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12 VII 05 - MDZ-Moskau

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10<strong>Moskau</strong>erFeuilletonEin geniales RennpferdIn Robert Musils Roman „DerMann ohne Eigenschaften“schwärmt ein Journalist von einem„genialen Rennpferd“. Es hatte nämlichim 20. Jahrhundert „eine Zeitbegonnen, wo man von Genies desFußballrasens oder des Boxrings zusprechen anhub“, wie Ulrich, dieHauptfigur des Romans, feststellt.Wenn aber selbst ein Rennpferd denZeitgenossen als Genie gilt, dannmuss ein beflissener Kulturbürgerwie Ulrich keines mehr werdenwollen und kann sich seinen vielfältigenBegabungen widmen, ohneeine davon zu vertiefen. Für denmodernen und oft überfordertenMenschen ist das auch heute nocheine tröstliche Nachricht.Musils „geniales Rennpferd“ istaktuell geblieben: nicht nur, weil sichdie Genies dank Fernsehübertragungweiterhin wundersam vermehren,sondern auch, weil sich manchervon ihnen als begnadeter Geistgleich mehrere Sparten zu betätigensuchen. Mit wechselhaftem Erfolg.„Kamennaja Baschka“ – auf Deutschetwa „Steinschädel“ – heißt der Film,der dem Boxer und SchwergewichtsweltmeisterNikolaj Walujew dieerste abendfüllende Hauptrolle aufden Leib schneidert. In dieser Fintedes Produzenten Sergej Se ljanow(„Grus 200“) steckt viel vom „genialenRennpferd“ – nur, dass es sichhier nicht um einen Mann ohneEigenschaften, sondern vielmehr umeinen ohne Erinnerung handelt.Der Boxer Jegor hat nach einemschweren Verkehrsunfall nahezualles verloren: seine Frau Katja, dieFähigkeit, körperliche Schmerzenwahrzunehmen, sein Gedächtnis.Wie ein zäher Brei fließen die Tagefür den Zweimeter-Mann dahin –ohne Zusammenhang und ohneSinn. Regisseur Filip Jankowskijhat für dieses Schicksal ruhige undunaufgeregte Bilder gefunden. Nahaufnahmenvon milchgetränktenFertignudeln, die im Mund zerbröseln,versteinerte Blicke auf abgewetzteTapeten, vergrübelte Busfahrtendurch ein ungewöhnlich tristesund unbehaustes St. Petersburg.Das Einzige, was hier glänzt, sinddie Pokale und Medaillen, die JegorsRuhm von einst bezeugen.In einer der ersten Szenen schlägter seinen schweren Schädel dröhnendan die Wand: „Wer bist du? Wieist dein Name?“ – lautet die endloswiederholte Frage an die heulendeAmüsierdame, die da bei ihm aufdem Sofa sitzt. Jegors BoxmanagerGolowin Nail hat sie geschickt, erhat sein größtes Talent noch nichtaufgegeben. Vitalij Kischtschenkogibt in seiner Rolle äußerst glaub-Deutsche Zeitung Nr. 17 (240) September 2008Der Film „Kamennaja Baschka“ schreibt dem Boxweltmeister Nikolaj Walujew die Hauptrolle auf den LeibWenn Laien zu Darstellern werden, bleibt die große Filmkunst oft auf derStrecke. „Kamennaja Baschka“ mit dem Boxweltmeister Nikolaj Walujew inder Hauptrolle ist so ein Beispiel. Dass der Streifen trotzdem die Jury beim16. Russischen Filmfestival „Fenster nach Europa“ überzeugen konnte,kommt nicht ungefähr. Das Drama eines Boxers erzählt nicht die amerikanischeGeschichte, dass einer, der nichts ist, was werden kann, sondernein ziemlich russische: von einem Schicksal, gegen das es keine Auflehnunggibt und das dennoch einen Funken Hoffnung übrig lässt – für den, der eszu tragen lernt.Von Alexander HeinrichMit dem apachenhaften Charisma des großen Mannes: Nikolaj Walujew als Boxer Jegor.würdig einen verschlagenen Zuhälterund Boxmanager: Er schummeltTatjana in Jegors erinnerungslosesLeben. Sie soll, gegen Geld verstehtsich, seinem besten Pferd im Boxstalldie verlorene Frau ersetzen.Zuschlagen soll der Mann, undnicht tumb vor sich hin starren, einerichtige Frau braucht der Mann, mitHerz und Haut und Haaren, eineRevanche gegen einen Rivalen voneinst steht an. Auch wenn ihn dieserKampf, wie der Arzt sagt, das Lebenkosten kann.Nach den Regeln des Dramas hatsich Golowin Nail natürlich verrechnet:Tatjana fügt sich nicht indie Rolle der toten Katja, sie nimmtAnteil an Jegors Schicksal, entdecktden guten Menschen in ihm. Plötzlichbeginnt sich der versteinerteRiese zu regen, die Erinnerungenund die alten Reflexe kommen wieder.Doch der Boxer, der sich fürbillige Münze für seinen Managerherumschlägt, der will Jegor nichtmehr sein.Regisseur Jankowskij hat daraufverzichtet, die Ästhetik von Boxfilmlegendenwie „Rocky“ mit ihrenknatternden Punchingbällen undschweißtreibenden Trainingsläufenam Strand nach St. Petersburg zuverpflanzen. „Kammenaja Baschka“erzählt keine Geschichte desamerikanischen Wunschtraums,dass einer, der nichts ist, was werdenkann, sondern eine ziemlichrussische: von großen Fischen undnoch größeren zum Beispiel, vonknurrender, knuffender Männerfreundschaft,die auch dann nochglimmt, wenn einer den anderenverrät. Vor allem aber von einemSchicksal, gegen das es keine Auflehnunggibt und das am Ende dochnoch einen Funken Hoffnung fürden übrig lässt, der es klaglos zutragen lernt. Nicht als Sportdrama,sondern als „Drama eines großenMenschen“ will Jankowskij seinenFilm verstanden wissen, „groß – imwahren und im übertragenen Sinnedes Wortes“.Ohne Walujews in der Tat beeindruckendenSchädel würde dieserFilm schal aussehen. Der Boxer verkörpert,ohne großes Mienenspiel,allein durch seine schiere Präsenzeinen Archetypus des Kinos: dasapachenhafte Charisma des großenMannes, der mit jeder tapsigenBewegung seine Gutmütigkeit zuerkennen – und seine Verletzlichkeitpreisgibt. Am Ende, in einemvollkommen überflüssig brutalenFinale, rettet er alle: nicht nur dieschöne Tatjana an seiner Seite, sonderneben auch die Macher desFilms, die ihr populäres Darstellergesichtebenso unverblümt zugebrauchen wissen, wie der verschlageneBoxmanager Nail es mitseinem „Steinschädel“ tut.Im wirklichen Leben hat der BoxerWalujew in diesen Tagen übrigenseinen wichtigen Kampf für sich entschieden.Ende August besiegte erin Berlin den Amerikaner John Ruiznach Punkten und holte sich damitden Weltmeistertitel zurück. Rechtso – und das wusste bereits RobertMusils Ulrich, der „Mann ohneEigenschaften“: „Ein Boxmeister hateinem großen Geist voraus, dasssich seine Leistung und Bedeutungeinwandfrei messen lässt und derBeste unter ihnen auch wirklich alsder Beste erkannt wird.“Foto: VerleihWo die Moderne alt aussiehtDie Architekturausstellung „Das neue Leningrad“ zeigt eine vergangene Zukunft – um sie zu rettenDie Schule im Stadtteil Smolenskij hat bessere Zeiten gesehen. Die Terrassegleicht einem verwilderten Garten, Putz bröckelt von den Wänden undvon unten drückt das Grundwasser ins Fundament. Derart verwahrlost, istdas konstruktivistische Denkmal Lichtjahre vom mondänen St. Petersburgder Gegenwart entfernt. Eine <strong>Moskau</strong>er Ausstellung begibt sich auf dieSpurensuche konstruktivistischer Architektur in der Nordmetropole – bevordieses Stück Baugeschichte endgültig Geschichte wird.<strong>Moskau</strong> entdeckt seine Baudenkmälerder Moderne: Der Narkomfin-Wohnblock im Nowinskij-Boulevardvon Mosei Ginsburg, ein Juwel desKonstruktivismus, wird nach langenJahren des Verfalls endlich restauriert.Mitte September eröffnet DarjaSchukowa, Lebensgefährtin des OligarchenRoman Abramowitsch, eineGalerie für zeitgenössische Kunst –in einem ehemaligen Busdepot desArchitekten Konstantin Melnikow.In St. Petersburg sieht die Situationanders aus. „St. Petersburg vermarktetsich als Stadt der Zaren, lässtseine Baudenkmäler der Moderneaber verkommen“, sagt VitalijPazukow, Kurator am Zentrum fürzeitgenössische Kunst in <strong>Moskau</strong>.„Dabei sind das steinerne Zeugeneines großen gesellschaftlichen undästhetischen Umbruchs.“Der Fotograf Wladislaw Efimow hatfür die Ausstellung „Das neue Leningrad“knapp 80 konstruktivistischeBauten der 20er Jahre in der Nordmetropoledokumentiert: Wohnblöcke,Kommunehäuser, Kulturpalästeund Arbeiterklubs, öffentlicheBäder und Industriegebäude – siealle verkörpern den revolutionärenVon Inna KriegerAufbruch einer Baukunst, die derneuen Gesellschaft neue Formen desLebens und Wohnens geben wollte.Heute führen viele dieser Gebäudeein Schattendasein: Der Putz bröckelt,Eisenträger rosten und in dieFundamente dringt Grundwasserein.Es gibt Unterschiede zwischen<strong>Moskau</strong> und St. Petersburg, erklärtPazukow. Der Konstruktivismus, dersich in der sowjetischen Hauptstadtimmer wieder neu erfand, behielt inLeningrad seine ursprüngliche puristischeForm. Der Künstler KasimirMalewitsch war ein Vorbild vielerArchitekten, sie übertrugen die Vorstellungder reinen geometrischenFormen in die Baukunst. Es ist eineschlichte Architektur, die auf Zierratund Dekor verzichtet, sich ebensowie das Neue Bauen in Deutschlandästhetisch über die Gestaltung derBaukörper definierte und die sichimmer auch als soziales Bauen verstand.Ein schönes Beispiel ist dasin der Ausstellung gezeigte Schulgebäudedes Architekten GrigorijSimonow im Stadtteil Smolenskij.Der Gebäudekörper setzt sich ausrechteckigen Volumina zusammen,Wenn das Haus zur Skulptur wird: Grigorij Simonows Schulgebäude in St. Petersburgaus den frühen 20er Jahren.deren einzigen Kontrast der zylinderförmigeBlock im Eingangsbereichbildet.Dass diese Architektur bei ihrenBewohnern und Benutzern nichtimmer gut ankam – auch davonvermittelt die Ausstellung einenEindruck. In vielen dieser Gebäudesteckt der Geist der Mechanisierung,jene reformatorische Zweckdienlichkeit,die den Bewohnern mitGemeinschaftsküchen und Wohnzellennoch in die alltäglichsten Verrichtungenhineinredet. Der ArchitekturkritikerAdolf Behne, eigentlichein Freund des Neuen Bauens,schrieb unter dem Titel „Hilfe, ichmuss wohnen!“ über die damals inMode kommende Zeilenbauweise:„Im Westen wird gekocht, im Ostenwird geschlafen.“Arbeiter, die den ganzen Tag in derWerkhalle standen, wollten Kargheitund architektonische Strenge nichtauch noch zu Hause wiederfinden.Das machte es der stalinistischenFoto: Wladislaw EfimowKunstdoktrin mit ihrer Rückkehrzu repräsentativen Gesten und vielDekor auch leicht, die Architekturder zwanziger Jahre als „formalistisch“zu brandmarken.Bis heute haben die konstruktivistischenBlöcke nicht den besten Ruf.Wer hier wohnt, muss mit engenZimmern, rieselndem Putz und fehlendenKüchen auskommen. DieBewohner zahlen zumeist eine nursymbolische Miete an den Staat. Vieledieser Bauten wurden in kürzesterZeit und mit schlechten Materialienaus dem Boden gestampft, erklärtPazukow. Deshalb sei die Restaurierungoft auch sehr aufwendig undteuer. Investoren interessieren sichoft nur für die Filetgrundstücke undreißen die Baudenkmäler der Ostmoderneab.Der in der Ausstellung gezeigteWohnblock „Tachitekton“ des ArchitektenRyangin und der Banjakomplex„Gigant“ von Nikolskij sindschon Geschichte. Beide Gebäudewurden in diesem Jahr abgerissen.„Die Mitarbeiter der St. PetersburgerDenkmalfpflege verdienen nichtviel. Und wenn ein Großinvestoranklopft, dann kann es schon vorkommen,dass das unter der Handregerelt wird und Gebäude aus derDenkmalsliste verschwindet“, sagtPazukow. Der Fotograf Efimowmöchte mit der Ausstellung auf einStück einzigartiger Baugeschichteaufmerksam machen, bevor sie ganzzu verschwinden droht. Wenn esdafür nicht schon zu spät ist.

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