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Doch es ängstet mich ein Land<br />
Wo die Menschen Tabak käuen<br />
Wo sie ohne König kegeln<br />
Wo sie ohne Spucknapf speien 3<br />
An weiteren Beispielen herrscht kein Mangel: Amerika als Potenzierung der zerstörerischen<br />
Kräfte der Aufklärung, der Individualisierung, der Säkularisierung, der Zerstörung aller<br />
kulturellen Grundlagen der eigenen Gemeinschaft. Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten als<br />
abstrakt, gleichgültig, künstlich und unlebendig, lediglich als System der gegenseitigen Duldung<br />
ohne geistige Grundlage.<br />
Nun ist einzuschränken, dass die Reichweite des Vorwurfs der Kulturlosigkeit im romantischen<br />
Anti-Amerikanismus nicht überschätzt werden sollte. Die dokumentierten Stereotype<br />
sind nicht repräsentativ für das gesamte Denken jener Epoche und stehen insbesondere im Konflikt<br />
mit dem positiven Bild der Vereinigen Staaten im deutschen Liberalismus und Vormärz.<br />
Auch hegten viele der Urheber des Anti-Amerikanismus selbst ein ambivalentes Bild der USA,<br />
das sich vielleicht am besten als Mischung zwischen positiven und negativen Ressentiments<br />
beschreiben ließe. Dennoch kann die Romantik als Ursprung jener Topoi gelten, die auch im<br />
heutigen Anti-Amerikanismus noch Anwendung finden.<br />
Die Ideengeschichte eines kulturlosen Kontinents<br />
In der historischen Entwicklung wurde die Idee eines kulturlosen Amerikas nicht immer in der<br />
gleichen Intensität in der deutschen literarischen Öffentlichkeit vertreten. Die Berichterstattung<br />
über den Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) vermochte zum Beispiel nicht, anti-amerikanische<br />
Ressentiments im größeren Maßstab zu schüren. Auch ihr Gehalt hat sich nach Biedermeyer,<br />
Romantik und Restauration gewandelt und wurde um neue inhaltliche Facetten erweitert.<br />
Dabei wurde das sich abzeichnende Grundmuster einer vor allem auf Ökonomisierung<br />
und Materialismus zurückzuführenden defizitären Entwicklung allerdings beibehalten.<br />
Das Wiederaufflammen des Anti-Amerikanismus lässt sich erst wieder in den Jahren zwischen<br />
der Reichsgründung 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs beobachten. Der Bedeutungswandel<br />
des Topos der Kulturlosigkeit ging zum einen mit dem Aufstieg der deutschen<br />
Spielart des Nationalismus einher. Die Phantasien eines Deutschen Reiches mit globalem Einfluss<br />
beliefen sich bekanntlich nicht nur auf die Sphäre des Militärischen und Politischen, sondern<br />
auch auf den Bereich der Kultur im Wettbewerb der Nationen. Die Überhöhung der eigenen<br />
Nation lebte in diesem Fall von der Stigmatisierung des jeweils anderen. Der schon etablierte<br />
Topos der Kulturlosigkeit erfreute sich in der Konkurrenz der Großmächte folglich einer<br />
wachsenden Beliebtheit. Das Bild der Vereinigten Staaten war in einem bisher ungekannten<br />
Maße mit der Wahrnehmung einer Bedrohung verbunden. Unter dem Stichwort der „Amerikanisierung“,<br />
das der Brite William T. Stead am Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt gemacht<br />
3<br />
Heinrich Heine (1992): Romanzero Gedichte 1853 und 1854, Lyrischer Nachlaß, bearb. von Frauke<br />
Bartelt und Manfred Windfuhr (= Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke 3.1.), Hamburg: S.<br />
102.<br />
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