neue texte 2012 - Home
neue texte 2012 - Home
neue texte 2012 - Home
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
18<br />
eitanalySe<br />
11. märz <strong>2012</strong><br />
und stilistische Deeskalierung und entwaffnung<br />
ein Wunder. Da schreibt ein Opfer aus der ichperspektive<br />
und wird nicht zum täter und geht<br />
nicht in der rolle des Opfers auf, behält sich die<br />
möglichkeit des Widerstands bis zur Bereitschaft<br />
zur Selbstauslöschung, bis zum radikalen einsatz<br />
für die rechte anderer, kompromisslos und ohne<br />
groß rücksicht auf die Gefahren der redundanz<br />
zu nehmen, die dabei im ästhetischen lauern.<br />
Wenn man den ersten Band „lebend kriegt ihr<br />
mich nie“ öffnet und die Vorbemerkung und<br />
das inhaltsverzeichnis mit den an Barockromane<br />
gemahnenden Kapitelüberschriften zu lesen<br />
beginnt, wird schnell klar, dass weder Utopien<br />
noch anti-Utopien, sondern prekärste realität<br />
verhandelt wird. Ein Vierzehnjähriger bringt sich<br />
aus zuneigung und zufall nicht um. Im Übrigen<br />
kennt er sich mit gewerkschaftern aus. Oder: Der<br />
hochbegabte Sohn eines Auschwitzwärters ist<br />
schwer erziehbar, findet sich aber einen Freund,<br />
der ihm für eine zeit lang Leib- und geistwächter<br />
ist. Als sein erstes Kind geboren wird, sagt er, er<br />
habe alles erreicht in seinem Leben, er habe die<br />
Welt verändert.<br />
Die lektüre bestürzt. lapidar, lakonisch ist der<br />
text, parataktisch strukturiert, Hauptsatz folgt<br />
auf Hauptsatz, Ungeheuerlichkeit auf Ungeheuerlichkeit,<br />
keine langen Satzperioden, da ist nicht<br />
raum genug, da muss einer überleben im Schreiben<br />
und kurz und stoßweise ein- und ausatmen<br />
dabei. einen üblichen Bericht über ein Kind, das<br />
nur zufällig überlebt hat, nennt der autor den<br />
text. Seit 1979 arbeitet er daran.<br />
Die tagebuchnotizen, die egon Christian leitner<br />
zwischen 2004 und 2011 verfasst, kompilieren<br />
zeit- und gesellschaftskritische Beobachtungen,<br />
benennen alternativen, zeigen auswege, betreiben<br />
fehleranalyse, beschreiben, was bedrohlich<br />
falsch läuft in Systemen, vornehmlich in jenen<br />
der helfenden Berufe. „furchtlose inventur“<br />
nennt egon Christian leitner das Verfahren, das<br />
er von den anonymen alkoholikern übernimmt<br />
und zum titel des zweiten Bandes und zur basalen<br />
methode macht. manchmal sagt er auch<br />
kleines einmaleins des globalen neoliberalismus<br />
dazu oder kleines einmaleins der weltweiten globalen<br />
sozialen Bewegungen oder kleines einmaleins<br />
des europäischen Sozialstaates.<br />
Birgit Pölzl<br />
„Cees Nooteboom sagt, einen Ozean könne man nicht aufschreiben.<br />
Aber vielleicht kann man wenigstens von den Routen berichten, die man<br />
genommen hat, um ihn zu queren."<br />
Wolfgang Pollanz<br />
Ich musste mit ihm überall hin, seine Frau<br />
ersetzen. Die Spucke, das Weinen, die Schläge, als<br />
ob er mein Gesicht nicht vertrage, war er. Fotos<br />
sind Dokumente, wenn man sonst nichts hat,<br />
als dass man lebt. Im Krieg war er Filmvorführer.<br />
Im Mai 1968 eben starb meine Großmutter.<br />
Ich war gerade sieben geworden. Ich fand das<br />
Grab meiner Großmutter nicht mehr, als wir<br />
am Tag nach dem Begräbnis zum ersten Male<br />
wieder zum Grab gingen. Der Vater hatte bei der<br />
Beisetzung geweint, hinuntergeschaut ins Loch.<br />
Weil er mir leid tat, schmierte ich mir meine<br />
Spucke in die Augen, damit ich auch verweint<br />
ausschaue und er nicht alleine ist. In der Nacht<br />
dann redete ich im Finstern inwendig mit meiner<br />
Großmutter, und meine tote Großmutter und ich<br />
beteten gemeinsam, hatten keine Angst, meine<br />
Großmutter war voller Rosenkranz, weil sehr<br />
gläubig. Sie wusste von nichts und wir beide<br />
beteten. Aber jetzt fand ich das Grab meiner<br />
Großmutter nicht. Fand ich nicht. Die Sargträger<br />
waren kreuz und quer gegangen mit dem Sarg.<br />
Deshalb hatte ich mir den Weg nicht gemerkt. Der<br />
war ein ganz anderer gewesen als der jetzt. Der<br />
Vater wollte, dass ich zum Grab vorauslaufe. Aber<br />
ich wusste nicht, wo es war, ging falsch. Er schlug<br />
mich sofort, beschimpfte mich und riss mich auf<br />
dem Friedhof nieder, meinen Kopf, meine Haare,<br />
nieder, nieder. Ich lass’ dich da! Ich lass’ dich da!,<br />
schrie er. Er wollte mich auf dem Friedhof lassen.<br />
Tat er dann auch. Ich schaute über die Mauer.<br />
Eine kleine Fabrik da drüben, Kohle, Holz, ein<br />
Lagerplatz ohne Leute. Die Bahnschranken. Wenn<br />
ich hier bleiben muss, was tue ich. Hatte Angst.<br />
Keine Leute waren da, menschenleer war alles,<br />
die Gänge zwischen den Reihen, die Mauer, die<br />
Steine. Wie komme ich von hier heim. Über der<br />
Mauer auf der anderen Straßenseite ein riesiger<br />
Behälter.<br />
Egon Christian Leitner,<br />
Lebend kriegt ihr mich nie. S. 88<br />
Tag, Monat, Jahr<br />
Unmittelbar vor dem ersten Bombardement<br />
Afghanistans sagte ein amerikanischer Soldat: Wir<br />
müssen den Toten zu Hilfe kommen. Er meinte<br />
die vom 11. September.<br />
Tag, Monat, Jahr<br />
Ein Mann in einem Spital, in einem Film,<br />
Drehbuch, sagt, Millionen Indianer seien in<br />
Südamerika und zig Millionen Indianer seien<br />
in Nordamerika umgebracht worden. Aber<br />
nirgendwo in den USA gebe es ein indianisches<br />
Holocaustmuseum. Ganz sicher keines in<br />
Washington und New York. Schaut aus dem<br />
Fenster hinaus, hinunter. Auf Ground Zero.<br />
Tag, Monat, Jahr<br />
Vor mir in der Straßenbahn ein Mädchen. Es holt<br />
ein kleines Notizbuch aus der Tasche, blättert.<br />
Dann eine vollgeschriebene Seite. Sehr leserlich.<br />
Aber Kinderschrift. Scheiß auf alles, steht da<br />
mit Tinte geschrieben. Dann Bleistiftnotizen.<br />
Sie schaut die Seite kurz an, wird wütend, dreht<br />
ihre Kopfmusik ganz laut auf. Die Musik aus<br />
ihren Ohren heraus hört man noch in einiger<br />
Entfernung. Das Mädchen wippt sich immer mehr<br />
in Wut. Wut ist Mut. Früher sagte man eben<br />
Glückauf, heute Scheißauf.<br />
Bourdieu wollte, dass Jugendliche aufschreiben,<br />
was an ihren Schulen falsch läuft. Und dass sie<br />
keine politischen Wortführer zulassen dürfen,<br />
die an ihrer Stelle reden. Sie sollen sich von<br />
niemandem Ideen aufzwingen lassen, niemandem<br />
die eigenen aufzwingen. Und wenn sich<br />
Jugendliche völlig verweigern, sei das, weil sie<br />
sich wie Abfall fühlen, weil sie wie Müll behandelt<br />
werden. Er verglich die Jugendkrawalle mit den<br />
Bauernkriegen.<br />
Egon Christian Leitner,<br />
Tagebücher. S. 77<br />
petra Sterry<br />
aBSenCe<br />
HD, 7 min. (d/engl.), 2 monitore, Bett, 2010<br />
mit: lotte loebenstein (anne Kavanagh), Krista Boechzelt (anny tobin)<br />
Kamera: johannes Hammel, ton: Gailute miksyte, maske: Sandra pichler<br />
montage: marcin Glod<br />
ausstellung mitleid compassion<br />
Kulturzentrum bei den minoriten, 17. märz bis 13. mai <strong>2012</strong>.<br />
auswege<br />
ein üblicher Bericht über ein Kind, das nur zufällig<br />
überlebt hat. Davon, wie menschen waren<br />
und was aus ihnen geworden ist. Und über die<br />
Hilfseinrichtungen, deren jeder mensch im laufe<br />
seines lebens bedarf; wenn nicht er selber, dann<br />
die ihm nahestehenden. Von den Glücks- und<br />
Unfällen darin. Von erlernter Helferhilflosigkeit,<br />
professionell unterlassener Hilfeleistung,<br />
Schweigepflichten und dem totreden. Von<br />
not- und zwangssituationen quer durch die<br />
milieus und metiers, Klassen, Schichten und institutionen<br />
und von Happy ends. Und über das<br />
Unterleben und über berufliches looping. Und<br />
darüber, dass man zeit und zeitverlust besser<br />
in menschenleben und menschenleid misst. Von<br />
Systemfehlern und Systemunfällen und vom<br />
Beheben und Verhindern derselben. eine loyale<br />
Systemanalyse von innen und von den folgen<br />
her. Und eine all dessen, was die geld- und gesetzgebenden<br />
politiker aufzwingen.<br />
ein nachdenken über die aussichten einer frauen-<br />
und die Chancen einer Sozialstaatspartei. über all<br />
die gegenwärtigen Versuche, die politik neu zu<br />
erfinden, wirklich, rechtzeitig und gemeinsam.<br />
Und darüber, dass die linken und alternativen<br />
den rechten und angeblich Konservativen immer<br />
zwei, drei revolutionen hinten nach sind. Und wie<br />
der Staat mittels des Staates außer Kraft gesetzt<br />
wurde. Und dass die neoliberale revolution jetzt<br />
ihre Kinder frisst.<br />
eine erinnerung an diejenigen leute, die den pflegenotstand,<br />
das Versagen der jugendwohlfahrt,<br />
die notwendigkeit von politiker- und parteienhaftungen,<br />
die Verdrittweltlichung der ersten Welt,<br />
eine bevorstehende arbeitslosenrate von 10 %,<br />
die leere der gewerkschaftlichen Streikkassen,<br />
das bevorstehende platzen der immobilienblase,<br />
die Gefährdung der pensionen durch die Börsen,<br />
den realwirtschaftsanteil von lediglich 5 % am<br />
weltweiten Kapital in die öffentliche Diskussion<br />
zu bringen sich beizeiten und lebhaft bemühten.<br />
Somit ein kleines einmaleins des globalen neoliberalismus<br />
auf der einen, der weltweiten globalen<br />
sozialen Bewegungen und des europäischen<br />
Sozialstaates auf der anderen Seite. Und der<br />
organisierten Verantwortungslosigkeit und der<br />
grotesken Katastrophen. ein aufspüren wirklich<br />
nennenswerten Unternehmertums und wirkliche<br />
abhilfe schaffender Sozialarbeit. Und immer in der<br />
Hoffnung auf einen Generalstreik der frauen.<br />
„Arbeitende Leute, working people. Aussteigen, Uhr schauen, Handy<br />
raussuchen, zigarette. Wir haben solche Klischees in unserem Leben. [...]“<br />
Andrea Wolfmayr<br />
11. märz <strong>2012</strong><br />
19