Opfer - Albrecht-Bengel-Haus
Opfer - Albrecht-Bengel-Haus
Opfer - Albrecht-Bengel-Haus
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Lesedauer<br />
5 – 10 min<br />
„DU opfer!“<br />
„Hey, du <strong>Opfer</strong>!“ So schallt es mir in der Pause aus dem<br />
Klassenzimmer entgegen. Ein Junge steht im Zentrum der<br />
Gruppe, die Anderen zeigen mit dem Finger auf ihn und<br />
lachen.<br />
Eine alltägliche Szene. „Du <strong>Opfer</strong>“ hat Eingang in die<br />
Jugendsprache gefunden und ist zur gewohnten Vokabel<br />
geworden. Oft werden Kinder und Jugendliche mit einem<br />
geringen Selbstwertgefühl, mit abweichendem Aussehen<br />
oder andersartigem Verhalten besonders leicht zur<br />
Zielscheibe dieser Beschimpfung. Was aber verstehen die<br />
Jugendlichen darunter, wenn sie jemanden als »<strong>Opfer</strong>«<br />
bezeichnen?<br />
Das deutsche Wort „opfern“ kommt ursprünglich aus dem<br />
religiösen Bereich und meint: „Gott etwas zum <strong>Opfer</strong> bringen,<br />
werktätig sein, einer religiösen Handlung obliegen.“ Als<br />
Theologin denke ich da an Sühneopfer, Bittopfer, Dankopfer<br />
und Lobopfer. Und natürlich an die Selbstaufopferung Gottes<br />
in Jesu <strong>Opfer</strong>tod am Kreuz. All das haben meine Schüler<br />
jedoch weniger im Sinn. Die geläufigere Wortbedeutung<br />
„jemand, der durch etwas oder jemanden Schaden erlitten<br />
hat“ trifft es aber auch nicht ganz, denn sie hat in der<br />
Jugendsprache eine inhaltliche Umdeutung erfahren.<br />
Eine Umfrage in einer achten und neunten Klasse eines<br />
Gymnasiums soll helfen, der neuen Bedeutung auf die Spur<br />
zu kommen. Die Schüler und Schülerinnen konnten anonym<br />
dazu Stellung beziehen, ob und wann sie diesen Ausdruck<br />
verwenden, zu wem sie ihn bevorzugt sagen, was sie damit<br />
meinen, und was für sie überhaupt ein <strong>Opfer</strong> ist.<br />
Als Ergebnis dieser Umfrage kann man festhalten, dass<br />
mehr Jungen als Mädchen dieses Schimpfwort aktiv gebrau-<br />
20 THEOLOGISCHE ORIENTIERUNG : Januar – März 2011<br />
Die Umdeutung des <strong>Opfer</strong>begriffs<br />
in der Jugendsprache<br />
chen. Sie benutzen es vor allem dann, wenn jemandem etwas<br />
„Dummes“ oder Peinliches passiert, wenn sich jemand blamiert<br />
oder wenn jemand Pech hat. Diese Äußerungen, die<br />
eher mit dem Begriff „Schadenfreude“ als mit dem Gedanken,<br />
jemanden bewusst zu schädigen, in Verbindung gebracht<br />
werden, überwiegen deutlich. Das Wort»<strong>Opfer</strong>« wird hier<br />
synonym mit „Schussel“ oder „Pechvogel“ gebraucht, das<br />
vermeintliche <strong>Opfer</strong> ruft eher allgemeine Heiterkeit als<br />
Gehässigkeit hervor.<br />
Erst an zweiter Stelle wird der als <strong>Opfer</strong> Bezeichnete identifiziert<br />
mit „jemandem, der kassiert hat“, „jemandem, der<br />
von allen ausgegrenzt wird“, „jemandem, der von allen fertig<br />
gemacht wird.“ Hier kommt stärker als im ersten Fall der<br />
eigentliche <strong>Opfer</strong>gedanke im Sinne von „<strong>Opfer</strong> einer Tat“<br />
zum Ausdruck. Während im ersten Fall der Betroffene einfach<br />
nur zum <strong>Opfer</strong> seiner eigenen Ungeschicklichkeit oder<br />
ungünstiger Umstände wird, ist er im zweiten Fall eindeutig<br />
Ziel einer aktiv gegen ihn gerichteten Handlung. Die Antwort<br />
„<strong>Opfer</strong> einer Tat“ hat übrigens nur ein einziger Schüler<br />
bei der Befragung gegeben – nur einer von vielen, der den<br />
eigentlichen Sinn des Begriffes <strong>Opfer</strong> verstanden hat.<br />
Nach Meinung des Berliner Forums Gewaltprävention<br />
ist dieses Modewort aufgrund seines passiven Charakters<br />
jedoch Zeichen einer bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklung:<br />
„Unter Jungen und männlichen Jugendlichen ist<br />
es inzwischen verbreitet, das Wort »<strong>Opfer</strong>« auch als Schimpfwort<br />
zu gebrauchen. Der Begriff »<strong>Opfer</strong>« löst offenbar nicht<br />
mehr selbstverständlich Empfindungen aus, die von Empathie<br />
gekennzeichnet sind, sondern er wird benutzt, um sich<br />
der eigenen Identität zu versichern und alles abzuwehren,