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Anwaltsblatt 2011/01 - Österreichischer Rechtsanwaltskammertag

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AbhandlungDas sogenannte BleiberechtVon Hon.-Prof. Dr. Kurt Heller, Wien. Der Autor ist em. Rechtsanwalt und Mitglied des VfGH iR., 34 Jahre als Anwalttätig, Partner von Heller, Löber, Bahn und Partner, ab 2000 (nach Fusion) Partner von Freshfields, Bruckhaus, Deringer.1979 bis Ende 2009 Mitglied des Verfassungsgerichtshofs und ab Beginn 2003 ständiger Referent, Autor von zahlreichenFachaufsätzen und Büchern, zuletzt über die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich (Der Verfassungsgerichtshof,Verlag Österreich 2<strong>01</strong>0).§ 56 des Westgallizischen Gesetzbuches aus 1797 lautete:„Wenn ein Ausländer durch Übernehmung eines Amtes,durch Antretung eines Gewerbes, durch gesetzmäßige Besitznehmungeines unbeweglichen Gutes; durch zehnjährigenununterbrochenen Aufenthalt, durch den Eintritt in eineZunft oder Innung, durch Errichtung einer inländischen Fabrikoder Manufaktur, oder auf was immer für eine andereArt den unverkennbaren Willen in diesem Lande zu verbleiben,erklärt hat; so muß er ohne Ausnahme, wie ein Eingebornerdes Landes, behandelt werden.“Das Bleiberecht ist also entgegen der Meinung einigerKritiker keine Erfindung des Verfassungsgerichtshofes(VfGH), noch des Europäischen Gerichtshofsfür Menschenrechte (EGMR). Schon Euripides befasstesich in seinem Drama „Die Kinder des Herakles“vorwiegend mit dem Recht eines Fremden, sich in einemanderen Herrschaftsbereich aufzuhalten, alsodem so genannten Bleiberecht. Die Diskussion umdas Bleiberecht ist so alt wie die menschliche Zivilisation.Neu ist lediglich das aus dem Sprachgebrauch inDeutschland stammende Wort „Bleiberecht“. Überdiesen Begriff herrscht in der öffentlichen Diskussionvöllige Verwirrung. Da ich sieben Jahre lang als ständigerReferent im VfGH Asyl- und zum Teil auch Fremdenrechtsfällebehandelt habe, möchte ich ein paarKlarstellungen versuchen:Die Wahl des Ortes, an dem man lebt, und vor allemdie Beibehaltung des Aufenthaltes an diesem Ort ist einwichtiges Element des Privat- und – sofern man dortauch Familie hat – des Familienlebens und damit eingrundrechtlich relevanter Faktor (Art 8 EMRK). DerEGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung zuArt 8 EMRK ganz grundsätzlich zwischen der Außerlandesschaffungvon Ausländern, die über einenRechtstitel für den Inlandsaufenthalt verfügt habenund diesen verlieren, einerseits und Personen, die ersteinen Aufenthalt im Inland begründen wollen, andererseits.Nach dieser Rechtsprechung enthält Art 8EMRK kein Grundrecht auf Einreise oder Aufenthaltin einem fremden Staat oder gar auf Einbürgerung. 1)Selbst ein Recht auf Familiennachzug besteht unterdem Gesichtspunkt des Art 8 EMRK nur dann, wenndas gemeinsame Familienleben in einem anderen Staatunmöglich oder unzumutbar ist. Ehepaare haben ausder Sicht des Art 8 EMRK kein Wahlrecht, wo sie ihrgemeinsames Familienleben verbringen wollen. 2) Darausergibt sich die Konsequenz, dass ein Bleiberechtim Allgemeinen nur bestehen kann, wenn ein Fremdersich zunächst rechtmäßig im Inland aufgehalten hat.Erst wenn der Rechtstitel für den Aufenthalt später erlischt,etwa durch ein Aufenthaltsverbot, so stellt sichdie Frage, ob eine Ausweisung und Abschiebung desFremden Art 8 EMRK verletzt. Nach der Rechtsprechungdes EGMR sind die öffentlichen Interessen ander Außerlandesschaffung gegen die Interessen des Betroffenenam Verbleib im Inland abzuwägen. DerEGMR hat dazu eine Reihe von Kriterien entwickelt,die der VfGH in seiner Rechtsprechung übernommenhat. Im Erkenntnis VfSlg 18.223/07 heißt es hiezu:„Er hat etwa die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR ankeine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR31. 1. 2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl.50.435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562;16. 9. 2004, Fall Ghiban, Appl. 11.103/03, NVwZ 2005,1046), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens(EGMR 28. 5. 1985, Fall Abdulaziz ua, Appl. 9214/80,9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20. 6. 2002, FallAl-Nashif, Appl. 50.963/99, ÖJZ 2003, 344; 22. 4. 1997,Fall X, Y und Z, Appl. 21.830/93, ÖJZ 1998, 271) unddessen Intensität (EGMR 2. 8. 20<strong>01</strong>, Fall Boultif, Appl.54.273/00), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, denGrad der Integration des Fremden, der sich in intensivenBindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit,der Schulausbildung, der Berufsausbildung,der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung undähnlichen Umständen manifestiert (vgl EGMR4. 10. 20<strong>01</strong>, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002,582; 9. 10. 2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ2006, 560; 16. 6. 2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00,EuGRZ 2006, 554; vgl auch VwGH 5. 7. 2005, 2004/21/<strong>01</strong>24; 11. 10. 2005, 2002/21/<strong>01</strong>24), die Bindungenzum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit,aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisseder öffentlichen Ordnung (vgl zB EGMR24. 11. 1998, Fall Mitchell, Appl. 40.447/98; 11. 4. 2006,Fall Useinov, Appl. 61.292/00) für maßgeblich erachtet.Auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einemZeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicherenAufenthaltsstatus bewusst waren, ist bei der Abwägungin Betracht zu ziehen (EGMR 24. 11. 1998, Fall1) EGMR 2. 8. 20<strong>01</strong>, BeschwNr 54273/00, Boultif gg Schweiz.2) EGMR 19. 2. 1996, BeschwNr 23218/1994, Gül gg Schweiz ua.<strong>2<strong>01</strong>1</strong>, 9Verfassungsgerichtshof;Verfassungsgerichtsbarkeit;RechtsgeschichteÖsterreichisches <strong>Anwaltsblatt</strong> <strong>2<strong>01</strong>1</strong>/<strong>01</strong>Das sogenannte BleiberechtAutor: Hon.-Prof. Dr. Kurt Heller, Wien9

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