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über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“ (Huizinga 1930: 86). Glücklicherweise ist die<br />
Möglichkeit zur Dekonstruktion schon im Wesen einer solch historischen Herleitung des negativen<br />
Amerikabildes angelegt. Im Folgenden soll es daher nicht nur darum gehen, ein Bild zur<br />
aktuellen Lage des Anti-Amerikanismus und seiner Verbreitung in der deutschen Gesellschaft<br />
zu zeichnen. Dieser Essay will vor allem den Versuch unternehmen, die Proliferation des Topos<br />
der Kulturlosigkeit, des „amerikanischen Ungeists“, nachzuvollziehen.<br />
Deutsche Kultur und „bloße Zivilisation“<br />
Die Suche nach dem Ursprung der Kulturlosigkeit hat dabei in der deutschen Romantik einige<br />
Aussicht auf Erfolg. 2 Das romantische Denken begriff sich als Ausdruck einer organisch gewachsenen<br />
deutschen Kultur, die einer Pflanze gleich in der Geschichte des Abendlands wurzelte.<br />
Dem damit einhergehenden verklärenden Blick auf die Vergangenheit – vor allem das<br />
Bild eines Mittelalters der Sängerkriege; der Frömmigkeit und der bodenständigen deutschen<br />
Werte – wurde die Wahrnehmung der „jungen“ Nation der Vereinigten Staaten entgegengesetzt.<br />
Als Einwanderungsland aller europäischen Religionen und Bevölkerungsgruppen bestand<br />
für die USA die Notwendigkeit, die herkömmlichen Legitimationsformen vieler europäischer<br />
Nationalstaaten zu überwinden. Statt der Vorstellung einer religiös oder ethnisch begründeten<br />
Nation mit einer gleichsam natürlichen Gesellschaftsordnung liegt in der Verfassung der USA<br />
das Konzept einer ausschließlich politischen Nation begründet, deren Mitglieder die gleichen<br />
Rechte und Pflichten teilen. Die Kritik dieser Verwirklichung der Prinzipien von Freiheit und<br />
Gleichheit im Denken der Romantik war zum einen eine Strategie zur Rationalisierung der noch<br />
nicht erreichten eigenen politischen Emanzipation. In den amerikanischen Verhältnissen wurden<br />
die ersehnten, aber doch nicht erreichten bürgerlichen Freiheiten als unwirklich und abstrakt<br />
geschmäht. Die Betonung einer genuin deutschen Kultur war zum anderen dazu geeignet,<br />
im Flickenteppich der deutschen Kleinstaaten und Fürstentümer die Imagination einer allumfassenden<br />
Gemeinschaft aufrecht zu erhalten. Das Feindbild Amerika war in diesem Sinne zwar<br />
nicht real, aber durchaus funktional.<br />
Eines der bekanntesten Produkte der romantischen Ausprägung des Anti-Amerikanismus<br />
ist wahrscheinlich Ferdinand Kürnbergers 1855 erschienener Roman Der Amerika-Müde.<br />
Kürnberger teilte mit einigen nachfolgenden Proponenten des Anti-Amerikanismus den Beruf<br />
des Feuilletonautors und publizierte bei mehreren österreichischen Tageszeitungen. Sein Buch<br />
war zum Zeitpunkt seines Erscheinens ein kommerzieller Erfolg und richtete sich vordergründig<br />
gegen das 1838 erschienene Werk Die Europamüden von Ernst Willkomm und hintergründig<br />
gegen das positive Bild der Vereinigten Staaten im Liberalismus des Vormärz, das vor allem<br />
an die Prinzipien der US-amerikanischen Verfassungsordnung anschloss. Max Weber beschrieb<br />
Kürnbergers Werk als „geist- und giftsprühende[s] 'amerikanische[s] Kulturbild'“, und<br />
in der Tat enthält das Buch vor allem den überspitzten Gegensatz zwischen „Deutschtum“ und<br />
„Amerikanertum“, der im Rahmen der Erfahrungen einer Gruppe deutscher Auswanderer nach<br />
der Revolution von 1848 erzählt wird (Weber 2010: 76). Auf der einen Seite stand die deutsche<br />
2<br />
Bei der Beschreibung des Anti-Amerikanismus in dieser Epoche bleibe ich auf die Studie von Hildegart<br />
Meyer angewiesen, die für dieses Thema auch heute noch als maßgeblich gelten kann; siehe:<br />
Meyer, Hildegard (1929): Nord-Amerika im Urteil des deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts. Eine Untersuchung über Kürnbergers ’Amerika-Müden’, Hamburg.<br />
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