vivantesKÖRPER & SEELEBORDERLINE-SYNDROMSEILTANZder SEELE20 gesund! 04.2013
EIN AUF UND ABder Gefühle – derKranke lebt wie einAkrobat auf demSeil.Sabine (24) hockt wie gefesselt auf dem Bett, sie starrt stumm aus dem Fenster,ihre Augen sind verheult. Sie weiß: Die Fenster sind fest verschlossen, auch dieTür des Zimmers. Sie ist in einer Klinik. „Eingesperrt“, aber gut aufgehoben. Zumeigenen Schutz. Denn Sabine hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Jetztkümmern sich Ärzte um die junge Frau, die am Borderline-Syndrom erkrankt ist.Und so hat es angefangen: Gestern, fast um dieselbeZeit, besucht Sabine eine Geburtstagsparty. Sie fühltsich prima, richtig gut. Das „Wohlgefühl“ steigert sichzum „Hochgefühl“. Sabine lässt sich das Buffet schmecken.Sie plaudert, sie tanzt, sie singt. Anderen Gästen der Party fälltihre übertriebene Ausgelassenheit auf. Denn es sprudelt nur soaus Sabine heraus: Wie gut es ihr geht! Wie viel Spaß das Lehramt-Studiummacht! Wie sie sich auf den Urlaub freut!Das geht so bis zum späten Abend. „Ich war nur Minuten zuHause, da stieg in mir so eine Dunkelheit auf“, beschreibtSabine den Stimmungsumschwung. Mit dem Spätabend andiesem Tag bricht die Nacht über Sabines Seele herein . . .Sie fühlt sich leer und leerer. Die gute Laune ist wie weggeblasen.Noch schlimmer: Der Hochstimmung machen Bedrücktheit undNiedergeschlagenheit Platz. Irgendwann hält Sabine, so wird siespäter dem Notarzt berichten, den Druck nicht mehr aus.Sie steht auf, geht ins Bad – und schneidet sich wortlos die Pulsadernauf. Sie spürt, wie das warme Blut über die Arme läuft.Endlich, ja endlich fühlt sie sich wieder!Ein Telefonanruf rettet sie: Als eine Freundin zufällig durchklingelt,erzählt Sabine ihr, was sie sich gerade antut. Die Freundinruft den Notarzt, der Minuten später bei Sabine ist, sie versorgtund ins Krankenhaus bringt. Sabine wird zunächst in der Klinikbleiben, dort ist sie sicher und wird umfassend betreut.Ursachen liegen in der KindheitDr. med. Dr. phil. Bruno Steinacher, MBA, ist Chefarzt im <strong>Vivantes</strong>Wenckebach Klinikum in Tempelhof, einer Klinik fürPsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik/Gerontopsychiatrie.Borderline-Patienten wie Sabine sind dem Spezialistengut bekannt.„gesund!“ sprach mit Dr. Dr. Steinacher – und wollte wissen,wie und wann das sogenannte Borderline-Syndrom bei Menschenentsteht, was man dagegen tun kann und ob diese Störungheilbar ist.Herr Dr. Dr. Steinacher, wie kann man das Borderline-Syndrom am einfachsten beschreiben? Was geht dabei inder Seele des Menschen vor?Stress, aber auch ein ‚Reiz’ wie eine kritische Bemerkung, eineausbleibende, erwartete Zuwendung oder eine plötzliche Erinnerung,die dem Menschen in den Kopf schießt, führen zuquälender Anspannung. Jetzt kommen Gefühle auf, die denBetroffenen überwältigen und die er nicht mehr differenzierenkann. Der Betroffene versucht jetzt, die Situation für sich abzumildern,das macht er mit ‚unangepasstem Verhalten’.Wie kommt es zu den selbstzerstörerischen Handlungen – wieetwa Rasierklingenschnitte oder gar Selbstmordversuchen?Viele Betroffene vermindern kurzfristig diese Spannungszuständedurch körperliche Selbstverletzung, etwa Rasierklingenschnitte.Oder durch anderes riskantes Verhalten – etwagefährliches Fahren im Straßenverkehr oder über die Einnahmevon Drogen.Sind Frauen von der Borderline-Auffälligkeit öfter alsMänner betroffen?Nein, Frauen und Männer sind von Borderline gleich häufig betroffen.Frauen sind aber in vielen Fällen mehr bereit, sich professionelleHilfe zu suchen und diese anzunehmen, wogegenMänner ihr Hochrisiko-Verhalten ausleben: mit Fremdaggression,mit Drogenkonsum. Der überwiegende Teil Borderline-Betroffener unter den Männern kommt also mehr mit Polizeiund Justiz in Berührung als mit dem Gesundheitssystem!In welcher Lebensphase entsteht Borderline oder werdendie Grundlagen gelegt?Das ist noch nicht eindeutig geklärt. Die meisten Expertengehen heute davon aus, dass sich das Borderline-Krankheitsbildaus einer Wechselwirkung zwischen einer angeborenenVeranlagung und schwierigen Lebensumständen in der Kind-INFO:Rund 1,5 Millionen Deutsche leiden an dieser psychischen Auffälligkeit. Frauenwie Männer, alte wie junge Menschen, die jüngeren etwas zahlreicher. Jedersechste stationäre Patient in Deutschlands Psychiatrischen Krankenhäusernist ein „Bordi“, wie Erkrankte selbst ihr Leiden leicht spöttisch abkürzen.Der englische Begriffsursprung macht es deutlich: „Borderliner“ sind Grenzgänger– in ihrem eigenen Gefühlskosmos. Ihr Problem: extreme Gefühlsschwankungen.Ihr Befinden: entweder lebenslustig und sorglos, übertriebenfröhlich und optimistisch, im nächsten Moment depressiv und ängstlich. Dannkommen sie mit der Welt nicht mehr zurecht, wollen sich verstecken oder –wie im hier geschilderten extremen Fall – sogar das Leben nehmen.21