppe ist also eine größere Einheit notwendig,<br />
welche die Interessen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> auch überregional ver-<br />
1. Regionaltreffen<br />
Informieren Sie sich!<br />
Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker sollten bereit sein, sich über die Krankheit zu<br />
informieren und zu lernen, bestmöglich damit umzugehen – sowohl im eigenen<br />
Interesse als auch im Interesse <strong>der</strong> Betroffenen. Wer nicht informiert ist,<br />
wird gesteuert. Nur wer informiert ist, kann selbst steuern!<br />
Und: Eine bekannte Gefahr ist nur noch halb so groß!<br />
und gegenseitiger Wertschätzung getragen wird, wirkt sich positiv auf den<br />
weiteren Krankheitsverlauf einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung aus und hilft, Rückfälle<br />
zu vermeiden.<br />
Es lohnt sich, das eingespielte Verhalten ab und zu zu überdenken, und zu<br />
versuchen, die Toleranz gegenüber dem /<strong>der</strong> Betroffenen zu vergrößern.<br />
• Der Informationsbedarf über die Erkrankung kann befriedigt werden.<br />
Wenn Sie zeigen, dass Sie Bescheid wissen, werden Sie von den Profis<br />
eher ernst genommen!<br />
• Sie haben die Möglichkeit, von an<strong>der</strong>en betroffenen <strong>Angehörigen</strong> zu lernen.<br />
• Dies führt zu mehr Souveränität im Umgang <strong>der</strong> Betroffenen und <strong>Angehörigen</strong><br />
mit <strong>der</strong> Krankheit.<br />
• Es entstehen über die Gruppe hinausgehende Kontakte und Freundschaften.<br />
Dies hilft bei <strong>der</strong> Vermeidung gesellschaftlicher Isolierung.<br />
• Hier lernen und entwickeln Sie auch Techniken des zwischenmenschlichen<br />
Umgangs. Dies erleichtert das Verhalten in <strong>der</strong> Familie bzw. in <strong>der</strong><br />
sozialen Umgebung.<br />
„Selbsthilfe“ beruht auf Gegenseitigkeit. Sie bedeutet nicht, nur sich selbst<br />
helfen zu lassen, son<strong>der</strong>n auch, selbst zu helfen – sich und an<strong>der</strong>en!<br />
Angehörige<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 80
82 83<br />
Der <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> ist mit nahezu 2000 Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
größte regionale Selbsthilfeverband in <strong>der</strong> Psychiatrie in <strong>der</strong> BRD.<br />
Der Verband finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie durch<br />
staatliche und kommunale För<strong>der</strong>ung, durch die gesetzlich verankerte Selbsthilfeför<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Krankenkassen und nur zu einem sehr geringen Anteil<br />
durch Sponsoring. Er ist ein gemeinnütziger, ehrenamtlich geleiteter Verein<br />
und ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) und<br />
bei <strong>der</strong> Landesarbeitsgemeinschaft für Behin<strong>der</strong>te (LAGB).<br />
Der <strong>Landesverband</strong> bietet den <strong>Angehörigen</strong><br />
• Ein flächendeckendes Beratungsnetz<br />
Der <strong>Landesverband</strong> baut sein Beratungsnetz mit Selbsthilfekontaktstellen<br />
in <strong>Bayern</strong> flächendeckend aus. Er berät und unterstützt auch bei <strong>der</strong> Entstehung<br />
neuer <strong>Angehörigen</strong>-Selbsthilfegruppen.<br />
• Spezielle Beratungsangebote<br />
Der <strong>Landesverband</strong> plant beson<strong>der</strong>e Beratungs- und Informationsprogramme<br />
für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern sowie für Geschwister und<br />
Partner von <strong>psychisch</strong> kranken Menschen.<br />
tritt. Nur gemeinsam lässt sich an den psychiatrischen Versorgungsstrukturen<br />
etwas verän<strong>der</strong>n. Eine selbstbewusste, kompetent argumentierende,<br />
gut organisierte und demokratisch legitimierte Selbsthilfebewegung<br />
ist die beste Lobby.<br />
• Der Informationsbedarf von Betroffenen und <strong>Angehörigen</strong> über die Erkrankung<br />
kann besser befriedigt werden: dazu gibt es Psychoedukation.<br />
Die Teilnahme daran hilft, die Krankheit und die möglichen Behandlungsmethoden<br />
zu verstehen und zu lernen, damit umzugehen. Hier erhalten<br />
Sie Aufklärung über Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten.<br />
• Der <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V. versteht<br />
sich als Stimme <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, Partner und Freunde <strong>psychisch</strong><br />
kranker Menschen in <strong>Bayern</strong>. Er vertritt ihre Interessen in Psychiatrie,<br />
Politik und Gesellschaft. Das Schicksal <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> ist nicht von<br />
dem ihrer <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglie<strong>der</strong> zu trennen. Daher vertritt<br />
<strong>der</strong> Verband neben den etablierten Organisationen <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
Kranken, und wenn möglich in Zusammenarbeit mit diesen, auch <strong>der</strong>en<br />
Anliegen.<br />
Selbstbewusste, informierte und solidarische Angehörige können die mit <strong>psychisch</strong>en<br />
Erkrankungen verbundenen Herausfor<strong>der</strong>ungen besser annehmen<br />
und bewältigen.<br />
Die bayerische <strong>Angehörigen</strong>vertretung strebt eine familiengerechte Psychiatrie<br />
und eine Gesellschaft an, welche die belastete Lebenssituation <strong>der</strong> betroffenen<br />
Familien anerkennt, die ihnen mit Respekt und Verständnis begegnet<br />
und ihnen die notwendige Unterstützung gewährt. Ziel sind aufgeklärte, solidarische<br />
und selbstbewusste Familien, die ihre Rechte kennen und die den<br />
Mut haben, Hilfen einzufor<strong>der</strong>n, die sie zur Bewältigung ihrer schwierigen<br />
Lage brauchen. Der Verband tritt für das gleichberechtigte trialogische Gespräch<br />
zwischen Betroffenen, <strong>Angehörigen</strong> und Fachleuten <strong>der</strong> psychiatrischen<br />
Versorgung ein.<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
Ziele des <strong>Landesverband</strong>es<br />
Es ist nicht leicht, eine <strong>psychisch</strong>e Krankheit zu verstehen. Und es ist ganz<br />
und gar nicht leicht, das eigene Leben als Angehöriger auf diese Krankheit<br />
einzustellen und die verän<strong>der</strong>te Situation zu akzeptieren. Alle Anstrengungen<br />
des <strong>Landesverband</strong>s laufen darauf hinaus, die Lebensqualität <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
von <strong>psychisch</strong> Kranken zu verbessern, ihnen Benachteiligungen zu ersparen<br />
und die Familien im selbstbewussten Umgang mit dem Schicksal einer <strong>psychisch</strong>en<br />
Erkrankung zu stärken.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 82
84 85<br />
Ferner setzt sich <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> für die folgenden Ziele ein:<br />
• Gleichstellung<br />
Die Gleichstellung <strong>psychisch</strong> kranker und behin<strong>der</strong>ter Menschen und<br />
ihrer <strong>Angehörigen</strong> mit somatisch Kranken und <strong>der</strong>en Familien hat Fortschritte<br />
gemacht. Trotzdem bleibt noch viel zu tun. Zu den unverrückbaren<br />
Zielen des <strong>Landesverband</strong>s zählen verbesserte ambulante und rehabilitative<br />
Versorgungsangebote – vergleichbar gut, wohnortnah und<br />
flächendeckend wie für körperlich Kranke.<br />
• Partnerschaftliche Zusammenarbeit<br />
Der <strong>Landesverband</strong> wird inzwischen als Lobbyorganisation öffentlich<br />
anerkannt und partnerschaftlich in viele gesundheitspolitische Entscheidungen<br />
mit einbezogen. Diese Achtung und Anerkennung for<strong>der</strong>n wir<br />
auch für jeden einzelnen <strong>Angehörigen</strong> und Patienten im Alltag.<br />
• Stärkere Berücksichtigung <strong>der</strong> Familie<br />
Mit allgemeinen Grundsätzen allein ist es nicht getan. Die immer wichtigere<br />
Rolle <strong>der</strong> Familie bleibt hierbei unberücksichtigt. Daher setzt sich<br />
<strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> zusätzlich für folgende Punkte ein:<br />
• Eine familienorientierte Psychiatrie, die auch die berechtigten Anliegen<br />
<strong>der</strong> betreuenden <strong>Angehörigen</strong> berücksichtigt<br />
• Zusammenarbeit <strong>der</strong> professionellen Seite mit betreuenden <strong>Angehörigen</strong><br />
„auf gleicher Augenhöhe“<br />
• Selbstbestimmung und Freiwilligkeit <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> bezüglich<br />
ihres Anteils an Betreuungsleistungen für <strong>psychisch</strong> Kranke<br />
• Schutz aller Familienangehörigen (Grundgesetz Artikel 6: Ehe und<br />
Familie stehen unter dem beson<strong>der</strong>en Schutze <strong>der</strong> staatlichen Ordnung)<br />
• Abbau von Vorurteilen (Entstigmatisierung)<br />
Um diese Ziele zu erreichen, betreibt <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> eine intensive<br />
Öffentlichkeitsarbeit, er pflegt Kontakte zu Vertretern <strong>der</strong> Psychiatrie, zu<br />
Politikern, zu Medien und Behörden und informiert in Schulen und Betrieben.<br />
Unterstützt werden diese Aktivitäten durch Publikationen des <strong>Landesverband</strong>s.<br />
Unterstützen auch Sie unsere Ziele – welche auch die Ihren sind – durch Ihre<br />
Mitgliedschaft!<br />
1. Regionaltreffen<br />
Angebote des <strong>Landesverband</strong>es für seine Mitglie<strong>der</strong> sind:<br />
• Persönliche Beratung und Information<br />
• Unterstützung von <strong>Angehörigen</strong>gruppen<br />
• Informations- und Trainingsprogramme,<br />
z.B. „AiA – Angehörige informieren Angehörige“<br />
• Fortbildungsveranstaltungen für Einzelmitglie<strong>der</strong> und Gruppenleiter/innen<br />
z.B.:<br />
„Führen und Leiten von Gruppen“,<br />
„Ressourcenorientiertes Mo<strong>der</strong>ieren“,<br />
„Umgang mit aggressivem Verhalten eines <strong>psychisch</strong> kranken <strong>Angehörigen</strong>“<br />
usw.<br />
• Landes-, Regional- und spezielle Thementagungen für Angehörige<br />
• Verbandszeitung „unbeirrbar“ und Psychosoziale Umschau für Mitglie<strong>der</strong>,<br />
weitere Publikationen<br />
Die Wahrnehmung dieser Angebote führt zu wachsendem Vertrauen in die<br />
eigenen Ressourcen und Fähigkeiten <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>. Sie dient <strong>der</strong> Motivation<br />
zur aktiven Verbesserung <strong>der</strong> eigenen Lebenssituation und <strong>der</strong> des Betroffenen<br />
und vermittelt Hoffnung und Zuversicht.<br />
Angehörige<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 84
86 87<br />
2. Regionaltreffen<br />
ab 9.30 Uhr: Eintreffen, Begrüßungskaffee<br />
10.00 Uhr: Grußworte Fritz Stahl, Oberbürgermeister <strong>der</strong> Stadt<br />
Traunstein<br />
10.15 – 10.45 Uhr: „Die Angebote des Sozialpsychiatrischen Dienstes<br />
für Angehörige“<br />
Sophie Stadler, Dipl. Psychologin,<br />
Sozialpsychiatrischer Dienst Traunstein<br />
10.45 -11.45 Uhr: „Unser Weg – <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>“<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
11.45 – 12.00 Uhr: Pause<br />
12.00 – 13.00 Uhr: „Selbsthilfegruppen und Psychoedukation –<br />
Unterstützungsangebote für Angehörige“<br />
Karl Heinz Möhrmann, Vorsitzen<strong>der</strong> des<br />
<strong>Landesverband</strong>es ApK<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong>, Vorsitzende des Bundesverbandes <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker<br />
Elisabeth Decker, Angehörige ApK Starnberg<br />
13.00 – 14.00 Uhr: Mittagspause<br />
14.00 – 15.30 Uhr: „Sie fragen – wir antworten“ Informations-Service<br />
für Angehörige<br />
Vertreter des LApK<br />
stehen für Fragen zu Ihrer Verfügung<br />
15.30 – 16.00 Uhr: Kaffeepause<br />
16.00 – 16.30 Uhr: Abschlussplenum<br />
Angehörige<br />
PROGRAMM<br />
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88 89<br />
2. Regionaltreffen<br />
Karl Heinz Möhrmann<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />
Ihr<br />
Je<strong>der</strong> Angehörige hat zunächst an <strong>der</strong> Richtigkeit <strong>der</strong> Diagnose gezweifelt,<br />
hat geglaubt das alles müsse ein Irrtum sein, hat nach Schuldigen gesucht und<br />
war dann zutiefst verzweifelt, als die Zeit verging und sich nichts Wesentliches<br />
än<strong>der</strong>te.<br />
Mal zornig, mal jammernd beklagte man die Ungerechtigkeit des Schicksals.<br />
Verbittert, apathisch und resignierend überließ man sich dem Krankheitsverlauf,<br />
bis sich so allmählich <strong>der</strong> Gedanke durchsetzte: da müsse man doch<br />
etwas tun können, da müssten wir, die <strong>Angehörigen</strong>, doch etwas tun können.<br />
Es stellte sich die Bereitschaft ein, <strong>der</strong> Tatsache ins Auge zu sehen.<br />
Damit einher ging das Bewusstsein, nicht nur für den Betroffenen etwas tun<br />
zu müssen, son<strong>der</strong>n auch für sich selber Verantwortung übernehmen zu müssen,<br />
um zu verhin<strong>der</strong>n, dass <strong>der</strong> wechselnde Krankheitsverlauf sein eigenes<br />
Leben bestimmt. Selber aktiv werden, selber nach Wegen suchen und selber<br />
bestimmen, inwieweit die <strong>psychisch</strong>e Krankheit unseres Kindes, unseres Partners<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Eltern zum Lebensinhalt wird, das stellt uns vor oftmals nicht<br />
leichte Entscheidungen. Aber wir eröffnen uns damit Wege – nicht nur einen<br />
Weg –, und das schafft Zufriedenheit.<br />
Je<strong>der</strong> Angehörige hatte Zeiten, in denen er sich schämte wegen seines Unvermögens,<br />
mit <strong>der</strong> Situation klar zu kommen. Er schämte sich wegen seiner<br />
Zweifel, seiner Wut, seiner Ängste und seiner Hoffnungslosigkeit. Im Fol-<br />
Angehörige<br />
Eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung belastet nie nur den Betroffenen allein, son<strong>der</strong>n<br />
immer auch die ganze Familie. Diese Tagung soll Ihnen Informationen über<br />
die in Ihrer Region verfügbaren Hilfen, aber auch Ratschläge zum Umgang<br />
mit Ihrem kranken <strong>Angehörigen</strong> vermitteln.<br />
Am Nachmittag laden wir Sie zum Gespräch ein, wobei Sie Gelegenheit haben,<br />
Ihre Fragen zum Umgang mit <strong>psychisch</strong> erkrankten Menschen zu stellen.<br />
Sie haben hier die einmalige Chance, mehrere Fachleute an einem Ort<br />
zu treffen, neue Kontakte zu knüpfen und wertvolle Informationen zu erfragen<br />
und zu sammeln.<br />
Nur wenn Sie es schaffen, halbwegs gelassen und souverän mit <strong>der</strong> Erkrankung<br />
des Betroffenen umzugehen, können Sie auch dem Betroffenen und<br />
sich selbst helfen!<br />
Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme an <strong>der</strong> Tagung!<br />
Unser Weg – <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
Vorsitzende des Bundesverbands <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />
Liebe Angehörige!<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong><br />
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90 91<br />
Übrigens, dem Betroffenen geht es genauso, auch er versteht die Welt nicht<br />
mehr, kann die Verhaltenweisen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en nicht mehr einordnen. Er muss<br />
erfahren, dass die an<strong>der</strong>en die Dinge an<strong>der</strong>s wahrnehmen, als er sie erlebt und<br />
dass sie seine Erlebnisse und Erkenntnisse in Zweifel ziehen. Sein Vertrauen<br />
in alles – auch in sich selbst – geht verloren. Das, was man „Leben“ nennt,<br />
hat eine an<strong>der</strong>e Bedeutung für ihn angenommen, die ihm mal Angst macht<br />
o<strong>der</strong> ihn über sich hinauswachsen lässt. Und manchmal, nur für ihn selber<br />
spürbar, werden ihm übersinnliche Kräfte verliehen. Niemand versteht ihn,<br />
niemand nimmt seine Ängste ernst, alles ist bedrohlich, und jede Entscheidung<br />
fällt ihm schwer. Er merkt, dass etwas nicht stimmt. Aber was?<br />
Die Suche nach seinem Weg<br />
Ohne es sich so richtig bewusst zu machen, suchen die betroffenen Familien<br />
nach Wegen, mit dem ihnen fremd gewordenen Familienmitglied umzugehen,<br />
sie suchen nach Wegen, demjenigen zu helfen und danach, sich selber zu<br />
schützen und bei alledem ein einigermaßen gewohntes Leben führen zu kön-<br />
Bevor die Krankheit ausbricht<br />
Die <strong>Angehörigen</strong> fühlen sich fassungslos einer Situation ausgeliefert, die sie<br />
nicht beeinflussen können, die sie nicht steuern und nicht umkehren können.<br />
Sie sind Zuschauer einer ängstigenden Entwicklung und sind Mitbetroffene.<br />
Sie wehren sich dagegen, die Verhaltensverän<strong>der</strong>ungen mit einem krankhaften<br />
Zustand in Verbindung zu bringen. Durchschnittlich dauert die Phase vor<br />
<strong>der</strong> Diagnosestellung, die „prodromale“ Phase, bei einer Erkrankung aus dem<br />
schizophrenen Formenkreis fünf bis sieben Jahre – Jahre voller Missverständnisse,<br />
kontinuierlich zunehmen<strong>der</strong> Verunsicherung, immer bedrücken<strong>der</strong> werden<strong>der</strong><br />
Angst vor <strong>der</strong> Zukunft. Erklärungsmodelle für die unerklärlichen Reaktionen<br />
des Betroffenen, für seine o<strong>der</strong> ihre verän<strong>der</strong>te Lebensweise, beruhigen<br />
die Nahestehenden immer nur kurze Zeit.<br />
Die <strong>Angehörigen</strong> sind lange Zeit ratlos und fühlen mit Entsetzen, wie sie<br />
selbst mit hineingezogen werden in den Verän<strong>der</strong>ungsprozess – hilflos ihm<br />
ausgeliefert. Immer schlechter kommen die <strong>Angehörigen</strong> mit dieser Situation<br />
zurecht, je weniger die gewohnten Reaktionen greifen. Verzweiflung macht<br />
sich breit. Das Grübeln führt zu nichts, die Gedanken kreisen nur noch um<br />
das eine: Wohin soll das noch führen?<br />
Bei Rückenschmerzen fragt man Freunde, Nachbarn, Verwandte. Bei <strong>der</strong> Beschreibung<br />
einer beginnenden <strong>psychisch</strong>en Erkrankung ernten die Ratsuchenden<br />
Unverständnis bis Vorwürfe und bestenfalls eine ganze Skala gut gemeinter,<br />
aber in dieser Situation unpraktikabler Vorschläge. Sie ernten schiefe<br />
Blicke statt Erfahrungswissen, Abwehrhaltung statt Mitgefühl. Es ist normal,<br />
dass sich die so betroffene Familie verschließt und die weiteren Entwicklungen<br />
weitestgehend versteckt.<br />
2. Regionaltreffen<br />
Angehörige<br />
Die Familienmitglie<strong>der</strong> sind irritiert – nein, sie sind völlig durcheinan<strong>der</strong>:<br />
Was gestern galt, gilt heute nicht mehr! Freundlichkeit, Vertrautheit und Liebe<br />
lösen Abwehr und Rückzug aus. Unverständliche Handlungsriten und Gefühlsausbrüche<br />
<strong>der</strong> Betroffenen verstören, auf Kontaktversuche kommt keine<br />
Antwort. Der ganze Familienalltag steht Kopf.<br />
Alles verän<strong>der</strong>t sich<br />
Angehörige werden eigentlich immer von <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung eines<br />
Familienmitglieds unvorbereitet erwischt, die einen plötzlich durch einen<br />
abrupten Ausbruch, die meisten aber erleben einen langen schleichenden Verän<strong>der</strong>ungsprozess<br />
des geliebten Partners, Kindes o<strong>der</strong> Elternteils. Anfangs<br />
meinen alle, das geht vorüber. Dann aber – irgendwann – fühlen die <strong>Angehörigen</strong>,<br />
das sprengt das Übliche, übersteigt das, was man schlechte Laune,<br />
schlechte Stimmung, Pubertät, Revoltieren nennt, das muss etwas tiefer sitzen.<br />
genden möchte ich zeigen, dass so gut wie alle <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> kranker<br />
Menschen durch diese Phasen gehen, bewusst o<strong>der</strong> unbewusst, mehr o<strong>der</strong><br />
min<strong>der</strong> intensiv.<br />
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92 93<br />
nen. Manche Familienmitglie<strong>der</strong> wählen den einfachen Weg <strong>der</strong> Trennung.<br />
Denjenigen, die bleiben, die zu dem Erkrankten halten wollen und Verantwortung<br />
übernehmen möchten, steht die vielleicht nie enden wollende Aufgabe<br />
bevor, nach ihrem eigenen Weg zu suchen. Um einerseits bei <strong>der</strong> Krankheitsbewältigung<br />
zu unterstützen und an<strong>der</strong>erseits behilflich zu sein bei <strong>der</strong><br />
Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung in ein „normales Leben“, müssen die <strong>Angehörigen</strong> die<br />
<strong>psychisch</strong>e Krankheit als Krankheit erkennen, anerkennen und bereit sein,<br />
sich vor allem mit Basiswissen über sie auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Das ist Teil<br />
„unseres Weges“. Den ultimativen <strong>Angehörigen</strong>-Weg gibt es nicht, schon deshalb<br />
nicht, weil je<strong>der</strong> Angehörige seine Rolle an<strong>der</strong>s definiert. Und nicht nur<br />
das, <strong>der</strong> einzelne Angehörige sieht seine Rolle heute – und dementsprechend<br />
seinen Weg, damit zurande zu kommen – an<strong>der</strong>s als in einem halben Jahr o<strong>der</strong><br />
gar nach Jahren. Einen „Patentweg“ gibt es ebenso wenig, wie es die typische<br />
<strong>psychisch</strong>e Erkrankung gibt und ebenso wenig, wie es den Prototyp „Angehöriger“<br />
gibt.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Selbsthilfe, in den <strong>Angehörigen</strong>-Gruppen sammeln sich<br />
Erfahrungen und gelungene und weniger gelungene Beispiele für ein gemeinsames<br />
Leben mit psychsich Kranken.<br />
Wie lernt man, mit den Symptomen zu leben, ohne dass sie einem ständig auf<br />
die Nerven gehen, ohne sich dauernd Sorgen zu machen? Sie übersehen? Sie<br />
mit dem Kranken besprechen? Ihn auffor<strong>der</strong>n, sich zusammenzureißen?<br />
Wie schafft man es als Nahestehen<strong>der</strong>, mit wechselhaften Verläufen ohne<br />
Angst und Panik fertig zu werden? Sich selber und seine eigenen Gefühle in<br />
den Griff zu bekommen, das heißt auch, sich nicht von <strong>der</strong> Krankheit total<br />
vereinnahmen zu lassen? Welche Wege haben sich bewährt, man selbst zu<br />
bleiben?<br />
Beispiele von an<strong>der</strong>en, die in einer ähnlichen Situation stecken o<strong>der</strong> steckten,<br />
gibt es viele. Sie inspirieren, nur, ob sie so haargenau auch auf einen selber<br />
zutreffen, ist eher zweifelhaft. Als Mutmacher sind sie Gold wert. Aber durch<br />
die Phasen <strong>der</strong> Krankheitseinsicht, des Begreifens, <strong>der</strong> Akzeptanz und <strong>der</strong><br />
Schicksals-Bewältigung muss je<strong>der</strong> allein seinen ureigenen Weg suchen und<br />
finden.<br />
Der Weg entsteht beim Gehen<br />
Der Weg entsteht beim Gehen, sagt man, wann immer man am Anfang eines<br />
neuen Lebensabschnittes zu stehen meint. Ich kann mir keine an<strong>der</strong>e Lebenssituation<br />
vorstellen, für die dieser Satz besser passen würde als für die Begleitung<br />
<strong>psychisch</strong> kranker Familienmitglie<strong>der</strong>. Erst beim Gehen entdeckt<br />
man nach und nach neue Wege, man entdeckt, dass Wege in kleinen überschaubaren<br />
Etappen mit kleinen Zielen leichter zu bewältigen sind. Die Zufriedenheit,<br />
ein Teilziel nach dem an<strong>der</strong>en erreicht zu haben, ermutigt, auch<br />
schwierigere Wegstrecken anzugehen. Vorwärts drängen, Druck machen ber-<br />
2. Regionaltreffen<br />
Die drei Abschnitte des Gesamtweges<br />
Was den gesamten Verarbeitungsprozess von den ersten wahrgenommenen<br />
Ungereimtheiten im Verhalten eines Familienmitglieds über den zum akuten,<br />
vielleicht dramatischen Ausbruch <strong>der</strong> Diagnosemitteilung bis zum Sich-Einstellen<br />
auf die neue Lebens- und Familiensituation und dem festen Willen,<br />
aktiv mitzuhelfen, angeht, kann man drei für alle Angehörige geltende Abschnitte<br />
erkennen:<br />
• Die Vorlaufzeit vor <strong>der</strong> Akutphase,<br />
• Die Krankheitsphase mit Trauerarbeit nach <strong>der</strong> Diagnosestellung, Verarbeitung<br />
des Schicksals und <strong>der</strong> Zukunftsaussichten<br />
• Die Langzeitbewältigung mit dem eigenen Weg für den langfristigen<br />
Verlauf, die selbstgewählte Rolle wird akzeptiert, aktive und kreative<br />
Mitarbeit bei <strong>der</strong> Bewältigung schafft Selbstbewusstsein. Der Kontakt zu<br />
Mit-Betroffenen erleichtert den Weg.<br />
Diesen Abschnitt zu erreichen und bewusst Verantwortung für sich und, wenn<br />
nötig, für das <strong>psychisch</strong> langfristig kranke Familienmitglied zu übernehmen,<br />
das ist die Belohnung für die erfolgreiche Bewältigung <strong>der</strong> beiden ersten Phasen.<br />
Weitgehend befreit von Ängsten, von Hilflosigkeit und von Hoffnungslosigkeit<br />
wird aktives Mithelfen möglich. Erst wenn <strong>der</strong> Angehörige die ersten<br />
beiden Phasen durchlebt – durchlitten – hat, bringt er die Kraft für die Dauerbegleitung<br />
auf.<br />
Angehörige<br />
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94 95<br />
Zurück zu den drei Abschnitten des Gesamtweges, den sich die <strong>Angehörigen</strong><br />
erarbeiten müssen, wollen sie we<strong>der</strong> an den krankheitsbedingten Herausfor<strong>der</strong>ungen,<br />
noch an den fremden o<strong>der</strong> eigenen Ansprüchen scheitern.<br />
Irgendwann kommt in <strong>der</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger langen Prodromal-Zeit <strong>der</strong> Moment,<br />
wo man sich wünscht, die Unsicherheiten und diffusen Ängste möchten<br />
ein Ende nehmen und <strong>der</strong> Grund dafür möchte endlich einen Namen kriegen.<br />
gen die Gefahr <strong>der</strong> Überfor<strong>der</strong>ung in sich. Ruhepausen dienen nicht nur dem<br />
Ausruhen, sie erlauben, die zurückgelegte Wegstrecke zu überdenken und die<br />
kommende zu planen. Wohl die wichtigste Entdeckung beim Gehen langer<br />
schwieriger Wege ist, auch wie<strong>der</strong> umkehren und zurückgehen zu können,<br />
wenn die Ergebnisse unbefriedigend sind o<strong>der</strong> wenn die Zielrichtung nicht<br />
mehr stimmt. Umkehren und einen Neubeginn wagen zeugt von Mut und Entschlossenheit<br />
und ist allemal besser als Stillstand. Wer still steht, hat aufgegeben.<br />
Es hilft nichts, wir <strong>Angehörigen</strong> müssen nach Wegen suchen, unsere Rolle als<br />
Angehörige zu begreifen und zu akzeptieren. Dazu bedürfen wir Krankheits-<br />
Informationen, Erfahrungen an<strong>der</strong>er und den Erfahrungsaustausch mit Gleichbetroffenen<br />
und das Verständnis professioneller Helfer. Je früher wir anfangen,<br />
aktiv zu werden, und die Lähmung durch den Diagnoseschock zu überwinden,<br />
desto besser ist es. Stillstand heißt aufgeben, und aufgeben heißt<br />
Stillstand – fangen wir an zu gehen! O<strong>der</strong> weiterzugehen!<br />
Wenn Angehörige, die schon längere Zeit ihren <strong>psychisch</strong> Kranken begleitet<br />
haben, zurückblicken auf ihre Erfahrungen, auf die wechselhaften Verläufe<br />
und auf ein längeres Zusammenleben mit dem Betroffenen, erkennen sie sehr<br />
gut, wie schwer es war, einen Weg zu finden, eben ihren Weg zu finden,<br />
einen, auf dem sie selber einigermaßen sicher und mit erträglicher Belastung<br />
gehen können und auf dem auch <strong>der</strong> Betroffene mitgehen kann.<br />
Mit einem tiefen Seufzer sagte mir einmal eine Angehörige: „Es war ein langer<br />
Weg durch Höhen und Tiefen bis heute, ein Weg, <strong>der</strong> mir schwer fiel, aber<br />
<strong>der</strong> mir auch Kräfte verliehen hat, Kräfte, die ich nie in mir vermutet hätte.<br />
Und heute bin ich stolz darauf, durchgehalten zu haben, gelernt zu haben,<br />
mich nicht mehr vor Krisen und Rückfällen zu fürchten.“<br />
2. Abschnitt des Gesamtweges<br />
Die Krankheitsphase mit Trauerarbeit nach <strong>der</strong> Diagnosestellung, Verarbeitung<br />
des Schicksals und <strong>der</strong> Zukunftsaussichten<br />
2. Regionaltreffen<br />
1. Abschnitt des Gesamtweges<br />
Die Vorlaufzeit vor <strong>der</strong> Akutphase<br />
In <strong>der</strong> Zeit vor dem akuten Ausbruch <strong>der</strong> Krankheit (Prodromal-Zeit) fehlt es<br />
dem Betroffenen wie seinen <strong>Angehörigen</strong> an Krankheitswissen und -erfahrung.<br />
Die Folge sind atmosphärische Störungen des Familienklimas, die u.U.<br />
jahrelang nachwirken. Der Weg durch diese Zeit ist gepflastert mit Verhaltensfehlern<br />
auf allen Seiten. Verringern ließe sich die Not <strong>der</strong> betroffenen Familien<br />
durch mehr Aufklärung über <strong>psychisch</strong>e Krankheiten und die Chancen<br />
einer frühen Behandlung einerseits und an<strong>der</strong>erseits durch Verbreitung und<br />
Bekanntmachen <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>-Selbsthilfe, bei <strong>der</strong> ein reicher Erfahrungsschatz<br />
schlummert, <strong>der</strong> gerne auch präventiv weitergegeben wird.<br />
Angehörige<br />
Langzeitbewältigung<br />
Akzeptanz<br />
Der Weg <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong><br />
Krankheitsphase<br />
Realität anerkennen<br />
Vorlaufzeit Diagnoseverarbeitung<br />
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96 97<br />
Der unterschiedliche Umgang mit <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung eines <strong>der</strong> Ihren<br />
führt gar nicht so selten innerhalb <strong>der</strong> Familie zu zusätzlichen Spannungen<br />
und Meinungsverschiedenheiten darüber, ob es denn wirklich eine Krankheit<br />
ist, mit <strong>der</strong> man es zu tun hat, o<strong>der</strong> über die Umgangsweise mit dem Betroffenen.<br />
2. Regionaltreffen<br />
Ist die Diagnose dann gestellt, bricht nicht selten eine Welt zusammen. Die<br />
Diagnose ist ein Schock für alle. Was nun? Was bedeutet das? Was verän<strong>der</strong>t<br />
sich alles?<br />
Für die Verarbeitung von Schicksalsschlägen gibt es den als „Trauerarbeit“<br />
bekannten Verlauf <strong>der</strong> Verarbeitung. Der Verarbeitungsprozess einer psychiatrischen<br />
Diagnose unterscheidet sich nicht wesentlich von dem z. B. nach<br />
einer Krebsdiagnose o<strong>der</strong> eines an<strong>der</strong>en, das Leben verän<strong>der</strong>nden Ereignisses.<br />
Er erfolgt in drei Schritten o<strong>der</strong> besser gesagt in drei Stufen, denn es handelt<br />
sich um eine Weiterentwicklung.<br />
Die Art und Weise wie Angehörige die Krankheit an sich und die möglichen<br />
Folgen für sich selber verarbeiten, von <strong>der</strong> Diagnosestellung bis zur Akzeptanz<br />
<strong>der</strong> Krankheit, verläuft nach einem immer gleichen Schema. Für das Durchleben<br />
<strong>der</strong> drei Stufen benötigt je<strong>der</strong> ganz unterschiedlich viel Zeit braucht. Wir<br />
wissen, dass in ein und <strong>der</strong>selben Familie <strong>der</strong> Verarbeitungsprozess <strong>der</strong> Diagnose<br />
sehr verschieden sein kann. Der eine weigert sich ganz einfach, sich<br />
auf die Situation überhaupt einzulassen und nimmt die Krankheit gar nicht<br />
zur Kenntnis. Ein an<strong>der</strong>er bleibt mitten im Verarbeitungsprozess stecken und<br />
kommt beispielsweise über die Schuldzuweisung an an<strong>der</strong>e nicht hinaus.<br />
Dieses sind entwe<strong>der</strong> Menschen, die selber so sensibel sind, dass sie nicht<br />
aushalten, sich mit <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Krankheit im Allgemeinen und in <strong>der</strong> Familie<br />
im beson<strong>der</strong>en zu beschäftigen. Ihr Verhalten ist eine Schutzhaltung.<br />
O<strong>der</strong> es sind Menschen, die sich selber als das Maß aller Dinge ansehen und<br />
Sensibilität bei an<strong>der</strong>en als Schwäche betrachten. Diejenigen, die es schaffen,<br />
<strong>der</strong> Krankheit gelassen und gefasst zu begegnen, geben dem Patienten Stabilität<br />
und machen den Weg frei für verständnisvolle Hilfe und schützen sich<br />
selber.<br />
Angehörige<br />
1. Stufe<br />
Diagnoseverarbeitung<br />
2. Stufe<br />
Realität<br />
anerkennen<br />
3. Stufe<br />
Akzeptieren<br />
und aktiv<br />
werden<br />
Plattform<br />
für informiertes, selbstbewusstes<br />
und kreatives<br />
handeln, für Fremd- und<br />
Eigenverantwortung<br />
Trauerverarbeitung in 3 Stufen<br />
Die drei Stufen auf dem zweiten Abschnitt des Gesamtweges<br />
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98 99<br />
Die zweite Stufe steht ganz unter <strong>der</strong> Erkenntnis, es könnte ja vielleicht doch<br />
stimmen, was <strong>der</strong> Arzt sagt. Mit diesem Gedanken ist <strong>der</strong> erste Schritt in Rich-<br />
Wut – Schuld – Scham<br />
Realität anerkennen Krankheitszustand erkennen – begreifen<br />
Trauer<br />
2. Stufe<br />
3. Stufe<br />
Verstehen und Verständnis<br />
Aufgaben akzeptieren Akzeptanz <strong>der</strong> eigenen Rolle und<br />
<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Lage<br />
Aktiv werden<br />
2. Regionaltreffen<br />
Ungläubigkeit – Schuldige suchen – Verzweiflung<br />
Immer wie<strong>der</strong> taucht <strong>der</strong> Gedanke auf, <strong>der</strong> Arzt müsse sich irren, es gebe eine<br />
einfache Erklärung für alles. Angehörige suchen nach einfachen Ursachen<br />
und suchen nach Schuldigen für den akuten Zustand, psychiatrische Ursachen<br />
weisen sie noch weit von sich.<br />
Hoffen trotz Hoffnungslosigkeit<br />
Gemäß <strong>der</strong> Vogel-Strauss-Manier Kopf in den Sand stecken, totschweigen –<br />
versucht man sich so normal wie möglich zu verhalten und meidet das<br />
Gespräch über die Diagnose.<br />
Und ganz tief im Innern hoffen alle noch auf das Aufwachen aus dem Albtraum,<br />
auf eine Spontanheilung, auf ein Wun<strong>der</strong>.<br />
Trauer<br />
Sie fühlen die Tragödie, die diese Krankheit für ihr Kind, ihren Partner, den<br />
kranken Elternteil bedeutet, und spüren, dass ihrer aller Zukunft unsicher geworden<br />
ist. Die Traurigkeit darüber scheint nicht vorübergehen zu wollen.<br />
Nur wenn sie sich ihr stellen, werden sie frei für den entscheidenden Schritt<br />
auf die dritte Stufe zur aktiven Hilfe und Unterstützung.<br />
Angehörige<br />
Krankheitszustand erkennen – begreifen<br />
Mit dem Bewusstsein, dass sie es mit einer schweren und vielleicht langwierigen<br />
Erkrankung zu tun haben, begreifen alle Beteiligten, dass sie Abschied<br />
nehmen müssen vom Alten. Sie begreifen, dass <strong>der</strong> Kranke leidet und viel<br />
Kraft aufwenden muss, den Alltag zu bestehen.<br />
Schock – Krise<br />
Es ist geschehen, die Diagnose ist erfolgt und hat bei den <strong>Angehörigen</strong> und<br />
dem Betroffenen einen Schock ausgelöst. Ein ganzer Ansturm von Gefühlen<br />
setzt ein und verhin<strong>der</strong>t klares Denken. Zwanghaft drehen sich die Gedanken<br />
immer um dasselbe: „Was bedeutet das für uns alle? Wie soll es weitergehen?<br />
Wie enden solche Krankheiten?“<br />
Wut – Schuld – Scham<br />
Mit <strong>der</strong> Einsicht, das Familienmitglied ist <strong>psychisch</strong> krank, schleichen sich<br />
Wut auf das Schicksal ein, beschäftigt einen die bedrückende Frage nach den<br />
Auslösern, nach <strong>der</strong> eigenen Schuld an <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Erkrankung. Und<br />
in Unkenntnis <strong>der</strong> hohen psychiatrischen Betroffenheitsrate in <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
von mehr als 25 % schämen sich die <strong>Angehörigen</strong> für das Verhalten und<br />
für die vermeintliche Unfähigkeit, mit dem Problem allein fertig zu werden.<br />
1. Stufe<br />
Schock – Krise<br />
Diagnoseverarbeitung Ungläubigkeit – Schuldige suchen –<br />
Verzweiflung<br />
Hoffen trotz Hoffnungslosigkeit<br />
tung Verarbeitung des Unvermeidlichen getan. Vor <strong>der</strong> definitiven Bereitschaft<br />
aber, sich auf die Krankheit einzulassen, vor <strong>der</strong> Akzeptanz, sind noch viele<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit sich selbst und mit an<strong>der</strong>en durchzustehen.<br />
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100 101<br />
Aktiv werden<br />
Mit mehr Verständnis, mit mehr Krankheitsinformationen und vor allem mit<br />
mehr Erfahrung und Erfahrungsaustausch ist <strong>der</strong> Mut zum Handeln zurückgekommen.<br />
Die Zeit <strong>der</strong> Erduldung und Hilflosigkeit ist vorbei. Dazu tragen<br />
Nun können die <strong>Angehörigen</strong> Ja sagen zum Schicksal, ihre Rolle als Angehörige<br />
annehmen und diese Rolle ihren Fähigkeiten und Ressourcen nach gestalten.<br />
Auch das ist ein Prozess, <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> neu durchdacht und bestanden<br />
werden muss. Angehöriger sein ist kein Zustand, es ist ein Weg.<br />
Inzwischen ist einige Zeit vergangen seit den ersten Anzeichen einer <strong>psychisch</strong>en<br />
Erkrankung. Viele Unsicherheiten sind verschwunden. Regeln für Rückfallvorkehrungen,<br />
Frühwarnzeichen vor einer Verschlechterung gehören jetzt<br />
zum elementaren Grundwissen über <strong>psychisch</strong>e Krankheiten. Wie man allerdings<br />
einen stressarmen und gelassenen Umgang mit <strong>psychisch</strong> kranken Menschen<br />
hinkriegt, wie man bei Krisen ruhig bleibt und die Übersicht behält,<br />
wie man dem Kranken und sich selber Mut und Hoffnung vermittelt, wie man<br />
die Kontaktängste des Rekonvaleszenten min<strong>der</strong>t, seine Zwänge geduldig hinnimmt,<br />
alles das ist <strong>der</strong> individuelle Weg, ist das, was man sich selber erarbeiten<br />
muss.<br />
Die Krönung all dieser Anstrengungen ist es, wenn man schließlich mit seinem<br />
Wissen und seinen Erfahrungen an<strong>der</strong>en <strong>Angehörigen</strong> und ihren Betroffenen<br />
helfen kann.<br />
2. Regionaltreffen<br />
Akzeptanz <strong>der</strong> eigenen Rolle und <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Lage<br />
Zur Akzeptanz des Betroffenen mitsamt seiner Krankheit, zur Akzeptanz <strong>der</strong><br />
eigenen Rolle als Begleiter o<strong>der</strong> Begleiterin ist man über Kenntnisse von<br />
Krankheitszusammenhängen gekommen. Als Angehörigem ist einem klar geworden,<br />
dass die Krankheit nicht so schnell vergehen wird. Man hat gelernt,<br />
die Trauer zu beherrschen, die einen beschleicht bei dem Gedanken, dass es<br />
für die Betroffene o<strong>der</strong> den Betroffenen kein Zurück zu <strong>der</strong> Situation vor <strong>der</strong><br />
Erkrankung mehr geben wird.<br />
Angehörige<br />
Verstehen und Verständnis<br />
Dachten sich die <strong>Angehörigen</strong> bisher vielleicht, wenn er nur will, dann kann<br />
er auch, so verstehen sie nun, dass die Krankheit nichts mit Wollen allein zu<br />
tun hat. Sie haben sich informiert und verstehen einen Teil <strong>der</strong> Symptome.<br />
Sie begreifen, dass Symptome auch Schutz und Bewältigung von Problemen<br />
bedeuten. Bei allem Verständnis sehen sie auch ein, dass sie nur bedingt verstehen,<br />
was die Krankheit für den Betroffenen bedeutet.<br />
3. Abschnitt des Gesamtweges<br />
Der eigene Weg für den langfristigen Verlauf<br />
Nun beginnt <strong>der</strong> dritte Abschnitt des <strong>Angehörigen</strong>-Wegs. Auf <strong>der</strong> letzten Stufe,<br />
die eigentlich eine Plattform ist, die große Plattform für informiertes, selbstbewusstes<br />
und kreatives Handeln, ist <strong>der</strong> Moment gekommen, einen individuellen<br />
Weg, eine individuelle Einstellung zum Leben mit <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en<br />
Krankheit, zum Umgang mit dem Erkrankten und zum Zusammenleben in<br />
<strong>der</strong> Familien zu finden. Es ist auch <strong>der</strong> Augenblick gekommen, das selbstgewählte<br />
Schneckenhaus, in das man sich aus Angst vor Vorurteilen verkrochen<br />
hat, wie<strong>der</strong> zu verlassen. Auch das kann zu einem Selbstheilungsprozess des<br />
Familienlebens beitragen. Denn je mehr sich die betroffene Familie von allem<br />
zurückzieht, desto mehr beschäftigt sie sich mit sich selbst, die Gedanken<br />
kreisen um die Krankheits-Situation und die Zukunft. Probleme und Ängste<br />
türmen sich zu immer größeren Bergen auf.<br />
Wie <strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> ersten zur zweiten Stufe vollzieht sich <strong>der</strong> zur dritten<br />
Stufe nicht mit einem plötzlichen Aha-Erlebnis, son<strong>der</strong>n unmerklich, mit<br />
zwei Schritten vor, einem zurück.<br />
vor allem auch die Zusammenkünfte in den <strong>Angehörigen</strong>-Gruppen bei.<br />
Wohl dem, <strong>der</strong> sich bis hierher durchgekämpft und mit dem Zorn und <strong>der</strong><br />
Trauer umgehen gelernt hat!<br />
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102 103<br />
2. Regionaltreffen<br />
„AiA“ steht für „Angehörige informieren Angehörige“, einem Informationsprogramm<br />
auf <strong>der</strong> Basis von Psychoedukation. Entsprechend dem Selbsthilfegedanken<br />
mo<strong>der</strong>ieren hierbei Angehörige Psychoedukationsgruppen mit <strong>Angehörigen</strong><br />
von schizophreniekranken Menschen.<br />
Hinter dem Begriff „Psychoedukation“ verbirgt sich eine Mischung aus Informationsvermittlung<br />
und Erfahrungsaustausch.<br />
Aus England kam in den 80er Jahren eine neue, auf Krankheitsinformation<br />
setzende „Gesprächsgruppentherapie“ für schizophreniekranke Menschen,<br />
die darauf abzielte, den Patienten mehr Wissen und dadurch mehr Verständnis<br />
für ihre Krankheit zu vermitteln. Die Absicht war, ihnen mit Hilfe von psychiatrischem<br />
Basiswissen überhaupt erst einmal zu zeigen, dass das, was sie<br />
immer mal wie<strong>der</strong> zwingt, sich stationär behandeln zu lassen, und sie darin<br />
hin<strong>der</strong>t, ein eigenständiges Leben zu führen, eine behandelbare Krankheit ist.<br />
Mit Informationen über biologische und psychologische Ursachen, über<br />
Symptome, Behandlungsmöglichkeiten und Verlauf steigen Krankheitseinsicht<br />
und Behandlungsbereitschaft, so fanden englische Wissenschaftler heraus.<br />
Messbar wurde <strong>der</strong> Erfolg durch eine statistisch nachweisbare Abnahme<br />
von Rückfällen. Obwohl die Methode relativ neu und <strong>der</strong> Beobachtungszeitraum<br />
noch recht kurz waren, ließ sie viele Psychiater aufhorchen.<br />
Angehörige<br />
Selbsthilfegruppen und Psychoeduktion – Was ist<br />
„AiA“?<br />
Unser Weg – <strong>der</strong> Weg unserer <strong>Angehörigen</strong> – unterscheidet sich in vielem von<br />
den Wegen Angehöriger von körperlich kranken und behin<strong>der</strong>ten Menschen,<br />
auch von Menschen, die einen Verlust verarbeiten müssen, aber <strong>der</strong> Prozess<br />
<strong>der</strong> Verarbeitung und <strong>der</strong> Akzeptanz des Schicksals sind sich bei allem sehr<br />
ähnlich. Je<strong>der</strong> tut sich hart, Unvermeidliches hinzunehmen – das ist das Tröstliche.<br />
Je<strong>der</strong> hat aber auch die Chance, nach dem Trauerprozess seinen ganz<br />
persönlichen Weg zu finden. Den Weg, <strong>der</strong> ihm trotz aller Schwere des Schicksals<br />
Befriedigung und Freude verschafft, <strong>der</strong> ihm den Glauben in die eigenen<br />
Fähigkeiten zurückgibt.<br />
Vorsitzende des Bundesverbands <strong>der</strong><br />
<strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Straub</strong><br />
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104 105<br />
Informierte Angehörige können Rückfälle verringern<br />
Nebenbei bemerkt: Nicht zu unterschätzen ist auch die Beeinflussung <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranken Patienten durch an<strong>der</strong>e Patienten o<strong>der</strong> Psychiatrie-Erfahrene.<br />
Was dafür spricht, auf breiter Basis Patienten in Psychoedukation einzubinden.<br />
In „Rechts <strong>der</strong> Isar“ und in etwa zeitgleich in ein o<strong>der</strong> zwei an<strong>der</strong>en deutschen<br />
Kliniken entschloss man sich, parallel zu den Psychoedukationsstunden<br />
für Patienten auch Psychoedukation für ihre <strong>Angehörigen</strong> abzuhalten.<br />
Der Erfolg war verblüffend.<br />
In <strong>der</strong> Münchner PIP-Studie (Psychosen-Informations-Projekt), die Dr. Josef<br />
Bäuml und Dr. Gabi Pitschel-Walz 1996 veröffentlichten, konnte gezeigt werden,<br />
dass es bei schizophren erkrankten Patienten zu stationären Wie<strong>der</strong>auf-<br />
2. Regionaltreffen<br />
Psychiatrie-Reform und ihre Folgen<br />
Parallel zu dieser Entwicklung zeitigte gegen Ende <strong>der</strong> siebziger und dann<br />
erst recht in den achtziger Jahren die Psychiatrie-Reform praktische Folgen.<br />
Psychiatrie-Patienten wurden nicht mehr in Langzeitstationen versorgt, sie<br />
wurden und werden zunehmend ambulant vor stationär behandelt und leben<br />
vorwiegend „wohnortnah“. In <strong>der</strong> Praxis heißt das, dass etwas Zweidrittel<br />
aller Patienten in <strong>der</strong> eigenen Familie leben.<br />
Die wohnortnahe ambulante Behandlung von an Schizophrenie leidenden<br />
Menschen wurde vor allem möglich, weil Medikamente entwickelt wurden,<br />
die die Symptome positiv beeinflussen. Aber Medikamente allein, das sah<br />
man schnell, reichen nicht aus, um <strong>psychisch</strong> kranken Menschen zu helfen,<br />
ihre Alltagsfähigkeiten wie<strong>der</strong> zu erlangen, und um Alltagsbelastungen standzuhalten.<br />
Ohne Unterstützung durch begleitende Therapien und ohne Behandlungskontinuität<br />
gelingt die Wie<strong>der</strong>einglie<strong>der</strong>ung kaum. Es entstanden eine<br />
ganze Reihe von psychosozialen Einrichtungen.<br />
So wichtig auch die begleitenden Therapien wie Psychotherapie, Arbeitstherapie,<br />
Kognitions- und Kontakt-Training, Ergo- und Kunsttherapie auch sein<br />
mögen, so richtig erfolgreich sind sie nur, wenn die <strong>Angehörigen</strong> die Behandlungen<br />
unterstützen.<br />
Angehörige<br />
Das leuchtet ein, denn wenn die Nahestehenden etwa argumentieren, die Pillen<br />
sind Teufelszeug, die brauchst Du doch nicht zu nehmen, muss man sich nicht<br />
wun<strong>der</strong>n, wenn <strong>der</strong> Patient die Medikamente schnell wie<strong>der</strong> absetzt. O<strong>der</strong><br />
wenn <strong>der</strong> über die Wirkung von Beschäftigungstherapie uninformierte Angehörige<br />
die Motivationsschwäche des Betroffenen noch unterstützt, indem er<br />
sagt, die Beschäftigungstherapie – das bisschen Malen – sei nicht so wichtig,<br />
er o<strong>der</strong> sie möge sich ruhig ausschlafen, wird <strong>der</strong> Patient bald aufgeben. Die<br />
Schlussfolgerung ist, dass auch Angehörige Krankheitseinsicht und Behandlungsbereitschaft<br />
lernen müssen.<br />
Was also lag näher, als auch für Angehörige Psychoedukations-Gruppen zu<br />
etablieren?<br />
In Deutschland fand diese Therapieform sogleich Anhänger und wurde schnell<br />
unter dem eigentlich englischen Begriff „Psychoedukation“ bekannt. Zu den<br />
Kliniken, die diese Methode als Modell ausprobierten, gehörte die Klinik für<br />
Psychiatrie und Psychotherapie <strong>der</strong> TU München rechts <strong>der</strong> Isar. Josef Bäuml,<br />
ltd. Oberarzt in <strong>der</strong> Klinik, <strong>der</strong> sich schon immer sehr dafür einsetzte, die<br />
Wie<strong>der</strong>genesungs-Chancen schizophrener Patienten durch eine größere Behandlungsbereitschaft<br />
zu verbessern und dadurch Rückfälle zu verringern,<br />
konnte in einer gemeinsamen Studie mit Gabi Pitschel-Walz die englischen<br />
Ergebnisse bestätigen.<br />
Einfluss <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> auf Behandlungskontinuität<br />
Je kürzer die Krankenhausaufenthalte wurden (von ehemals 192 Tagen auf<br />
heute 23 Tage durchschnittlich pro Krankenhausbehandlung), desto mehr<br />
stellte sich heraus, wie wichtig – ja geradezu unverzichtbar – das Umfeld <strong>der</strong><br />
Betroffenen ist. Es sind in erster Linie die nahen <strong>Angehörigen</strong>, die mit ihrem<br />
Einfluss positiv, aber auch negativ verstärkend auf die Behandlungsbereitschaft<br />
einwirken.<br />
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106 107<br />
Auch für Angehörige selbst macht sich die Teilnahme an Psychoedukation<br />
„bezahlt“. Durch ihr verbessertes Wissen über die Krankheit und die damit<br />
verbundenen Empfindsamkeiten <strong>der</strong> Patienten erleben sie selber weniger<br />
Stress und können auch zu einem weniger stressvollen Familienklima beitragen.<br />
Alle diese Faktoren begünstigen das Abklingen <strong>der</strong> Erkrankung und den<br />
langfristigen Genesungsverlauf.<br />
Die Konsequenzen dieser Erfahrungen spiegeln sich bei <strong>der</strong> Dauer <strong>der</strong> medikamentösen<br />
Behandlung wie<strong>der</strong>: nach <strong>der</strong> Ersterkrankung 1 – 2 Jahre medikamentöse<br />
Behandlung, und je<strong>der</strong> Rückfall verlängert die medikamentöse Behandlung.<br />
Das heißt nach einem 1. Rückfall sind es bis zu 5 Jahre usw.<br />
(Liebermann 1994)<br />
Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Studie von Hornung und Kollegen (1999).<br />
Sie fanden sogar einen Unterschied von 20 Prozent Rückfallverringerung,<br />
zwischen nur psychoedukativ geschulten Patienten und jenen Verläufen, bei<br />
denen auch die <strong>Angehörigen</strong> an Psychoedukation teilgenommen hatten.<br />
Die PIP-Studie zeigt auch, dass die Patienten, die an Psychoedukation teilgenommen<br />
hatten, noch nach sieben Jahren im Vorteil an<strong>der</strong>en gegenüber waren.<br />
Sie mussten deutlich weniger oft in eine psychiatrische Klinik stationär aufgenommen<br />
werden. Im Durchschnitt 3x so viele Tage mussten Patienten ohne<br />
Psychoedukation in psychiatrischen Kliniken verbringen wie die Patienten<br />
mit Psychoedukation.<br />
Diese Untersuchungen bezogen sich auf Psychoedukation bei schizophrenen<br />
Patienten. Inzwischen laufen vergleichbare Studien bei depressiver, bipolarer<br />
und dementieller Erkrankung. Die bisherigen Ergebnisse zeigen auch hier,<br />
dass in Psychoedukation eingebundene Angehörige einen positiven Einfluss<br />
auf die Häufigkeit von Rückfällen haben.<br />
Dauer des Krankenhausaufenthaltes Erfolgschance<br />
Erstbehandlung 3 zu 8 Wochen 100 %<br />
1. Rückfall 10 bis 12 Wochen 91 %<br />
2. Rückfall bis zu 24 Wochen 67 %<br />
Es gibt eine Faustregel:<br />
2. Regionaltreffen<br />
Dazu gibt es seit 1994 eine statistische Bestätigung, die im Prinzip heute noch<br />
Gültigkeit hat, obwohl die Dauer <strong>der</strong> Aufenthalte insgesamt kürzer geworden<br />
ist, obwohl die Medikamente und die begleitenden Behandlungen besser geworden<br />
sind.<br />
Die Untersuchung besagt: „Der Gesundheitszustand schizophreniekranker<br />
Patienten verschlechtert sich, die Wie<strong>der</strong>stabilisierung dauert länger und die<br />
weiteren Verlaufsaussichten verschlechtern sich, je häufiger Rückfälle auftreten.<br />
Angehörige<br />
nahmen innerhalb des ersten Jahres nach <strong>der</strong> Entlassung aus vollstationärer<br />
Behandlung in folgenden unterschiedlichen Häufigkeiten kam:<br />
• in 38 % <strong>der</strong> Verläufe, wenn keine Psychoedukation stattfand – we<strong>der</strong> für<br />
Patient, noch für Angehörige,<br />
• in 29 % <strong>der</strong> Verläufe, wenn <strong>der</strong> Patient an einem psychoedukativen Programm<br />
teilnahm und lediglich<br />
• in 14 % <strong>der</strong> Verläufe, wenn Patienten und Angehörige an psychoedukativen<br />
Programmen teilgenommen hatten.<br />
Drehtürverlauf erschwert Wie<strong>der</strong>genesung<br />
Zu den schwersten Belastungen, die Angehörige als Begleiter ihrer <strong>psychisch</strong><br />
kranken Familienmitglie<strong>der</strong> tragen, gehört die Angst vor Rückfällen.<br />
Es ist nicht allein die akute Krisensituation, die Angehörige ängstigt. Aus <strong>der</strong><br />
praktischen Erfahrung heraus meinten sie festgestellt zu haben, dass je<strong>der</strong><br />
Rückfall die Wie<strong>der</strong>genesung schwieriger macht und den gefürchteten Drehtürverlauf<br />
för<strong>der</strong>t.<br />
Damit bestätigte sich endlich, was wir <strong>Angehörigen</strong> immer schon sagten und<br />
was wir seit Jahrzehnten for<strong>der</strong>n: die Einbeziehung <strong>der</strong> nahen Bezugspersonen<br />
bringt allen Vorteile.<br />
tagungsband02.qxd 07.02.2007 9:44 Uhr Seite 106
108 109<br />
Die rasche Bereitschaft von Dr.Kissling, ltd. Oberarzt des „Centrums für<br />
Disease Management <strong>der</strong> Psychiatrischen Klinik <strong>der</strong> TU München“. und seinem<br />
Team, die fachliche Schulung zu übernehmen, war beeindruckend und<br />
die Anzahl <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong>, die sich den Bedingungen des <strong>Landesverband</strong>s<br />
stellten und sich bereit erklärten, sich ausbilden zu lassen, ebenso. Zu den<br />
Bedingungen gehört auch die Verpflichtung, nach dem Ausbildungskurs ins<br />
Land hinauszugehen und für Angehörige, <strong>der</strong>en Patienten nicht stationär behandelt<br />
werden, Psychoedukationskurse zu halten.<br />
Auf diese Weise soll die Rate <strong>der</strong> informierten <strong>Angehörigen</strong> steigen, und Angehörige<br />
in entlegenen Ecken <strong>Bayern</strong>s sollen auch in den Genuss dieser Fortbildung<br />
kommen.<br />
„Rechts <strong>der</strong> Isar“ übernimmt die Supervision <strong>der</strong> ausgebildeten <strong>Angehörigen</strong><br />
beim selbständigen Unterrichten und stellt das Unterrichtsmaterial zur Verfügung.<br />
Ich habe selber an einem solchen Kurs teilgenommen und habe viel dazugelernt.<br />
Das Lernpensum war groß, wurde aber von den beiden Damen in geschickt<br />
aufgelockerter Form „verabreicht“. Zu allen acht Lernstufen gibt es<br />
übersichtliche Unterlagen. Immer war ausreichend Zeit für Nachfragen und<br />
Diskussionen. Ich war mit Begeisterung dabei.<br />
2. Regionaltreffen<br />
Der <strong>Landesverband</strong> dankt <strong>der</strong> Psychiatrischen Klinik <strong>der</strong> TU Rechts <strong>der</strong> Isar<br />
und dem Team von Dr. Kissling, Frau Dr. Pitschel-Walz und Frau Dr. Rummel-<br />
Kluge, für die hervorragende Zusammenarbeit und vor allem für die Bereitschaft,<br />
einen Großteil <strong>der</strong> Kosten für Ausbildung und Supervision zu tragen.<br />
Angehörige<br />
Die Idee, Angehörige selber ausbilden zu lassen zu Instruktoren für Psychoedukation,<br />
war geboren. Mit ihr ging <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong> nach „Rechts <strong>der</strong><br />
Isar“ und fand dort offene Ohren. Und so entstand das Projekt „Angehörige<br />
informieren Angehörige“, kurz „AiA“.<br />
Der einzige Unterschied zwischen dem Profi-Psychoedukations-Modell und<br />
„AiA“ ist, dass hierbei Angehörige, die über lange Erfahrung im Zusammenleben<br />
mit ihrem <strong>psychisch</strong> kranken Familienmitglied verfügen, die Gruppenleitung<br />
übernehmen. Hierdurch entsteht eine hohe Vertrauensbasis einerseits,<br />
und an<strong>der</strong>erseits fließt neben psychiatrischen Sachinformationen praktisches<br />
Erfahrungswissen in den Unterricht mit ein.<br />
Der <strong>Landesverband</strong> wird aktiv<br />
Zurück zur Psychoedukation: Angehörige erhalten in psychoedukativen Gruppen<br />
Krankheitskenntnisse durch Sachinformationen und durch gegenseitigen<br />
Erfahrungsaustausch, informierte Angehörige verringern eindeutig Rückfälle.<br />
Außerdem, je<strong>der</strong> Rückfall erschwert die Wie<strong>der</strong>genesung. Rückfallvermeidung<br />
erhöht die Genesungschance. Und als letztes Teilstück des Puzzles: nur<br />
zwei Prozent aller <strong>Angehörigen</strong> erhalten <strong>der</strong>zeit Psychoedukation, und das<br />
sind nur Angehörige, <strong>der</strong>en Patient gerade im Krankenhaus behandelt wird.<br />
Alle diese Ergebnisse lassen nur eine Antwort zu, meinte <strong>der</strong> <strong>Landesverband</strong><br />
<strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker: „Wenn das so ist, dann muss<br />
man handeln. Was können wir tun? Wir müssen auf Selbsthilfeweise handeln.“<br />
Der erste Ausbildungskurs fand im Jahr 2004 statt, und soeben wurde <strong>der</strong><br />
zweite Kurs abgeschlossen. Insgesamt wurden bisher 24 Angehörige zu Psychoedukations-Mo<strong>der</strong>atoren<br />
ausgebildet. Einige haben bereits Erfahrungen<br />
mit eigenständigen Kursen sammeln können. Die an<strong>der</strong>en werden im Laufe<br />
des Jahres 2007 ihre ersten Gehversuche mit Psychoedukationsgruppen<br />
machen.<br />
Die <strong>Eva</strong>luationsergebnisse über die Wissenszunahme <strong>der</strong> Kursteilnehmer an<br />
„AiA“ besagen, dass die <strong>Angehörigen</strong> ebensoviel hinzugelernt haben wie in<br />
professionell geleiteten Psychoeduaktionslehrgängen.<br />
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110 111<br />
Thementagung<br />
Kin<strong>der</strong><br />
09.30 Grußworte<br />
Karl Heinz Möhrmann,<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong> LV <strong>Bayern</strong> ApK<br />
09.45 „Auf den Weg gemacht – Geschichte eines<br />
Erwachsenwerdens unter sehr schwierigen psychosozialen<br />
Startbedingungen“.<br />
Sohn eines <strong>psychisch</strong> kranken Elternteils<br />
10.45 „Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme:<br />
Unterstützungsangebote für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern“<br />
Ruth Back, Dipl. Psychologin,<br />
Sozialdienst katholischer Frauen München<br />
11.45 Kaffeepause<br />
12.00 „Vorstellung des Projektes FIPS – Beratungsstelle<br />
für Familien am BKH Günzburg“<br />
Susanne Kilian, Dipl. Sozialpädagogin,<br />
Systemische Familientherapeutin,<br />
Bezirkskrankenhaus Günzburg<br />
13.00 Mittagspause<br />
14.00 „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker – was erleben sie<br />
und wie verarbeiten Sie das Erlebte?“<br />
Dr. med. Herbert Nickl, Oberarzt <strong>der</strong> psychiatrischen<br />
Klinik am Krankenhaus Agatharied<br />
15.00 Erfahrungsaustausch in Kleingruppen<br />
16.30 Abschlussplenum<br />
Programm<br />
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112 113<br />
Thementagung<br />
Und dann muss ich sagen, dass es mir nicht leicht fällt, heute hier zu stehen<br />
und diesen Vortrag zu halten. Anfangs war ich sehr begeistert von <strong>der</strong> Idee,<br />
die Geschichte meines Großwerdens mit einem Vater, <strong>der</strong> eine <strong>psychisch</strong>e<br />
Krankheit hat, hier vor diesem Plenum zu erzählen. Dann aber kam bei dem<br />
Gedanken immer mehr Scham auf und ich begann zu bezweifeln, ob ich das<br />
Richtige tue.<br />
Ich stellte und stelle mir folgende Fragen: Darf ich denn überhaupt darüber<br />
reden, was eigentlich ein Familiengeheimnis ist? Zeige ich mich dadurch nicht<br />
illoyal gegenüber meiner Familie, speziell gegenüber meinem Vater? Ich muss<br />
dazu sagen, dass meine Familie nicht davon weiß, dass ich hier diesen Vortrag<br />
halte.<br />
An<strong>der</strong>e Ängste waren: Was werden die Leute von mir denken? Werden sie die<br />
Vermutung haben, dass auch mit mir, als Sohn eines <strong>psychisch</strong> kranken El-<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Karl-Heinz Möhrmann<br />
1. Vorsitzen<strong>der</strong><br />
In den letzten Jahren haben wir auf mehreren Fachtagungen erwachsene<br />
Kin<strong>der</strong> und Geschwister <strong>psychisch</strong> kranker Menschen angesprochen. Die<br />
positive Resonanz auf diese Veranstaltungen bewegt uns dazu, auch in diesem<br />
Jahr wie<strong>der</strong> eine ähnliche Tagung, dieses Mal speziell für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern und insbeson<strong>der</strong>e auch für die auf diesem Gebiet professionell<br />
Tätigen anzubieten. Die Referate <strong>der</strong> vorliegenden Tagung<br />
beschäftigen sich mit <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Situation dieser <strong>Angehörigen</strong>gruppe<br />
und sollen Hinweise auf verfügbare Hilfen, aber auch auf bestehende Mängel<br />
im System geben. Die Inhalte sind allerdings auch für Eltern, Großeltern und<br />
Partner interessant. So vertreten die gesunden Partner eines <strong>psychisch</strong> kranken<br />
Elternteils vielleicht über längere Zeit beide Eltern, o<strong>der</strong> leisten<br />
Großeltern wichtige Betreuungsarbeit und würden deshalb gerne wissen, wie<br />
es in den heranwachsenden Kin<strong>der</strong>n aussieht. Ich möchte daher ganz ausdrücklich<br />
auch die im Titel nicht genannten, aber immer mitbetroffenen<br />
<strong>Angehörigen</strong> - Eltern, Partner, Freunde – , aber vor allem auch alle interessierten<br />
professionell Tätigen zum Besuch dieser Tagung einladen. Ich bin<br />
sicher, dass die Inhalte dieser Tagung uns allen zu verbesserter Souveränität<br />
im Umgang mit <strong>der</strong> Erkrankung verhelfen können. In den nachmittäglichen<br />
Workshops finden Sie zudem ausreichend Gelegenheit, Fragen zu stellen.<br />
Ich freue mich, Sie zu dieser Fachtagung im BKH Haar begrüßen zu dürfen.<br />
Ihr<br />
Ich halte diesen Vortrag nicht als professioneller Diplom-Sozialpädagoge,<br />
auch wenn Wissen und Einsichten, die ich aus diesem Beruf gewonnen habe,<br />
hier einfließen. Vielmehr halte ich diesen Vortrag als Angehöriger eines <strong>psychisch</strong><br />
Kranken. Daher hat dieser Vortrag nicht den Anspruch auf fachliche<br />
Richtigkeit und Vollständigkeit. Denn es ist keine wissenschaftliche Arbeit,<br />
son<strong>der</strong>n lediglich ein kurzer Bericht, <strong>der</strong> sich auf meine eigene Wahrnehmung<br />
gründet. Er ist also nicht vollständig objektiv und hält womöglich nicht dem<br />
Versuch einer wissenschaftlichen Verifizierung stand. Er ist Ausdruck meiner<br />
eigenen Wahrheit, nach <strong>der</strong> ich lebe und die vielleicht auch für an<strong>der</strong>e Menschen,<br />
die sich in ähnlichen Situationen befinden, eine hilfreiche Information<br />
darstellen kann.<br />
Auf den Weg gemacht – Geschichte eines<br />
Erwachsenwerdens unter schwierigen psychosozialen<br />
Voraussetzungen.<br />
Liebe Angehörige!<br />
Angehöriger<br />
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114 115<br />
Thementagung<br />
Und dieses Allgemeingültige lässt sich vielleicht in folgenden Punkten zusammenfassen:<br />
• Akzeptieren Sie die außergewöhnlichen <strong>psychisch</strong>en Zustände ihres <strong>Angehörigen</strong><br />
als Krankheit, für die niemand etwas kann und die wie jede<br />
an<strong>der</strong>e Krankheit behandelt werden muss und vielleicht dadurch geheilt<br />
Diese Tatsache bringt viele Betroffene zur schieren Verzweiflung. Denn man<br />
könnte doch glauben, dass ein <strong>psychisch</strong>er Defekt schon irgendwie aus <strong>der</strong><br />
Welt geschafft werden kann, wenn man sich einfach gemeinsam anstrengt.<br />
Noch nicht allzu verbreitet ist <strong>der</strong> Gedanke daran, dass die Psyche eben auch<br />
erkranken kann, und zwar in verschiedenen Abstufungen. Für viele ist ein<br />
Mensch entwe<strong>der</strong> ganz normal im Kopf, o<strong>der</strong> aber er ist einfach verrückt und<br />
muss in die Klapsmühle. Und bevor man eben seinen <strong>Angehörigen</strong> als völlig<br />
verrückt abstempelt, tut man lieber seinen <strong>psychisch</strong>en Defekt als Lappalie<br />
ab, die man schon irgendwie selbst in den Griff bekommt. Der Gang zum Arzt<br />
wird nicht erwogen, kommt erst dann, wenn die Situation völlig aus dem Ru-<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Je<strong>der</strong> von uns ist dabei seinen eigenen Weg gegangen, o<strong>der</strong> er sucht noch nach<br />
seinem Weg. Diesen Weg zu finden ist nicht leicht und es ist immer etwas<br />
ganz Eigenes, das hier zur Wendung führt. Je<strong>der</strong> schreibt seine eigene Geschichte.<br />
Da kann man nicht sagen, das ist so und jenes ist so. Da gibt es<br />
wenig Allgemeingültiges.<br />
Ich habe mir immer mehr Sorgen über mein öffentliches Auftreten gemacht<br />
und habe sogar erwogen, einen anonymen Vortrag zu halten. Aber dann habe<br />
ich mich wie<strong>der</strong> daran erinnert, dass hier doch Menschen zusammengekommen<br />
sind, die mir und meinem Thema wohlgesonnen sind, da dieses Thema ja<br />
auch ihres ist. Eine Gemeinschaft von Menschen, die Vergleichbares in ihren<br />
Familien erlebt haben, bzw. beruflich als Fachleute mit solchen Menschen zu<br />
tun haben. Und viele könnten wohl auch eine Geschichte erzählen, die auf<br />
ihre ganz eigene Art ebenso schwer ist. Ich finde den Gedanken einer Organisation<br />
gut, in <strong>der</strong> Menschen mit diesen Themen zusammenkommen, um sich<br />
gegenseitig zu unterstützen. Daher bin auch ich heute hierher gekommen, um<br />
meinen Teil zu leisten, auch entgegen meiner Ängste und Zweifel. Ich habe<br />
mich auf die Annahme verlassen, dass es hier Menschen sind, die sich gegenseitig<br />
mit Wertschätzung, Wohlwollen und <strong>der</strong> angemessenen Portion von Respekt<br />
begegnen. Denn viele hier haben ein schweres Schicksal und versuchen<br />
es mit <strong>der</strong> großen Leistung zu verbinden, dieses Schicksal in ein besseres zu<br />
wenden, beziehungsweise dieses Schicksal angemessen zu tragen.<br />
Nun möchte ich zum großen Komplex <strong>der</strong> Helferthematik, Verantwortung<br />
und Schuld kommen, <strong>der</strong> allzu oft mit <strong>der</strong> seelischen Gesundheit<br />
<strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker in Konflikt kommt.<br />
Unsere kranken <strong>Angehörigen</strong> haben natürlich all unser Mitgefühl. Wir sorgen<br />
uns um sie, wir leiden um sie o<strong>der</strong> auch für sie, oft schränken wir unser eigenes<br />
Leben o<strong>der</strong> Lebendigsein für sie ein. Selbstverständlich wünschen wir<br />
ihnen das Beste, wir wünschen uns, dass sie wie<strong>der</strong> genesen könnten. Aber<br />
immer merken wir, dass wir sie nicht heilen können.<br />
Das müssen wir dann schon an<strong>der</strong>en überlassen. Wir können zwar unglaublich<br />
viel Mitgefühl für unsere <strong>Angehörigen</strong> haben, aber mehr geht einfach<br />
nicht.<br />
ternteils, nicht alles ganz in Ordnung ist? Sind vielleicht etwa Leute hier, die<br />
mich o<strong>der</strong> meine Familie kennen? Am meisten fürchte ich Verurteilung und<br />
Stigmatisierung von an<strong>der</strong>en Menschen.<br />
o<strong>der</strong> zum Stillstand gebracht werden kann.<br />
• Begeben Sie sich mit Ihrem kranken <strong>Angehörigen</strong> und allen Familienmitglie<strong>der</strong>n,<br />
die davon betroffen sind, schnellstmöglich in ein professionelles<br />
Helfersystem, soweit es notwendig ist und Ihnen gut tut.<br />
• Sorgen Sie für sich, indem Sie für Ihre eigene <strong>psychisch</strong>e Gesundheit<br />
achten. Erinnern Sie auch die an<strong>der</strong>en betroffenen Familienmitglie<strong>der</strong> an<br />
diese Notwendigkeit.<br />
• Gehen Sie gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung von <strong>psychisch</strong><br />
Kranken an und gegen die Verunglimpfung von <strong>psychisch</strong>er Krankheit.<br />
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116 117<br />
Thementagung<br />
Ebenso hat in meinem Fall sehr viel die Schwester meines Vaters in Kooperation<br />
mit meiner Mutter unternommen, da sie meinen Vater gut kennt, Heilpraktikerin<br />
ist und den nötigen Abstand mitbrachte, <strong>der</strong> es leichter macht, die<br />
Kin<strong>der</strong><br />
In welchen Umfang wir in Zeiten <strong>der</strong> krankhaften Krisen unseres <strong>Angehörigen</strong><br />
selbst betreuerisch tätig werden können, hängt davon ab, wie schwer die<br />
Krankheit ist. Dabei muss man sich fragen, wie viel kann man verkraften und<br />
wie viel gibt man an Fachleute ab. Um diese Entscheidung überhaupt treffen<br />
zu können, muss natürlich die psychiatrische Versorgung im Wohnumfeld gesichert<br />
sein. Und ich glaube, das ist in ländlichen Gebieten oft nicht <strong>der</strong> Fall.<br />
Ob man aktiv betreuerisch tätig werden kann, hängt auch davon ab, wie wir<br />
zu dem kranken <strong>Angehörigen</strong> stehen, ob wir Kin<strong>der</strong>, Eltern, Ehepartner, Geschwister<br />
o<strong>der</strong> Großeltern des <strong>psychisch</strong> Kranken sind. Denn zum Beispiel<br />
wird die 18jährige Tochter nicht die Betreuung ihrer <strong>psychisch</strong> kranken Mutter<br />
übernehmen, son<strong>der</strong>n eher <strong>der</strong> Ehepartner, also <strong>der</strong> Vater.<br />
Ganz speziell wir <strong>Angehörigen</strong> können ihnen die Liebe und Geborgenheit geben,<br />
die wir ihnen geben wollen, weil sie unsere <strong>Angehörigen</strong> sind. Und ganz<br />
sicher brauchen unsere kranken <strong>Angehörigen</strong> unsere liebende Zuwendung.<br />
Als Unterstützung in dieser auch für sie schweren Zeit <strong>der</strong> Krankheit, als Trost<br />
und Rettungsanker, als Sinn für ihr Leben. Denn wofür lohnt es sich mehr zu<br />
leben als für seine geliebten Menschen.<br />
Wenn wir als Angehörige betreuerische Aufgaben übernehmen können, müssen<br />
wir gleichzeitig unbedingt darauf achten, dass unser eigenes seelisches<br />
Gleichgewicht nicht aus den Fugen gerät.<br />
Denn nur zu oft entwickeln Familienangehörige, vor allem Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern, das Helfersyndrom o<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>e Störungen, die uns seelisch<br />
krank und ausgebrannt zurücklassen und uns selbst auf die Couch <strong>der</strong><br />
Psychotherapeuten und Psychiater zwingen.<br />
Wir sollten daher sehen, dass wir selbst gesund sind, gesund bleiben o<strong>der</strong> gesund<br />
werden. Wir dürfen o<strong>der</strong> müssen sogar für unsere eigene seelische Gesundheit<br />
sorgen. Denn dies ist für unsere <strong>Angehörigen</strong>, auch die <strong>psychisch</strong><br />
Kranken, äußerst wichtig. Diese möchten doch auch, dass es uns gut geht.<br />
Ein gesundes und stabiles familiäres Umfeld wirkt sich sehr för<strong>der</strong>lich auf<br />
den Heilungsprozess des <strong>psychisch</strong> Kranken aus. Man könnte sagen: Zwei<br />
Ertrinkende können sich nicht gegenseitig aus dem Wasser ziehen. Wir haben<br />
als Angehörige <strong>psychisch</strong> Kranker das Recht auf seelische und <strong>psychisch</strong>e<br />
Gesundheit und sogar das Recht auf Glück.<br />
Daher gilt: Bei allem, was wir für unsere kranken <strong>Angehörigen</strong> tun wollen,<br />
dürfen wir nicht vergessen, dass wir kaum mehr tun können, als für die beste<br />
medizinische und therapeutische Behandlung und Betreuung durch Fachleute<br />
zu sorgen.<br />
<strong>der</strong> läuft. Aber es handelt sich bei <strong>psychisch</strong>en Defekten eben um Krankheiten<br />
und wie auch bei an<strong>der</strong>en Krankheiten, wie z. B. bei Diabetes o<strong>der</strong> Krebs,<br />
können wir ebenfalls nicht selber helfen und müssen daher einen Arzt konsultieren.<br />
notwendigen Entscheidungen zu treffen. Dadurch waren wir Kin<strong>der</strong> nicht so<br />
sehr belastet, da wir zu diesen Zeiten gerade noch Jugendliche waren.<br />
Erst beim letzten Schub meines Vaters, bei dem ich schon 27 Jahre alt war<br />
und mein Bru<strong>der</strong> 25, haben mein Bru<strong>der</strong> und ich sehr viele Aufgaben übernommen.<br />
Wir fuhren ihn zum Beispiel in die Klinik, führten Gespräche mit<br />
den Ärzten. Da mein Bru<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> Zeit noch zuhause wohnte, hat er auch in<br />
<strong>der</strong> Zeit nach dem Klinikaufenthalt sehr viel stabilisierende Betreuungsarbeit<br />
bei meinem Vater geleistet. Und ich muss schon an dieser Stelle darauf hinweisen:<br />
ohne dabei in irgendeiner Weise psychologisch von Fachleuten unterstützt<br />
worden zu sein. Ich glaube, er trägt jetzt noch sehr schwer an dieser<br />
Erfahrung.<br />
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118 119<br />
Thementagung<br />
Mein Vater bekam seinen ersten schizophrenen Schub als ich 15 Jahre alt war,<br />
das war vor ca. 15 Jahren, also 1991. Ich hatte zu <strong>der</strong> Zeit gerade zum ersten<br />
Mal eine Freundin und begann die typischen Merkmale eines rebellischen Jugendlichen<br />
zu entwickeln. Da geschah es eines Tages, dass mein Vater meine<br />
Freundin und mich mit dem Auto aus <strong>der</strong> benachbarten Stadt abholen sollte.<br />
Als uns mein Vater dort begegnete, war er sehr eigenartig. Er zeigte sehr seltsame<br />
Verhaltensweisen wie zum Beispiel starke Orientierungslosigkeit, ein<br />
starkes „Getrieben-sein“ und Hast, als würde er verfolgt, und Angst. Er wusste<br />
nicht mehr genau, wo sein Auto stand, wir waren zuerst damit beschäftigt,<br />
Ich möchte jetzt davon erzählen, welchen Weg ich als Sohn eines<br />
an Schizophrenie erkrankten Vaters gegangen bin:<br />
Ich wuchs in meiner Familie auf dem oberbayerischen Lande in einem kleinen<br />
Dorf auf. Neben mir gibt es noch einen etwas jüngeren Bru<strong>der</strong>. Mein Vater<br />
arbeitete zu <strong>der</strong> Zeit und meine Mutter warf den Haushalt und erzog uns<br />
zwei Brü<strong>der</strong>. Mein Vater hatte damals große Probleme in seinem Beruf und<br />
war daher schon längere Zeit sehr gestresst und emotional labil. Auch lief es<br />
in <strong>der</strong> Ehe meiner Eltern nicht sehr gut. Schon während meiner gesamten<br />
Kindheit litt ich unter den cholerischen Wutausbrüchen meines Vaters, auch<br />
unter seiner Strenge, die mich emotional einschnürte.<br />
Auch hatte ich schon lange das Empfinden, dass mein Vater sich oft sehr seltsam<br />
verhielt. So kam er sehr häufig plötzlich in mein Zimmer gestürmt, um<br />
mir irgendetwas zu sagen o<strong>der</strong> auch häufig einfach um zu gucken, was ich<br />
machte. Nachts konnte es vorkommen, dass er in mein Bett kriechen wollte,<br />
weil er in meiner Nähe sein wollte. Sehr häufig veräppelte er uns auch, und<br />
oft konnte man nicht zwischen einer seiner komischen Lügen und <strong>der</strong> Wahrheit<br />
unterscheiden. Seltsam war auch, dass er uns Kin<strong>der</strong> häufig erschreckte,<br />
darunter auch abends, wenn es dunkel war, vor dem Einschlafen.<br />
Meine Mutter fungierte, solange ich denken kann, immer als ausgleichendes<br />
Regulativ. Sie musste uns Kin<strong>der</strong> oft vor meinem Vater in Schutz nehmen und<br />
es gab Geheimnisse zwischen Mutter und uns Brü<strong>der</strong>n, die Vater nicht wissen<br />
durfte.<br />
Die nächsten Tage ging es Zuhause mit den Seltsamkeiten weiter. Mein Vater<br />
war sehr paranoid, redete davon, dass er von den Verwandten vergiftet werden<br />
soll, dass das Fernsehprogramm extra gemacht ist, um ihn zu beeinflussen<br />
und zu täuschen. Er behauptete, dass wir Kin<strong>der</strong> und Mutter uns gegen ihn<br />
verschworen hätten.<br />
Eines <strong>der</strong> eigenartigsten Vorkommnisse war, dass er das gejätete Unkraut aus<br />
<strong>der</strong> Biomülltonne fischte und begann, es wie<strong>der</strong> einzupflanzen. Noch dazu<br />
äußerte mein Vater konkrete Selbsttötungsabsichten, er würde gegen einen<br />
Baum fahren.<br />
Zu dieser Zeit sperrte ich nachts mein Zimmer zu, weil ich Angst hatte, mein<br />
Vater könnte reinkommen und etwas Gefährliches machen. In meiner Phantasie<br />
wäre er vielleicht mit einem Messer auf mich los gegangen, man hat ja<br />
schon von ähnlichen Fällen in den Nachrichten gehört, und ich wusste ja, dass<br />
mein Vater sehr aggressiv und jähzornig sein konnte. Ich hatte also eine vage<br />
Angst, dass mein Vater seine Familie umbringen könnte.<br />
Nach mehreren Tagen dieser gespenstischen Szenerie, die wir in Angst und<br />
Schrecken verbrachten, wurde mein Vater durch einen gerichtlichen Beschluss,<br />
den meine Mutter und die Schwester meines Vaters erwirken konnten,<br />
von <strong>der</strong> Polizei abgeholt und zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen.<br />
Dort blieb er aber lei<strong>der</strong> nicht lange. Mein Vater bombardierte meine Mutter<br />
mit Telefonanrufen und bettelte sie an, dass sie ihn sofort wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Klinik<br />
holen soll. Er behauptete, dass wie<strong>der</strong> alles in Ordnung sei, ihm fehle jetzt<br />
nichts mehr und er wisse nicht, was er überhaupt in <strong>der</strong> Psychiatrie solle. Er<br />
Kin<strong>der</strong><br />
den parkenden Wagen zu suchen. Vater war emotional total aufgewühlt und<br />
verzweifelt. Ich musste ihm dann ganz genau den Weg erklären, den er mit<br />
dem Auto zu fahren hatte, obwohl er die Gegend gut kannte. Es war eine sehr<br />
beunruhigende Autofahrt, und mein Vater, den ich sonst eher als recht souveränen<br />
Autofahrer und Menschen kannte, war für mich nicht mehr wie<strong>der</strong>zuerkennen.<br />
Auch meiner Freundin fiel <strong>der</strong> eigenartige Zustand meines Vaters<br />
auf. Kurz gesagt, es war ein gänzlich an<strong>der</strong>er Vater, als <strong>der</strong>, den ich kannte.<br />
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120 121<br />
Thementagung<br />
Das war <strong>der</strong> Tragödie zweiter Teil. Denn unsere Familie hatte einen <strong>psychisch</strong><br />
kranken Vater zuhause, aber niemand, außer <strong>der</strong> Verwandtschaft, wusste<br />
davon.<br />
So gab es über viele Jahre, in denen es noch zwei weitere Zusammenbrüche<br />
meines Vaters gab, keinerlei professionelle Unterstützung für unsere Familie.<br />
Es gab keine soziale Einrichtung, kein Amt, keine Behörde, die unser Fall interessiert<br />
hätte. Lediglich die ambulante medikamentöse Behandlung wurde<br />
weitergeführt, und die Krankenhäuser nahmen meinen Vater für kurze Zeit in<br />
Obhut, wenn es gar nicht mehr ging.<br />
Und ich muss dazu sagen, dass auch meine Mutter wohl nie auf die Idee gekommen<br />
wäre, Hilfe zu holen. Warum sie keine Hilfe beantragte, weiß ich<br />
nicht. Das ist bis heute ihr Geheimnis. Es wäre ein Tabubruch, wenn ich sie<br />
darüber ausfragen würde. Ich glaube, meine Mutter würde diese Frage nicht<br />
Mein Vater blieb weiterhin irgendwie seltsam, und auch wir an<strong>der</strong>en Familienmitglie<strong>der</strong><br />
begannen Symptome von seelischer Verletztheit zu entwickeln<br />
Meine Mutter wurde stark depressiv und übergewichtig, mein Bru<strong>der</strong> entwikkelte<br />
seine Probleme erst etwas später, aber ich habe nie herausgefunden, was<br />
meinen Bru<strong>der</strong> eigentlich bewegt und könnte auch nicht sagen, wo seine Probleme<br />
liegen.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Aber mein Vater war keineswegs gesund. Ich merkte, dass er noch immer sehr<br />
eigenartig war, er musste große Probleme haben. Ich konnte merken, wie er<br />
sich bemühte, einen normalen Anschein zu machen. Medizinisch wurde mein<br />
Vater durch einen nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiater betreut, <strong>der</strong> ihn ab diesem Zeitpunkt<br />
regelmäßig Medikamente in Depotspritzen verabreichte. Aber diese<br />
ambulante medikamentöse Versorgung war alles, was von fachlicher Seite her<br />
getan wurde. Die Betreuung unseres <strong>psychisch</strong> schwer kranken Vaters übernahmen<br />
wir zwei Kin<strong>der</strong> und meine zu diesem Zeitpunkt stark depressiv gewordene<br />
Mutter. Und wir versuchten auch mit unseren bescheidenen Mitteln<br />
Ansätze von einer amateurhaften Therapie. Schließlich wollten wir doch unserem<br />
Vater helfen. Teilweise versuchte auch die Schwester meines Vaters therapierend<br />
auf ihn einzuwirken.<br />
Und ich muss noch einmal betonen: Über Jahre hinweg, bis zu dem heutigen<br />
Zeitpunkt hin, gab es keinerlei professionelle psychosoziale Unterstützung<br />
für unsere Familie!<br />
Hierbei tut sich ein Kuriosum auf: wir wussten scheinbar lange nicht, dass<br />
mein Vater <strong>psychisch</strong> krank war und wir wollten es auch nicht wissen! Das<br />
heißt, natürlich war es irgendwie klar, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber<br />
dass es sich um eine <strong>psychisch</strong>e Krankheit handelte, das wussten wir nicht.<br />
Das haben wir einfach nicht begriffen. Auch Vater selbst pochte immer darauf,<br />
dass mit ihm alles in Ordnung ist. Wie sollte man da als gehorsame Ehefrau<br />
o<strong>der</strong> als gehorsamer Sohn daran zweifeln?<br />
Dieses Ereignis war ein absolutes Tabuthema, von meinem Vater und meiner<br />
Mutter als Nervenzusammenbruch aufgrund von Stress abgetan und verdrängt.<br />
Für uns alle war es nicht wirklich nachzuvollziehen, was eigentlich<br />
geschehen ist. Keiner dachte daran, dass es eine Krankheit namens Schizophrenie<br />
sein könnte. Wir wollten unser Leben so weiterleben, wie wir es<br />
immer gelebt haben. Aber dieses seltsame Ereignis lag wie ein Schatten über<br />
allem. Und in unserer Familie war vieles nicht mehr so, wie es einmal war.<br />
So mussten wir alleine mit dieser dramatischen Erfahrung fertig werden, die<br />
unser Leben zutiefst erschütterte.<br />
klagte, dass er es dort nicht aushält und dass er es vor allem ohne meine Mutter<br />
nicht aushält. Da meine Mutter ein gutes und weiches Herz hat, brachte sie es<br />
nicht fertig, ihren um Rückkehr bittenden und bettelnden Mann für längere<br />
Zeit in <strong>der</strong> Psychiatrie zu lassen. Sie holte ihn nach wenigen Tagen wie<strong>der</strong><br />
nach Hause.<br />
aushalten. Auch mit meinem Vater konnte ich natürlich nicht über seine<br />
Krankheit reden, auch nicht nach seiner Psychoedukation, die er bei seinem<br />
letzten Klinikaufenthalt bekam. Vielleicht wird es einmal möglich sein, wenn<br />
sie schon alt sind.<br />
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122 123<br />
Thementagung<br />
Aber wie sich herausstellte, gelang mir das nicht wirklich. Insgeheim fühlte<br />
ich mich so verantwortlich für die Probleme meiner Familie. Die Verantwortung<br />
verfolgte mich überallhin. Sie drückte auch meine Seele wie ein Mühlstein<br />
auf den Hals eines Ertrinkenden. So sehr ich mich auch anstrengte, mein<br />
Leben leben zu wollen, es gelang mir nicht. Schwere Depressionen holten<br />
mich ein, ich fühlte mich dem Tod näher als dem Leben. Ich fühlte mich nach<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Zu dieser Zeit knüpfte ich auch Kontakt zu einer Gruppe, die sich „Institut<br />
für Gestalt und Erfahrung“ nennt. Hier nahm ich an einigen Selbsterfahrungsseminaren<br />
teil, die auf <strong>der</strong> Basis von Gestalttherapie funktionierten. Hier<br />
machte ich zum ersten Mal die Erfahrung, dass es so etwas wie einen authentischen<br />
eigenen Willen gibt, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Selbstverständlichkeit einer organischen<br />
Bedürfnisbefriedigung heraus resultiert. Ich begriff, dass es die Möglichkeit<br />
gibt, in meinem Leben einen Weg zu gehen, <strong>der</strong> aktiv von meinem<br />
Selbst im Einklang mit meinen eigenen Bedürfnissen gestaltet wird.<br />
Ich begann mich in eine Gleichaltrigengruppe einzuleben, in <strong>der</strong> ich mich<br />
zum ersten Mal sehr frei und selbstbewusst fühlte. Hier begann ich aber auch<br />
exzessiv weiche Drogen wie Cannabis, Alkohol und Zigaretten, zu konsumieren.<br />
Ich flüchtete mit Hilfe dieses Freundeskreises vor meinen Problemen in<br />
eine freie und abenteuerliche Welt von Party, Freundschaft und Rausch.<br />
Gleichzeitig betrieb ich intensivste Selbsterforschung, indem ich regelmäßig<br />
meine Psychotherapeutin besuchte, bewusstseinserweiternde Drogen nahm,<br />
mich mit Psychologie beschäftigte und mein Fachabitur in Sozialwesen<br />
machte.<br />
Aber in dem Maße, wie ich mich mit mir selbst beschäftigte, entfernte ich<br />
mich immer weiter von meiner Familie. Ich begann diese großen Probleme<br />
zuhause einfach hinter mir zu lassen.<br />
Als ich das Gefühl hatte, nicht mehr mit meinen seelischen Problemen zurechtzukommen,<br />
entschloss ich mich, als ich 17 Jahre alt wurde, eine dreijährige<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendlichen-Psychotherapie zu beginnen. Diese Entscheidung<br />
traf ich alleine, ohne meine Eltern miteinzubeziehen. Zu diesem Zeitpunkt<br />
ging es mir sehr schlecht, mein mangelndes Selbstvertrauen kombinierte<br />
sich mit Depressionen. Zuhause lag <strong>der</strong> Scheinfrieden über meiner Familie,<br />
während meine Mutter und auch mein Vater sehr depressiv waren, mein Bru<strong>der</strong><br />
begann sich immer mehr aus <strong>der</strong> Familie zu distanzieren, indem er sich<br />
zurückzog und schulisch nicht mehr die gewünschten Leistungen brachte und<br />
in seinem sozialen Verhalten problematisch wurde. Es lag ein Hauch von<br />
Scheitern, Zerstörung und Untergang über unserer Familie.<br />
Aus dieser Not heraus entschloss ich mich dann endgültig, dieses rauschhafte<br />
Leben hinter mir zu lassen und beruflich in eine helfende Tätigkeit zu gehen,<br />
und zwar in den Beruf des Sozialpädagogen. Ich begann das Studium. Immerhin<br />
bestand dort die Möglichkeit, noch mehr über die Not herauszufinden<br />
und darüber, wie man sie lin<strong>der</strong>n kann. Somit sah ich die Chance, dass ich<br />
mir erstens selbst helfen konnte und zweitens etwas für meine Familie tun<br />
kann.<br />
Nach wie vor fühlte ich den Auftrag in mir, meiner Familie zu helfen. Diesen<br />
Auftrag gab ich mir selber, er wurde aber auch teilweise von meinen Eltern<br />
an mich gegeben.<br />
Ich fühlte mich sehr behütet in diesem Milieu <strong>der</strong> helfenden Menschen. Ich<br />
kam mir vor wie ein edler weißer Ritter, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e retten kann. Das hat meinem<br />
Ego sehr gut getan. Aber nach wie vor quälten mich selbst schwere Depressionen<br />
und ein geringes Selbstwertgefühl. Und eigentlich war ich selbst<br />
<strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> Hilfe gebraucht hätte. Ich fühlte ständig, dass mir eigentlich<br />
die Kraft mangelte, diesen Beruf ausüben zu können.<br />
wie vor zutiefst mitverantwortlich für all das Schwere und Schlimme, das zuhause<br />
in meiner Familie stattgefunden hat. Und in dem Maße, wie ich erwachsener<br />
und selbständiger wurde, nahmen auch die Schuldgefühle zu.<br />
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124 125<br />
Thementagung<br />
Und ich quälte mich durch das Studium, Monat für Monat. Am Ende stand<br />
sogar eine berufliche Karriere von 2,5 Jahren, in denen ich junge Erwachsene<br />
betreute. Diese Tätigkeit als Pädagoge, die ich auch gut machte, stärkte mein<br />
Selbstwertgefühl ungemein. Jetzt endlich war ich an <strong>der</strong> Stelle, wo nicht mehr<br />
ich <strong>der</strong> Bedürftige war, son<strong>der</strong>n es gab bedürftige Menschen, denen ich helfen<br />
musste. Das war eine wesentlich komfortablere Situation für mich. Und<br />
es war möglich für mich, meine gefühlte Verantwortung für meine Familie<br />
und den Wunsch, ihr zu helfen, an einer an<strong>der</strong>en Stelle kompensatorisch auszuleben.<br />
Ich fühlte mich also in dieser Zeit als werden<strong>der</strong> Übermensch, <strong>der</strong> für alle<br />
Probleme eine Lösung wusste und <strong>der</strong> es vor allem besser wusste als seine<br />
Eltern, und <strong>der</strong> im Grunde wesentlich reifer war als sie und fähig war, ihre<br />
Leiden zu durchschauen und ihnen zu helfen. Aber zu diesem Zeitpunkt ahnte<br />
ich noch nicht, welch großer Irrtum das war und welch ungeheure Anmaßung,<br />
die mir sehr schlecht bekam.<br />
Während meines Studiums und meiner Tätigkeit als Sozialpädagoge machte<br />
ich immer wie<strong>der</strong> Selbsterfahrungsseminare beim Institut für Gestalt und Erfahrung,<br />
absolvierte dort die Ausbildung zum Initiator und Leiter von kreativen<br />
Selbsterfahrungsseminaren. Außerdem durchlief ich meine zweite Psychotherapie,<br />
die wie meine erste wie<strong>der</strong>um ca. drei Jahre dauerte. In dieser<br />
Psychotherapie machte ich sehr wertvolle Erfahrungen und konnte mich mit<br />
Hilfe des Therapeuten maßgeblichen Themen meines Verhältnisses zu mei-<br />
Doch diesmal war <strong>der</strong> Klinikaufenthalt wesentlich erfolgreicher. Er bekam<br />
eine sehr gute therapeutische Behandlung, in <strong>der</strong> er z.B. Psychoedukation bekam<br />
und medikamentös neu eingestellt wurde. Nach <strong>der</strong> Aufklärung über<br />
seine Krankheit weiß mein Vater endlich, was er hat und wie er damit umgehen<br />
kann. Und auch wir an<strong>der</strong>en aus <strong>der</strong> Familie begriffen mit <strong>der</strong> Hilfe <strong>der</strong><br />
dortigen Ärzte jetzt zum ersten Mal, um welche Krankheit es sich bei meinem<br />
Vater handelte.<br />
Denn diese Ärzte leisteten auch bei uns eine hervorragende Aufklärungsarbeit.<br />
Ja, hier entwickelte sich überhaupt zum ersten Mal die Bewusstheit darüber,<br />
dass mein Vater eine <strong>psychisch</strong>e Krankheit hatte. Und dieses Wissen machte<br />
uns alle freier, denn wen kann man schon dafür verantwortlich machen, dass<br />
er krank ist. Und wenn eigenartige <strong>psychisch</strong>e Vorgänge, die man sich nicht<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Damals wuchs mein Gefühl für „mein Eigenes“, so dass ich eines Tages meine<br />
Schauspielausbildung begann. Dies war das Beste, was ich bisher in meinem<br />
Erwachsenenleben entschieden habe. Nach ca. 5 Monaten Schauspielausbildung<br />
und 2,5 Jahren als Sozialpädagoge verließ ich meine Arbeitsstelle des<br />
Sozialpädagogen und wurde für zwei Jahre Küchenhilfe, um mir meine Schauspielausbildung<br />
zu finanzieren. Als ich das meinem Vater mitteilte, reagierte<br />
er doch glatt mit seinem dritten Fall in die schizophrene Psychose.<br />
Damals kristallisierte sich zuerst <strong>der</strong> Wunsch heraus, nicht mehr bei meinen<br />
Eltern zu wohnen, son<strong>der</strong>n eine eigene Wohnung zu beziehen. Damals war<br />
ich 21 Jahre alt und ich begann Sozialpädagogik zu studieren. Ich probierte<br />
verschiedene Wohnsituationen aus, hatte hier und da mal ein Zimmer und<br />
ging für mein Jahrespraktikum sogar in eine weit entfernte fremde Stadt. Der<br />
Kontakt zu meiner Familie reduzierte sich dadurch natürlich auf wenige Treffen<br />
im Monat und gelegentliche Anrufe. Meine Selbständigkeit wuchs von<br />
Monat zu Monat, wurde aber immer noch von depressiven Attacken und starken<br />
Schuldgefühlen begleitet.<br />
nem Vater stellen. Dieser Therapeut erarbeitete mit mir einen neuen Boden,<br />
auf dem ich als Erwachsener funktionieren konnte, ohne an die Rufe aus <strong>der</strong><br />
Vergangenheit gebunden zu sein, die mich in Schuldgefühle und Depressionen<br />
verwickelten.<br />
Außerdem beschäftigte ich mich mit dem systemischen Familienstellen nach<br />
Hellinger. Ich kam immer mehr dahinter, dass ich mich ziemlich fatal an<br />
meine negative Familiengeschichte binden liess und entdeckte gleichzeitig<br />
mein eigentliches Selbst. Ich war aber noch nicht in <strong>der</strong> Lage, den narzisstischen<br />
und anmaßenden Mechanismus, <strong>der</strong> mich an das Helfen und Erziehen<br />
band, zu erkennen und allmählich aufzulösen. Dies geschieht erst jetzt, als<br />
weitere Etappe meines Weges.<br />
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126 127<br />
Thementagung<br />
Und auch mir geht es inzwischen sehr gut. Die langen Jahre <strong>der</strong> Psychotherapie<br />
und Selbsterfahrung haben sich ausgezahlt.<br />
Und ich freue mich wahnsinnig, dass es meiner Familie wie<strong>der</strong> gut geht, und<br />
zwar ohne meine Hilfe. Ich hätte die Heilung meines Vater eh nie bewerkstelligen<br />
können. Ich habe lediglich meine Eltern und meinen Bru<strong>der</strong> entlastet,<br />
indem ich mich um meine eigene Gesundung kümmerte, mein Schicksal<br />
annahm und es wendete.<br />
Und zu wissen, dass es meiner Familie gut geht und sie selber für ihr seelisches<br />
Wohlergehen sorgen können, macht mich so frei! Nach wie vor sehe ich<br />
Eltern und Bru<strong>der</strong> nur wenige Male im Monat, telefoniere hin und wie<strong>der</strong>.<br />
Aber dieser Abstand tut mir sehr gut. Den brauche ich. Zu massiv ist das<br />
Thema noch, und ich könnte wie<strong>der</strong> von unguten Gefühlen weggeschwemmt<br />
werden, wenn ich zu lange und zu oft mit meiner Familie zusammen bin. Das<br />
Eigene bei mir ist noch sehr fragil und muss beschützt werden vor den traumatischen<br />
Bedingungen, die es so lange sabotiert haben. Und ich bin mir<br />
sicher, mit dem Schauspiel habe auch ich etwas gefunden, das mich zur Zeit<br />
sehr erfüllt und das Richtige auf meinem Weg zu mir selbst ist.<br />
Noch eine nachträgliche Anmerkung:<br />
In all den Jahren hatte ich einen treuen Wegbegleiter. Wann immer es mir<br />
schlecht ging, konnte ich mich an Gott wenden. Er hat mich nie verlassen, nie<br />
in guten und nie in schlechten Zeiten. Heute glaube ich mehr denn je an die<br />
Erlösung durch den Glauben. Ich möchte an dieser Stelle Gott danken.<br />
DANKE!<br />
(Sohn eines <strong>psychisch</strong> Kranken, 31 Jahre)<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Zu guter Letzt möchte ich das, was jetzt ist, in drei Sätze zusammenfassen:<br />
Der Nebelschleier über uns hat sich endgültig gelichtet und es herrscht wie<strong>der</strong><br />
klare Sicht.<br />
Es ist passiert, wie es passiert ist, und niemand trägt Schuld.<br />
Wir können wie<strong>der</strong> frei atmen und es fühlt sich gut an.<br />
Nach diesem ca. dreiwöchigen Aufenthalt in <strong>der</strong> Klinik kam mein Vater in<br />
wesentlich besserer Verfassung wie<strong>der</strong> nach Hause. Besser – als ich ihn in<br />
den letzten 14 Jahren erlebt hatte. Und diese Besserung hat sich bis zum heutigen<br />
Tage fortgesetzt. Meinem Vater und meiner Mutter geht es inzwischen<br />
so gut wie schon lange nicht mehr. Sie haben sich beide total stabilisiert, sind<br />
entspannt und beginnen das Leben neu zu genießen und zu entdecken, haben<br />
einfach wie<strong>der</strong> Freude am Leben. Mein Bru<strong>der</strong> wohnt nach einer Phase des<br />
Alleine-Wohnens zwar immer noch zuhause, aber auch er ist stabiler und ausgeglichener.<br />
erklären kann, mit einem Krankheitsbegriff eingefasst werden, dann nimmt<br />
das die Angst und Unsicherheit. Eine Krankheit ist schließlich etwas, mit dem<br />
man umgehen kann.<br />
Noch einmal zurück in die Geschichte:<br />
Gegen Ende <strong>der</strong> Schauspielausbildung arbeitete ich noch mal ein halbes Jahr<br />
als Sozialpädagoge. Das war in <strong>der</strong> ersten Hälfte dieses Jahres. Ich konnte<br />
diesen Weg noch nicht endgültig loslassen. Nach sechs Monaten kam das Ende<br />
an dieser Stelle und gleichzeitig das Ende meiner Helfer -Karriere. Meine<br />
Seele sträubte sich so <strong>der</strong>maßen gegen diese Arbeit, dass sie für ein vorzeitiges<br />
Ende meiner Tätigkeit sorgte. Meine innere Befreiung auf dem Weg zu<br />
mir selbst war schon so weit fortgeschritten, dass ich mich diesem pädagogischen<br />
Helfersystem nicht mehr unterordnen konnte.<br />
Und obwohl es zuerst ein schwerer Schlag für mich war, bin ich jetzt sehr<br />
froh über diese Wendung. Ich bin damit meiner persönlichen Hölle endgültig<br />
entronnen. Ich kehre zurück zu mir, bin jetzt voll und ganz Schauspieler, zwar<br />
noch materiell arm, aber sehr glücklich, allem entronnen zu sein, was mich<br />
von mir selbst entfremdet hat, und dort angekommen zu sein, was ich als eindeutig<br />
zu mir gehörig empfinden kann.<br />
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128 129<br />
Thementagung<br />
Das Beispiel eignet sich gut, um die Reaktionsbreite <strong>der</strong> Menschen auf die<br />
Problematik zu verdeutlichen. Die Spannbreite reicht von „das Problem ignorieren“,<br />
Konsequenz: „die vergessenen Kin<strong>der</strong>“, bis hin zu schnellen, brachia-<br />
Die Antwort auf die Frage, welches Angebot wann das Richtige ist, hängt von<br />
verschiedenen Faktoren ab. Nicht jedes Kind von <strong>psychisch</strong> kranken Eltern ist<br />
gleich stark gefährdet. Wir wissen zwar, dass ein deutlich erhöhtes Risiko besteht,<br />
dass Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern später selbst erkranken o<strong>der</strong> Entwicklungsschäden<br />
nehmen. Dennoch lässt sich die Situation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern nicht über einen Kamm scheren. Es macht einen Unterschied,<br />
ob eine chronisch <strong>psychisch</strong> kranke Mutter ein Kind bekommt, ob<br />
eine Mutter bis zur Geburt gesund war und nach <strong>der</strong> Geburt in eine Psychose<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Ich ließ mich überzeugen, und wir entwickelten ein Konzept für eine stationäre<br />
Übergangseinrichtung für <strong>psychisch</strong> kranke Mütter mit Kin<strong>der</strong>n im Alter<br />
bis zu drei Jahren, dem heutigen Haus Monika. Damals, das war 1998, herrschte<br />
noch eine Informationsbrache zu dem Thema. Es gab so gut wie keine<br />
Einrichtungen, bei denen wir uns als Modell orientieren konnten. Unser Anfang<br />
im Jahr 2000 war schwer, da <strong>psychisch</strong> kranken Müttern mit viel Abwehr<br />
begegnet wurde. Nie werde ich vergessen, wie die Mitarbeiterinnen eine <strong>der</strong><br />
ersten Mütter nach <strong>der</strong> Entbindung im Krankenhaus abholten und sich die<br />
Krankenschwester drohend vor uns aufbaute mit den Worten: „Sie können<br />
dieser Mutter doch kein Kind mitgeben!“<br />
Positiv ist heute: Es sind in <strong>der</strong> Zwischenzeit neue Angebote geschaffen worden,<br />
es wurde einiges geforscht und publiziert. Gerade in Bezug auf München<br />
würde ich sogar sagen, dass wir im bundesweiten Vergleich recht gut ausgestattet<br />
sind. So haben wir neben unserer stationären Einrichtung in München<br />
von verschiedenen Anbietern spezielle Mutter-Kind-Plätze im Betreuten Einzelwohnen.<br />
Meine beruflichen und damit auch persönlichen Erfahrungen mit dem Thema<br />
„Psychisch kranke Eltern und ihre Kin<strong>der</strong>“ begannen durch den Aufbau unserer<br />
Einrichtung „Haus Monika“. Als Psychologin beim Sozialdienst katholischer<br />
Frauen in München arbeitete ich eng mit <strong>der</strong> damaligen Leitung unserer<br />
Mutter-Kind-Häuser zusammen. Diese drängte immer wie<strong>der</strong> vehement darauf,<br />
ein Angebot für <strong>psychisch</strong> kranke Mütter zu schaffen, da die gängigen<br />
Mutter-Kind-Einrichtungen mit <strong>der</strong> Problematik überfor<strong>der</strong>t seien und <strong>psychisch</strong>e<br />
Krankheit damals meist sogar ein Ausschlusskriterium war.<br />
Im Vergleich zu unserem Beginn gibt es heute einiges an positiven Entwicklungen<br />
zu vermelden. Erfreulicherweise kann man sagen, dass die Aufmerksamkeit<br />
und Sensibilität für dieses Thema sehr gestiegen ist und es immer<br />
mehr Menschen gibt, die dafür sorgen, dass „die vergessenen Kin<strong>der</strong>“ nicht<br />
länger in Vergessenheit bleiben.<br />
Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme:<br />
Unterstützungsangebote für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern<br />
Mich persönlich hat die Frage nach <strong>der</strong> richtigen Hilfe für diese Kin<strong>der</strong> und<br />
nach <strong>der</strong> Entscheidung, wann ist es besser, dass dieses Kind bei <strong>der</strong> Mutter<br />
bleibt, wann sollte es von <strong>der</strong> Mutter getrennt werden, um keinen Schaden zu<br />
nehmen, seitdem nicht mehr losgelassen. Ich bin immer noch auf <strong>der</strong> Suche<br />
nach Hilfeansätzen, um die beste Lösung für beide Generationen zu finden.<br />
Und ich glaube, es gäbe sehr vieles, was diesbezüglich getan werden könnte.<br />
Dipl.-Psychologin<br />
Ruth Back<br />
len Lösungen, wenn das Problem wahrgenommen wird, nämlich „diese Mutter<br />
kann das nicht“ und auf eine Trennung von Mutter und Kind zu drängen.<br />
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130 131<br />
Thementagung<br />
Ich möchte jetzt aber bei dieser Gelegenheit nicht näher auf das Erkrankungsrisiko<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> eingehen. Dagegen möchte ich auf die mindestens genauso<br />
Risikofaktoren sind:<br />
• Die Art <strong>der</strong> Erkrankung (Risiko bei schizophrenen Eltern 10 – 15%,<br />
wenn beide erkrankt sind 35 – 50%, Risiko bei depressivem Elternteil<br />
23 – 38%);<br />
• welcher Elternteil betroffen ist: eine Erkrankung <strong>der</strong> Mutter stellt einen<br />
höheren Risikofaktor dar als die Erkrankung des Vaters;<br />
• Schwere und Chronizität <strong>der</strong> Erkrankung;<br />
• Alter des Kindes bei Beginn <strong>der</strong> elterlichen Erkrankung: je jünger das<br />
Kind umso höher ist das Erkrankungsrisiko;<br />
• instabile Familienbeziehungen, allein erziehendes krankes Elternteil;<br />
• soziale Isolation;<br />
• Armut, mangelnde Bildung.<br />
Wichtig ist noch hinzuzufügen, dass das Vorliegen einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung<br />
noch nichts per se über den Umgang <strong>der</strong> erkrankten Mutter mit dem<br />
Kind aussagt. Als Folge <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung, insbeson<strong>der</strong>e bei chronischen<br />
Verläufen, entstehen immer wie<strong>der</strong> Problembündel, die das Verhalten<br />
<strong>der</strong> Mutter/des Vaters manchmal mehr als die Erkrankung selbst beeinflussen<br />
können. Arbeitslosigkeit mit Gefühlen <strong>der</strong> Entwertung, <strong>der</strong> Scham, des Überflüssigseins<br />
und die Folgen von sozialem Abstieg wie Armut und Wohnungsverlust<br />
nagen sehr am Selbstbewusstsein und verursachen konkrete existentielle<br />
Notsituationen. Psychische Erkrankung <strong>der</strong> Eltern ist somit nur ein Risikofaktor<br />
neben an<strong>der</strong>en, die sich jedoch gegenseitig bedingen und verstärken.<br />
Protektive Faktoren für das Kind sind:<br />
• wenn es über die Erkrankung des Elternteils ausreichend aufgeklärt und<br />
informiert ist;<br />
• wenn es ein soziales Netz rund um die Familie gibt;<br />
• wenn an<strong>der</strong>e, gesunde Bezugspersonen für das Kind zur Verfügung stehen;<br />
• wenn es Aussprachemöglichkeiten für das Kind gibt (professionelle o<strong>der</strong><br />
nicht professionelle Unterstützung);<br />
• wenn es Orte hat, wo es kindgerechte „normale“ Möglichkeiten gibt, um<br />
unbeschwert Kind zu sein;<br />
• wenn die Eltern krankheitseinsichtig und behandlungsbereit sind (Bereitschaft<br />
zur Medikamenteneinnahme);<br />
• wenn die Problematik früh erkannt wird und dementsprechend frühe<br />
soziale Hilfen eingesetzt werden;<br />
• wenn die Eltern Entlastungsangebote haben, z.B. Entlastung in <strong>der</strong> Mutterrolle,<br />
bei Erziehungsaufgaben, im Haushalt, bei <strong>der</strong> Alltagsbewältigung;<br />
• wenn die Beziehung des Kindes zum erkrankten Elternteil stabil ist;<br />
• wenn es keine Beziehungsabbrüche gibt;<br />
• wenn das Kind spezifische Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringt<br />
(Intelligenz, soziale Kompetenzen, körperliche Gesundheit);<br />
• wenn die Familie über ausreichende finanzielle Ressourcen und stabile<br />
Lebensbedingungen verfügt.<br />
Kin<strong>der</strong> von <strong>psychisch</strong> kranken Eltern haben dann gute Entwicklungschancen,<br />
wenn Eltern, Angehörige und Fachleute lernen, angemessen mit <strong>der</strong> Erkran-<br />
Kin<strong>der</strong><br />
gerät o<strong>der</strong> ob sie gar erst erkrankt, wenn das Kind älter ist. Natürlich stellt die<br />
Erkrankung eines Elternteiles o<strong>der</strong> gar bei<strong>der</strong> Eltern für Kin<strong>der</strong> immer eine<br />
massive Belastung dar, aber wie hoch die eigene Gefährdung ist, hängt von<br />
verschiedenen Risikofaktoren ab.<br />
wichtige Tatsache zu sprechen kommen, dass <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong> betroffenen<br />
Kin<strong>der</strong> – immerhin ca. 85 Prozent später nicht erkrankt. Und das<br />
ist <strong>der</strong> entscheidende Punkt. Hier gilt es genau hinzuschauen und Antworten<br />
zu finden auf die zentrale Frage: Was hilft den Kin<strong>der</strong>n, gesund zu bleiben?<br />
Was wirkt wie? Die Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen müssen sich an<br />
diesen protektiven Wirkfaktoren ausrichten.<br />
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132 133<br />
Thementagung<br />
Natürlich ist das Verstehen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> abhängig vom Alter und vom jeweiligen<br />
Entwicklungsstand. Aber ich glaube, dass sich auf dem Gebiet einiges<br />
entwickeln ließe, vergleichbar mit den psychoedukativen Ansätzen, wie sie<br />
Möglichkeiten könnten beispielsweise sein:<br />
• Die professionellen Helfer und Helferinnen müssen dem Thema Elternschaft<br />
bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>psychisch</strong> kranker Menschen Beachtung<br />
schenken. Es liegen Untersuchungsergebnisse vor, dass bei einer stationären<br />
Aufnahme selten nach Kin<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>en Alter, <strong>der</strong>en Befindlichkeit<br />
und Lebenssituation gefragt wird. Die Frage nach Kin<strong>der</strong>n muss daher<br />
zwingend in eine Anamnese mit einbezogen werden.<br />
• Weiterhin gibt es Untersuchungsergebnisse aus einer Befragung von Ärzten<br />
und Ärztinnen <strong>der</strong> Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie <strong>der</strong><br />
Universität Freiburg, die ergab, dass zu lediglich 17% <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ein<br />
persönlicher Kontakt im Laufe <strong>der</strong> Behandlung stattgefunden hat. Gemeinsame<br />
Gespräche aller Beteiligten würden bei dem Problem Abhilfe<br />
schaffen. Neben <strong>der</strong> Vermittlung von Information und Herstellung von<br />
Transparenz können in diesen Gesprächen die professionellen Helfer<br />
eine anwaltschaftliche Funktion übernehmen und die Bedürfnisse des<br />
Kindes einbringen und es aktiv unterstützen.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Die schützende Wirkung durch Information und Aufklärung basiert darauf,<br />
dass Information unsere Wahrnehmung und die Bewertung einer Situation<br />
und die Bewertung von sich selbst beeinflusst und dadurch zu einer Verän<strong>der</strong>ung<br />
im emotionalen Erleben führt. Für die betroffenen Kin<strong>der</strong> kann dies<br />
bedeuten, dass sie verän<strong>der</strong>te Verhaltensweisen des kranken Elternteils nicht<br />
länger sich selber zuschreiben, nach dem Motto „Ich bin schuld, weil ich böse<br />
war“, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Krankheit und dadurch keine kindlichen Schuldgefühle<br />
entstehen.<br />
1. Ausreichende Aufklärung über die Erkrankung und Behandlung<br />
<strong>der</strong> Eltern<br />
Kin<strong>der</strong> und Jugendliche erhalten oft keine o<strong>der</strong> nur unzureichende Informationen<br />
darüber, was mit <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> dem Vater los ist. Fragen, die sie stellen,<br />
werden oft nur ausweichend beantwortet. Die Kin<strong>der</strong> fühlen, dass sie besser<br />
nicht fragen sollen, sie spüren ein Tabu und beginnen zu verstummen. Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> Resilienzforschung zeigen, dass eine alters- und entwicklungsgemäße<br />
Aufklärung einen wichtigen Schutzfaktor bildet und die Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />
gegenüber den familiären Belastungen durch die Krankheit erhöhen.<br />
2. Die Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen in die<br />
Behandlung<br />
Modelle für die gezielte Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in die Behandlung des <strong>psychisch</strong><br />
kranken Elternteils gibt es so gut wie nicht. Nach dem Grundsatz,<br />
„Kin<strong>der</strong> sind auch Angehörige“, wäre es vonnöten, auch diese kleinen <strong>Angehörigen</strong><br />
ernst zu nehmen und sie in die Behandlung mit einzubinden.<br />
Dafür ist ein differenziertes Hilfesystem notwendig. Wie bereits erwähnt, gibt<br />
es durchaus schon eine breite Palette an Hilfen, aber es gibt auch noch einiges,<br />
woran es fehlt. Hier einige Ideen, was es noch an Möglichkeiten und<br />
Notwendigkeiten gäbe, um diesen Kin<strong>der</strong>n noch wesentlich besser als bisher<br />
Unterstützung zu bieten.<br />
kung umzugehen und dafür gesorgt ist, dass sich die betroffenen Eltern und<br />
die Kin<strong>der</strong> auf tragfähige professionelle und nicht professionelle Beziehungen<br />
stützen können.<br />
für Patienten/Patientinnen mit ihren sonstigen <strong>Angehörigen</strong> bereits existieren.<br />
Erste Schritte sind zum Beispiel die Erstellung und die Verwendung von<br />
schriftlichen Materialien. Ganz gute Informationshefte gibt es schon vom<br />
Dachverband psychosozialer Hilfsvereinigungen für 8 – 11jährige und für<br />
12 – 18jährige. Natürlich reichen schriftliche Materialien nicht aus, um Kin<strong>der</strong><br />
wirklich über die Krankheit <strong>der</strong> Mutter o<strong>der</strong> des Vaters aufzuklären. Dies<br />
muss im direkten Gespräch erfolgen. Hier komme ich zum nächsten Punkt,<br />
bei dem Verän<strong>der</strong>ungsbedarf besteht.<br />
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134 135<br />
Thementagung<br />
3. Mutter – Kind – Einheiten<br />
In den angloamerikanischen Län<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e in Großbritannien, gehört<br />
die gemeinsame stationäre Aufnahme <strong>psychisch</strong> kranker Mütter mit ihren<br />
Säuglingen und Kleinkin<strong>der</strong>n, so genannte Mutter-Kind-Einheiten, fast zum<br />
Regelfall und wird in ca. 50% <strong>der</strong> dortigen psychiatrischen Kliniken praktiziert.<br />
Ausgehend von den Ergebnissen <strong>der</strong> Bindungsforschung weiß man, dass<br />
frühe Trennungen von Mutter und Kind, z.B. durch einen längeren Krankenhausaufenthalt<br />
<strong>der</strong> Mutter, gravierende negative Auswirkungen auf die Mutter-<br />
Kind-Bindung zur Folge haben können.<br />
Der Erhalt <strong>der</strong> Beziehung in dieser sensiblen Phase hilft dagegen eine sichere<br />
Es gibt auch von professioneller Seite Erfahrungen damit, Gruppen für die<br />
betroffenen Kin<strong>der</strong> anzubieten. Der Gedanke dabei ist, dass es den Kin<strong>der</strong>n<br />
hilft zu erleben, dass sie nicht alleine von dem Problem betroffen sind, dass<br />
sie ihr Schicksal mit an<strong>der</strong>en teilen, sich aussprechen und damit entlasten<br />
können. Die Erfahrung zeigt, wenn Kin<strong>der</strong> bzw. Jugendliche an solchen Gruppen<br />
teilnehmen, können sie sehr davon profitieren. Allerdings scheint es<br />
schwer zu sein, solche Gruppen zu installieren. Entwe<strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong> haben<br />
Hemmungen, an einer solchen Gruppe teilzunehmen, o<strong>der</strong> die Eltern haben<br />
Angst davor, ihre Kin<strong>der</strong> an einem solchen Angebot teilnehmen zu lassen.<br />
Daher ist es beim Aufbau eines Netzwerkes für die Kin<strong>der</strong> praktikabler, den<br />
Fokus auf Gruppen zu legen, die alltagsorientiert, lebensweltnah und nicht<br />
primär problembezogen sind.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
• Es braucht verbesserte Rahmenbedingungen, damit Kin<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Einbeziehung<br />
überhaupt einen Platz haben. „Platz“ meine ich hier durchaus<br />
wörtlich. Wie sollen Kin<strong>der</strong> die Mutter o<strong>der</strong> den Vater auf einer psychiatrischen<br />
Station besuchen, wenn eine kind- bzw. familiengerechte räumliche<br />
Ausstattung völlig fehlt?<br />
Von einer Station des psychiatrischen Krankenhauses in Pa<strong>der</strong>born ist<br />
mir bekannt, dass sie das Raucherzimmer in ein Familien- und Spielzimmer<br />
umgewandelt haben. Die Verän<strong>der</strong>ungen waren überzeugend!<br />
Nach den Beobachtungen <strong>der</strong> Mitarbeiter wurde daraufhin dieses Angebot<br />
sehr gut angenommen. Die Zahl <strong>der</strong> Besuche von Kin<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong><br />
Station hat seitdem deutlich zugenommen, weil es jetzt einen kindgerechten<br />
Ort gibt und Kin<strong>der</strong> nicht nur stillsitzen und zuhören müssen. Das<br />
Wahrnehmen und die Einbeziehung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> beginnen oft mit Kleinigkeiten.<br />
Es muss auch nicht gleich ein eigenes Spielzimmer sein. Wenn<br />
ich zum Beispiel das stationäre Setting verlasse und das Wartezimmer<br />
des nie<strong>der</strong>gelassenen Psychiaters nehme, dann gäbe es da die Möglichkeit,<br />
den Wartebereich familienfreundllich zu gestalten, indem eine<br />
Spielecke einrichtet wird. Das sind bereits zwei mögliche kleine Schritte,<br />
die ganz niedrigschwellig <strong>der</strong> Realität Rechnung tragen, dass auch <strong>psychisch</strong><br />
Kranke Kin<strong>der</strong> haben.<br />
4. Normalisierung<br />
Kin<strong>der</strong> brauchen Normalität. Zu einem normalen Leben gehört <strong>der</strong> Kontakt<br />
mit Gleichaltrigen. Dies ist ihnen nicht immer gegeben, da <strong>psychisch</strong> Kranke,<br />
insbeson<strong>der</strong>e wenn kein gesun<strong>der</strong> Partner da ist, oft dazu neigen, sich zurückzuziehen,<br />
sich zu isolieren. Zum Ausgleich bräuchten die Kin<strong>der</strong> ein soziales<br />
Netz, das ihnen ein unbeschwertes Zusammensein mit einer „Peergruppe“ ermöglicht,<br />
zum Beispiel in Vereinen o<strong>der</strong> Jugendgruppen.<br />
Die Möglichkeit einer gemeinsamen Behandlung von Mutter und Kind senkt<br />
für die Mutter die Schwelle für eine Aufnahme in die stationäre Behandlung,<br />
da sie ihr Kind nicht verlassen muss, und hat den positiven Effekt, dass die<br />
Mutter sich selbst und das Kind nicht zu stark überfor<strong>der</strong>t. Insbeson<strong>der</strong>e bei<br />
nach <strong>der</strong> Geburt auftretenden postpartalen Psychosen, die in <strong>der</strong> Regel gut<br />
behandelbar sind, wäre eine Mutter-Kind-Behandlung von unschätzbarem<br />
Vorteil. Lei<strong>der</strong> ist diese Möglichkeit in Deutschland in <strong>der</strong> Regel nicht vorhanden.<br />
Bindung aufzubauen, vermin<strong>der</strong>t die Schuldgefühle <strong>der</strong> kranken Mutter, ihr<br />
Kind nicht selbst versorgen zu können, und verhin<strong>der</strong>t Trennungstraumata.<br />
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136 137<br />
Thementagung<br />
Ein weiterer Aspekt, <strong>der</strong> für Patenschaftsmodelle spricht, ist, dass Paten /<br />
Patinnen als Ansprechpartner/innen gerade auch zu den Zeiten zu Verfügung<br />
Der Kontakt wird möglichst bereits in „guten“ Zeiten des erkrankten Elternteils<br />
vermittelt, so dass sich ein Vertrauensverhältnis zwischen allen Beteiligten<br />
entwickeln kann. In Krisenzeiten, wenn <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> erkrankte Elternteil<br />
mit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>betreuung überfor<strong>der</strong>t ist, können die Kin<strong>der</strong> dann zu den ihnen<br />
vertrauten Bezugspersonen ausweichen, indem diese die Bereitschafts- o<strong>der</strong><br />
Kurzzeitpflege übernehmen.<br />
Die Unterstützung <strong>der</strong> Paten/Patinnen richtet sich in erster Linie an das Kind.<br />
Sie stellen stabile Bezugspersonen im Leben <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> dar, die ihnen Normalität<br />
und Kontinuität bieten können. Falls es sich um eine Patenfamilie handelt,<br />
wird das betreffende Kind in die Familie einbezogen und kann dadurch<br />
ein positives Familienmodell und Kontakt zu an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n erleben.<br />
6. Kooperation <strong>der</strong> Hilfesysteme<br />
Ein gravierendes Problem bei den Hilfen für diese Kin<strong>der</strong> ist bislang die mangelnde<br />
Kooperation <strong>der</strong> beteiligten Hilfesysteme, also des psychiatrisch, medizinischen<br />
Hilfesystems und <strong>der</strong> Jugendhilfe. In <strong>der</strong> Psychiatrie ist das Wissen<br />
um die Situation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und um die differenzierte Angebotspalette <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe gering. In <strong>der</strong> Jugendhilfe dagegen ist das Wissen um die Erkrankung<br />
<strong>der</strong> Eltern und um medizinische Behandlungsweisen nicht son<strong>der</strong>lich<br />
ausgeprägt. Die jeweiligen Wissenslücken stellen große Hin<strong>der</strong>nisse für eine<br />
angemessene Unterstützung <strong>der</strong> familiären Problemlagen dar. Die Behebung<br />
dieser Lücken ist insbeson<strong>der</strong>e deswegen notwendig, weil sich die Interventionen<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Hilfesysteme gegenseitig beeinflussen. Es braucht daher<br />
einen intensiven Kontakt <strong>der</strong> zuständigen Fachkräfte, um jeweils die Entscheidungen<br />
nachvollziehen und wie<strong>der</strong>um im eigenen Behandlungssetting bearbeiten<br />
zu können.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
5. Patenschaften<br />
Eine weitere Möglichkeit, ein Netzwerk für Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern<br />
zu schaffen, sind Patenschaften. Patenschaftsprojekte sind in den letzten Jahren<br />
in einigen Städten Deutschlands entstanden und verstehen sich als präventive,<br />
nie<strong>der</strong>schwellige nichtprofessionelle Angebote. Grundgedanke ist, Kin<strong>der</strong>n<br />
mit einem <strong>psychisch</strong> erkrankten Elternteil kontinuierliche Bezugspersonen,<br />
sogenannte Paten/Patinnen o<strong>der</strong> bevorzugt Patenfamilien, an die Seite zu<br />
stellen, auf die sie im Alltag und in Belastungssituationen zurückgreifen können.<br />
Es geht also darum, Familien mit entsprechenden Ressourcen und Familien<br />
ohne stabiles soziales Netz zusammenzubringen und damit quasi ein<br />
nachbarschaftliches o<strong>der</strong> familiäres Modell nachzubilden. Patenschaften sind<br />
eine unbürokratische, alltagsnahe Erweiterung <strong>der</strong> Hilfen für die betroffenen<br />
Familien. Dies kann zum Beispiel ein telefonischer Rat für die Mutter am<br />
Abend sein, wenn das Kind nicht zu Bett gehen möchte, o<strong>der</strong> ein Besuch im<br />
Zoo mit dem Kind.<br />
Zusammenfassend sind die Aufgaben von Paten/Patinnen in erster<br />
Linie:<br />
• Regelmäßige Kontakte zum Kind in Absprache mit den Eltern;<br />
• Betreuung des Kindes in einem geregelten Umfang;<br />
• Gemeinsame Freizeitaktivitäten und Unternehmungen mit dem Kind;<br />
• Schulische Unterstützung, Hausaufgabenhilfe;<br />
• Modellbildung bei Erziehungsfragen;<br />
• Schutz und Entlastung des Kindes bei Überfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Eltern;<br />
• Vorübergehende Aufnahme des Kindes und gegebenenfalls Bereitschaftspflege<br />
im Falle einer stationären Aufnahme des kranken Elternteils;<br />
• Gegebenenfalls Einbindung in die Familie eines Paten/einer Patin.<br />
stehen, die über die Öffnungszeiten von öffentlichen Institutionen hinausgehen.<br />
Vor allem in schwierigen Situationen und in Krisen sollten sie unbürokratisch<br />
zur Verfügung stehen.<br />
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138 139<br />
Thementagung<br />
Es gibt auch ein Problem, wenn die Hilfen zwar nicht gegeneinan<strong>der</strong>, aber nebeneinan<strong>der</strong><br />
laufen und nicht aufeinan<strong>der</strong> abgestimmt sind. Um richtige Entscheidungen<br />
für weitere Hilfen und eine adäquate Einschätzung <strong>der</strong> häuslichen<br />
Situation und <strong>der</strong> Belastung für das Kind zu ermöglichen, braucht es die<br />
Kooperation aller an dem Fall beteiligten Professionellen.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Gerade die Schulen sind eine wichtige Instanz, wo Probleme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auffallen<br />
durch ein verän<strong>der</strong>tes Sozialverhalten o<strong>der</strong> durch Leistungseinbrüche.<br />
Hier wäre entsprechende Fortbildung für Lehrkräfte mit möglichst konkreten<br />
Handlungskonzepten z.B. einer Anleitung für Gesprächsführung, von großem<br />
Nutzen. Dies könnte dazu verhelfen, dass sie ein Gespür für die Thematik<br />
entwickeln, sich zuständig fühlen und rechtzeitig handeln.<br />
Das eine System kennt kaum die Angebote, Aufgaben, Aufträge, Organisationsabläufe<br />
und Handlungslogiken des an<strong>der</strong>en Systems. Zum Teil misstrauen<br />
sie sich auch und schreiben sich gegenseitig Versäumnisse zu. Die Erwachsenenpsychiatrie<br />
beklagt, dass die Jugendhilfe <strong>psychisch</strong> kranken Eltern<br />
zu schnell die Erziehungsfähigkeit abspreche und ein mangelndes Wissen<br />
über den Umgang mit <strong>psychisch</strong>en Erkrankungen habe. Die Jugendhilfe beklagt,<br />
dass die Erwachsenenpsychiatrie die Kin<strong>der</strong> instrumentalisiere für das<br />
Wohl <strong>der</strong> Eltern und zu wenig die Gefährdung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> wahrnehme. Natürlich<br />
sind diese wechselseitigen Zuschreibungen nicht ganz unbegründet, aber<br />
wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Jede Seite muss dazulernen!<br />
Und jede Seite muss lernen, dass sie dazulernen muss!<br />
7. Sensibilisierung aller Beteiligten<br />
Über die Sensibilisierung <strong>der</strong> Hilfesysteme hinaus braucht es eine Sensibilisierung<br />
für diese Problematik bei allen, die professionell, aber auch nicht professionell<br />
mit Kin<strong>der</strong>n zu tun haben. In erster Linie betrifft das natürlich wie<br />
bereits ausgeführt die Hilfesysteme <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung und <strong>der</strong> Jugendhilfe.<br />
Aber oft sind die Professionellen dieser Systeme nicht die ersten,<br />
die die betroffenen Kin<strong>der</strong> erleben, son<strong>der</strong>n das können Menschen aus <strong>der</strong><br />
Nachbarschaft o<strong>der</strong> aber in <strong>der</strong> Regel am ehesten die Erzieher/innen in <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong>krippe bzw. im Kin<strong>der</strong>garten o<strong>der</strong> etwa die Lehrkräfte in <strong>der</strong> Schule<br />
sein.<br />
Oft erfolgt die Kooperation <strong>der</strong> Systeme erst dann, wenn es nicht mehr zu<br />
vermeiden ist, nämlich in einer bereits eskalierten Krisensituation. Wenn zum<br />
Beispiel von Seiten <strong>der</strong> Psychiatrie erst dann eine Kontaktaufnahme mit <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe erfolgt, wenn es unvermeidlich ist, dann geht es oft schon um die<br />
grundsätzliche Frage, ob das Kind überhaupt noch zu Hause bleiben kann.<br />
Vorherige frühere Hilfemöglichkeiten können dann kaum noch eingesetzt werden<br />
und das Jugendamt agiert dann primär als Kontrollinstanz, um sein<br />
Wächteramt und seinen gesetzlichen Schutzauftrag auszuüben. Dadurch bestätigen<br />
sich die Befürchtungen <strong>der</strong> Eltern, dass das Jugendamt sowieso immer<br />
nur die Kin<strong>der</strong> wegnehmen will, und es kann keine konstruktive und vertrauensvolle<br />
Zusammenarbeit zwischen <strong>der</strong> betroffenen Familie und <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
mehr entstehen.<br />
Wie können diese Kooperationsmängel beseitigt werden? Einige<br />
Ideen hierzu:<br />
• Kooperation muss ein professioneller Standard werden;<br />
• es braucht Möglichkeiten, dass sich die Systeme gegenseitig kennen lernen<br />
und Verständnis füreinan<strong>der</strong> entwickeln können;<br />
• gemeinsame Fortbildung;<br />
• systemübergreifende Fallkonferenzen;<br />
• Schärfung des jeweiligen Wahrnehmungsrasters für die beson<strong>der</strong>e<br />
Situation dieser Personengruppe;<br />
• in den jeweiligen Systemen intern zuständige Personen, die zu dieser<br />
Thematik fachlich beraten und Hilfen koordinieren können.<br />
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140 141<br />
Thementagung<br />
Die Grundkonflikte und Spannungsfel<strong>der</strong> ergeben sich hauptsächlich<br />
aus<br />
• dem Recht auf Elternschaft und dem Recht des Kindes auf eine angemessene,<br />
kindgemäße Versorgung und Erziehung, also dem Spannungsfeld<br />
zwischen Elternwohl und Kindeswohl;<br />
• den inneren Ambivalenzen des kranken Elternteils:<br />
- zwischen dem Wunsch, das Kind optimal versorgen zu wollen, und<br />
<strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> eigenen Grenzen;<br />
- zwischen dem Wunsch nach Unterstützung und <strong>der</strong> Angst vor Kontrolle<br />
durch Außenstehende;<br />
- zwischen dem Bedürfnis, den Professionellen zu vertrauen und dem<br />
Misstrauen, dass Offenheit dazu führt, dass das Kind weggenommen<br />
wird.<br />
• den Ambivalenzen und Parteilichkeiten <strong>der</strong> Professionellen:<br />
- zwischen <strong>der</strong> Anwaltschaft für das kranke Elternteil und <strong>der</strong> Anwaltschaft<br />
für das Kind;<br />
- zwischen Unterstützung und Kontrolle;<br />
- zwischen dem Wunsch, dem <strong>psychisch</strong> kranken Elternteil<br />
Sicherheit zu geben, und <strong>der</strong> Wirklichkeit, die Möglichkeit einer<br />
Fremdunterbringung des Kindes im Blick haben zu müssen;<br />
- zwischen <strong>der</strong> eigenen Einschätzung <strong>der</strong> familiären Situation und<br />
den Aufträgen Externer, wie Kostenträger, Behörden o<strong>der</strong> Gerichte.<br />
Einerseits benötigen die betroffenen Eltern unbedingt die Überzeugung und<br />
Sicherheit, dass sie ihre Kin<strong>der</strong> behalten können. Aus einer Position <strong>der</strong> Sicherheit<br />
können sie viel leichter Hilfe suchen und annehmen. An<strong>der</strong>erseits ist<br />
Realität, dass es zu Trennungen kommen kann, wenn die elterlichen Erziehungs-<br />
und Versorgungskompetenzen nicht mehr ausreichen. Gerade in Krisensituationen<br />
sind die betroffenen Elternteile nicht mehr sicher, wie die Professionellen<br />
zu ihnen stehen. In dieser Situation werden die Helfer/innen<br />
schnell mit Misstrauen überhäuft und hauptsächlich als Kontrollorgan und als<br />
feindliche Instanz wahrgenommen.<br />
Für all diese bestehenden o<strong>der</strong> auch noch nicht bestehenden Angebote gilt: es<br />
ist eine Arbeit in Spannungsfel<strong>der</strong>n. Wenn <strong>der</strong> Titel meine Vortrages lautet<br />
„Im Spannungsfeld <strong>der</strong> Systeme“, ist von meiner Seite nicht nur die bereits<br />
beschriebene Problematik gemeint, dass sich die Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker<br />
Eltern im Spannungsfeld <strong>der</strong> Hilfesysteme mit den daraus resultierenden<br />
Schnittstellen- und Zuständigkeitsproblematiken bewegen. Weitergehend sind<br />
damit auch die Spannungsfel<strong>der</strong> angesprochen, die beim Aufeinan<strong>der</strong>treffen<br />
eines Familiensystems, bzw. eines Bindungssystems auf ein Helfersystem entstehen.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Wichtige Botschaften im Gespräch mit den Kin<strong>der</strong>n sind:<br />
• Grundbotschaft: Du bist wichtig! Es geht um dich!<br />
• Gefühle: Es kann hilfreich sein, über deine Gefühle und deine Situation<br />
zu Hause zu reden!<br />
• Information: Dein Elternteil ist krank und braucht Unterstützung!<br />
• Entlastung: Du kannst unmöglich alle Aufgaben deines Elternteils übernehmen!<br />
• Verantwortung: Du bist we<strong>der</strong> für die Erkrankung deines Elternteils noch<br />
für dessen Verhalten verantwortlich!<br />
• Erlaubnis geben: Du darfst deine eigenen Sachen machen und dich freuen!<br />
• Trost: Du bist mit deiner Situation nicht allein! Es gibt an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong>,<br />
die ebenfalls <strong>psychisch</strong> kranke Eltern haben!<br />
• Unterstützung: Gibt es jemanden, <strong>der</strong> für dich da ist?<br />
• Klares Vorgehen: Wie kann es jetzt weitergehen? Welche Schritte stehen<br />
als nächstes an?<br />
• Kooperation: Wer muss noch informiert und einbezogen werden? Welche<br />
Hilfen gibt es?<br />
(Quelle: Broschüre „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern – Ein Thema für die<br />
Schule!“ von Katja Beeck)<br />
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142 143<br />
Thementagung<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Schone Reinhold,<br />
Wagenblass Sabine (Hrsg.),<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie;<br />
Juventa Verlag 2006<br />
Mattejat Fritz,<br />
Lisofsky Beate (Hrsg.),<br />
…nicht von schlechten Eltern;<br />
Psychiatrie-Verlag 2000<br />
Lenz Albert,<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern;<br />
Hogrefe Verlag 2005<br />
Literatur:<br />
Ruth Back<br />
Fachreferentin/Dipl. Psychologin<br />
Sozialdienst katholischer Frauen e.V.<br />
Marsstr. 5<br />
80335 München<br />
Tel.: 089/55981244<br />
Fax: 089/55981266<br />
Mail: r.back@skf-muenchen.de<br />
Dieses Dilemma ist schwer zu lösen. Es bedarf einer offenen und transparenten<br />
Zusammenarbeit und intensiver Beziehungsarbeit, damit dies gelingen<br />
kann. Vor allem ist wichtig, dass die Mutter/<strong>der</strong> Vater immer weiß, wo die<br />
Helfer/innen stehen und wie sie die Situation einschätzen. Ein differenziertes<br />
Hilfesystem und <strong>der</strong> Einsatz früher und präventiver Unterstützungsangebote<br />
könnte sehr viel dazu beitragen, aus diesem Dilemmata herauszukommen, indem<br />
die Zuspitzung auf die Frage nach einer möglichen Trennung entschärft<br />
würde. Ich freue mich, dass Anfänge hierfür gemacht sind. Aber ich denke,<br />
wir sind auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel.<br />
Kontaktadresse:<br />
Schone Reinhold,<br />
Wagenblass Sabine (Hrsg.),<br />
Wenn Eltern <strong>psychisch</strong> krank sind.... Kindliche Lebenswelten und institutionelle<br />
Handlungsmuster; Juventa Verlag 2006<br />
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144 145<br />
Thementagung<br />
Darüber hinaus werden Kin<strong>der</strong> über die Verän<strong>der</strong>ungen meistens nicht aufgeklärt.<br />
Häufig glauben die Kin<strong>der</strong>, sie hätten die Krise durch ihr (Fehl-)Verhalten<br />
ausgelöst. Sie können die Verhaltensän<strong>der</strong>ungen des erkrankten Elternteils<br />
Hauptsächlich wird von <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit den <strong>Angehörigen</strong> die Unterstützung<br />
<strong>der</strong> Behandlung erwartet. Angebote <strong>der</strong> Psychiatrie o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er<br />
Stellen zur Unterstützung speziell für Kin<strong>der</strong> von <strong>psychisch</strong> kranken Eltern<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Wenn eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung in einer Familie auftritt, sind alle Familienmitglie<strong>der</strong><br />
belastet. Die erkrankten Elternteile sind mitunter in <strong>der</strong> akuten<br />
Phase <strong>der</strong> Erkrankung nicht in <strong>der</strong> Lage, ihre Erziehungsaufgaben zu bewältigen.<br />
Sie haben Schuldgefühle und Angst, die Kin<strong>der</strong> zu verlieren, sie befürchten,<br />
ihren Kin<strong>der</strong>n durch ihre Erkrankung Schaden zuzufügen.<br />
Die Hilfen konzentrieren sich in akuten Phasen meistens auf den erkrankten<br />
Elternteil, für die Kin<strong>der</strong> ist keine Zeit und Aufmerksamkeit übrig. Ihre Bedürfnisse<br />
müssen zurückstehen.<br />
Die Psychiatrie hat die Aufgabe, den <strong>psychisch</strong> erkrankten Patienten zu stabilisieren,<br />
in den Beruf und die Gesellschaft wie<strong>der</strong> einzuglie<strong>der</strong>n. In den letzten<br />
Jahren gibt es immer mehr die Tendenz, Angehörige und das soziale Umfeld<br />
in die Behandlung mit einzubeziehen und mit ihnen Gespräche über die Erkrankung<br />
zu führen. In <strong>der</strong> Regel werden die Eltern o<strong>der</strong> die Lebenspartner,<br />
aber auch erwachsene Kin<strong>der</strong> hinzugezogen.<br />
Im Verlauf eines Jahres begeben sich in Deutschland ca. 1,6 Millionen Menschen<br />
in psychiatrische Behandlung. Dies entspricht 2% <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung.<br />
Gegenwärtig wissen wir nicht, wie viele dieser von <strong>psychisch</strong>er Erkrankung<br />
betroffenen Menschen Eltern sind. Wir wissen aber, dass ca. 20 % <strong>der</strong><br />
<strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern selbst Eltern haben, die an einer <strong>psychisch</strong>en Erkrankung<br />
leiden. Weiterhin haben ein Drittel <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, die kin<strong>der</strong>- und<br />
jugendpsychiatrisch behandelt werden, <strong>psychisch</strong> erkrankte Eltern.<br />
Das Jugendamt wird von vielen betroffenen Eltern jedoch häufig nur als Institution<br />
zur Wegnahme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> betrachtet. Dadurch werden dessen Hilfsangebote<br />
entwe<strong>der</strong> gar nicht o<strong>der</strong> erst so spät wahrgenommen, dass nicht selten<br />
tatsächlich eine Fremdunterbringung zur Abwendung akuter Gefährdung des<br />
Kindswohls notwendig ist. Für die Eltern kommt es so zu einer selbsterfüllenden<br />
Prophezeiung, weil sie aus Angst vor <strong>der</strong> Wegnahme des Kindes die Situation<br />
so lange eskalieren lassen, bis es dann tatsächlich zu einer <strong>der</strong>artigen<br />
Maßnahme kommt.<br />
FIPS – Beratungsstelle für Familien mit einem <strong>psychisch</strong><br />
erkrankten Elternteil am BKH Günzburg<br />
Dipl.-Sozialpädagogin (FH) und systemische<br />
Familientherapeutin,<br />
Bezirkskrankenhaus Günzburg<br />
Susanne Kilian<br />
nicht verstehen. Diese Kin<strong>der</strong> ziehen sich häufig von <strong>der</strong> Außenwelt zurück;<br />
sie werden still und verschlossen, die Sprachentwicklung kann verzögert sein.<br />
Gesteigerte Aggressivität o<strong>der</strong> sonstige Verhaltensauffälligkeiten machen die<br />
Probleme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sichtbar. Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern werden in <strong>der</strong><br />
Regel erst wahrgenommen, wenn sich Auffälligkeiten herausbilden. Präventive<br />
Angebote gibt es in <strong>der</strong> Bundesrepublik vereinzelt und mit ganz unterschiedlichen<br />
Ansätzen. Kin<strong>der</strong>gärten, Schulen, aber auch Kin<strong>der</strong>- und Jugendtherapeuten,<br />
Jugendamt und viele mehr, die mit diesen Familien zu tun haben,<br />
sind sich oft unsicher, wenn sie mit <strong>psychisch</strong> kranken Eltern arbeiten. Es ist<br />
für die Mitarbeiter <strong>der</strong> Jugendhilfe unklar, was an Hilfe für die Kin<strong>der</strong> und<br />
Eltern notwendig ist, und oft gibt es massive Vorurteile und Berührungsängste<br />
von Erziehern, Lehrern und sogar von Therapeuten.<br />
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146 147<br />
Thementagung<br />
Beson<strong>der</strong>e Schwierigkeiten haben Institutionen für Kin<strong>der</strong>, insbeson<strong>der</strong>e Jugendämter,<br />
mit Eltern, die ihrer Meinung nach <strong>psychisch</strong> auffällig sind, aber<br />
keine Krankheitseinsicht haben. Die wenigsten Mitarbeiter <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
Durch Spendenaufrufe wurde die Finanzierung einer halben Stelle einer Sozialpädagogin<br />
für den Zeitraum eines Jahres erreicht. Am 1.3.2006 nahm die<br />
Beratungsstelle FIPS in <strong>der</strong> Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik<br />
des Bezirkskrankenhauses Günzburg ihre Tätigkeit auf. Es gibt in<br />
Deutschland kein <strong>der</strong>artiges Konzept, in dem innerhalb <strong>der</strong> Erwachsenenpsychiatrie<br />
explizit diese spezielle Unterstützung für die Familien mit einem <strong>psychisch</strong><br />
erkrankten Elternteil angeboten wird. Die Erwachsenenpsychiatrie hat<br />
den Kontakt zu den <strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern. Der Vertrauensvorschuss <strong>der</strong><br />
Eltern gegenüber <strong>der</strong> Psychiatrie wird auf die Arbeit von FIPS übertragen.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Kooperationen zwischen Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie<br />
Jugendämter hätten gern eine Einschätzung und Prognose <strong>der</strong> Erziehungsfähigkeit<br />
von <strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern. Dieser Bedarf wurde immer wie<strong>der</strong><br />
vom Jugendamt im Arbeitskreis „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern“ in Günzburg<br />
beschrieben. Ärzte können diese mit den Ergebnissen <strong>der</strong> Behandlung<br />
einschätzen, ihnen fehlt jedoch häufig die Kenntnis des häuslichen Umfeldes.<br />
Erst ein Hausbesuch verschafft oft Klarheit über die tatsächlichen Lebensverhältnisse<br />
<strong>der</strong> Patienten, das Verhalten in <strong>der</strong> Klinik lässt im Grunde keine präzisen<br />
Einschätzungen zu. Auch die Angabe <strong>der</strong> Diagnose und <strong>der</strong> Medikation<br />
sagt nichts über die Erziehungskompetenz aus.<br />
Konzeption von FIPS<br />
2004 wurde <strong>der</strong> Arbeitskreis „Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern“ in Günzburg<br />
gegründet. Regionale Einrichtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe, das Jugendamt, die Klinik<br />
für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses<br />
Günzburg, <strong>der</strong> Sozialpsychiatrische Dienst sowie die Forschungsabteilung<br />
<strong>der</strong> Universität Ulm setzten sich zusammen. Es sollte eine Kontaktstelle<br />
im Bezirkskrankenhaus Günzburg für <strong>psychisch</strong> erkrankte Eltern geschaffen<br />
werden. Die Annahme war, dass es eigentlich ausreichende Hilfen in Günzburg<br />
und dem Landkreis gibt, die jedoch nicht von diesen Eltern in Anspruch<br />
genommen werden, und das Vermitteln <strong>der</strong> Hilfen ausreichend sein wird.<br />
Die Aufenthaltsdauer in <strong>der</strong> Psychiatrie verkürzt sich immer mehr. Vor allem<br />
die <strong>Angehörigen</strong> beschreiben, dass sich die Patientinnen und Patienten, wenn<br />
sie entlassen werden, noch nicht um ihre Belange selbst kümmern können.<br />
Für die Haushaltsführung kann relativ schnell und unproblematisch Hilfe über<br />
die Krankenkasse für 4 - 6 Wochen organisiert werden. Darüber hinaus wären<br />
aber für solche Familien eine vorübergehende sozialpädagogische Familienhilfe<br />
(SPFH) unbedingt notwendig, denn die Haushaltshilfen sind nicht geschult<br />
im Umgang mit <strong>psychisch</strong> erkrankten Menschen und häufig überfor<strong>der</strong>t.<br />
Die erkrankten Eltern werden nicht selten abgelehnt; es werden hohe For<strong>der</strong>ungen<br />
an die Bewältigung des Alltags und die Umsetzung des Erziehungsauftrages<br />
gestellt. Jedoch haben <strong>psychisch</strong> erkrankte Eltern häufig nicht die<br />
Kraft, permanent Grenzen zu setzen, Verän<strong>der</strong>ungen zu schaffen, wenn sie<br />
selbst um ihre eigene Stabilität ringen müssen.<br />
gibt es so gut wie nicht. Der Sozialdienst <strong>der</strong> Klinik bemüht sich im Interesse<br />
<strong>der</strong> Behandlung, dass die Kin<strong>der</strong> währenddessen versorgt werden. Spezielle<br />
Ängste und Probleme in <strong>der</strong> Erziehung gehören nicht zu den definierten Aufgaben<br />
des Kliniksozialdienstes. Diese bedeuteten überdies eine zusätzliche<br />
Arbeitsbelastung und darüber hinaus werden für diese Aufgabe zusätzlich<br />
Kenntnisse in <strong>der</strong> Arbeit mit Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen benötigt.<br />
haben Erfahrungen im psychiatrischen Bereich. Aber wie auch bei Eltern ohne<br />
<strong>psychisch</strong>e Erkrankung, die ihrem Erziehungsauftrag aus an<strong>der</strong>en Gründen<br />
nicht gewachsen scheinen, besteht die Fragestellung: inwieweit schadet das<br />
Verhalten den Kin<strong>der</strong>n, wie groß ist die Fähigkeit <strong>der</strong> Eltern, sich in die Situation<br />
<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zu versetzen, sich zu verän<strong>der</strong>n und Hilfe anzunehmen?<br />
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148 149<br />
Thementagung<br />
In Trennungssituationen und später gibt es massiven Unterstützungsbedarf.<br />
Meistens bleiben die Kin<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> erkrankten Mutter. Es gibt kaum allein<br />
erziehende <strong>psychisch</strong> erkrankte Väter. Nur in Ausnahmefällen ist <strong>der</strong> Kontakt<br />
<strong>der</strong> erkrankten Mutter zum Vater <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> gut. Die ehemaligen Partner benutzen<br />
nicht selten die Erkrankung <strong>der</strong> Mutter, um zu versuchen, das Sorgerecht<br />
für die Kin<strong>der</strong> zu bekommen o<strong>der</strong> die ehemalige Partnerin zu strafen,<br />
wenn sie ihn verlassen hat. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist es aber auch schon vorge-<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Hausbesuch, Erstkontakt mit den Kin<strong>der</strong>n<br />
Wenn <strong>der</strong> Erstkontakt mit den Kin<strong>der</strong>n im häuslichen Umfeld im Beisein mindestens<br />
eines Elternteils stattfindet, ist es für die Kin<strong>der</strong> weniger belastend.<br />
Die Eltern werden vorher gebeten, den Kin<strong>der</strong>n ausdrücklich zu erlauben,<br />
offen über sich und ihre Situation sprechen zu dürfen. Dies soll helfen, eventuelle<br />
Tabus in <strong>der</strong> familiären Kommunikation für die Kin<strong>der</strong> zu verringern. In<br />
diesen Gesprächen bekommt man nicht nur einen Überblick über die häuslichen<br />
Verhältnisse, man lernt die Atmosphäre und z.B. die Aufteilung <strong>der</strong> Räume<br />
und familiären Umstände schneller kennen. Dieser erste Hausbesuch soll<br />
für die weitere Hilfeplanung einen Eindruck des tatsächlichen Bedarfes vermitteln.<br />
Vor allem sollen in die Planung die Kin<strong>der</strong> selbst mit einbezogen werden.<br />
Begleitung<br />
Bei Schwierigkeiten mit Ämtern bietet FIPS Begleitung an. Häufig schil<strong>der</strong>n<br />
die erkrankten Eltern nicht das ganze Ausmaß <strong>der</strong> Situation o<strong>der</strong> verschweigen<br />
ihre Erkrankung, aus Unsicherheit, wie an<strong>der</strong>e darauf reagieren und aus<br />
Angst vor negativen Konsequenzen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gibt es tatsächlich<br />
Vorbehalte gegenüber <strong>psychisch</strong>er Erkrankung bei den Institutionen, und diese<br />
Eltern benötigen dann dringend jemanden, <strong>der</strong> ihre Situation erklären und<br />
vermitteln kann.<br />
Im Erstgespräch wurde <strong>der</strong> Hilfebedarf ermittelt und die nächsten Schritte geplant.<br />
In 75 % <strong>der</strong> Fälle erfolgte danach ein Hausbesuch. Mitunter fand schon<br />
das erste Gespräch zuhause statt, wenn Klienten sich nicht in <strong>der</strong> Lage sahen,<br />
in die Klinik zu kommen.<br />
Hilfen für die Familien mit einem <strong>psychisch</strong> erkrankten Elternteil<br />
In <strong>der</strong> Regel wandte sich <strong>der</strong> erkrankte Elternteil selbst an FIPS. Bei circa <strong>der</strong><br />
Hälfte stand im Vor<strong>der</strong>grund die Sorge, die Kin<strong>der</strong> könnten Schaden durch<br />
die Erkrankung nehmen. In einem Drittel <strong>der</strong> Fälle gab es Schwierigkeiten<br />
mit <strong>der</strong> Schule, dem Jugendamt o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Stellen.<br />
Ermittlung des Hilfebedarfs<br />
Sollte nach diesen 2-3 Gesprächen ein weiterer Hilfebedarf entstehen, so wird<br />
gemeinsam mit den Eltern geplant, welche weiteren Schritte notwendig sind.<br />
Dann ist es das Ziel, in bestehende Institutionen zu vermitteln. Gegebenenfalls<br />
wird die Familie o<strong>der</strong> <strong>der</strong> erkrankte Elternteil parallel dazu begleitet, um zum<br />
einen die Intervention zu überprüfen, ob es die richtige ist und ob die Familie<br />
die Termine wahrnehmen kann, zum an<strong>der</strong>en um bei auftretenden Schwierigkeiten<br />
zu vermitteln.<br />
Inzwischen haben 24 Familien den Kontakt zu FIPS aufgenommen. Inwieweit<br />
das Konzept <strong>der</strong> Beratung von den Klienten als hilfreich betrachtet wird, evaluiert<br />
die Universität Ulm mittels einer qualitativen Klientenbefragung. Die<br />
Ergebnisse für das erste Halbjahr werden Ende des Jahres erwartet.<br />
Ebenfalls hilfreich ist es, die ganze Familie kennen zu lernen. Wenn es Großeltern<br />
gibt, die noch eine wichtige Rolle spielen, werden diese zu einem Familiengespräch<br />
eingeladen. Gerade bei allein erziehenden Müttern sind es oft<br />
die Großeltern, die vor allem für die Kin<strong>der</strong> die notwenige Unterstützung geben.<br />
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Thementagung<br />
2. Psychoedukation für Familien<br />
Die Kin<strong>der</strong> wissen meistens nichts über die Erkrankung und sind oft interessiert<br />
daran, mehr darüber zu erfahren. Je mehr die Eltern ihre Erkrankung akzeptieren,<br />
umso eher ist es möglich, auch mit den Kin<strong>der</strong>n über die Erkrankung<br />
zu sprechen. Die meisten Betroffenen möchten, dass eine an<strong>der</strong>e Person<br />
es den Kin<strong>der</strong>n erklärt, auch wenn sie selbst viel über ihre Erkrankung wissen.<br />
In diesem Gespräch soll herausgefunden werden, was die Kin<strong>der</strong> als Problem<br />
betrachten. Die Offenheit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in diesem Erstgespräch war überraschend.<br />
Meist kamen schon in diesem ersten Gespräch Wut, Vorwürfe und<br />
Verzweiflung zutage.<br />
Es gibt bestimmte Kriterien, die in <strong>der</strong> Literatur zum Thema Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong><br />
kranker Eltern als mögliche Belastungen aufgeführt werden, wie z.B. Isola-<br />
4. Runde Tische und Netzwerke<br />
Sind mehrere Helfer involviert o<strong>der</strong> soll es eine Übergabe geben, wird im<br />
Einverständnis <strong>der</strong> Klienten Kontakt zum Helfersystem aufgenommen. In<br />
mehreren Fällen kam es zu Helferkonferenzen. Sollte das Jugendamt informiert<br />
werden müssen, gegen den Wunsch <strong>der</strong> Eltern, soll dies mit Wissen <strong>der</strong><br />
Betroffenen durchgeführt werden. Bislang gab es jedoch noch keinen Fall, in<br />
dem das Jugendamt tätig werden musste, wenn es die Eltern nicht wünschten.<br />
Kin<strong>der</strong><br />
3. Beratung und Begleitung<br />
Wie oben schon erwähnt, werden die infrage kommenden Hilfen erläutert und<br />
Begleitung gegebenenfalls angeboten. Dabei ist das Ziel, die Eltern und Kin<strong>der</strong><br />
in die Lage zu versetzen, selbständig diese Hilfen einfor<strong>der</strong>n und in Anspruch<br />
nehmen zu können.<br />
Methoden<br />
1. Systemische Familientherapie:<br />
Die therapeutischen Gespräche werden mit den Methoden <strong>der</strong> Systemischen<br />
Familientherapie geführt. Dazu gehört, dass das ganze Umfeld in den Beratungsprozess<br />
mit einbezogen wird und nach Ressourcen gesucht wird. Familienmitglie<strong>der</strong><br />
werden miteinbezogen, wenn sie eine wichtige Rolle spielen.<br />
Schlimmer als eine <strong>psychisch</strong>e Erkrankung eines Elternteils sind die Konsequenzen<br />
für die Kin<strong>der</strong>, wenn sich die Eltern nicht einigen und ihre Konflikte<br />
über die Kin<strong>der</strong> austragen. So muss versucht werden, alle an einen Tisch zu<br />
bekommen, möglichst gemeinsam mit dem Jugendamt, um einvernehmliche<br />
Lösungen zu finden.<br />
kommen, dass tatsächlich <strong>der</strong> gesunde Vater zumindest vorübergehend die für<br />
die Kin<strong>der</strong> bessere Lösung war. Diesen Unterschied herauszufinden ist sehr<br />
schwierig, weil unter Umständen diese Lösung die <strong>psychisch</strong> erkrankten Eltern<br />
destabilisiert, aber für die Kin<strong>der</strong> zwingend notwendig ist.<br />
tion, Verzicht auf alterstypische Beschäftigung, Kommunikationsverbote, Tabuisierung<br />
<strong>der</strong> Erkrankung.<br />
Mit den Eltern wird über diese möglichen Risiken in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong> gesprochen, mit den Kin<strong>der</strong>n darüber, wie sie ihre Situation erleben<br />
und welche Fragen sie zum Thema <strong>der</strong> <strong>psychisch</strong>en Erkrankung haben. Es<br />
gibt Materialien für Kin<strong>der</strong>, z.B. Bücher und Prospekte, um mit <strong>der</strong>en Unterstützung<br />
die Erkrankung und ihre Auswirkungen den Kin<strong>der</strong>n verständlich zu<br />
erklären.<br />
Mit <strong>der</strong> Frage, ob sie die Erkrankung „erben“ könnten, muss vorsichtig umgegangen<br />
werden. Die besten Erfahrungen mit den Kin<strong>der</strong>n wurden gemacht,<br />
indem mit spielerischen Angeboten Gespräche geführt wurden, und vor allem<br />
damit, die Kin<strong>der</strong> zu fragen, was sie wirklich wissen wollen und wie es ihnen<br />
geht. Damit muss verantwortlich umgegangen werden, aber auch das Kind<br />
muss als eigenständige Person respektiert werden, wenn es vielleicht auch gegen<br />
den Wunsch <strong>der</strong> Eltern nichts wissen möchte.<br />
Mit den Eltern wird über Schuldgefühle, Versagensängste und die Verantwortung,<br />
Hilfe zu suchen und anzunehmen, gesprochen.<br />
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Thementagung<br />
Universität Ulm Abteilung Psychiatrie II,<br />
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus<br />
Günzburg<br />
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Thomas Becker<br />
Kin<strong>der</strong><br />
Weitere Aufgaben von FIPS<br />
• Konzeptionsentwicklung<br />
• Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Tagungen, Vorträge, Presseartikel)<br />
• Finanzierung <strong>der</strong> weiteren Arbeit<br />
• Multiplikatorenarbeit (Vorträge, Gespräche mit Institutionen)<br />
• Aufbau von Netzwerken (z.B. Ehrenamtlichen-Agentur, Kin<strong>der</strong>gruppe,<br />
Kin<strong>der</strong>- und Jugendpsychiatrie, gemeinsame Fallkonferenzen)<br />
• Übergeordnete bundesweite Vernetzung mit an<strong>der</strong>en Stellen, die sich<br />
dieses Themas annehmen<br />
Kontaktadresse:<br />
Susanne Kilian<br />
Ludwig-Heilmeyer-Str. 2<br />
89312 Günzburg<br />
Tel: 0 82 21/96 28 74<br />
Email: Susanne.Kilian@bkh-guenzburg.de<br />
Remschmidt, H. / Mattejat, F. 1994:<br />
Kin<strong>der</strong> psychotischer Eltern<br />
Göttingen<br />
5. Gruppenangebot für Kin<strong>der</strong><br />
Ab Ende November 2006 beginnt eine Gruppe für die Kin<strong>der</strong>. Diese Kin<strong>der</strong>gruppe<br />
wird von <strong>der</strong> Erziehungsberatungsstelle und Heilpädagogischen Tagesstätte<br />
für den Landkreis Günzburg <strong>der</strong> Katholischen Jugendfürsorge Augsburg<br />
alle vier Wochen für zweieinhalb Stunden angeboten. Die Gruppe ist<br />
konzipiert für Kin<strong>der</strong> zwischen sieben und vierzehn Jahren. Sie soll den Kin<strong>der</strong>n<br />
Unterstützung geben für ihre spezielle Situation. Der Aspekt <strong>der</strong> Selbsthilfe,<br />
die Erfahrung, dass es an<strong>der</strong>en ähnlich geht, und vor allem die gemeinsame<br />
Freizeitgestaltung und die spielerische Atmosphäre sollen den Kin<strong>der</strong>n<br />
helfen, auch an<strong>der</strong>e Aspekte kennen zu lernen und ihre Möglichkeiten zu erweitern.<br />
Mattejat, F./Lissofsky, B. (Hrsg.) 2001:<br />
... nicht von schlechten Eltern. Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> Kranker,<br />
Bonn<br />
Martinius, J. /Frank, R. (Hrsg.)1990:<br />
Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung von Kin<strong>der</strong>n,<br />
Bern<br />
Lenz, A. 2005:<br />
Kin<strong>der</strong> <strong>psychisch</strong> kranker Eltern,<br />
Göttingen<br />
Allerdings gab es schon Fälle, in denen die Intervention durch FIPS im Vorfeld<br />
schon klärend wirkte und für die Kin<strong>der</strong> bessere Lösungen gefunden wurden.<br />
Lediglich in einem Fall war diese Intervention gegen den Willen des erkrankten<br />
Elternteils.<br />
Deneke, Ch. 1995:<br />
Psychosoziale Probleme von Kin<strong>der</strong>n <strong>psychisch</strong> kranker Eltern.<br />
In: pro familia magazin, Heft 4, S. 5-7<br />
Literatur:<br />
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154 155<br />
Copyright: <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
<strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />
Wyeth GmbH, Münster<br />
Techniker Krankenkasse<br />
Stadt Landshut<br />
St.-Wolfgangs-Platz 11<br />
81669 München<br />
Tel: 089/1296046<br />
Fax: 089/1237189<br />
E-mail: projekt-print@an<strong>der</strong>werk.de<br />
Lilly Deutschland GmbH, Bad Homburg<br />
Kaufmännische Krankenkasse<br />
Satz<br />
und Druck: PROJEKT PRINT<br />
Janssen-Cilag GmbH, Neuss<br />
Gmün<strong>der</strong> Ersatzkasse<br />
Deutsche Angestellten Krankenkasse<br />
Bezirkskrankenhaus Landshut<br />
Pappenheimstr. 7, 80335 München<br />
Tel: 0 89/51 086 325<br />
Fax: 0 89/51 086 328<br />
E-Mail: lvbayern_apk@t-online.de<br />
Bezirkskrankenhaus Haar<br />
Herausgeber: <strong>Landesverband</strong> <strong>Bayern</strong> <strong>der</strong> <strong>Angehörigen</strong><br />
<strong>psychisch</strong> Kranker e.V.<br />
Bezirksklinikum Obermain<br />
Barmer Ersatzkasse<br />
AstraZeneca GmbH, Wedel<br />
Arbeitsgemeinschaft <strong>der</strong> Krankenkassenverbände<br />
Wir danken allen För<strong>der</strong>ern und Sponsoren für die freundliche<br />
Unterstützung<br />
Sponsoren<br />
För<strong>der</strong>er und Sponsoren<br />
Impressum:<br />
Impressum<br />
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