zds#13
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lock<br />
land<br />
Bremen & Bremerhaven<br />
FREIE HANSESTADT<br />
ZWISCHEN 53° NORD & 8° OST<br />
Die Zeitschrift Der Strasse<br />
SEHEN HÖREN<br />
SCHREIBEN<br />
Preis : 2 euro<br />
ein euro Für den Verkäufer<br />
Nr. 13 — november 2012<br />
8<br />
leichen im<br />
keller<br />
Wer<br />
vergibt den<br />
Mördern?<br />
28<br />
Jede<br />
Runde zwei<br />
Minuten<br />
FLEISCH-<br />
WÖLFE<br />
IM ZIRKEL<br />
36<br />
Kampf um<br />
jedes Nest<br />
mit fluchtstreifen<br />
und eiergeld
Blockland<br />
blockland<br />
Editorial 5<br />
Historie<br />
1948 / 2012 6<br />
Blockland in Zahlen 7<br />
Fotostrecke<br />
Naturlicht 16<br />
Impressum 46<br />
Vorschau<br />
Gastfeldstraße 47<br />
53° NORD & 8° OST<br />
Foto:<br />
Claudia A. Cruz<br />
Inhalt<br />
Leichen im<br />
Keller<br />
Zwölf Menschen sterben in einer<br />
Novembernacht 1945, von<br />
„Polenterror“ ist die Rede. Der<br />
einzige Überlebende jedoch vergibt<br />
den Mördern. Eine Spurensuche<br />
8<br />
Theater<br />
auf der<br />
feuchten<br />
wiese<br />
Die Natur ist ihr Spielfeld, ihre Stücke<br />
muss man nicht verstehen. Besuch<br />
bei einer, die sich ihre eigene Bühne<br />
geschaffen hat<br />
Fleisch-<br />
wölfe<br />
im zirkel<br />
Sie posen gern mit blutverschmierten<br />
Lippen und lassen ihre Schoner<br />
krachen. Dabei wollen sie nur spielen.<br />
Ein Schnuppertraining beim Roller Derby<br />
Mit fluchtstreifen<br />
und<br />
eiergeld<br />
Für die einen ist es Bauland, für die<br />
anderen Betriebsfläche. Wer macht<br />
da erfolgreichen Naturschutz?<br />
Eine Exkursion über die Gräben<br />
12<br />
24<br />
28<br />
32<br />
26 monate<br />
Mit 20 überfiel er eine Bank und<br />
landete im Jugendknast. Ein Gespräch<br />
über das Leben hinter Gittern, Reue,<br />
böse Jungs und wie man sich auch<br />
in Freiheit noch gefangen fühlen kann<br />
36<br />
W o<br />
Moorfrösche<br />
Wohnen<br />
Seine Gegenwart irritierte sie, dass<br />
er sie beobachtete, dass er, ein Fremder,<br />
ihrer intimen Trauer beiwohnte
lockland<br />
Blockland<br />
Die Zeitschrift der Straße<br />
Ein Projekt der Hochschule für<br />
Künste Bremen und der Hochschule<br />
Bremerhaven in Zusammenarbeit<br />
mit der Inneren Mission und der<br />
GISBU Bremerhaven.<br />
Die Straße der Zeitschrift<br />
Jede Ausgabe findet ihre Geschichten<br />
an einem Ort in Bremen / Bremerhaven.<br />
Sehen – Hören – Schreiben<br />
Jedem Artikel geht eine Beobachtung<br />
voraus – im oberen Seitenabschnitt.<br />
Abreißen oder dranlassen?<br />
Gute Frage. Probieren Sie’s aus!<br />
Kaufen<br />
Die Zeitschrift der Straße gibt es nur<br />
auf der Straße. Die Hälfte des Verkaufspreises<br />
ist für die VerkäuferInnen.<br />
Firmen, Institutionen und Nicht-BremerInnen<br />
senden wir die Zeitschrift auch<br />
per Abo ins Haus (32 € / 8 Ausgaben):<br />
abo@zeitschrift-der-strasse.de<br />
Wie weiter?<br />
Die Zeitschrift der Straße erscheint<br />
in der Regel alle acht Wochen. Die nächste<br />
Ausgabe Anfang Januar.<br />
Editorial<br />
5<br />
53° NORD & 8° OST<br />
Foto:<br />
Claudia A. Cruz<br />
Sehen hören<br />
Schreiben<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Was ist das Blockland für Sie? Grüne Wiesen, Kühe drauf? Schlittschuhfahren,<br />
Kohl und Pinkel? Skaterstau am Deich, Fahrradtour zum<br />
Kuchenbüffet, Paddeln auf der Kleinen Wümme? Auf halber Strecke<br />
dort zwischen Müllberg und Dammsiel liegen rechter Hand die Überreste<br />
des Hofs Kapelle, nach dem Krieg Schauplatz eines brutalen Verbrechens:<br />
Zwölf Menschen werden dort ermordet, ein dreizehnter<br />
überlebt. Und der holt zwei Jahrzehnte später zwei der Mörder, ehemalige<br />
Zwangsarbeiter, aus dem Gefängnis und nimmt sie bei sich auf.<br />
Geschichte und Hintergründe dieser „Vergebung im Alleingang“ finden<br />
Sie ab Seite 8.<br />
Außerdem geht es natürlich um Gras und Wiese und was darauf passiert.<br />
Um eine Schauspielerin etwa, die ihr eigenes Theater gründete,<br />
auf dessen Spielstätte das Gras wächst (Seite 12). Oder um einen fitten<br />
Landschaftsökologen, der Kiebitzküken vor den Mähmaschinen<br />
schützt (Seite 36).<br />
Seit der Jugendknast in der Justizvollzugsanstalt Oslebshausen untergebracht<br />
ist, wächst auch über die Gebäude der ehemaligen Jugendvollzugsanstalt<br />
im Blockland Gras. Einer, der dort wegen Bankraub<br />
einsaß, berichtet vom Leben hinter Gittern (Seite 32). Nicht gerade<br />
zimperlich geht es auch beim Roller Derby zu. Angst vor Stürzen darf<br />
man keine haben. Vor allem aber muss man ziemlich ausdauernd Rollschuhfahren.<br />
Und das trainiert man doch am besten – im Blockland<br />
(Seite 28). Viel Spaß beim Lesen wünscht<br />
Armin Simon<br />
für das Team der Zeitschrift der Straße<br />
PS: Die Artikel in der Zeitschrift der Straße sind zeitlos und, wie wir<br />
hoffen, auch zeitlos schön zu lesen. Deswegen sind alle Ausgaben im<br />
Verkauf. Wenn Sie gezielt das allerneuste Heft suchen, so fragen Sie<br />
danach! Wir freuen uns über Anregungen, Ideen, Rückmeldungen.<br />
Schreiben Sie an: post@zeitschrift-der-strasse.de
lockland<br />
Historie<br />
1948<br />
2012<br />
6<br />
Zahlen<br />
und Fakten<br />
block<br />
land<br />
Grünlandgürtel zwischen der A 27,<br />
der Lesum, der Wümme, Borgfeld und Horn-<br />
Lehe, ca. 3.000 Hektar groß.<br />
Nachweislich besiedelt seit 1106,<br />
Bremer Ortsteil seit 1945<br />
7<br />
Recherche: Wim Wessel, Armin Simon<br />
Text: Wim Wessel<br />
Foto: Sarah Hokema<br />
Erlenbruchwald, zweimal täglich unter Wasser – so sieht<br />
es lange Zeit im Nordosten Bremens aus. Urbaren Boden<br />
machen daraus erst die holländischen Kolonisten,<br />
denen der Bremer Erzbischof das Gebiet im Jahr 1106<br />
überlässt. Sie ziehen Gräben, Wettern, Fleete, die das<br />
Land in die markanten Blöcke teilen – daher der Name –,<br />
bauen Deiche und Siele. Einige Dörfer müssen trotz<br />
allem wieder aufgegeben werden: Das zu hoch stehende<br />
Wasser weicht die Holzsiedlungen auf.<br />
Die entscheidende Wende im Kampf gegen das<br />
Nass schafft erst 1864 ein gewaltiges, dampfbetriebenes<br />
Pumpwerk in Wasserhorst, die damals größte Entwässerungsanstalt<br />
Deutschlands. Über das „Maschinenfleet“<br />
pumpt sie Wasser aus ganz Bremen ab, was nicht nur<br />
wieder Landwirtschaft im Blockland, sondern auch die<br />
Bebauung des Bremer Ostens ermöglicht. 1987 tritt ein<br />
Neubau an ihre Stelle, ein paar Meter nebenan unterirdisch<br />
im Deich versteckt; Mauerreste des einstigen Maschinenhauses<br />
und die alten, hölzernen Sieltore sind<br />
noch zu sehen. Und natürlich die kilometerlangen Gräben,<br />
die das größte Naherholungsgebiet Bremens bis<br />
heute durchziehen.<br />
Historisches Bild: Bremischer Deichverband am rechten<br />
Weserufer<br />
Anzahl der EinwohnerInnen des Ortsteils Blockland,<br />
Ende 2011: 408<br />
Davon Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr<br />
Blockland: 31<br />
Davon aktive Mitglieder der Landjugend Blockland: 42<br />
Davon Mitglieder im Heimatverein: >150<br />
Letzte Bundestagswahl, bei der die CDU im<br />
Blockland die absolute Mehrheit erhielt: 2002<br />
Anzahl der im Blockland (ohne Hollerland)<br />
gehaltenen Rindviecher: 4.000 − 4.500<br />
Anzahl der Rindviecher vor 20 Jahren: ca. 5.500<br />
Jährlich produzierte Milchmenge,<br />
in Litern: ca. 15.000.000<br />
Anteil der Bevölkerung der Stadt Bremen, deren<br />
durchschnittlicher Trinkmilchverbrauch<br />
damit gedeckt werden könnte, in Prozent: 41,4<br />
Zeit, in der das Blockland hannoversch war,<br />
in Jahren: 62<br />
Durchschnittliche Zeit, die eine BlockländerIn an<br />
derselben Adresse wohnt, in Jahren: 23,9<br />
Durchschnittliche Wohndauer in Bremen,<br />
in Jahren: 14,4<br />
Jahr, in dem die einzige Grundschule des Ortsteils<br />
schloss: 1968<br />
Anzahl der Klassen dort: 1<br />
Standort des „Raketenteststand Blockland“ des<br />
Studenten und Raketen-Pioniers Albert Püllenberg:<br />
Kocks Busch<br />
Anzahl der Raketen, die von dort in den Himmel<br />
stiegen: 0<br />
Jahr, in dem Püllenberg die letzten Versuche mit<br />
Raketenmotoren dort durchführte: 1952<br />
Höchster Punkt im Blockland und ganz Bremens:<br />
Mülldeponie<br />
Derzeitige Gipfelhöhe, in Metern über NN: 43<br />
Menge der hier gelagerten Abfälle, in<br />
Kubikmetern: 7.500.000<br />
Höhe, auf die der Müllberg noch wachsen soll, in<br />
Metern über NHN: mindestens 58<br />
Größe der mit Schlittschuhen befahrbaren Eisfläche<br />
an der Semkenfahrt, in Hektar: 45<br />
Wassermenge, die dafür im Herbst auf die Wiesen<br />
gepumpt wird, in Litern: ca. 112.500.000<br />
Durchschnittliche Anzahl der Eislauftage in den vergangenen<br />
vier Wintern: 9<br />
Anzahl der BesucherInnen des Eisfeldes,<br />
2011/12: ca. 35.000<br />
Vom Bremer Eisverein zum Freiräumen der Eisfläche<br />
aufgewendete Arbeitsstunden, pro Eislauftag: 24<br />
Anzahl der Hundehaufen: unbekannt
lockland<br />
So, 15.14 Uhr<br />
Blocklander Hemmstraße,<br />
Nähe der Brücke<br />
über die Kleine Wümme<br />
Ein Fahrweg führt auf ein verwildertes<br />
Grundstück. Links hinten ragen<br />
stählerne Reste eines Unterstands<br />
in die Luft. Rechter Hand erhebt ein<br />
kleiner Hügel: die Warft, auf der einst<br />
das Bauernhaus stand.<br />
15.15 Uhr<br />
Zwischen den dicken Eichen am<br />
Rand der Warft sind ein paar Mauerreste<br />
zu erkennen, von hohen Brennnesseln<br />
überwuchert. Weiter hinten<br />
türmen sich Schutt, zerborstene<br />
Balken und Bleche zu einem Haufen.<br />
15.16 Uhr<br />
Am Wegrand informiert ein Schild des<br />
Deichverbands über den 1997<br />
abgerissenen Hof. Kein Wort von<br />
Mord und Vergebung.<br />
×<br />
Mo, 14.26 Uhr<br />
In der „Hofgalerie“ steht eine Handvoll<br />
Menschen vor Schautafeln, alle<br />
lesen. Es geht um einen Mordanschlag,<br />
zwölf Tote. Ein Foto zeigt<br />
den Keller, in dem die Tat geschah.<br />
FEATURE<br />
8 ×<br />
In der<br />
„Hofgalerie“<br />
steht eine<br />
Handvoll<br />
Menschen vor<br />
Schautafeln,<br />
alle lesen.<br />
Es geht um<br />
Mord, zwölf<br />
Tote. Ein Foto<br />
zeigt den<br />
Keller, in<br />
dem die Tat<br />
geschah.<br />
9<br />
Leichen<br />
im<br />
Keller<br />
Zwölf Menschen sterben in einer<br />
Novembernacht 1945,<br />
von „Polenterror“ ist die Rede.<br />
Der einzige Überlebende jedoch<br />
vergibt den Mördern.<br />
Eine Spurensuche<br />
Text: Helmut Dachale<br />
Fotos: Michael Rommel<br />
Wasserhorst, das letzte verbliebene Dorf<br />
des Blocklandes. Sein Friedhof ist kaum<br />
zu übersehen. Er liegt direkt am Deichweg,<br />
auf der höchsten Düne weit und<br />
breit. In seiner Mitte ein kleiner Saalkirchenbau,<br />
verwitterter Backstein, kantiger<br />
Turm. Drumherum gruppieren sich die<br />
Grabsteine, darunter bemooste aus dem<br />
17. und 18. Jahrhundert, einige geschmückt<br />
mit Totenkopf und gekreuzten Knochen.<br />
Keine Piraten, sondern eine damals übliche,<br />
in Stein gehauene Mahnung an die<br />
Lebenden.<br />
Ein älterer Mann kniet vor dem Grab seiner<br />
Angehörigen, zupft vom Efeu die ersten<br />
Blätter, abgeworfen von trutzigen Eichen.<br />
Er kommt auf die Beine, schnauft und<br />
zeigt uns das Grab, das wir suchen, auch<br />
ein Familiengrab. Ein Massengrab. Die<br />
letzte Ruhestätte von neun Menschen,<br />
die im November 1945 ermordet wurden.<br />
Der Mann, damals gerade dem Kindesalter<br />
entwachsen, hat das Begräbnis selbst<br />
noch miterlebt. „Der kleine Friedhof war<br />
völlig überfüllt, das ganze Blockland hatte<br />
sich versammelt“, erzählt er. „Und es waren<br />
eine Menge Leute aus Bremen da,<br />
Leute mit roten Fahnen.“ Er kratzt sich<br />
am Kopf, als könne er immer noch nicht<br />
fassen, was sich hier am 1. Dezem ber 1945<br />
abgespielt hat: rote Fahnenüber Wasserhorst.<br />
Im stockkonservativen Blockland!<br />
An der Stelle des schmucklosen Grabsteins<br />
mit den Namen Flothmeier,<br />
Garbade und Hamelmann ist damals<br />
eine große Grube ausgehoben. Auf einer<br />
darübergelegten Bohle steht Wilhelm<br />
Kaisen, Bremens erster Nachkriegsbürgermeister.<br />
Er spricht von unschuldigen<br />
Opfern einer kriminellen Bande. Auf den<br />
Fotos im Archiv des „Weser-Kurier“ sind,<br />
wenn man sie aufbereitet, neben ihm tatsächlich<br />
Männer mit Arbeitermütze und<br />
Fahnen zu erkennen. Einige halten am<br />
Grabrand ein Spruchband hoch: „Millionen<br />
wurden von dem Naziregime gemeuchelt,<br />
erschlagen und ermordet.“ Es wirkt<br />
wie eine Mahnung, wie ein Versuch, das<br />
Verbrechen, dessen Opfer hier begraben<br />
werden, in einen Kontext zu stellen. „Die<br />
Blockland-Morde“, sagt Historiker Achim<br />
Saur vom Kulturhaus „Brodelpott“ in
lockland<br />
14.28 Uhr<br />
Die letzte Tafel der Ausstellung<br />
zitiert Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel, die die Tötung eines<br />
Menschen kommentiert: „Ich freue<br />
mich“, sagt sie.<br />
Di, 13.23 Uhr<br />
Niederblockland, Hof Kaemena<br />
Septembersonne, Milchkaffee und<br />
Eis. Jemand erzählt von einer<br />
Kommunistenparzelle in der Waller<br />
Feldmark zur Zeit des Dritten Reichs.<br />
Und dass auch ein christlicher<br />
Apothekerassistent aus Walle dort<br />
bisweilen verkehrte.<br />
Leichen<br />
i m<br />
Keller<br />
10<br />
FEATURE<br />
11<br />
Der Hof Kapelle ist abgerissen bis auf die Grundmauern.<br />
Doch das Entsetzen bleibt. Hass überwindet nur Vergebung<br />
Walle, „sind eine Geschichte von Verbrechen,<br />
Vergeltung und Vergebung, die wie<br />
in einem Mikrokosmos alle Motive der<br />
Menschen in den Nachkriegsjahren in sich<br />
vereint.“ Eine Wanderausstellung des Kulturhauses,<br />
erstellt in Kooperation mit<br />
dem Evangelischen Bildungswerk, beleuchtet<br />
Vorgeschichte und Hintergründe<br />
der Tat. Und natürlich das, was darauf<br />
folgte. „Versöhnung im Alleingang“ lautet<br />
ihr Titel. Es ist die Geschichte von einem,<br />
der den Mördern seiner Familie vergibt.<br />
Eine regelrechte<br />
Hinrichtung<br />
21. November 1945, die Nacht auf<br />
den Buß- und Bettag. Sieben Monate nach<br />
Ende des Zweiten Weltkriegs. Von Gröpelingen<br />
aus bricht eine Gruppe ehemaliger<br />
Zwangsarbeiter ins Blockland auf.<br />
Der Raubüberfall auf dem Hof Kapelle,<br />
einem einzeln stehenden Gehöft an der<br />
Kleinen Wümme, endet als Massaker.<br />
13 Personen halten sich in dieser Nacht<br />
dort auf. Nach ausgiebiger Plünderung<br />
treiben die Angreifer sie in einen niedrigen<br />
Kellerraum. Die darauffolgenden<br />
Minuten überlebt nur einer: Wilhelm<br />
Hamelmann. Von mehreren Kugeln getroffen,<br />
besitzt er die Geistesgegenwart,<br />
sich tot zu stellen; so bleibt ihm der<br />
Kopfschuss erspart. Erschossen werden:<br />
Seine beiden Schwiegereltern, die den<br />
Hof bewirtschafteten, seine Eltern, seine<br />
Frau und seine vier Kinder, 9, 13, 15 und<br />
17 Jahre alt, die, in Walle ausgebombt, auf<br />
dem Anwesen im Blockland Unterschlupf<br />
gefunden haben. Außerdem eine Besucherin,<br />
die wegen des schlechten Wetters<br />
über Nacht geblieben ist, sowie Knecht<br />
und Magd. „Man könnte meinen, es war<br />
eine regelrechte Hinrichtung“, sagt Saur,<br />
der im Bremer Staatsarchiv die Ermittlungsberichte<br />
der Kriminalpolizei und<br />
auch die Obduktionsberichte eingesehen<br />
hat. „Was dort im Keller geschah, erinnert<br />
in der Art und Weise an das, was die<br />
SS nicht nur in Polen getrieben hat – auch<br />
wenn die Größenordnung natürlich überhaupt<br />
nicht zu vergleichen ist.“<br />
Beginnt die Geschichte von den Blockland-Morden,<br />
die Geschichte von Verbrechen,<br />
Vergeltung und Vergebung mit dem<br />
21. November 1945, mit dem Überfall auf<br />
den Hof Kapelle? Oder beginnt sie in<br />
Wirklichkeit sechs Jahre zuvor, mit dem<br />
Überfall deutscher Truppen auf den polnischen<br />
Staat? Die neun Männer, die<br />
schon tags darauf als Tatverdächtige gefasst<br />
und recht bald verurteilt werden –<br />
vier davon zum Tode –, sind Polen. Junge<br />
Männer, die nicht freiwillig nach Deutschland<br />
gekommen sind, sondern als Deportierte.<br />
Ehemalige Zwangsarbeiter, die in<br />
den Jahren vor ihrer Befreiung auch deutsche<br />
Gefängnisse kennengelernt und das<br />
KZ erlitten haben.<br />
Ein grausamer Rachefeldzug in dunkler<br />
Novembernacht also? Bekannt ist: Während<br />
des Kriegs gehört zur Hofgemeinschaft<br />
der „Kapelle“ auch ein Zwangsarbeiter.<br />
Ein Serbe, der zur Zeit des<br />
Überfalls bereits wieder in der Heimat ist.<br />
Er habe Briefe geschrieben, weiß der<br />
„Weser-Kurier“, auf dem Hof sei er anständig<br />
behandelt worden. Soll heißen:<br />
Wenn es denn Rache war, dann blinde,<br />
ungezielte. Das sieht der einzige Überlebende<br />
ähnlich.<br />
Wenn es<br />
denn Rache<br />
war, dann<br />
ungezielte<br />
Wilhelm Hamelmann – zur Zeit des<br />
Überfalls 43 Jahre alt, 1979 verstorben –<br />
stammt aus Walle. Er ist Apothekerassistent,<br />
kein Landwirt. Ein Eingeheirateter.<br />
Ein Mensch, der sich seit seiner Jugend<br />
als „ein tiefgläubiger Christ“ versteht,<br />
wie er Jahre später in einem Interview<br />
bekennt. Ein Sonderling, der seine eigenen<br />
Wege geht. Und seine Gründe hat,<br />
darüber nicht zu reden. Zumindest in den<br />
letzten Kriegsmonaten, das berichten<br />
mehrere Zeitzeugen Jahrzehnte später,<br />
hat er Kontakte zu kommunistischen<br />
Widerständlern, zumeist Waller wie er.<br />
Höchstwahrscheinlich hilft er ihnen, ausländische<br />
Kriegsgefangene und Verschleppte<br />
zu unterstützen – eine illegale<br />
Tätigkeit, bei der er Kopf und Kragen<br />
riskiert. Auf alle Fälle weiß Hamelmann<br />
um das Unrecht von Deportation und<br />
Zwangsarbeit. In einem von ihm verfassten<br />
Traktätchen, 1961 erstmals veröffentlicht,<br />
findet sich auch das: „Bedenkt man,<br />
dass es nicht nur Kriegs-, sondern auch<br />
Zivilgefangene waren, denen man ihre<br />
Freiheit genommen hatte, so kann man<br />
den Vergeltungsdrang sehr wohl verstehen.“<br />
Hamelmann<br />
nimmt die<br />
Mörder<br />
bei sich auf<br />
Bald nach Kriegsende übernimmt<br />
Hamelmann den Vorsitz des Arbeiterhilfswerks<br />
in Walle, der neu gegründeten<br />
„Einheits-Hilfsorganisation aller Schaffenden“<br />
zur „Unterstützung unschuldig in<br />
Not Geratener“. Dies erklärt, warum<br />
SPD und KPD öffentlich zur Teilnahme am<br />
Begräbnis seiner Familie in Wasserhorst<br />
aufrufen. Und alles zusammen kann vielleicht<br />
sogar die Frage beantworten, warum<br />
er, dem die Mörder seine gesamte<br />
Familie nahmen, sich mehrmals für die<br />
festgenommenen Polen, später für die<br />
Verurteilten einsetzt. Noch vom Krankenbett<br />
aus etwa, schwer verletzt, bittet<br />
er Kaisen, dem Hass keinen Vorschub zu<br />
leisten. In seiner eigenen Botschaft, die<br />
am Grab verlesen wird, schreibt Wilhelm<br />
Hamelmann: „Das ganze Volk leidet und<br />
hält Ausschau nach denen, die fähig sind,<br />
in der Tat der Liebe und nicht des Hasses<br />
zu führen. Darum rufe ich uns allen zu:<br />
‚Lasst uns unsere Herzen einstellen auf die<br />
Melodie der Liebe, der Liebe, die vom<br />
Kreuz Christi her uns sucht.‘“ Und den<br />
Hauptstaatsanwalt des Militärgerichts<br />
bittet er – vergebens –, keine drakonischen<br />
Strafen zu verhängen.<br />
Am spektakulärsten zeigt sich Wilhelm<br />
Hamelmanns Weg der Versöhnung in sei-<br />
nen Gnadengesuchen von 1967: Da erfährt<br />
er, dass immer noch drei der wegen<br />
der Morde an seinen Angehörigen verurteilten<br />
im Zuchthaus sitzen. Mehrfach besucht<br />
er sie – einer verweigert den Kontakt<br />
–, schließlich gelingt es ihm, die<br />
anderen beiden in Freiheit zu bringen.<br />
Mehr noch: Er nimmt sie bei sich auf,<br />
besorgt ihnen Unterkunft und Arbeit.<br />
Und als sich Anfeindungen und Drohungen<br />
mehren, versteckt er sie – wo genau,<br />
hat er niemals verraten. „Ein Mann kennt<br />
keinen Hass“, textet das „Hamburger<br />
Abendblatt“ nach der Freilassung der Verurteilten.<br />
So mancher Blocklander soll ob<br />
der Nachricht die Faust in der Tasche<br />
geballt haben.<br />
Kleine Engel<br />
aus Ton<br />
im Gesträuch<br />
Heute sei das anders, ist Bernhard<br />
Kaemena überzeugt. Er jedenfalls findet<br />
Hamelmanns Haltung und Handeln richtig.<br />
Kaemenas Familie bewirtschaftet einen<br />
der bekanntesten Blocklander Höfe. Ökologisch<br />
ausgerichtete Milchviehwirtschaft,<br />
an Ort und Stelle produziertes Bio-Eis,<br />
Ferienwohnungen. Ein moderner Betrieb,<br />
eine lange Familientradition. Während des<br />
Krieges hatte auch dieser Hof seine<br />
Zwangsarbeiter. Wie der Hof Kapelle, wie<br />
andere Bauernhöfe auch. Kaemena hat<br />
sich auch mit diesem Teil der Blocklander<br />
Geschichte auseinandergesetzt. Im Oktober<br />
machte die Wanderausstellung in<br />
seiner Hofgalerie Station. Seine Mutter,<br />
die einst mit den ermordeten Hamelmann-<br />
Kindern spielte, konnte sich nicht überwinden,<br />
vor den Bildtafeln zu stehen. Die<br />
Tragödie ist bei vielen Blocklandern unvergessen.<br />
Und der Ort des Geschehens hat<br />
für manche immer noch etwas Mystisches.<br />
Dabei sind vom Hof Kapelle, im März<br />
1997 abgerissen, nur noch ein paar Balken<br />
und Mauerreste zu sehen. „Manchmal<br />
werden dort Blumen abgelegt, und im<br />
letzten Winter hingen im Gesträuch kleine<br />
Engel aus Ton“, hat Kaemena beobachtet.<br />
Er hat Fotografen zu einer Dokumentation<br />
des Grundstücks angeregt und er<br />
weiß: Unter den nicht restlos beseitigten<br />
Trümmern befindet sich noch immer das<br />
Kellergewölbe. „Aber“, und diese Ergänzung<br />
ist ihm wichtig, „solche Mordkeller<br />
hat es damals überall gegeben, in ganz<br />
Europa.“ Und über das Warum, über die<br />
Hintergründe, letztendlich über die Verbrechen<br />
des deutschen Faschismus müsse<br />
auch gesprochen werden, meint er.<br />
Auf dem Schild, das der Deichverband am<br />
Rand der ehemaligen Hofstelle aufgestellt<br />
hat, ist nichts Hintergründiges zu erfahren.<br />
Auch der Grabstein auf dem Wasserhorster<br />
Friedhof verrät nur die Familiennamen<br />
und das gemeinsame Todesdatum. Doch<br />
im Turm der Kirche nebenan – in der Regel<br />
verschlossen – hängt eine Gedenktafel<br />
für alle Blocklander, die im Zweiten<br />
Weltkrieg umgekommen sind. Aufgeführt<br />
unter den „Opfern der Heimat“ sind auch<br />
die neun hier beigesetzten Opfer des<br />
Überfalls auf den Hof Kapelle. Zeitlich<br />
unkorrekt zwar, und doch weist es in die<br />
richtige Richtung.
lockland<br />
Mo, 16.30 Uhr<br />
Timmersloher Landstraße<br />
Vier Kinder stehen jeweils rechts<br />
und links der Straße. Sie halten<br />
selbst gebastelte Schilder hoch:<br />
„Stopp“, „Langsam fahren, hier<br />
spielen Kinder!!!“. Autofahrer brausen,<br />
ohne langsamer zu werden,<br />
an ihnen vorbei.<br />
17.05 Uhr<br />
Hinter einem Zaun steht eine Horde<br />
Kühe. Sie starren ein Mädchen an,<br />
das mit ihnen spricht, stehen wie<br />
angewurzelt. Im nächsten Moment<br />
galoppieren sie davon.<br />
17.45 Uhr<br />
Ein Auto parkt auf dem Seitenstreifen,<br />
Leute sitzen darin. Als ein<br />
anderes Auto vorbeifährt, winkt ein<br />
Kind wie wild aus dem Fenster.<br />
18.00 Uhr<br />
Sechs Krähen sitzen nebeneinander<br />
auf sechs Pfosten. Sie putzen ihr<br />
Gefieder und krächzen vor sich hin,<br />
so, als würden sie sich unterhalten.<br />
Plötzlich erschrecken sie, verschwinden<br />
von einer zur nächsten<br />
Sekunde.<br />
12<br />
Porträt<br />
13<br />
×<br />
Eine Frau<br />
mittleren<br />
Alters verkauft<br />
nicht nur<br />
Eintrittskarten,<br />
sondern bietet<br />
für den Notfall<br />
auch Regenschirme<br />
an.<br />
Um die Lampe<br />
über ihr<br />
tanzen wild<br />
die Motten.<br />
Theater<br />
auf der<br />
feuchten<br />
Wiese<br />
Die Natur ist ihr Spielfeld,<br />
ihre Stücke<br />
muss man nicht verstehen.<br />
Besuch bei einer,<br />
die sich ihre eigene Bühne<br />
geschaffen hat<br />
Text: Fariba Ghodoussi<br />
Fotos: Björn Wiedenroth<br />
„... und die Sonne schickt noch letzte Abschiedswärme.“<br />
Ein später Nachmittag im<br />
Juli in einem Garten in Timmersloh. Eine<br />
Frau mittleren Alters in hellem Gewand<br />
trägt mit gefestigter, sinnlicher Stimme<br />
einen poetischen Text vor, es geht irgendwie<br />
um Abschied. Eine zweite Frau steht<br />
hinter ihr, barfuß, sie übersetzt den Text<br />
in eine Art Zeichensprache. Sie trägt ein<br />
rotes, körperbetontes Kleid, passend zu<br />
ihren langen, rotgelockten Haaren. Die<br />
Szene erinnert an die Zeit um 1900. Man<br />
hört das Rauschen der Bäume, spielende<br />
Kinder, Vogelgezwitscher und ab und an<br />
Treckermotoren. Ein paar Dutzend Zuschauer<br />
sind da. Einige sind näher dran,<br />
blicken und hören interessiert zu. Andere<br />
sitzen entspannt mit einem Glas Wein<br />
auf Bänken. Verena Reisemann, die Frau<br />
im roten Kleid, feiert das Fünfjährige ihrer<br />
Theaterkompanie. Fünf Jahre „wildwechsel<br />
AUSSEN THEATER“. „Der Himmel<br />
ist hier einfach so weit und offen!“,<br />
schwärmt sie. Die Natur ist ihr sehr
lockland<br />
×<br />
Fr, 19.40 Uhr<br />
Timmersloher Landstraße<br />
Eine Frau mittleren Alters verkauft<br />
nicht nur Eintrittskarten, sondern<br />
bietet für den Notfall auch Regenschirme<br />
an. Um die Lampe über ihr<br />
tanzen wild die Motten.<br />
19.45 Uhr<br />
Timmersloher Landstraße<br />
Es ist dunkel, still und trocken. Vor<br />
der beleuchteten Bar stehen Menschen,<br />
wetterfest eingepackt samt<br />
Gummistiefeln und Regen-schirmen.<br />
Gespanntes Warten.<br />
20.05 Uhr<br />
Eine Frau sitzt vor einem alten<br />
Baum, erzählt erregt und rhythmusbetont<br />
über die Beziehung zu ihrer<br />
Mutter. Wie an einem Fließband<br />
werden ihr von der linken Seite<br />
kleine Dynamo-Taschenlampen gereicht,<br />
die sie im gleichen Tempo<br />
aufdreht und einer Kollegin rechts<br />
neben ihr in die Hand drückt, welche<br />
die Lampen wiederum in einen<br />
Eimer wirft, aus dem sie ein Schauspieler<br />
herausnimmt und im Publikum<br />
verteilt.<br />
Theater auf<br />
der feuchten<br />
wiese<br />
wichtig. „Wenn wir in der Natur sind,<br />
sind wir näher an uns selbst dran.“<br />
Für einige der Nachbarn hier draußen ist<br />
das Theater nicht leicht zu verstehen.<br />
Diese Türen da auf dem Feld. Dieses<br />
Künstlerische. Die Themen, die die Regisseurin,<br />
Schauspielerin und Theaterleiterin<br />
umtreiben. „Schöngeist“ nennen sie<br />
Verena Reisemann. Eine, deren Themen<br />
ihnen „zu hoch“ sind. Sie finden keinen<br />
rechten Zugang dazu. „Verena“, hat mal<br />
ein Bauer zu ihr gesagt, „du solltest Theater<br />
für alle machen.“<br />
Theater ist vielleicht zu hoch gegriffen.<br />
Nüchterne Betrachter würden es so beschreiben:<br />
ein Garten ganz am Rande<br />
Bremens, 2.000 Quadratmeter groß,<br />
mächtige, alte Bäume, manchmal gehört<br />
auch noch der benachbarte Acker dazu.<br />
Keine Bühne, maximal ein paar Elemente,<br />
wie diese Türen, die Verena Reisemann<br />
im Garten verstreute und bei den Aufführungen<br />
mit Lichtinstallationen erhellt. Es<br />
ist schon zur Regel geworden, dass sie ihrem<br />
Publikum rät, in Gummistiefeln zu<br />
kommen. Die Felder sind matschig hier in<br />
der Wümmeniederung.<br />
Kein Geld für<br />
Ballett<br />
Verena Reisemann ist Profi. Schauspielerin,<br />
Tänzerin und Sängerin, Studium<br />
an der Folkwang Universität der Künste<br />
in Essen, eine der renommiertesten in<br />
Deutschland. 2008 gründet sie, zweifache<br />
Mutter inzwischen, in Timmersloh, einem<br />
kleinen Dorf, das heute zu Borgfeld gehört,<br />
ihr eigenes Theater. „Damit bin ich<br />
angekommen auf dem Weg, den ich gehen<br />
will“, sagt sie.<br />
Es war kein einfacher Weg bis hierher.<br />
Verena Reisemann, geboren 1969 in Heidelberg,<br />
wächst als Nachzüglerin von vier<br />
Kindern in bürgerlichen Verhältnissen auf.<br />
Als sie mit sechs bei der Ballettstunde ihrer<br />
Freundin zugucken darf, ist sie begeistert.<br />
Doch ihre Eltern haben kein Geld<br />
für Unterricht; erst mit acht schenkt ihr<br />
der Großvater ihre ersten Stunden. Ihre<br />
Ballettlehrerin erkennt ihr Talent, bald<br />
14<br />
darf sie kommen, wann immer sie möchte,<br />
um zu trainieren. Mit zwölf fängt sie<br />
im Heidelberger „Haus der Jugend“ mit<br />
Jazztanz an. Ihre Lehrerin dort erkennt<br />
ihr großes Bedürfnis, sich auszudrücken,<br />
wird zu ihrer Mentorin. „Sie hat mich<br />
durch die Pubertät gebracht“, sagt Verena<br />
Reisemann im Rückblick. „Wenn ich das<br />
Tanzen und sie nicht gehabt hätte, ich<br />
weiß nicht …“ Auch in die Theater-AG<br />
geht sie. Nebenbei assistiert sie ihrer<br />
Jazztanzlehrerin, regelt organisatorische<br />
Dinge für sie. Die revanchiert sich, lässt<br />
sie schließlich selbst unterrichten. „Das<br />
hat mir viel Vertrauen gegeben, mich getragen“,<br />
sagt Verena Reisemann.<br />
Anfangs war<br />
sie überzeugt,<br />
dass in<br />
Hollywood<br />
der „Oscar“<br />
auf<br />
sie wartet<br />
Der Wechsel an die Uni nach Essen, 1989,<br />
ist ein Schock für sie. Bis dahin war sie<br />
überzeugt, dass in Hollywood der „Oscar“<br />
auf sie warte. Auf einmal aber ist da<br />
Konkurrenz, und die ist hart. „Es war ein<br />
ganzer Haufen, der besser war als ich<br />
oder genauso gut.“ In Heidelberg war sie<br />
unterstützt worden von allen Seiten. An<br />
der Folkwang-Uni gerät sie in eine machtpolitische<br />
Auseinandersetzung innerhalb<br />
der Lehrerschaft. Ein Dekan behauptet,<br />
ihre Stimme sei kaputt. Sie wird in die Klinik<br />
zur Untersuchung geschickt – alles in<br />
Ordnung. Trotzdem fällt sie in Gesang<br />
durchs Vordiplom. „Das war eine sehr<br />
harte Zeit“, bilanziert sie. Tanzunterricht<br />
hat sie in der Abteilung von Pina Bausch,<br />
die als eine der bedeutendsten deutschen<br />
ChoreografInnen der Gegenwart gilt. Eine<br />
der LehrerInnen, die sie dort unterrichtet,<br />
sei „extrem ausdrucksstark“ in<br />
ihrer ganzen Persönlichkeit gewesen,<br />
umschreibt Verena Reisemann – eine psychische<br />
Macht, an der sie fast zerbricht.<br />
„Die unpädagogische Art, wie sie mit uns<br />
gearbeitet hat, wie sie versucht hat, uns<br />
zu brechen, das hat mich fertiggemacht.“<br />
Das war nicht gesund. „Vielleicht“, vermutet<br />
sie, „war ich ihr zu ähnlich.“<br />
Wieder hat sie Leute, die an sie glauben,<br />
zwei, drei bloß, aber das reicht ihr. Sie<br />
zieht ihr Studium durch, macht ihren Abschluss,<br />
geht schließlich nach Hamburg,<br />
24 ist sie da. Und bleibt der Bühne sieben<br />
Jahre fern. „Ich musste das erst einmal<br />
verarbeiten, diese Situation, in einem<br />
Bereich zu arbeiten, in dem man grundsätzlich<br />
nicht davon ausgehen kann, dass<br />
man gut behandelt wird.“ Gleich an ein<br />
großes Theater zu gehen – „dem wäre ich<br />
nicht gewachsen gewesen“. Nähe zum<br />
Theater sucht sie dennoch. Arbeitet mal<br />
als Ankleiderin, mal als Sprechcoach, mal<br />
als Regisseurin. Hat Glück, wird weiterempfohlen,<br />
kommt von einer zur nächsten<br />
Produktion. „Ich bin immer an die<br />
richtigen Leute geraten, die den Weg vorbereitet<br />
haben, damit ich dann auch selber<br />
wieder auf der Bühne lande“, sagt sie.<br />
Im Timmersloher Garten hängt die Frau<br />
im beigen Kleid nun Tücher mit aufgedruckten<br />
Kinderporträts auf, sie singt<br />
dazu. Fünf Produktionen hat Reisemann<br />
mit „wildwechsel“ schon inszeniert, eine<br />
pro Jahr. Die letzte kam so gut an, dass<br />
sie im September wieder aufgenommen<br />
wird. Zeitgleich laufen bereits die Vorbereitungen<br />
für 2013, der Titel: „Schichten“.<br />
Verena Reisemann konzipiert die Stücke,<br />
ist künstlerische Leiterin und Regisseurin.<br />
Sie sucht sich Profis, die bereit sind, mit<br />
ihr ungewöhnliches Theater in der freien<br />
Natur zu machen. Zwischen 20 und 80<br />
ZuschauerInnen lockt jede Aufführung,<br />
Reisemann hält künftig auch Gastspiele<br />
auf Festivals für denkbar.<br />
Theater<br />
miteinander<br />
Es ist Jens Weisser, Regisseur und<br />
Schauspieler am Hamburger Lichthof<br />
Theater, der sie 2001 zurück auf die Büh-<br />
Porträt<br />
Man kann Verena Reisemanns Stücke nicht mit traditionellem<br />
Theater vergleichen. Eher mit Performances, Inszenierungen<br />
zwischen Kunst, Musik, Schauspiel und Tanz<br />
ne bringt. Er fragt sie, die zuerst Öffentlichkeitsarbeit<br />
für ihn machte, ob sie die<br />
Hauptrolle in seinem nächsten Stück<br />
übernehmen wolle. „Er war begeistert<br />
von mir“, erzählt sie. Ihre siebenjährige<br />
Auszeit bedauert sie nicht. „Die Pause<br />
brauchte ich, um später zu bestehen“, ist<br />
sie überzeugt.<br />
Sie sagt der Rolle zu, der Wiedereinstieg<br />
glückt. Sie spielt in Hamburg, Dortmund,<br />
Bonn. Als ihr zweites Kind unterwegs ist,<br />
überlegt sie, wie sie Beruf und Familie unter<br />
einen Hut kriegt. Klar ist: Als fest angestellte<br />
Schauspielerin wäre sie zu oft<br />
weg von zu Hause, könnte zu wenig Mutter<br />
sein. Aber sie möchte auch Theater<br />
machen, und das in der Natur. Sie will mit<br />
Menschen zusammenarbeiten, die sie mag,<br />
nicht nur mit SchauspielerInnen, sondern<br />
auch mit bildenden KünstlerInnen, FotografInnen<br />
und FilmemacherInnen. Mit<br />
Menschen, die Lust auf Kommunikation<br />
und Miteinander haben. Das ist so ziemlich<br />
das Gegenteil von dem, was sich nach<br />
ihrer Erfahrung im Theater-Business abspielt.<br />
„Ich bin fest davon überzeugt, dass,<br />
15<br />
wenn die Stimmung stimmt, immer etwas<br />
Gutes dabei rauskommt“, sagt sie. Und<br />
beschließt, ihre eigene Theaterkompanie<br />
ins Leben zu rufen.<br />
Das ist nicht<br />
wie „Romeo<br />
und Julia“.<br />
Wir arbeiten<br />
assoziativ<br />
Sie hat einen Lieblingsplatz hier, der<br />
grenzt direkt an ihren Garten und an das<br />
Feld, das sie regelmäßig bespielt. Die großen<br />
Bäume im Rücken kann man weit blicken<br />
von hier, nichts versperrt die Sicht.<br />
Verena Reisemann hat eine Bank dort hingestellt,<br />
die Abendsonne wärmt sie. Wie<br />
meist ist sie auch heute barfuß unterwegs,<br />
Schminke legt sie, wenn überhaupt, nur<br />
beruflich auf. Sie wirkt freundlich, offen,<br />
ungezwungen. Ihre Haare hat sie zu einem<br />
Zopf geflochten. Sie redet deutlich,<br />
wie eine Schauspielerin eben, und sowohl<br />
Hände wie Augen reden mit. Man kann<br />
ein Blitzen in Letzteren sehen. Den Kindern<br />
hat sie gerade eben noch eine Schale<br />
Erdbeeren geschnitten.<br />
Man kann Reisemanns Stücke nicht mit<br />
denen des traditionellen Theaters vergleichen,<br />
eher mit Performances, Inszenierungen<br />
zwischen Kunst, Schauspiel, Musik<br />
und Tanz. „Das ist nicht wie ‚Romeo<br />
und Julia‘. Wir arbeiten assoziativ, ganz<br />
viel über Bilder“, erklärt sie. Sie weiß,<br />
dass nicht jeder ihre Aufführungen versteht.<br />
Es ist auch nicht ihr Ziel. „Ich möchte<br />
es schaffen, dass die Leute im Dorf sagen:<br />
‚Das ist zwar total schräg, aber ich<br />
finde es spannend und gucke mir das<br />
an.‘“ Im Idealfall gehe jeder Zuschauer mit<br />
einem anderen Stück nach Hause. „Unser<br />
Theater muss man nicht verstehen“, unterstreicht<br />
sie. „Eigentlich muss man den Verstand<br />
an der Kasse abgeben. Wenn man<br />
versucht, intellektuell zu verstehen, ist das<br />
der pure Stress.“
Blockland<br />
16<br />
Bildstrecke<br />
17<br />
Fotos: Claudia A. Cruz<br />
naturLicht
18<br />
Blockland
20<br />
Blockland
22<br />
Blockland
lockland<br />
Fr, 14.05 Uhr<br />
Wasserhorst, bei der Kirche<br />
Die Kirche entlässt eine kleine Trauergemeinde<br />
ins Freie. Eine Frau löst<br />
sich aus der schwarzen Menschentraube,<br />
bleibt stehen und schaut in<br />
den großen, wolkigen Sommerhimmel.<br />
×<br />
14.15 Uhr<br />
Friedhof Wasserhorst<br />
Ein kleiner Mann steht unter einer<br />
Birke. Ihr flirrender Schatten wirft über<br />
ihm ein Netz aus, in dem sich seine<br />
weißen Locken und seine unruhigen Hände<br />
verfangen. Sie gleichen einander,<br />
der Mann und der Baum: beide alt, vornübergebeugt,<br />
schwarz-weiß.<br />
15.30 Uhr<br />
In den Wümmewiesen<br />
Zwei Störche stolzieren durch die Wiese<br />
wie Landvermesser. Das glänzende<br />
Gras geht vor ihnen in die Knie.<br />
24<br />
prosa<br />
×<br />
Ein kleiner<br />
Mann steht<br />
unter einer<br />
Birke. Ihr<br />
flirrender<br />
Schatten<br />
wirft über<br />
ihm ein<br />
Netz aus.<br />
25<br />
Wo Moorfrösche<br />
wohnen<br />
Text: Anja Josefine Schanz<br />
Illustration: Nadja Barth<br />
Die rote Backsteinkirche verteidigte ihre kleine Anhöhe, leuchtend,<br />
mit der Sonne einig. Gütig schaute sie auf den stillen Friedhof und das<br />
glänzende, endlose Marschland. Die kleine Trauergesellschaft folgte<br />
dem honigfarbenen Sarg bis zu der frisch ausgehobenen Grube<br />
und dem hellen Grabstein aus Marmor, in dem ihr Name eingemeißelt<br />
war. Als Maria den Kopf hob, sah sie einen kleinen Mann<br />
unter einer Birke stehen. Ihr flirrender Schatten warf über ihm ein<br />
Netz aus, in dem sich seine weißen Locken und seine unruhigen<br />
Hände verfingen, die an einem breitkrempigen Sonnenhut spielten.<br />
Sie glichen einander, der Mann und der Baum: beide alt, vornübergebeugt,<br />
schwarz-weiß. In der Brusttasche seines zu großen Anzuges<br />
steckte ein grünes Tüchlein. Seine Gegenwart irritierte sie, dass er sie<br />
beobachtete, dass er, ein Fremder, ihrer intimen Trauer beiwohnte
lockland<br />
16.07 Uhr<br />
Oberblockland,<br />
„Landhaus Kuhsiel“<br />
Ein winziger schwarzer Hund tollt<br />
durchs Gras, schnuppert an Gänseblümchen,<br />
hüpft über Schuhe, Taschen<br />
und Gartenstuhlstreben wie ein mutiges<br />
Springpferdchen, angetrieben<br />
von einer unbändigen Freude und Neugierde,<br />
bis in die Schwanzspitze<br />
zitternd.<br />
17.25 Uhr<br />
Oberblockland,<br />
Nähe Gartelmanns Hofladen<br />
Eine junge Familie schiebt einen<br />
Kinderwagen vor sich her, ein kleiner<br />
Junge brüllt, weil er nicht mehr laufen<br />
will. Als sein Vater ihn auf seine<br />
Schultern hebt, fängt die kleine<br />
Schwester an zu schreien.<br />
w o<br />
mooRfrösche<br />
26<br />
prosa<br />
27<br />
wohnen<br />
und, wie es schien, an ihrem Schmerz teilnahm. Maria fing seinen melancholischen<br />
Blick auf und ein leichtes Nicken, das offenbar ihrer<br />
Mutter galt. Die kleine, schwarze Gruppe versammelte sich schweigend<br />
unter einer rauschenden Weide. Als der Sarg in den Schacht<br />
hinabgelassen wurde, trat Viktoria vor, eine Freundin, legte Marias<br />
Mutter sanft eine Hand auf den Rücken und küsste ihren Nacken. Ein<br />
Arm umschlang Marias Taille, ihr Bruder räusperte sich und lockerte<br />
seine Krawatte. Schweiß rann ihm in den Kragen. Marias Tante stand<br />
bebend zwischen ihren hochgewachsenen Söhnen. Hermann lehnte<br />
an einem Baumstamm und wischte sich die Stirn mit einem Stofftaschentuch.<br />
Die Kinder stellten einen Engel auf den Grabstein. Anne<br />
klagte über die Hitze. Marias Mutter, aufrecht und kämpferisch, übernahm<br />
die Führung wie eine strenge Gouvernante.<br />
Über dem Deich sirrte die Luft: Radfahrer und Skater, Jogger,<br />
Hunde, Kinderwagen und Spaziergänger – wie einn Pulk schwarzer<br />
Krähen mischten sie sich unter diesen bunten Schwarm.<br />
Wie oft hatten sie in dem Gasthof an der Wümme gesessen,<br />
die auch heute Paddler mit Helmen und neonfarbenen T-Shirts vorbeitrieb.<br />
Weit dahinter fiel der Himmel auf Pappelreihen, Kuhweiden<br />
und Pferdekoppeln. Die barock gebauschten Daunenwolken trösteten<br />
Maria. Sie gab sich der kindlichen Fantasie hin, ihre Großmutter<br />
schaue wohlwollend auf sie herab.<br />
Sie hatte die Kindheitssommer auf ihrem Hof geliebt. Die<br />
Hühner und Schweine, die sie versorgen durfte. Das Stroh. Brombeeren<br />
sammeln. Baden im Fluss. Reiten. Radfahren. Marmelade kochen.<br />
Abends zog ihre Großmutter die Stalltüren zu und kehrte<br />
den Hof mit einem Reisigbesen. Die Blecheimer schepperten über das<br />
Kopfsteinpflaster, mit ihren Gummistiefeln quietschte sie ins Haus.<br />
Und Maria setzte sich auf den kleinen Hocker mit dem rot gepunkteten<br />
Plastikbezug und sah ihr dabei zu, wie sie ihre braune Lockenflut<br />
aus dem Kopftuch befreite, zu einem langen Zopf flocht und über dem<br />
Hinterkopf zusammensteckte. Wie sie ihr Gesicht und den Nacken<br />
mit einem Waschlappen abrieb. Wie sie ihr im Spiegel zuzwinkerte<br />
und Bonbons in ihre Tasche schob. Und freute sich auf den langen<br />
Abendspaziergang. Wenn ihre Großmutter ihr Bombenlöcher zeigte,<br />
die sich in Teiche verwandelt hatten und jetzt von Moorfröschen<br />
bewohnt wurden. Wenn sie gemeinsam die schwarzgrün schimmernden<br />
Kiebitze, die Uferschnepfen und die Brachvögel mit den lustigen<br />
langen Schnäbeln beobachteten. Wenn sie sich ans Wasser setzten<br />
und Käsebrote aßen und Maria ihren Kopf an Omas geblümten Arm<br />
lehnte, der nach Kuh und Lavendelseife roch.<br />
Sie hatten ihr eines dieser geblümten Kleider angezogen,<br />
hatten ihre weichen Locken auf einem bestickten Kopfkissen ausgebreitet<br />
und ihre kräftigen Hände über einer weißen Decke gefaltet.<br />
Maria hatte einen Stuhl herangezogen und ihr Profil betrachtet: die<br />
hohe Stirn, die gebräunte Haut, die gebogene Nase, das entschlossene<br />
Kinn. Als sie ihre Haare berührte und ihre eiskalten Hände umfasste,<br />
hatte sie darüber nachgedacht, wie hart, arbeitsreich und mühsam<br />
das Leben ihrer Großmutter gewesen war und dass sie sich, obwohl<br />
sie eine unglückliche Ehe mit einem cholerischen Despoten führte,<br />
nie beklagt hatte. Sie hatte lange an ihrem Sarg gesessen und sich ihr<br />
Gesicht einzuprägen versucht, weil es sich gleich, nach dem Schließen<br />
der Tür, davonstehlen und in einem inneren Nachbild verlieren würde.<br />
Marias Mutter hatte sich ihrer schwarzen Strumpfhose entledigt<br />
und scherzte mit ihrer Freundin Viktoria, während sie rauchte<br />
und einen Sanften Engel trank. Marias Bruder maßregelte die Kinder,<br />
die in ihren leuchtend weißen Hemden zum Wasser liefen. Hüpfend<br />
gaben sie sich der Aufeinanderfolge der Ereignisse hin. Wie sie<br />
eben dem Sarg ihrer Urgroßmutter gefolgt waren, liefen sie jetzt den<br />
Kanus hinterher und freuten sich über den gelben Hund, der sich losgerissen<br />
hatte und in die Wümme gesprungen war.<br />
Auf dem Weg zur Toilette stutzte Maria an der Tür. Im Schatten<br />
eines Sonnenschirms saß der kleine Mann. Neben seiner Kaffeetasse<br />
lag ein rotes Notizbuch und seine Brille. Sie schauten sich kurz<br />
an. Seine Brauen wuchsen über seine Augen wie winzige Reetdächer.<br />
Er tupfte seinen Schnauzbart mit seinem grünen Einstecktüchlein. Dabei<br />
wirkte er auf eine fragile Art vornehm und distinguiert. Er hätte<br />
einen Zylinder tragen und eben einer Kutsche entstiegen sein können.<br />
„Kennst du diesen kleinen Mann, der zu Omas Beerdigung<br />
gekommen ist?“, fragte Maria ihre Mutter, bevor sie aufbrachen. Die<br />
nickte, sog genüsslich an ihrer Zigarette, lächelte. „Friedrich. Sie<br />
haben sich 35 Jahre lang heimlich getroffen. Er war ihre große Liebe.“
lockland<br />
Sa, 15.02 Uhr<br />
Nähe Niederblockland 60<br />
Ein Reiher hat sich mitten in der<br />
flachen Wümme niedergelassen,<br />
steht stolz im Wasser und hält<br />
Ausschau nach dem nächsten Fisch.<br />
Bis drei Paddler im Kanadier um die<br />
Kurve biegen und er verschreckt<br />
davonflattert.<br />
16.40 Uhr<br />
Niederblockland, Hof Kaemena<br />
Die Sonne brennt, es ist ungewöhnlich<br />
windstill. Die meisten Wochenendausflügler<br />
haben dicke Schweißperlen<br />
auf der Stirn. Die Schlange,<br />
die zum rettenden Bio-Eis führt, wird<br />
nicht kürzer.<br />
16.41 Uhr<br />
Die Rennradfahrer, die den Deich<br />
entlangbrausen und noch keine<br />
Pause benötigen, müssen ausweichen<br />
vor den Wartenden.<br />
Mo, 18.11 Uhr<br />
Niederblockland 23<br />
Drei Männer mittleren Alters stehen<br />
lässig bei ihren sehr teuren Fahrrädern<br />
verschiedener italienischer<br />
Fabrikationen. Drei weitere Rennmaschinen,<br />
deren Hersteller nicht zu<br />
erkennen sind, liegen sanft gebettet<br />
im Gras am Straßenrand. Ihre Besitzer<br />
stehen dahinter, mit dem Rücken<br />
zur Fahrbahn, das Gesicht in Richtung<br />
Busch.<br />
28<br />
reportage<br />
×<br />
Eine Gruppe<br />
schwarz<br />
gekleideter<br />
Frauen<br />
rast auf Rollschuhen<br />
vorbei.<br />
29<br />
Fleischwölfe<br />
im<br />
zirkel<br />
Sie posen gern<br />
mit blutverschmierten Lippen<br />
und lassen ihre Schoner krachen.<br />
Dabei wollen sie nur spielen.<br />
Ein Schnupper-<br />
training beim Roller Derby<br />
Text: Daniel Weigel<br />
Fotos: Raphael Krämer<br />
Meana Wild hat noch zwei Meter bis zum<br />
Aufprall. Sie legt noch einen Zahn zu,<br />
späht nach einer Lücke. Mehr Schwung<br />
erhöht die Durchschlagskraft. Aber es<br />
gibt keine Lücke diesmal. Zeta Zlaughter<br />
und der Rest des Pack bilden einen<br />
dichten Block. Die Rollschuhe rauschen<br />
über den Linoleumboden der Turnhalle.<br />
Immer im Kreis. Immer vorwärts. Und<br />
Meana Wild muss durch. Sie geht in die<br />
Hocke, zieht ihre Schultern zusammen. Je<br />
tiefer der Schwerpunkt, desto stabiler<br />
fährt man. Das Pack macht sich breit,<br />
jedenfalls die vier aus dem gegnerischen<br />
Team. Sie legen es drauf an, verlangsamen<br />
ihr Tempo. Sie wissen, was jetzt kommt:<br />
der Crash.<br />
Zwei Spielerinnen gehen sofort zu Boden:<br />
eine Blockerin des gegnerischen Teams<br />
und eine aus Meanas Mannschaft, die ihr
lockland<br />
19.22 Uhr<br />
Blocklander Hemmstraße 15<br />
Links türmt sich der Müllberg, davor,<br />
direkt an der Straße, reihen sich die<br />
Gartenlauben. Rechter Hand wird’s<br />
malerisch, ein Bächlein, saftig grüne<br />
Felder. Dazwischen ein toter Igel,<br />
gekonnt umkurvt von einer kleinen<br />
Gruppe Frauen auf Inlineskatern.<br />
„War das ein toter Igel?“, fragt noch<br />
die eine.<br />
19.37 Uhr<br />
Niederblockland, Nähe Blocklander<br />
Hemmstraße<br />
Ein Zeitung lesender älterer Herr<br />
sitzt auf einer der zahlreichen Rastbänke<br />
im sanften Abendlicht. Ein<br />
Schnauzermischling liegt ihm zu<br />
Füßen, den Körper halb in der Sonne,<br />
halb geschützt vom Schatten eines<br />
nahen Baumes.<br />
×<br />
19.38 Uhr<br />
Eine Gruppe schwarz gekleideter<br />
Frauen rast auf Rollschuhen an<br />
ihnen vorbei. Weder Hund noch Herrchen<br />
blicken auf.<br />
Fleisch-<br />
wölfe im<br />
zirkel<br />
den Weg öffnen wollte. Sie haben sich<br />
verhakt, Ellbogen-, Knieschoner und Helme<br />
krachen. Ihr Sturz reißt eine Lücke,<br />
die Meana sofort nutzt. Kommandos fliegen<br />
durch die Luft. Doch Meana ist nicht<br />
mehr aufzuhalten. Schnell setzt sie sich<br />
vom Feld ab. Die am Boden liegenden<br />
Blockerinnen rappeln sich auf, stürmen<br />
dem Pulk hinterher.<br />
Roller Derby ist eine Mischung aus Bahnradfahren,<br />
Rollschuhlaufen und Rugby.<br />
Zwei Teams, die jeweils aus einer Jammerin<br />
und vier Blockerinnen bestehen.<br />
Alle acht Blockerinnen beider Mannschaften<br />
starten gemeinsam mit etwas Vorsprung<br />
vor den beiden Jammerinnen. Die<br />
müssen, um Punkte zu sammeln, möglichst<br />
viele gegnerische Blockerinnen<br />
überrunden.<br />
Der Crash hat Mara Marrowbone, die<br />
Jammerin des zweiten Teams, aufholen<br />
lassen. Auch sie muss durch das Pack hindurch.<br />
Und sie versucht es auf die exakt<br />
gleiche Weise wie Meana: schmal machen,<br />
tief in die Hocke gehen, und dann einfach<br />
mit Schwung rein in den Pulk. Bloß bleiben<br />
diesmal alle Blockerinnen auf den<br />
Beinen. Und Mara erstmal hintendran.<br />
Punkerinnen und<br />
Feministinnen<br />
Das erste Roller Derby findet 1935<br />
in Chicago statt, ein Bahnradrennen auf<br />
Rollschuhen. Je eine Frau und ein Mann<br />
bilden ein Team, das über mehrere Tage<br />
am Stück im Kreis fährt, etwa 57.000<br />
Runden. Im Laufe der Jahre ändern sich<br />
die Regeln – weg vom Renn-, hin zum<br />
Rempelsport mit neuem Punktesystem.<br />
Wie beim Wrestling kommt es zu abgesprochenen<br />
und vereinbarten handfesten<br />
Auseinandersetzungen zwischen den<br />
mittlerweile zu Profis aufgestiegenen Akteuren;<br />
die Stadien sind ausverkauft. Bis<br />
der Sport Ende der 1970er ausstirbt.<br />
Frauen aus der Punkbewegung und Feministinnen<br />
sorgen kurz vor der Jahrtausendwende<br />
für sein Comeback, erst in<br />
den USA, dann auch in Europa. Die Bremer<br />
Mannschaft gibt es seit etwa sechs<br />
30<br />
Jahren. „Sport organisiert von Frauen für<br />
Frauen“, drückt es Zeta Zlaughter aus.<br />
Ein Dutzend sind sie hier, zwischen 20<br />
und 40 Jahre alt, sie nennen sich Meatgrinders,<br />
auf Deutsch: „Fleischwölfe“. In<br />
das Logo ist ein Totenkopf miteingearbeitet.<br />
Und die Namen, die sich die Spielerinnen<br />
geben, sind ebenso martialisch wie<br />
die Porträtfotos, mit denen sie sich im<br />
Internet präsentieren.<br />
Frauen<br />
dürfen alles,<br />
Männer bloß<br />
als Schiedsrichter<br />
agieren<br />
S-quat Hammer etwa posiert mit Zigarette<br />
in blutverschmiertem Mund, Kirsty<br />
Knockbutt in Boxerpose. Und Christie<br />
Chainsaw, ebenfalls mit blutiger Kriegsbemalung,<br />
hält standesgemäß eine Kettensäge<br />
in den Händen. Auffallend viele der<br />
Spielerinnen sind tätowiert, ihre Piercings<br />
legen oder kleben sie vor dem Match ab.<br />
Einen gemeinsamen politischen Hintergrund<br />
verneinen sie.<br />
„Man darf nicht zimperlich sein“, erklärt<br />
Gese Geelbeen nach der Spieldemonstration<br />
den gut 20 Neugierigen, die zum<br />
Recruiting Day Ende Juni in die Sporthalle<br />
in der Spittaler Straße gekommen sind.<br />
Roller Derby ist eine sogenannte Vollkontaktsportart,<br />
erlaubt erst ab 18 Jahren.<br />
„Aber auch nicht gefährlicher als andere<br />
Sportarten.“ Geses ZuhörerInnen lachen.<br />
Sie selbst musste noch vor Kurzem eine<br />
Zwangspause einlegen, weil sie sich das<br />
Steißbein gebrochen hatte. Später werden<br />
die Interessierten, von denen einige<br />
seit Jahren nicht mehr auf Rollschuhen<br />
standen, selbst welche anziehen und ein<br />
paar Schnuppertrainingseinheiten absolvieren.<br />
Eine der ersten Übungen wird sein,<br />
richtig hinzufallen.<br />
Auf dem Spielfeld fordert das Schieben<br />
und Drängeln immer weitere Opfer. Jammerin<br />
Meana hat den Pulk, das Pack, zum<br />
zweiten Mal erreicht. Ab sofort bringt<br />
jede gegnerische Blockerin, an der sie erneut<br />
vorbeizieht, ihrer Mannschaft einen<br />
Punkt – weshalb ihre eigenen Mitspielerinnen<br />
im Pack alles dafür geben, ihr den<br />
Weg nochmals freizuschaufeln, und ihre<br />
Gegnerinnen mit allen Mitteln versuchen,<br />
sie am Durchkommen zu hindern.<br />
Es wird unübersichtlich jetzt. Während<br />
Meana, dicht hinterm Pack, noch auf eine<br />
Lücke lauert, schließt auch Mara wieder<br />
auf. Der Geräuschpegel schwillt an. Die<br />
Blockerinnen haben sich in Zweierteams<br />
aufgeteilt: je zwei, die versuchen, die eigene<br />
Jammerin durchzulotsen, und zwei,<br />
die die gegnerische zu blockieren suchen.<br />
Mit Wucht allein ist hier nichts auszurichten.<br />
Wer Punkte machen will, muss mit<br />
seinen Blockerinnen gut zusammenspielen.<br />
Muss ablenken, ausweichen, wendig und<br />
schnell sein und die Lücken nutzen. Muss<br />
die gegnerischen Blockerinnen austricksen,<br />
behindern, sich ihnen in den Weg stellen,<br />
ihren Bewegungsraum einengen. Rempeln<br />
mit der Hüfte, der Seite oder dem Hintern<br />
ist erlaubt, Schubsen mit den Händen,<br />
Beinstellen und Bodychecks dagegen sind<br />
tabu. Gute Mitspielerinnen eskortieren<br />
ihre Jammerin wie Bodyguards und gehen<br />
im Zweifel lieber selbst zu Boden, damit<br />
diese weiterkommt. Wer dagegen wirksam<br />
blocken will, macht sich möglichst<br />
breit und die Strecke damit eng, bremst<br />
die Gegnerin aus, drängt sie ab, nimmt sie<br />
in die Zange.<br />
Rüdes Spiel,<br />
strenge Regeln<br />
Die Geschlechterrollen beim Roller<br />
Derby sind klar getrennt. Frauen dürfen<br />
alles, Männer bloß als Schiedsrichter agieren.<br />
Davon aber braucht es – so groß ist<br />
der Tumult – fast so viele wie echte SpielerInnen.<br />
Drei allein, die Inside Pack Refs,<br />
rasen im aberwitzig kleinen Innenraum<br />
des Spielfelds im Kreis, immer auf Höhe<br />
des Pulks und der Jammerinnen, müssen<br />
zugleich hochkonzentriert auf die Spielbahn<br />
blicken und auf ihre eigene Route<br />
reportage<br />
31<br />
Der Stern auf dem Helm markiert die Jammerin —<br />
die Spielerin, die sich durchkämpfen muss. Nur sie<br />
kann Punkte machen für ihr Team<br />
Weltweit ist Roller Derby noch immer<br />
eine Nischensportart, von den USA mal<br />
abgesehen, die auch bei der ersten und<br />
bisher einzigen Weltmeisterschaft im<br />
Winter 2011 im kanadischen Toronto den<br />
Titel holten. Beim ersten europäischen<br />
Wettkampf, 2009, traten zehn britische<br />
und zwei deutsche Mannschaften gegen-<br />
achten. Das Spiel selbst mag rüde sein, einander an. Deutsche Meisterschaften<br />
die Regeln, was erlaubt ist und was nicht, gibt es erst seit 2010, Sieger in Berlin waren<br />
die Stuttgart Valley Roller Girlz.<br />
sind streng. Weitere Referees, die Outside<br />
Pack Refs, kreisen auf der Außenbahn<br />
um das Geschehen, Non Skating Officials<br />
notieren Punkte und Fouls. Im Selbstverständnis<br />
der Roller-Derby-Szene gehören<br />
Sie musste<br />
die Schiedsrichter mit zum Team; sie trainieren<br />
und lernen gemeinsam mit diesem<br />
eine<br />
und fahren auch mit zu den Spielen. In anderen<br />
Sportarten wäre das<br />
Zwangspause<br />
undenkbar.<br />
.<br />
einlegen –<br />
Steißbeinbruch<br />
Der Zusammenhalt in der Szene ist groß –<br />
vielleicht gerade deswegen, weil sie noch<br />
so klein und bislang alles noch so improvisiert<br />
ist. Beim Bremer Recruiting Day<br />
etwa ist wie selbstverständlich auch eine<br />
US-Spielerin dabei. Die hatte im Vorfeld<br />
ihres Aufenthalts an der Weser die Bremer<br />
Gruppe im Internet ausfindig gemacht und<br />
sogleich Kontakt aufgenommen.<br />
Wieder gehen zwei Blockerinnen bei dem<br />
Versuch, Meana zu stoppen, zu Boden.<br />
Zwei Punkte konnte die Jammerin bereits<br />
sammeln. Plötzlich gellt ein Pfiff durch die<br />
Halle: Genau zwei Minuten und damit der<br />
erste Spielabschnitt sind um. Nach ganzen<br />
30 Sekunden Verschnaufpause geht das<br />
Sprinten und Gerangel von vorne los. 60<br />
Minuten dauert eine Partie, der sogenannte<br />
Bout. Am Ende klatschen sich meist<br />
alle ab – keine Spur mehr von der Aggressivität<br />
des Spiels.
lockland<br />
Mo, 14.20 Uhr<br />
Carl-Krohne-Straße<br />
Grüne Wiesen, Bäume und Sträucher.<br />
Nur der Lärm erinnert hier an die<br />
Großstadt – hinter den Büschen<br />
rauschen Autos über die A 27:<br />
auf jeden Fall ein Fluchthindernis.<br />
14.40 Uhr<br />
Schwarzer Weg, kurz vor der<br />
Autobahnunterführung<br />
Am Straßenrand liegt eine tote<br />
Spitzmaus. Sie ist einsam<br />
gestorben – weit und breit niemand<br />
zu sehen.<br />
14.50 Uhr<br />
Carl-Krohne-Straße, vor den<br />
Wohnhäusern<br />
In einem Feld aus meterhohen<br />
Brennnesseln steht ein altes Fußballtor.<br />
Kicken nur in langen Hosen!<br />
32<br />
interview<br />
×<br />
Brauner Rost<br />
zieht sich die<br />
türkisfarbene,<br />
schwere Ein-<br />
gangspforte<br />
der Jugendvollzugsanstalt<br />
hinab.<br />
33<br />
26<br />
Monate<br />
Mit 20 überfiel er eine Bank und<br />
landete im Jugendknast.<br />
Ein Gespräch über das Leben hinter<br />
Gittern, Reue, böse Jungs und<br />
wie man sich auch in Freiheit noch<br />
gefangen fühlen kann<br />
Interview: Viola Diem<br />
Foto: David Schikora<br />
Einleitung: Im Jahre 1999 überfiel<br />
der damals 20-jährige Bremer, wir<br />
nennen ihn Fabian, eine Bank in<br />
Köln. Er wurde noch vor Ort gefasst,<br />
verhaftet und im November 1999<br />
zu einer Jugendstrafe von 26 Monaten<br />
verurteilt. Gut die Hälfte davon<br />
saß er in der Jugendvollzugsanstalt<br />
Blockland, dann wechselte er in den<br />
Erwachsenenvollzug.<br />
zds Erinnerst du dich an deinen ersten Tag<br />
im Gefängnis?<br />
Fabian ( name geändert) Das war im September<br />
1999, der Tag an dem Willy Millowitsch<br />
gestorben war. Und irgendein Idiot fragte mich<br />
noch: „Ey! Weißt du, wer tot ist?!“ – Ich sagte:<br />
„Ich hab echt andere Sorgen.“<br />
zds Fandest du deine Strafe selber angemessen?<br />
Fabian Ich bin sogar ganz gut weggekommen.<br />
Wäre ich als Erwachsener verurteilt worden,<br />
hätte ich fünf Jahre kriegen können.<br />
zds Aber erleichtert über das Urteil warst du<br />
trotzdem nicht.<br />
Fabian Nee, nee. Ich hatte eigentlich mit einer<br />
Bewährungsstrafe gerechnet. Mein Anwalt hatte
lockland<br />
×<br />
15.00 Uhr<br />
Carl-Krohne-Straße, ganz<br />
am Ende<br />
Brauner Rost zieht sich die<br />
türkisfarbene, schwere Eingangspforte<br />
der Jugendvollzugsanstalt<br />
hinab.<br />
Im Fenster nebenan hängt ein Zettel,<br />
der mit Bleistift informiert:<br />
„Der Jugend- und Frauenvollzug<br />
ist geschlossen“.<br />
15.30 Uhr<br />
Links neben der Gefängnismauer<br />
aus rotem Backstein liegt ein<br />
Tümpel, versteckt unter einer<br />
Algenschicht.<br />
15.45 Uhr<br />
Carl-Krohne-Straße<br />
Hinter dem Zaun eines Wohnhauses<br />
erschrecken, auf den Hinterbeinen<br />
stehend, zwei laut bellende Bernhardiner<br />
die wenigen Leute, die sich<br />
hierher verirren.<br />
26<br />
monate<br />
34<br />
interview<br />
35<br />
mir gesagt, er habe ’nen Deal mit dem Staatsanwalt,<br />
und ich bin dann guter Dinge reingegangen.<br />
Als dann die Verurteilung kam, war das<br />
zuerst schon bitter. Ich kann mich noch erinnern,<br />
was der Richter vor seiner Urteilsverkündung<br />
sagte: „Ihnen ist ja wohl klar, dass wir Sie aufgrund<br />
der Tat einsperren müssen. Hätten Sie<br />
sich einen Kiosk gesucht, oder einen ‚Schlecker‘,<br />
hätten wir drüber reden können. Aber zu einer<br />
Bank zu gehen, wo man das meiste holen kann,<br />
dafür gibt es keine Bewährung.“<br />
zds Die meisten Menschen kennen das Leben<br />
im Gefängnis nur aus dem Fernsehen. Da hängen<br />
die Häftlinge den ganzen Tag an den Eisengittern<br />
und es tropft von der Decke. Ist die Realität denn<br />
ganz anders?<br />
FAbian Es ist trocken in den Zellen, aber gemütlich<br />
wird es deshalb noch lange nicht. Ich<br />
habe mich zumindest in der ganzen Zeit nicht<br />
heimisch gefühlt. Manche versuchen das ja. Ich<br />
habe Zellen gesehen, die sahen aus wie das<br />
Jugendzimmer zu Hause – mit Postern an der<br />
Wand und Teppich auf dem Boden und toller<br />
Bettwäsche von Mama. Ich habe alles sehr schlicht<br />
gehalten: Schrank, Bett, Tisch, Stuhl, Regal,<br />
Waschbecken und Toilette. Und das auf acht<br />
Quadratmetern.<br />
zds Wie war die Stimmung?.<br />
fabian Es gab viel Langeweile und Tristesse.<br />
Es passiert ja nie was Neues. Jeder Tag ist wie<br />
der andere. Ich hatte wenigstens die Schule als<br />
Beschäftigung. Da habe ich meinen erweiterten<br />
Hauptschulabschluss nachgeholt und dafür gelernt<br />
oder was gelesen. Und ich habe bei der<br />
Knastzeitung mitgemacht. Sonst habe ich so viel<br />
geschlafen wie in meinem ganzen Leben nicht.<br />
zds Und außerhalb der Zelle wimmelte es von<br />
bösen Jungs?<br />
fabian Es gibt eine große Ansammlung krimineller<br />
Energie. Zum Beispiel hatte ich mit einem<br />
zu tun, der hatte seinen besten Freund kaltgemacht.<br />
Mit bloßen Händen. Im Jugendvollzug<br />
war es wie auf der Straße: Jeder wollte der<br />
Größte sein und sich profilieren. Da musste man<br />
sehen, dass man sich aus manchen Dingen raushält<br />
und sich gleichzeitig nicht unterbuttern lässt.<br />
Als ich für die letzten zwölf Monate in den<br />
Erwachsenenvollzug nach Oslebshausen kam,<br />
wurde es entspannter. Solange man keine<br />
Geschäfte einging und sich an die Vertragsregeln<br />
hielt, war alles gut.<br />
zds Geschäfte? Vertragsregeln?<br />
fabian Na wenn man zum Beispiel eine Telefonkarte<br />
reinschmuggeln lies, musste man<br />
natürlich auch rechtzeitig zahlen. Und man<br />
sollte nicht jeden blöd von der Seite anquatschen,<br />
sonst traf man den plötzlich in einer dunklen<br />
Ecke wieder …<br />
zds Klingt nicht so wirklich entspannt.<br />
fabian Es war auch oft sehr humorig, selbst<br />
an diesem Ort. Jeder hatte seine individuelle Lebensgeschichte,<br />
die einen auch schon mal zum<br />
Lachen brachte.<br />
zds Alles in allem, findest du, war es im<br />
Erwachsenenvollzug besser als im Jugendvollzug?<br />
fabian Ja, mir hat es besser gefallen. Im Jugendvollzug<br />
gab es diesen pädagogischen Schwerpunkt,<br />
mit dem ich nicht klar kam. Die wollten einem<br />
ständig erzählen, wie man ein besserer Mensch<br />
wird. Außerdem durfte man im Erwachsenenvollzug<br />
auch ’ne Playstation haben und im Jugendvollzug<br />
nicht. Da gab’s nur Fernseher und Radio.<br />
zds Wer ist der beste Kumpel im Knast?<br />
fabian Echte Freundschaften gibt es unter<br />
Häftlingen nicht. Das ist mehr eine Zweckgemeinschaft,<br />
wie bei der Bundeswehr. Ein zusammengewürfelter<br />
Haufen und man muss sich damit<br />
arrangieren. Klar versteht man sich mal mit<br />
jemandem gut und redet auch mal etwas<br />
privater, aber ein Großteil ist Geplänkel.<br />
zds Wer hat draußen auf dich gewartet?<br />
fabian Anfangs meine Frau. Ich war zu dem<br />
Zeitpunkt noch verheiratet und mein einziges<br />
Ziel war es, die Monate abzusitzen, um wieder<br />
bei ihr zu sein. Die Haft war schwierig für uns<br />
beide – sie draußen und ich auf der anderen<br />
Seite der Mauer. Man sagt immer: „Die beste<br />
Beziehung im Knast ist, keine zu haben.“<br />
zds Durfte deine Frau dich besuchen?<br />
fabian Ja, aber erst nach sechs Monaten. Sie<br />
saß auf meinen Schoß, wir haben uns angestarrt<br />
und geschwiegen. Einfach nur im Arm gehalten<br />
und das war’s. Kurz darauf bekam ich das erste<br />
Mal Freigang und konnte ein Wochenende zu ihr.<br />
Als sie mich dann später verlassen hat, habe ich<br />
meine Fenster zugehängt und bin 14 Tage nicht<br />
aus meiner Zelle gekommen.<br />
z ds Hast du mit einem Mithäftling darüber<br />
reden können?<br />
fabian Emotionen sind belastend und das weiß<br />
auch jeder. Man spricht im Knast nicht über<br />
seine Gefühle, sondern zieht seinen Tag durch<br />
und dann kommt auch schon der nächste. Wenn<br />
sich alle da ständig auslassen würden, würde man<br />
verrückt werden. Die Probleme der anderen<br />
erinnern einen nur an die eigenen.<br />
zds Wird man im Knast so härter im Nehmen?<br />
fabian Nee. Ich glaube, diese Härte, die von<br />
Häftlingen widergespiegelt wird, ist ganz oft<br />
aufgesetzt. Die sind äußerlich hart: Haare bis<br />
zum Arsch, tätowiert, immer einen coolen Spruch<br />
auf Lager. Das können sie ja alle. Aber wenn man<br />
mit denen mal tiefer ins Gespräch kommt, merkt<br />
man, da ist noch mehr.<br />
zds Was?<br />
fabian Viele von denen haben Frau und Kinder<br />
und wären lieber der Familienpapa, als sich im<br />
Knast gefrustet die Köpfe einzuschlagen.<br />
zds Wie ist das, wenn man Freigang bekommt<br />
und plötzlich wieder raus darf für kurze Zeit?<br />
fabian Wirklich seltsam. Ich saß dann bei<br />
alten Bekannten, die so alt waren wie ich, hatte<br />
aber keinen Plan mehr von ihrem Leben. Habe<br />
mir dann meistens einen gelötet, richtig gesoffen.<br />
Und dann wieder zurück zum Knast. Naja,<br />
manchmal ging das gut, manchmal nicht. In<br />
der Zeit im Blockland bin ich einige Male einfach<br />
nicht zurückgegangen bzw. erst einen Tag später<br />
und habe noch eine Nacht mit meiner Frau<br />
oder später halt in der Kneipe verbracht.<br />
zds Warum bist du nicht ganz ausgerissen?<br />
fabian Ohne Papiere? Ohne Geld? Noch mal<br />
eine Bank auszurauben, hätte ein paar Jahre mehr<br />
Knast bedeutet.<br />
zds Welche Konsequenzen hatte es, wenn du<br />
zu spät zurückkamst?<br />
fabian Ich hatte dann die nächsten drei bis<br />
sechs Monate keinen Freigang mehr. Und hätte<br />
ich mich am Riemen gerissen, hätte ich schon<br />
nach 18 Monaten auf Bewährung rauskommen<br />
können. So aber haben sie mich erst nach<br />
22 Monaten rausgelassen.<br />
zds Die Freilassung …<br />
fabian Ich bin mit meinem Köfferchen da raus<br />
und wusste: „Das war’s – hier komme ich nicht<br />
wieder her.“ Umgedreht habe ich mich nicht mehr.<br />
Einfach raus!<br />
zds Und dann?<br />
fabian Ich hatte mir ein Taxi bestellt, habe<br />
meine Klamotten zu meinen Eltern gebracht,<br />
geduscht und bin zum Friseur gegangen. Drei<br />
Jahre später kam dann der Brief vom Richter:<br />
Strafmakel ist getilgt. Das heißt, dass der Eintrag<br />
aus dem Führungszeugnis entfernt wurde.<br />
zds Ist damit auch für dich alles gegessen oder<br />
ist da noch Reue?<br />
fabian Die Tat an sich bereue ich gar nicht.<br />
Hätte es geklappt, würde ich mich ja auch nicht<br />
beschweren, sondern mit der Kohle irgendwo in<br />
der Sonne sitzen. Aber man denkt manchmal so:<br />
„Oh, hättest du die Frau nicht kennengelernt,<br />
hättest du den einen Job damals einfach weitergemacht<br />
– dann hättest du vielleicht andere<br />
Lösungswege für deine Probleme gefunden, als<br />
eine Bank zu überfallen.“<br />
zds Hat es dir nie leid getan, der Überfall?<br />
fabian Soll ich jeden Tag vor dem Einschlafen<br />
denken: „Oh, der arme Bankangestellte!“? Er hat<br />
seinen Job gemacht, ich meinen. Und ich saß<br />
dafür im Knast. Meine Sozialarbeiterin wollte,<br />
dass ich einen Täter-Opfer-Ausgleich mache und<br />
einen Blumenstrauß zur Bank schicke. Ich fragte<br />
sie, ob sie bescheuert ist: „Ich habe andere<br />
Sorgen, außerdem sitze ich hier schon dafür. Da<br />
schicke ich nicht noch Blumen!“<br />
zds Bist du jetzt ein anderer als vor dem Knast?<br />
fabian Zuerst dachte ich: nein. Was war schon<br />
passiert? Im Knast konnte ich nicht rausgehen<br />
und mich nicht treffen, mit wem ich wollte, aber<br />
ich hatte ein Dach über dem Kopf und was zu<br />
essen. Dann kam ich raus und hatte keinen Plan,<br />
was ich mit meinem Leben anfangen sollte und<br />
mit meiner Freiheit. Und plötzlich war es so<br />
ähnlich wie im Knast: Ich hatte Essen und eine<br />
Wohnung, aber ich fühlte mich trotzdem eingesperrt<br />
und von der Gesellschaft entfernt. Ich<br />
habe schwere Zeiten in Einsamkeit draußen<br />
erlebt. Da haben auch Schnaps und Drogen nicht<br />
mehr geholfen, den Kummer wegzustecken. Das<br />
war wirklich hart.<br />
zds Wann ist es besser geworden?<br />
fabian Das hat gedauert. Ich habe vier, fünf<br />
Jahre gar nichts gemacht. Ich hatte das Gefühl,<br />
ich müsste die zwei Jahre auf Teufel komm raus<br />
nachholen und alles, was ich mir da verkneifen<br />
musste: Disco, Partymachen, Frauen. Aber es<br />
ging nicht. Man kann die Zeit nicht einholen.<br />
zds Und wie ist es jetzt?<br />
fabian Ich arbeite im Projekt „Knastgewächse“.<br />
Wir möbeln die alte Gärtnerei des Blockland-Knasts<br />
wieder auf. Morgens um sechs<br />
klingelt der Wecker, dann geh ich zur Arbeit, und<br />
wenn ich nachmittags zu Hause bin, völlig<br />
erledigt, schaue ich noch ’ne Runde Fernsehen.<br />
Drogen und Alkohol habe ich seit anderthalb<br />
Jahren nicht angefasst. Ich bin eigentlich gerade<br />
da, wovor ich die ganzen letzten Jahre weggelaufen<br />
bin – ich habe ein ganz stinknormales<br />
Leben und irgendwie erfüllt es mich auch. So wie<br />
es ist, könnte es weitergehen. Nur ob ich immer<br />
gärtnern muss, das weiß ich noch nicht.
lockland<br />
So, 12.06 Uhr<br />
Kuhgrabenweg, Ecke Mittelweg<br />
Eine Frau hat ihren gelben<br />
„Beetle“ im Gras geparkt. Sie sitzt<br />
hinterm Steuer, Blick ins Grüne, und<br />
liest. Die Bänke in der Sonne sind<br />
allesamt leer.<br />
12.09 Uhr<br />
Kuhgraben<br />
Motorkähne tuckern gen „Kuhsiel“.<br />
Die Passagiere trinken Dosenbier.<br />
14.40 Uhr<br />
Niederblockland<br />
Eine Rampe führt hinab vom Deich<br />
ins Grünland. In der Ferne dösen<br />
Kühe, und eine Eule glotzt aus<br />
grünem Dreieck:<br />
„Landschaftsschutzgebiet“.<br />
36<br />
reportage<br />
×<br />
Ein Pärchen<br />
sitzt auf einer<br />
Bank, genießt<br />
den maler-<br />
ischen Blick.<br />
Warum das<br />
hier unter<br />
Schutz steht?<br />
„Damit das<br />
so bleibt.“<br />
37<br />
mit fluchtstreifen<br />
und eiergeld<br />
Für die einen ist es Bauland,<br />
für die anderen Betriebsfläche.<br />
Wer macht da erfolgreichen<br />
Naturschutz?<br />
Eine Exkursion über die Gräben<br />
Text: Armin Simon<br />
Fotos: Senya Corda<br />
Okay, man hätte es hören können, dieses<br />
jaulige Fiepsen. Wenn man drauf gepolt gewesen<br />
wäre. So wie Arno Schoppenhorst.<br />
„Guck mal da!“, ruft der und bremst<br />
verdammt abrupt. Links steigt ein Vogelschwarm<br />
aus der Wiese. „Kiebitze! Da<br />
hast du die! Geil!“ Es sind vielleicht<br />
50 Stück. „Das ist nichts“, wiegelt Schoppenhorst<br />
ab: „In ein, zwei Monaten sitzen<br />
die hier zu Tausenden.“ Blockland eben.<br />
Brutstätte und Futterplatz im Frühjahr,<br />
„man glaubt das nicht, was dann hier los<br />
ist“, beteuert der Vogelexperte; Etappenstation<br />
im Herbst; im Winter Aufwärmstube<br />
für sibirische und Zwergschwäne.<br />
Schoppenhorst setzt sein dickes Fernglas<br />
an, er hat einen winzigen weißen Punkt<br />
am Horizont zwischen Strommast und<br />
Wäldchen erspäht. „Silberreiher“, sagt er,<br />
aber da sind sie schon nicht mehr zu<br />
sehen. Und die Seeadlerfamilie, die sich<br />
irgendwo hier niedergelassen hat, zeigt<br />
sich erst gar nicht. Still liegen die Wiesen<br />
im farblosen Licht.<br />
Das ist ein bisschen das Problem des<br />
Blocklands: Es ist nicht immer gleich<br />
spektakulär. Man muss zum richtigen<br />
Zeitpunkt kommen und sich ein wenig<br />
auskennen, wenn man den Wert erkennen<br />
will. Diese Blume da am Wegesrand<br />
zum Beispiel – wieder so ein<br />
Bremsmanöver! Sieht aus wie eine Kornblume,<br />
blüht aber rosa und noch Ende<br />
September und steht, wie Schoppenhorst<br />
erklärt, auf der Roten Liste. Rainfarn,<br />
Beifuß, Knäuelgras und Distel sind ihre<br />
Nachbarn, alle nicht ganz so selten.<br />
„Hollerstadt“ und<br />
„Online-City“<br />
Das Blockland steht flächen deckend<br />
unter Landschafts-, ein nicht unerheblicher<br />
Teil sogar unter Naturschutz. Außerdem<br />
hält die EU ihre Hand<br />
zweifach darüber: Das Grünland ist als<br />
EU-Vogelschutz-, große Teile zudem als<br />
Fauna-Flora-Habitat-Gebiet (FFH-Gebiet)<br />
ausgewiesen. Eine Bebauung ist damit<br />
so gut wie ausgeschlossen. „Dieses<br />
Thema ist durch“, ist sich Schoppenhorst<br />
sicher. Vor nicht allzu langer Zeit sah<br />
das noch ganz anders aus. Pläne für
lockland<br />
×<br />
15.04 Uhr<br />
Niederblockland, Höhe<br />
Alte Wettern<br />
Ein Pärchen sitzt auf einer Bank,<br />
genießt den malerischen Blick<br />
ins Grüne und auf die pittoresken<br />
Brückchen über den Siel.<br />
Warum das hier unter Schutz steht?<br />
„Damit das so bleibt.“<br />
15.47 Uhr<br />
Blocklander Hemmstraße,<br />
südlich der Brücke<br />
über Klein Wümme<br />
Ein breiter, brauner Streifen zieht<br />
sich quer durchs Blockland Richtung<br />
Wümme: Eine mit Herbiziden<br />
totgespritzte Wiese, auf der künftig<br />
Hochleistungsgras wachsen soll.<br />
mit fluchtstreifen<br />
und<br />
eiergeld<br />
38<br />
reportage<br />
39<br />
Je später und je seltener die Wiesen gemäht werden und je<br />
weniger Dünger auf ihnen landet, desto besser für die Vögel<br />
eine „Hollerstadt“, „Hollerland-Trasse“,<br />
Gewerbe- und Wohngebiete bedrohten<br />
die Feuchtwiesen. Drei Jahrzehnte dauert<br />
der Kampf, bis die Bürgerschaft 1985 zumindest<br />
den größten Teil des Hollerlands –<br />
den Ostteil des Blocklands – unter Naturschutz<br />
stellt. Die Diskussionen um eine<br />
Bebauung bringt das nur wenige Jahre<br />
zum Erliegen. Dann schimpfen Politiker-<br />
Innen das Naturschutzgebiet „ein paar<br />
saure Wiesen mit Kühen drauf“. Von einer<br />
„Online-City“ jenseits der A 27 ist<br />
die Rede. Rollten nicht bald die Planierraupen,<br />
sei die Selbstständigkeit<br />
Bremens in Gefahr, heißt es; die Naturschutzfront<br />
wackelt. „Wenn jemand eine<br />
Milliarde investieren will, fällt die ganze<br />
SPD in der Hollerland-Frage um“, prophezeit<br />
Bürgermeister Henning Scherf.<br />
Zwar taucht nie ein Investor auf. Scherf<br />
jedoch empfiehlt schon im Vorgriff den<br />
Einsatz von Hechten, die die seltenen<br />
Fische in den Blocklander Gräben fressen<br />
sollen – damit der Naturschutz endlich<br />
seine Grundlage verliert. 2003 stimmt<br />
seine Partei im Koalitionsvertrag mit der<br />
CDU einer Teilbebauung des Naturschutzgebietes<br />
mehr oder minder zu.<br />
Die letzten<br />
echten Bauern:<br />
Ohne sie geht<br />
hier nichts<br />
Schoppenhorst, seit den 1980ern in der<br />
„Bürgerinitiative für den Erhalt des<br />
Hollerlands“ engagiert, hat all das noch<br />
in Erinnerung. Auch den großen Sieg: als<br />
sich der rot-schwarze Senat schließlich<br />
dem EU-Recht beugt und große Teile<br />
des Blocklands als europäische Naturschutzgebiete<br />
anmeldet. „Höchsten<br />
Schutz status“ genössen die wertvollen<br />
Feuchtwiesen und Gräben dort nun, sagt<br />
Schoppenhorst zufrieden. Aber reicht<br />
das, aus Sicht der Natur? Es reicht<br />
offensichtlich nicht. Das zeigt schon ein<br />
Blick in die Gräben links und rechts des<br />
Weges. Ein dichter, violetter Teppich<br />
bedeckt die Wasseroberfläche. „Azolla“,<br />
sagt der Ökologe. Ein Übermaß an<br />
Nährstoffen lässt die Algenfarne sprießen.<br />
„Alles erstickt“, kommentiert Schoppenhorst.<br />
Mehr Gras, mehr Kühe, mehr<br />
Milch: Das geht nur mit mehr Dünger,<br />
mehr Gülle, mehr Mähgängen. Links drängeln<br />
sich die Rindviecher neugierig ans<br />
Gatter, das Weidegras hinter ihnen steht<br />
saftig und grün. Aber statt 40, 50, manchmal<br />
sogar 90 verschiedener Arten, wie<br />
sie auf nährstoffärmeren Wiesen wachsen,<br />
findet man hier nur ein gutes Dutzend.<br />
Und Düngen kann man Bauern<br />
nicht einfach verbieten.<br />
„Man muss wissen, was man überhaupt<br />
will“, sagt Schoppenhorst deswegen,<br />
während er wieder in die Pedale tritt und<br />
sein Rad weg vom Schotterweg an ein<br />
paar Bäumen vorbei auf den kleinen<br />
Deich lenkt, der sich neben der Semkenfahrt<br />
nach Norden streckt. Auch aus<br />
Naturschutzsicht kann man nicht alles<br />
zugleich haben. „Hier sind das Ziel die<br />
Wiesenvögel.“ Das bedeutet: Lieber eine<br />
etwas artenärmere Wiese als eine ohne<br />
dichtes Gras. Denn das brauchen die Kiebitze<br />
und Rotschenkel, Großen Brachvögel,<br />
Uferschnepfen, Bekassinen, Schafstelzen,<br />
Wiesenpieper, Feldlerchen und<br />
Braunkehlchen, Rebhühner und Wachteln,<br />
Rohrdommeln, Schilfrohrsänger, Blauund<br />
Schwarzkehlchen und wie sie alle<br />
heißen. Sie brauchen es zum Brüten und<br />
um sich zu verstecken.<br />
Das Blockland: ein von Natur aus nährstoffarmes<br />
Niedermoorgebiet, einst<br />
undurchdringliches Marschland, Erlenbruchwald,<br />
der zweimal täglich unter<br />
Wasser stand. Im 12. Jahrhundert kam der<br />
Mensch und legte Gräben an. Sie führen<br />
das Wasser ab, machen das Land urbar –<br />
eine der ältesten Kulturlandschaften der<br />
Region. Im Blockland wirtschaften die<br />
letzten echten Bauern Bremens. Ohne sie<br />
geht hier nichts. Das muss man klar<br />
haben, wenn man einen Job wie Arno<br />
Schoppenhorst hat. „Schutzgebietsmanager“<br />
lautet die offizielle Bezeichnung,<br />
die er seit vier Jahren trägt; die EU und<br />
Bremen geben Geld dafür, dass die Vögel<br />
möglichst viel vom EU-Vogelschutzgebiet<br />
haben, dass es Moorfröschen und Libellen,<br />
Steinbeißern und Schlammpeitzgern,<br />
Woll- und Sauergräsern sowie all den anderen<br />
wertvollen Tier- und Pflanzen arten<br />
gut geht. Schoppenhorst selbst nennt sich<br />
lieber „Kümmerer“: Er hat nicht das Sagen<br />
hier. Er ist nur ein nebenberuflicher<br />
BUND-Mitarbeiter, der dafür sorgen<br />
muss, dass alle gut miteinander auskommen,<br />
Vögel und Bauern, Mensch und Natur.<br />
Denn sonst klappt das nicht.<br />
Vogelschutz vom<br />
Trecker aus<br />
Der Weg ist holperig jetzt, die Fahrspur<br />
in der dichten Grasnarbe schon<br />
nicht mehr zu erkennen. Trotzdem lotsen<br />
manche Navis noch hierher. Das ärgert<br />
den Bauern vorne, denn der Weg führt<br />
über seinen Hof und überhaupt gilt hier,<br />
wie überall im Blockland jenseits der wenigen<br />
geteerten Straßen, „Durchfahrt<br />
verboten“. Selbst Schoppenhorst muss jedes<br />
Mal noch fragen. Angefangen hat seine<br />
Arbeit hier ganz klein. Er wollte Kiebitze<br />
schützen, verhandelte mit den Bauern,<br />
ob er die Gelege auf den Wiesen mit<br />
Bambusstöckchen markieren dürfe. Er<br />
musste viel erklären. Am Ende hat es allzu<br />
oft dann doch nichts genützt. Zwar<br />
schlüpften die Küken unversehrt. Dann<br />
aber gerieten sie bei der Nahrungssuche<br />
in die Mähwerke oder fielen auf den ratzekahl<br />
gemähten Wiesen Raubvögeln zum<br />
Opfer. Arno Schoppenhorst, der im<br />
Hauptberuf Gutachten schreibt und landschaftsökologische<br />
Begleitpläne für Bauvorhaben<br />
entwirft, verhandelte also weiter.<br />
Über Fluchtstreifen am Wiesenrand,<br />
über Deckungskulturen, vogelschonende<br />
Mähtechniken, zeitversetztes Mähen und<br />
vogelkundige BeifahrerInnen auf dem<br />
Trecker. „Ein Gelegeschutz ohne ein Kükenschutzprogramm<br />
macht keinen Sinn“,<br />
sagt er. In der Kombination jedoch ist der<br />
Erfolg enorm. Vier von fünf Brutpaaren<br />
im Blockland kriegen inzwischen Gelege<br />
und Küken durch.<br />
Der Naturschutz, ärgert sich Hinrich<br />
Bavendamm, Präsident der Bremer Bauern<br />
und selbst Blocklander, beschneide<br />
die unternehmerische Freiheit: Auflagen,<br />
Verbote, und überhaupt: „Man kann ständig<br />
unangemeldet kontrolliert werden.“<br />
Anfangs hatte Arno Schoppenhorst Mühe,<br />
einen einzigen Landwirt zu finden, der<br />
sich auf seine Vogelschutzspierenzchen<br />
einlassen wollte. Inzwischen gibt es keinen<br />
einzigen Betrieb mehr, der nicht auf<br />
die eine oder andere Art mitmacht.<br />
Spätestens seit die EU das Blockland unter<br />
Schutz stellte, ist klar: Gelingt es<br />
nicht, beide Interessen zufriedenzustellen,<br />
riskiert die Landwirtschaft, den Kürzeren<br />
zu ziehen.<br />
„Viele Betriebe haben sich auf den Naturschutz<br />
eingestellt“, sagt Bavendamm.<br />
Zumal ja auch der Geld bringt: Bis zu<br />
400 Euro für jeden Hektar Wiese, der<br />
nicht mehr gedüngt sowie seltener und<br />
später im Jahr gemäht wird. Und 25 Euro<br />
für jedes Nest, um das der Trecker einen<br />
Bogen fährt – sofern der Nachwuchs<br />
durchkommt. Rund 12.000 Euro „Eiergeld“<br />
zahlt Schoppenhorst jedes Jahr an<br />
die Bauern aus, bar auf die Hand. Nicht<br />
selten wird er danach noch auf einen<br />
Schnaps eingeladen. Der Landschaftsund<br />
Tierökologe, lobt Bavendamm, sei<br />
„ein guter Puffer zwischen Bauern und Behörde“.<br />
Vor allem aber „stellt er sich ganz<br />
geschickt auf unsere Mentalität ein“. Acht<br />
VogelschützerInnen stehen bereit, zum<br />
Mähen mit auf den Trecker zu steigen.<br />
„Stopp!“ rufen sie, wenn sie was haben<br />
flattern sehen vorne in den Halmen.<br />
12.000 Euro<br />
„Eiergeld“<br />
zahlt er jedes<br />
Jahr aus, bar<br />
auf die Hand<br />
Sie springen runter, laufen die fünf Meter<br />
vor. Ein Blick klärt schnell: Der Vogel saß<br />
hier nicht zum Spaß, er hat gebrütet. Der<br />
Trecker macht einen kleinen Bogen um<br />
die Stelle, der Vogelnachwuchs überlebt. Es<br />
gab Bauern, seit Jahrzehnten auf den Wiesen<br />
hier zugange, die nach einer solchen<br />
Fahrt erzählten, sie hätten zuvor noch nie<br />
ein Kiebitznest gesehen.<br />
Ein Strom führender Draht versperrt den<br />
Weg. Mit einer Plastikflasche hält ihn<br />
Schoppenhorst beim Passieren auf Abstand.<br />
Er nimmt Freiwillige mit zum Nestermarkieren,<br />
führt Kinder über die Wiesen<br />
zum Kükenstreicheln. Naturerlebnis<br />
ist der erste Schritt zum Naturschutz.<br />
Im Blockland ist das manchmal schwer,<br />
schon, weil man – vom Schlittschuhlaufen<br />
auf der Semkenfahrt mal abgesehen – im<br />
Prinzip nur vom Rand gucken kann. Ein<br />
Naturerlebnispfad, eine Aussichtsplattform,<br />
vielleicht auch ’ne gut gemachte<br />
Infotafel – das sei, sagt Schoppenhorst,<br />
alles noch „auf der Ideenebene“. Kostet<br />
schließlich Geld. Und geht nur, wenn die<br />
Bauern mitziehen. Vorerst bietet er<br />
Touren an für den BUND, beinahe jede<br />
Woche, mal mit dem Paddelboot, mal mit<br />
dem Fahrrad, mal zu Fuß über die Wiesen.<br />
Es geht um den Spaß in der Natur,<br />
und darum, ihre Schönheit und ökologische<br />
Bedeutung zu vermitteln. Einige<br />
Hundert Interessierte schleust er so jedes<br />
Jahr durch, dazu kommen Vorträge<br />
und Fortbildungen. Es ist ein präventiver<br />
Schutz gegen die Betonlobby. Nur manchmal,<br />
an Tagen wie heute, da kommt einfach<br />
niemand.
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