Manuskript - WDR 5
Manuskript - WDR 5
Manuskript - WDR 5
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Leonardo - Wissenschaft und mehr<br />
Sendedatum: 19. Januar 2010<br />
Wenn Kinder die Schule wechseln<br />
von Karl-Heinz Heinemann<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Ich finde halt gut, dass wir auf die weiterführenden Schulen kommen, und<br />
ich würde gern aufs Gymnasium kommen. Das macht sicher viel Spaß. Mein<br />
Bruder ist auch da. Da kriegt man halt ein bisschen Druck, aber mir gefällt es<br />
da wahrscheinlich.“<br />
„Doch, ich muss dafür noch etwas tun, ich kann es jetzt nicht so meinen,<br />
dass ich nur das mache, was ich mag. Ich muss auch mal ein paar Dinge<br />
machen, die ich nicht mag.“<br />
Kinder im vierten Schuljahr. Voller Erwartung sehen sie dem nächsten großen Schritt<br />
in ihrem Leben entgegen: dem Wechsel von der Grundschule auf eine<br />
weiterführende Schule. Die meisten wollen aufs Gymnasium, und tatsächlich gehen<br />
heute mehr Schüler dort hin als auf irgendeine andere Schule. In den Großstädten<br />
sind es oft die Hälfte aller Kinder, die entweder am Gymnasium oder einer<br />
Gesamtschule den Weg zum Abitur einschlagen. Doch nicht für alle verläuft dieser<br />
Weg glatt. Das musste Emine erfahren, ein elfjähriges deutsches Mädchen mit<br />
türkischen Eltern.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Am Anfang wollte ich auf das Gymnasium. Aber auf der Empfehlung stand:<br />
eingeschränkt Gymnasium und Gesamt und Real.“<br />
Emine spricht hier von der Empfehlung der Grundschullehrerin. In der wird mit dem<br />
Halbjahreszeugnis im vierten Schuljahr festgehalten, ob ein Kind zum Gymnasium,<br />
zur Realschule oder zur Hauptschule gehen soll. Die Empfehlung ist in Nordrhein-<br />
Westfalen seit zwei Jahren bindend - was bedeutet: Die Eltern sind festgelegt und<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
1
können nicht mehr selber darüber entscheiden, auf welche Schule ihr Kind wechseln<br />
soll. Emine hatte eine ‚eingeschränkte Empfehlung’ für das Gymnasium – und was<br />
das bedeutet, merkte sie schnell, als sie sich mit ihrer Mutter auf einem Gymnasium<br />
anmelden wollte.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Da hatte die Lehrerin mit dem Direktor gesprochen und hatte dann gesagt,<br />
nein, das sie mich nicht aufnehmen, deswegen bin ich auf die Realschule<br />
gegangen. Erst wollte ich nicht auf die Realschule sondern auf Gesamt, weil<br />
dort auch meine Freundin hingeht, dann haben wir dort geguckt, aber da<br />
wusste ich noch nicht, ob ich auf das Gymnasium, oder nicht, deswegen hat<br />
die Frau gesagt, Du musst schon wissen, ob du jetzt hierhin kommst oder<br />
nicht.“<br />
Auf die Gesamtschule hätte Emine gehen können. Doch durch das ganze Hin und<br />
Her war sie letztlich zu spät dran und bekam keinen der begehrten<br />
Gesamtschulplätze. In der Realschule, die sie jetzt besucht, gehört sie zu den<br />
Klassenbesten. Emines Mutter Nezrin kann die Empfehlung der Grundschullehrerin<br />
nicht so recht verstehen.<br />
O-Ton:<br />
„Die Klassenlehrerin hat er dann doch drauf geschrieben, dass sie zu<br />
langsam wäre. Aber eigentlich ist sie im Moment immer noch gut. Sie<br />
schreibt nur Einser. Sie hat nur gute Noten in der Klasse, sie ist die beste<br />
also, da mache ich mir immer noch Sorgen, das ist wirklich schade für sie.“<br />
Sprecher:<br />
Nezrin Yilmaz ist in der Türkei geboren und hat nur einen Hauptschulabschluss. Nun<br />
möchte sie, dass ihre Kinder mehr erreichen:<br />
O-Ton:<br />
„Unsere Eltern haben ja nur gedacht: Geld verdienen, zurück in die Türkei,<br />
aber ich habe das ja nicht. Ich will, dass meine Kinder anständige Arbeit<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
2
Sprecher:<br />
haben. Bessere Lebenssituation, besser als wir,...“<br />
Die Mutter glaubt, dass Kinder mit Migrationshintergrund es in Deutschland schwerer<br />
haben als andere:<br />
Srpecher:<br />
O-Ton:<br />
„Ich hab diesen Eindruck, wenn die Eltern bessere, wie nennt man das, wenn<br />
sie zum Beispiel Lehrerin sind, Ärzte, Ingenieure, dann haben die immer<br />
mehr Vorteile, sage ich mal. Ich habe diesen Eindruck.“<br />
Wissenschaftliche Untersuchungen geben Frau Yilmaz recht: Migrantenkinder<br />
brauchen im Schnitt bessere Leistungen als Kinder deutscher Herkunft, um die<br />
Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen. Das hat die IGLU-Studie vor drei<br />
Jahren gezeigt – eine internationale Vergleichsstudie zu den Leseleistungen von<br />
Grundschulkindern. Bei gleichen Schulnoten haben deutsche Kinder eine mehr als<br />
doppelt so große Chance, aufs Gymnasium zu kommen, wie Migrantenkinder. Die<br />
Bochumer Erziehungswissenschaftlerin Gabriele Bellenberg ist deshalb sicher.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Dass der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen die<br />
entscheidende Schnittstelle ist für soziale Ungleichheit. Wir wissen, dass<br />
beim Übergang Schülerinnen und Schüler nach Leistung, aber eben nicht nur<br />
nach Leistung verteilt werden, sondern damit einher auch eine Verteilung<br />
nach sozialer Herkunft, nach familiärem Hintergrund einhergeht.“<br />
Die Grundschule wirkt daran mit, dass Eltern ihren sozialen Status an ihre Kinder<br />
vererben, indem sie Kindern von bildungsbenachteiligten Eltern den Weg zum Abitur<br />
erschwert.<br />
Tilonius ist das dritte von vier Kindern. Seine Eltern sind Architekten. Zwei<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
3
Geschwister gehen schon auf das Gymnasium. Seine jüngere Schwester, die im<br />
vierten Schuljahr ist, wird auch aufs Gymnasium wechseln. Für diesen Jungen ging<br />
es eigentlich nur darum, auf welches Gymnasium er geht:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Also, ich fand das nicht so aufregend, es ist nicht so schlimm. Ob ich aufs<br />
Apostelgymnasium gehe oder aufs Humboldt, da war eben das auch mit dem<br />
Weg und so. Ja, und jetzt bin ich auf dem Humboldt.“<br />
Das Humboldt-Gymnasium hat einen Musikzweig, und deshalb ist es auch die erste<br />
Wahl für Tilonius’ Vater Uli Herrmann:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Denn bei uns kommt niemand heraus, ohne dass er ein Musikinstrument<br />
lernt.“<br />
In einer bildungsbürgerlichen Familie ist nicht nur der Weg aufs Gymnasium so<br />
selbstverständlich, dass die Eltern keinen Leistungsdruck ausüben müssen.<br />
Sportbegeisterung und Musikinteresse, kurz, vielseitige Bildung ist den Eltern auch<br />
wichtig. Mit Sorge beobachtet Ulli Herrmann, dass der Druck der Eltern in der Klasse<br />
seiner Jüngsten, die noch in der Grundschule ist, zunimmt:<br />
O-Ton:<br />
„Bei uns war es ein bisschen anders, weil durch die Situation, das wir das<br />
schon zweimal erlebt haben war ich da ziemlich entspannt und da haben wir<br />
nie ein großes Gewese drum gemacht. Weil da meine innere Haltung war,<br />
das werde ich bestimmen, und wenn jetzt die Empfehlung anders geht, da<br />
werde ich da so vorgehen, dass es nachher für meine Kinder stimmt.“<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
4
Sprecher:<br />
Doch was können Eltern überhaupt noch tun, damit nachher alles stimmt? Große<br />
Spielräume bleiben nicht, seitdem die Empfehlung der Grundschule faktisch ein<br />
verbindliches Gutachten geworden ist. Viele Eltern üben daher enormen Druck auf<br />
die Lehrer aus und machen überdeutlich klar, welche Art von Empfehlung im vierten<br />
Schuljahr erwartet wird. Darunter leiden auch Simone Paffrath und Gregor Stiels,<br />
Lehrer an der Grundschule An St. Theresia in Köln:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Wenn man Eltern kennen lernt, im ersten oder zweiten Schuljahr schon, zu<br />
diesem Zeitpunkt, dass schon so von hinten das an uns herangetragen wird<br />
über andere Zusammenhänge, ja, der große Bruder ist auch auf dem<br />
Gymnasium, und Sie wissen ja, die kleine Schwester soll da auch mal hin,<br />
denn wir bekommen das sonst als Familie nicht anders organisiert. Mal<br />
abgesehen von den niedlichen Kinder-T-Shirts, wo dann drauf steht „Abitur<br />
2020“, wo man sich fragt, was soll uns das sagen?“<br />
Man kann es den Eltern nicht verübeln, dass sie diese Entscheidung über die<br />
weiterführende Schule sehr ernst nehmen, denn sie wissen, dass der ganze spätere<br />
Lebensweg dadurch beeinflusst wird. Und die Lehrer tun sich sehr schwer damit,<br />
neunjährige Kinder in die Schulschubladen einzusortieren. Der Dinslakener<br />
Grundschulleiter und Sprecher des Grundschulverbands Nordrhein-Westfalen,<br />
Baldur Bertling:<br />
O-Ton:<br />
„Da bekommen wir eine ungeheuer hohe Verantwortung übertragen. Da wir<br />
aber gebildete Menschen sind, wissen wir, dass in dieser Verantwortung von<br />
uns gar nicht eingelöst werden kann. Alle wissenschaftlichen Studien<br />
belegen, dass eine so sichere Prognose bei Kindern in diesem Alter<br />
überhaupt nicht möglich ist. Die Landesregierung hat uns da einen Auftrag<br />
erteilt, den wir, wenn man ihn vernünftig erledigen will, gar nicht erledigen<br />
können.“<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
5
Sprecher:<br />
Deshalb bemühen sich die meisten Lehrer, die Entscheidung über die weiterführende<br />
Schule im Einvernehmen mit den Eltern zu treffen. Doch der Druck, der dabei auf<br />
allen lastet, ist enorm. Die Bochumer Erziehungswissenschaftlerin Gabriele<br />
Bellenberg;<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Da gibt es ganz aktuelle Studien zu. In Nordrhein-Westfalen ist es so, dass<br />
in den letzten Jahren das Gewicht der Empfehlung der Lehrkräfte gestärkt<br />
worden ist. In solchen Ländern ist der Druck auf die Lehrkräfte deutlich<br />
gestiegen, weil sie das häufig als eine sehr schwierige Aufgabe empfinden.<br />
Sie sind sich auch der Tragweite häufig sehr bewusst, das macht Stress<br />
unter den Lehrkräften, und es wirkt natürlich ganz stark auf den Unterricht<br />
zurück. Alle Eltern von Dritt- und Viertklässlern kennen das aus eigener<br />
Anschauung: wie stark der Druck auf die Schülerinnen und Schüler in diesen<br />
beiden Klassen ist.“<br />
Stress von Anfang an, der gegen Grundschule arbeitet, die eigentlich darauf setzt,<br />
das Selbstvertrauen, die Neugierde und Lernfreude der Kinder zu wecken, und nicht,<br />
sie mit Auslesedruck zum Arbeiten zu zwingen. Die Lehrer können sich auch nicht<br />
um die Entscheidung herum drücken, solange es das gegliederte Schulsystem gibt.<br />
Gregor Stiels von der Grundschule an St. Theresia:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Wenn es nach mir ginge, würde es das gar nicht geben, diese Einsortierung.<br />
Sie arbeiten hier vom ersten bis zum vierten Schuljahr mit starken und<br />
schwachen Kindern zusammen, sogar jetzt in verschiedenen Altersstufen<br />
zusammen und das funktioniert. Das ist das Bekenntnis zur Heterogenität.<br />
Ich muss diesen schwierigen Spagat dann hin bekommen, das in ein<br />
bestimmtes Raster hinein zu geben, dass meinem pädagogischen<br />
Empfinden nicht entspricht aber der Vorgabe unseres Schulsystems.“<br />
Rund die Hälfte der Grundschulempfehlungen ist falsch. Mal werden Kinder, die es<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
6
am Gymnasium gut schaffen könnten, in Haupt- und Realschulen geschickt, und<br />
genauso gibt es die umgekehrten Fälle, weiß die Erziehungswissenschaftlerin<br />
Gabriele Bellenberg:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Wir haben hier mehrere Studien zu diesem Thema und unterschiedliche<br />
Befunde. Für mich am prägnantesten ist der Befund, dass bei den Absteigern<br />
vom Gymnasium und bei den Absteigern von der Realschule, die also vom<br />
Gymnasium zur Realschule oder zur Hauptschule herunter gegangen sind,<br />
ganz überwiegend Empfehlungen ausgesprochen worden sind, die auf die<br />
höhere Schulform verwiesen haben. Also, man kann nicht sagen, dass bei<br />
der Übergangsempfehlung die Grundschullehrer ganz treffsicher sind,<br />
sondern die, die das nicht schaffen, haben trotzdem eine Empfehlung für die<br />
höhere Schulform gehabt.“<br />
Und umgekehrt: 70 Prozent der Abiturienten an den nordrhein-westfälischen<br />
Gesamtschulen hatten am Ende der Grundschule bescheinigt bekommen, dass sie<br />
nicht fürs Abitur geeignet wären. Dass sie es trotzdem geschafft haben zeigt, dass<br />
sie von ihrer Grundschullehrerin falsch eingeschätzt wurden, und dass eben manche,<br />
die mit 10 Jahren nur mittelmäßig waren, doch mit Zeit und Förderung zu besseren<br />
Leistungen in der Lage sind.<br />
Welche Möglichkeiten haben Eltern, die glauben, dass ihr Kind von der<br />
Grundschullehrerin falsch beurteilt wurde? Wer mit der Schulempfehlung unzufrieden<br />
ist, der kann sein Kind beispielsweise zum Prognoseunterricht anmelden. Da werden<br />
dann Kinder an anderen Schulen von fremden Lehrkräften unter Leitung eines<br />
Schulaufsichtsbeamten mit standardisierten Aufgaben getestet. 2009 haben gerade<br />
mal etwas mehr als ein Prozent der 176 000 Viertklässler am Prognoseunterricht<br />
teilgenommen. In zwei Drittel der Fälle blieben die Pädagogen beim Urteil der<br />
Grundschullehrerin. Und dann bleibt eigentlich nur noch die Klage.<br />
Der Kölner Rechtsanwalt Christian Birnbaum ist auf Bildungsfragen spezialisiert. Er<br />
bekommt häufig Anfragen von Eltern, die mit der Schulempfehlung für ihr Kind nicht<br />
einverstanden sind. Er kann ihnen keine Hoffnung machen. In Nordrhein-Westfalen<br />
haben noch nie Eltern eine Klage gegen die Schulempfehlung gewonnen.<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
7
Rechtsanwalt Birnbaum:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Das ist entweder ein Zeichen, das unsere Schulverwaltungen und unsere<br />
Schulen so gut und gründlich arbeiten, oder es könnte auch ein Zeichen sein,<br />
dass es mit dem Rechtsschutz in diesem Bereich nicht besonders positiv<br />
bestellt ist.“<br />
Es gibt keine verbindlichen Kriterien, nach denen die Schulempfehlung gegeben<br />
wird, deshalb haben Klagen keine Chance. Geringe Erfolgschancen räumt<br />
Rechtsanwalt Birnbaum den Eltern ein, die gegen das Ergebnis des<br />
Prognoseunterrichts klagen. Nicht, dass er da schon ein Verfahren gewonnen hätte,<br />
aber hier gibt es immerhin verbindliche formale Regeln. So muss zum Beispiel ein<br />
Schulaufsichtsbeamter die Prozedur leiten – also nicht noch mal der Lehrer oder die<br />
Lehrerin, die schon die negative Empfehlung abgegeben hat. Aber auch das kommt<br />
vor, wie der klagende Vater Uwe Parpart berichtet:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
„Das Problem bei uns war, dass unser Sohn zum Prognoseunterricht an<br />
seiner eigenen Schule geladen worden ist, und dass seine eigene<br />
Schulrektorin, die schon sich maßgebend gegen eine Änderung der<br />
Empfehlung für eine entsprechende weiterführende Schule gerichtet hat,<br />
hatte diesen Unterricht geleitet in der Funktion als Schulaufsichtsbeamtin und<br />
hat gleichzeitig den Unterricht selber mitgestaltet.“<br />
Uwe Parpart ist Arzt. Ja, räumt er ein, andere Eltern werden nicht klagen, denn das<br />
ist kosten- und zeitaufwendig. Und für das Kind ist es sicher auch eine Belastung.<br />
O-Ton:<br />
„Wenn mir ein Kunstfehler passiert oder einem meiner Angestellten, wird<br />
kaum eine Ärztekammer oder eine Kommission auf die Idee kommen, mich<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
8
Sprecher:<br />
dann als Vorsitzenden einer Gutachterkommission zu berufen, um dann über<br />
meinen eigenen Fehler beziehungsweise über den Fehler eines Angestellten<br />
von mir zu befinden. Das ist in meinen Augen sehr merkwürdig.“<br />
Es ist schon merkwürdig: die CDU-FDP-Landesregierung hat gerade das<br />
Elternwahlrecht für die Grundschule eingeführt und als Gewinn an Freiheit verkauft.<br />
Eltern können also entscheiden, ob sie ihr Kind in die Grundschule um die Ecke<br />
schicken oder lieber 10 Kilometer weiter fahren, weil dort weniger Ausländer in der<br />
Klasse sind. Doch gleichzeitig hat sie den Eltern die viel wichtigere Freiheit<br />
genommen, nämlich die, selbst – nach Beratung mit der Grundschullehrerin – zu<br />
bestimmen, welche Schulform ihr Kind nach der Grundschule besuchen soll. Die<br />
Hälfte aller Schulempfehlungen durch die Grundschullehrer ist falsch, sagen die<br />
Schulexperten. Das heißt: viel falscher könnten die Eltern ja auch nicht urteilen,<br />
zumal dann, wenn sie sich mit den Lehrern beraten. Erschwerend kommt hinzu, dass<br />
nun das Einschulungsalter auf fünf Jahre herab gesetzt wird. Mit der Folge, dass im<br />
vierten Schuljahr achtjährige Kinder sitzen, über die dann das folgenschwere Urteil<br />
gesprochen werden muss.<br />
Die Rückkehr zur freien Schulwahl wäre ein erster Schritt, um wieder etwas Druck<br />
aus der Grundschule zu nehmen, Eltern, Kinder und Lehrer zu entlasten. Ein erster<br />
Schritt in eine Richtung, die Experten wie der Grundschullehrerverband schon seit<br />
langem einschlagen wollen. Sie wollen die pädagogisch schädliche und sozial<br />
ungerechte Aufteilung der Schüler im vierten Schuljahr beenden. Baldur Bertling,<br />
Leiter einer Grundschule in Dinslaken und Sprecher des nordrhein-westfälischen<br />
Grundschulverbandes:<br />
O-Ton:<br />
„Der Grundschulverband, der sich auch 1969 gegründet hat, wie die<br />
Grundschule, sagt eigentlich seitdem, dass wir längeres gemeinsames<br />
Lernen für Kinder brauchen. Längeres gemeinsames Lernen bezieht sich da<br />
vor allen Dingen darauf, das die Grundschule mindestens sechs Jahre<br />
dauern sollte, oder das, noch besser, nach der Stadtteilgrundschule eine<br />
etwas weiter entfernte Sekundarstufeschule alle Kinder zusammenfasst.“<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
9
Sprecher:<br />
Nach Berlin führen nun auch das Saarland und Hamburg die sechsjährige<br />
Grundschule ein – oft gegen den erbitterten Widerstand der Gymnasiallobby. In<br />
vielen Grundschulen wird heute schon erfolgreich mit einer Pädagogik der Vielfalt<br />
gearbeitet. Dort zeigt sich: Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten und<br />
Leistungsvermögen können gut zusammen lernen. Vielleicht setzt sich so ja<br />
allmählich von unten der Gedanke durch, dass das Sortieren von acht- und<br />
neunjährigen Kindern pädagogisch unsinnig ist.<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2010<br />
Dieses <strong>Manuskript</strong> einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des <strong>WDR</strong> unzulässig. Insbesondere darf das <strong>Manuskript</strong> weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />
10