04_Wagner_Heime

Ebenfalls im Jahr 1960 wurde, wie erwähnt, die Bevölkerung in
der DDR mit dem Impfstoff nach Sabin immunisiert. Wie eine Publikation
berichtet, standen im Rahmen dieser Impfaktion für die
Prüfung des Polioimpfstoffes nach Sabin „insgesamt 27 Kinder eines
Heimes zur Verfügung […], die sich 1960 in einem Alter von
10–14 Jahren befanden“. 54 Der Impfstoff „wurde als tiefgefrorenes
Konzentrat vom Institut für Viruspräparate, Moskau, geliefert “. 55
5.2 Protokolle aus den Behringwerken
Blicken wir noch einmal zurück auf die Mitte der 1950er Jahre, als
es um die Einführung des Impfstoffes nach Salk ging. Dessen einziger
Hersteller in der BRD waren die Behringwerke in Marburg.
Verschiedene Dokumente aus dem Werksarchiv geben einen Einblick
in die Diskussion der Forschenden mit Vertretern der Gesundheitsbehörden
um die Prüfung des Impfstoffes.
Prof. Richard Haas, Leiter des humanmedizinischen Forschungszweigs
der Behringwerke in Marburg / Lahn, 56 schildert in einem
vom 26. Juni 1954 datierten Schreiben an den Ministerialdirigenten
Dr. Buurmann, Gesundheitsabteilung des Bundesministeriums des
Innern, dass die experimentellen Vorarbeiten zur Entwicklung eines
Präparates zur aktiven Schutzimpfung gegen die spinale Kinderlähmung
inzwischen ein Stadium erreicht hätten, „welches die
Erprobung des Impfstoffes am Menschen in Kürze notwendig erscheinen
lässt“. 57 Professor Haas bittet in dem Brief Dr. Buurmann
53
Ebenso unterstützt dieser Fall die Vermutung ehemaliger Heimkinder, bei denen
Lumbalpunktionen durchgeführt worden waren, dass diese Untersuchungen im
Zusammenhang mit Arzneimittelprüfungen zu sehen sind.
54
Joachim Schmidt / Günter Naumann, Untersuchungen über den Nachweis
neutralisierender und komplementbindender Antikörper nach oraler Poliomyelitis-
Schutzimpfung, Klinische Wochenschrift, 43 (1965), 10, S. 562–563, hier S. 562.
55
Ebd.
56
Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Frankfurt am Main
1997, S. 476 ff.
57
BAM 1870; Schreiben vom 26. Juni 1954 von Prof. R. Haas an Ministerialdirigent
Dr. Buurmann.
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