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Manuskript - WDR 5

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Leonardo - Wissenschaft und mehr<br />

Sendedatum: 19. Januar 2010<br />

Wenn Kinder die Schule wechseln<br />

von Karl-Heinz Heinemann<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Ich finde halt gut, dass wir auf die weiterführenden Schulen kommen, und<br />

ich würde gern aufs Gymnasium kommen. Das macht sicher viel Spaß. Mein<br />

Bruder ist auch da. Da kriegt man halt ein bisschen Druck, aber mir gefällt es<br />

da wahrscheinlich.“<br />

„Doch, ich muss dafür noch etwas tun, ich kann es jetzt nicht so meinen,<br />

dass ich nur das mache, was ich mag. Ich muss auch mal ein paar Dinge<br />

machen, die ich nicht mag.“<br />

Kinder im vierten Schuljahr. Voller Erwartung sehen sie dem nächsten großen Schritt<br />

in ihrem Leben entgegen: dem Wechsel von der Grundschule auf eine<br />

weiterführende Schule. Die meisten wollen aufs Gymnasium, und tatsächlich gehen<br />

heute mehr Schüler dort hin als auf irgendeine andere Schule. In den Großstädten<br />

sind es oft die Hälfte aller Kinder, die entweder am Gymnasium oder einer<br />

Gesamtschule den Weg zum Abitur einschlagen. Doch nicht für alle verläuft dieser<br />

Weg glatt. Das musste Emine erfahren, ein elfjähriges deutsches Mädchen mit<br />

türkischen Eltern.<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Am Anfang wollte ich auf das Gymnasium. Aber auf der Empfehlung stand:<br />

eingeschränkt Gymnasium und Gesamt und Real.“<br />

Emine spricht hier von der Empfehlung der Grundschullehrerin. In der wird mit dem<br />

Halbjahreszeugnis im vierten Schuljahr festgehalten, ob ein Kind zum Gymnasium,<br />

zur Realschule oder zur Hauptschule gehen soll. Die Empfehlung ist in Nordrhein-<br />

Westfalen seit zwei Jahren bindend - was bedeutet: Die Eltern sind festgelegt und<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />

Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />

vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />

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können nicht mehr selber darüber entscheiden, auf welche Schule ihr Kind wechseln<br />

soll. Emine hatte eine ‚eingeschränkte Empfehlung’ für das Gymnasium – und was<br />

das bedeutet, merkte sie schnell, als sie sich mit ihrer Mutter auf einem Gymnasium<br />

anmelden wollte.<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Da hatte die Lehrerin mit dem Direktor gesprochen und hatte dann gesagt,<br />

nein, das sie mich nicht aufnehmen, deswegen bin ich auf die Realschule<br />

gegangen. Erst wollte ich nicht auf die Realschule sondern auf Gesamt, weil<br />

dort auch meine Freundin hingeht, dann haben wir dort geguckt, aber da<br />

wusste ich noch nicht, ob ich auf das Gymnasium, oder nicht, deswegen hat<br />

die Frau gesagt, Du musst schon wissen, ob du jetzt hierhin kommst oder<br />

nicht.“<br />

Auf die Gesamtschule hätte Emine gehen können. Doch durch das ganze Hin und<br />

Her war sie letztlich zu spät dran und bekam keinen der begehrten<br />

Gesamtschulplätze. In der Realschule, die sie jetzt besucht, gehört sie zu den<br />

Klassenbesten. Emines Mutter Nezrin kann die Empfehlung der Grundschullehrerin<br />

nicht so recht verstehen.<br />

O-Ton:<br />

„Die Klassenlehrerin hat er dann doch drauf geschrieben, dass sie zu<br />

langsam wäre. Aber eigentlich ist sie im Moment immer noch gut. Sie<br />

schreibt nur Einser. Sie hat nur gute Noten in der Klasse, sie ist die beste<br />

also, da mache ich mir immer noch Sorgen, das ist wirklich schade für sie.“<br />

Sprecher:<br />

Nezrin Yilmaz ist in der Türkei geboren und hat nur einen Hauptschulabschluss. Nun<br />

möchte sie, dass ihre Kinder mehr erreichen:<br />

O-Ton:<br />

„Unsere Eltern haben ja nur gedacht: Geld verdienen, zurück in die Türkei,<br />

aber ich habe das ja nicht. Ich will, dass meine Kinder anständige Arbeit<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />

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Sprecher:<br />

haben. Bessere Lebenssituation, besser als wir,...“<br />

Die Mutter glaubt, dass Kinder mit Migrationshintergrund es in Deutschland schwerer<br />

haben als andere:<br />

Srpecher:<br />

O-Ton:<br />

„Ich hab diesen Eindruck, wenn die Eltern bessere, wie nennt man das, wenn<br />

sie zum Beispiel Lehrerin sind, Ärzte, Ingenieure, dann haben die immer<br />

mehr Vorteile, sage ich mal. Ich habe diesen Eindruck.“<br />

Wissenschaftliche Untersuchungen geben Frau Yilmaz recht: Migrantenkinder<br />

brauchen im Schnitt bessere Leistungen als Kinder deutscher Herkunft, um die<br />

Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen. Das hat die IGLU-Studie vor drei<br />

Jahren gezeigt – eine internationale Vergleichsstudie zu den Leseleistungen von<br />

Grundschulkindern. Bei gleichen Schulnoten haben deutsche Kinder eine mehr als<br />

doppelt so große Chance, aufs Gymnasium zu kommen, wie Migrantenkinder. Die<br />

Bochumer Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Bellenberg ist deshalb sicher.<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Dass der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen die<br />

entscheidende Schnittstelle ist für soziale Ungleichheit. Wir wissen, dass<br />

beim Übergang Schülerinnen und Schüler nach Leistung, aber eben nicht nur<br />

nach Leistung verteilt werden, sondern damit einher auch eine Verteilung<br />

nach sozialer Herkunft, nach familiärem Hintergrund einhergeht.“<br />

Die Grundschule wirkt daran mit, dass Eltern ihren sozialen Status an ihre Kinder<br />

vererben, indem sie Kindern von bildungsbenachteiligten Eltern den Weg zum Abitur<br />

erschwert.<br />

Tilonius ist das dritte von vier Kindern. Seine Eltern sind Architekten. Zwei<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />

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Geschwister gehen schon auf das Gymnasium. Seine jüngere Schwester, die im<br />

vierten Schuljahr ist, wird auch aufs Gymnasium wechseln. Für diesen Jungen ging<br />

es eigentlich nur darum, auf welches Gymnasium er geht:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Also, ich fand das nicht so aufregend, es ist nicht so schlimm. Ob ich aufs<br />

Apostelgymnasium gehe oder aufs Humboldt, da war eben das auch mit dem<br />

Weg und so. Ja, und jetzt bin ich auf dem Humboldt.“<br />

Das Humboldt-Gymnasium hat einen Musikzweig, und deshalb ist es auch die erste<br />

Wahl für Tilonius’ Vater Uli Herrmann:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Denn bei uns kommt niemand heraus, ohne dass er ein Musikinstrument<br />

lernt.“<br />

In einer bildungsbürgerlichen Familie ist nicht nur der Weg aufs Gymnasium so<br />

selbstverständlich, dass die Eltern keinen Leistungsdruck ausüben müssen.<br />

Sportbegeisterung und Musikinteresse, kurz, vielseitige Bildung ist den Eltern auch<br />

wichtig. Mit Sorge beobachtet Ulli Herrmann, dass der Druck der Eltern in der Klasse<br />

seiner Jüngsten, die noch in der Grundschule ist, zunimmt:<br />

O-Ton:<br />

„Bei uns war es ein bisschen anders, weil durch die Situation, das wir das<br />

schon zweimal erlebt haben war ich da ziemlich entspannt und da haben wir<br />

nie ein großes Gewese drum gemacht. Weil da meine innere Haltung war,<br />

das werde ich bestimmen, und wenn jetzt die Empfehlung anders geht, da<br />

werde ich da so vorgehen, dass es nachher für meine Kinder stimmt.“<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />

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Sprecher:<br />

Doch was können Eltern überhaupt noch tun, damit nachher alles stimmt? Große<br />

Spielräume bleiben nicht, seitdem die Empfehlung der Grundschule faktisch ein<br />

verbindliches Gutachten geworden ist. Viele Eltern üben daher enormen Druck auf<br />

die Lehrer aus und machen überdeutlich klar, welche Art von Empfehlung im vierten<br />

Schuljahr erwartet wird. Darunter leiden auch Simone Paffrath und Gregor Stiels,<br />

Lehrer an der Grundschule An St. Theresia in Köln:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Wenn man Eltern kennen lernt, im ersten oder zweiten Schuljahr schon, zu<br />

diesem Zeitpunkt, dass schon so von hinten das an uns herangetragen wird<br />

über andere Zusammenhänge, ja, der große Bruder ist auch auf dem<br />

Gymnasium, und Sie wissen ja, die kleine Schwester soll da auch mal hin,<br />

denn wir bekommen das sonst als Familie nicht anders organisiert. Mal<br />

abgesehen von den niedlichen Kinder-T-Shirts, wo dann drauf steht „Abitur<br />

2020“, wo man sich fragt, was soll uns das sagen?“<br />

Man kann es den Eltern nicht verübeln, dass sie diese Entscheidung über die<br />

weiterführende Schule sehr ernst nehmen, denn sie wissen, dass der ganze spätere<br />

Lebensweg dadurch beeinflusst wird. Und die Lehrer tun sich sehr schwer damit,<br />

neunjährige Kinder in die Schulschubladen einzusortieren. Der Dinslakener<br />

Grundschulleiter und Sprecher des Grundschulverbands Nordrhein-Westfalen,<br />

Baldur Bertling:<br />

O-Ton:<br />

„Da bekommen wir eine ungeheuer hohe Verantwortung übertragen. Da wir<br />

aber gebildete Menschen sind, wissen wir, dass in dieser Verantwortung von<br />

uns gar nicht eingelöst werden kann. Alle wissenschaftlichen Studien<br />

belegen, dass eine so sichere Prognose bei Kindern in diesem Alter<br />

überhaupt nicht möglich ist. Die Landesregierung hat uns da einen Auftrag<br />

erteilt, den wir, wenn man ihn vernünftig erledigen will, gar nicht erledigen<br />

können.“<br />

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Sprecher:<br />

Deshalb bemühen sich die meisten Lehrer, die Entscheidung über die weiterführende<br />

Schule im Einvernehmen mit den Eltern zu treffen. Doch der Druck, der dabei auf<br />

allen lastet, ist enorm. Die Bochumer Erziehungswissenschaftlerin Gabriele<br />

Bellenberg;<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Da gibt es ganz aktuelle Studien zu. In Nordrhein-Westfalen ist es so, dass<br />

in den letzten Jahren das Gewicht der Empfehlung der Lehrkräfte gestärkt<br />

worden ist. In solchen Ländern ist der Druck auf die Lehrkräfte deutlich<br />

gestiegen, weil sie das häufig als eine sehr schwierige Aufgabe empfinden.<br />

Sie sind sich auch der Tragweite häufig sehr bewusst, das macht Stress<br />

unter den Lehrkräften, und es wirkt natürlich ganz stark auf den Unterricht<br />

zurück. Alle Eltern von Dritt- und Viertklässlern kennen das aus eigener<br />

Anschauung: wie stark der Druck auf die Schülerinnen und Schüler in diesen<br />

beiden Klassen ist.“<br />

Stress von Anfang an, der gegen Grundschule arbeitet, die eigentlich darauf setzt,<br />

das Selbstvertrauen, die Neugierde und Lernfreude der Kinder zu wecken, und nicht,<br />

sie mit Auslesedruck zum Arbeiten zu zwingen. Die Lehrer können sich auch nicht<br />

um die Entscheidung herum drücken, solange es das gegliederte Schulsystem gibt.<br />

Gregor Stiels von der Grundschule an St. Theresia:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Wenn es nach mir ginge, würde es das gar nicht geben, diese Einsortierung.<br />

Sie arbeiten hier vom ersten bis zum vierten Schuljahr mit starken und<br />

schwachen Kindern zusammen, sogar jetzt in verschiedenen Altersstufen<br />

zusammen und das funktioniert. Das ist das Bekenntnis zur Heterogenität.<br />

Ich muss diesen schwierigen Spagat dann hin bekommen, das in ein<br />

bestimmtes Raster hinein zu geben, dass meinem pädagogischen<br />

Empfinden nicht entspricht aber der Vorgabe unseres Schulsystems.“<br />

Rund die Hälfte der Grundschulempfehlungen ist falsch. Mal werden Kinder, die es<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />

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am Gymnasium gut schaffen könnten, in Haupt- und Realschulen geschickt, und<br />

genauso gibt es die umgekehrten Fälle, weiß die Erziehungswissenschaftlerin<br />

Gabriele Bellenberg:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Wir haben hier mehrere Studien zu diesem Thema und unterschiedliche<br />

Befunde. Für mich am prägnantesten ist der Befund, dass bei den Absteigern<br />

vom Gymnasium und bei den Absteigern von der Realschule, die also vom<br />

Gymnasium zur Realschule oder zur Hauptschule herunter gegangen sind,<br />

ganz überwiegend Empfehlungen ausgesprochen worden sind, die auf die<br />

höhere Schulform verwiesen haben. Also, man kann nicht sagen, dass bei<br />

der Übergangsempfehlung die Grundschullehrer ganz treffsicher sind,<br />

sondern die, die das nicht schaffen, haben trotzdem eine Empfehlung für die<br />

höhere Schulform gehabt.“<br />

Und umgekehrt: 70 Prozent der Abiturienten an den nordrhein-westfälischen<br />

Gesamtschulen hatten am Ende der Grundschule bescheinigt bekommen, dass sie<br />

nicht fürs Abitur geeignet wären. Dass sie es trotzdem geschafft haben zeigt, dass<br />

sie von ihrer Grundschullehrerin falsch eingeschätzt wurden, und dass eben manche,<br />

die mit 10 Jahren nur mittelmäßig waren, doch mit Zeit und Förderung zu besseren<br />

Leistungen in der Lage sind.<br />

Welche Möglichkeiten haben Eltern, die glauben, dass ihr Kind von der<br />

Grundschullehrerin falsch beurteilt wurde? Wer mit der Schulempfehlung unzufrieden<br />

ist, der kann sein Kind beispielsweise zum Prognoseunterricht anmelden. Da werden<br />

dann Kinder an anderen Schulen von fremden Lehrkräften unter Leitung eines<br />

Schulaufsichtsbeamten mit standardisierten Aufgaben getestet. 2009 haben gerade<br />

mal etwas mehr als ein Prozent der 176 000 Viertklässler am Prognoseunterricht<br />

teilgenommen. In zwei Drittel der Fälle blieben die Pädagogen beim Urteil der<br />

Grundschullehrerin. Und dann bleibt eigentlich nur noch die Klage.<br />

Der Kölner Rechtsanwalt Christian Birnbaum ist auf Bildungsfragen spezialisiert. Er<br />

bekommt häufig Anfragen von Eltern, die mit der Schulempfehlung für ihr Kind nicht<br />

einverstanden sind. Er kann ihnen keine Hoffnung machen. In Nordrhein-Westfalen<br />

haben noch nie Eltern eine Klage gegen die Schulempfehlung gewonnen.<br />

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Rechtsanwalt Birnbaum:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Das ist entweder ein Zeichen, das unsere Schulverwaltungen und unsere<br />

Schulen so gut und gründlich arbeiten, oder es könnte auch ein Zeichen sein,<br />

dass es mit dem Rechtsschutz in diesem Bereich nicht besonders positiv<br />

bestellt ist.“<br />

Es gibt keine verbindlichen Kriterien, nach denen die Schulempfehlung gegeben<br />

wird, deshalb haben Klagen keine Chance. Geringe Erfolgschancen räumt<br />

Rechtsanwalt Birnbaum den Eltern ein, die gegen das Ergebnis des<br />

Prognoseunterrichts klagen. Nicht, dass er da schon ein Verfahren gewonnen hätte,<br />

aber hier gibt es immerhin verbindliche formale Regeln. So muss zum Beispiel ein<br />

Schulaufsichtsbeamter die Prozedur leiten – also nicht noch mal der Lehrer oder die<br />

Lehrerin, die schon die negative Empfehlung abgegeben hat. Aber auch das kommt<br />

vor, wie der klagende Vater Uwe Parpart berichtet:<br />

Sprecher:<br />

O-Ton:<br />

„Das Problem bei uns war, dass unser Sohn zum Prognoseunterricht an<br />

seiner eigenen Schule geladen worden ist, und dass seine eigene<br />

Schulrektorin, die schon sich maßgebend gegen eine Änderung der<br />

Empfehlung für eine entsprechende weiterführende Schule gerichtet hat,<br />

hatte diesen Unterricht geleitet in der Funktion als Schulaufsichtsbeamtin und<br />

hat gleichzeitig den Unterricht selber mitgestaltet.“<br />

Uwe Parpart ist Arzt. Ja, räumt er ein, andere Eltern werden nicht klagen, denn das<br />

ist kosten- und zeitaufwendig. Und für das Kind ist es sicher auch eine Belastung.<br />

O-Ton:<br />

„Wenn mir ein Kunstfehler passiert oder einem meiner Angestellten, wird<br />

kaum eine Ärztekammer oder eine Kommission auf die Idee kommen, mich<br />

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Sprecher:<br />

dann als Vorsitzenden einer Gutachterkommission zu berufen, um dann über<br />

meinen eigenen Fehler beziehungsweise über den Fehler eines Angestellten<br />

von mir zu befinden. Das ist in meinen Augen sehr merkwürdig.“<br />

Es ist schon merkwürdig: die CDU-FDP-Landesregierung hat gerade das<br />

Elternwahlrecht für die Grundschule eingeführt und als Gewinn an Freiheit verkauft.<br />

Eltern können also entscheiden, ob sie ihr Kind in die Grundschule um die Ecke<br />

schicken oder lieber 10 Kilometer weiter fahren, weil dort weniger Ausländer in der<br />

Klasse sind. Doch gleichzeitig hat sie den Eltern die viel wichtigere Freiheit<br />

genommen, nämlich die, selbst – nach Beratung mit der Grundschullehrerin – zu<br />

bestimmen, welche Schulform ihr Kind nach der Grundschule besuchen soll. Die<br />

Hälfte aller Schulempfehlungen durch die Grundschullehrer ist falsch, sagen die<br />

Schulexperten. Das heißt: viel falscher könnten die Eltern ja auch nicht urteilen,<br />

zumal dann, wenn sie sich mit den Lehrern beraten. Erschwerend kommt hinzu, dass<br />

nun das Einschulungsalter auf fünf Jahre herab gesetzt wird. Mit der Folge, dass im<br />

vierten Schuljahr achtjährige Kinder sitzen, über die dann das folgenschwere Urteil<br />

gesprochen werden muss.<br />

Die Rückkehr zur freien Schulwahl wäre ein erster Schritt, um wieder etwas Druck<br />

aus der Grundschule zu nehmen, Eltern, Kinder und Lehrer zu entlasten. Ein erster<br />

Schritt in eine Richtung, die Experten wie der Grundschullehrerverband schon seit<br />

langem einschlagen wollen. Sie wollen die pädagogisch schädliche und sozial<br />

ungerechte Aufteilung der Schüler im vierten Schuljahr beenden. Baldur Bertling,<br />

Leiter einer Grundschule in Dinslaken und Sprecher des nordrhein-westfälischen<br />

Grundschulverbandes:<br />

O-Ton:<br />

„Der Grundschulverband, der sich auch 1969 gegründet hat, wie die<br />

Grundschule, sagt eigentlich seitdem, dass wir längeres gemeinsames<br />

Lernen für Kinder brauchen. Längeres gemeinsames Lernen bezieht sich da<br />

vor allen Dingen darauf, das die Grundschule mindestens sechs Jahre<br />

dauern sollte, oder das, noch besser, nach der Stadtteilgrundschule eine<br />

etwas weiter entfernte Sekundarstufeschule alle Kinder zusammenfasst.“<br />

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Sprecher:<br />

Nach Berlin führen nun auch das Saarland und Hamburg die sechsjährige<br />

Grundschule ein – oft gegen den erbitterten Widerstand der Gymnasiallobby. In<br />

vielen Grundschulen wird heute schon erfolgreich mit einer Pädagogik der Vielfalt<br />

gearbeitet. Dort zeigt sich: Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten und<br />

Leistungsvermögen können gut zusammen lernen. Vielleicht setzt sich so ja<br />

allmählich von unten der Gedanke durch, dass das Sortieren von acht- und<br />

neunjährigen Kindern pädagogisch unsinnig ist.<br />

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