04_Wagner_Heime

tuell verschärfte Isolation für die Durchführung der Versuche muss
daher zu stärkeren Auswirkungen in diesem Sinne geführt haben
(siehe Abschnitt 5.3).
Mit Bezug auf die Gefahr der Virusübertragung vom Impfling
auf die ungeimpfte Umgebung erklärten 1962 namhafte Rechtsgelehrte
in Gutachten „die Schluckimpfung für unvereinbar mit dem
Grundgesetz und dem Strafgesetz“. 176 Dies muss für eine Prüfung
umso mehr gegolten haben. Um die Kinder vor einer Poliomyelitiserkrankung
zu schützen, hätten sie auch mit dem weit weniger gefährlichen
und bereits auf dem Markt befindlichen Impfstoff nach
Salk immunisiert werden können.
Zur Frage der Zustimmung sei schließlich erwähnt, dass auch
eine Einwilligung sicherlich nicht jeden Versuch rechtfertigen kann.
In einem rechtswissenschaftlichen Beitrag aus dem Jahr 1979 heißt
es dazu, dass Eltern minderjähriger Probanden mit der Einwilligung
zu wissenschaftlichen Versuchen ohne unmittelbaren Heilund
Diagnosezweck „an die Grenzen ihrer – im deutschen Recht
durch § 1627 BGB festgelegten – Befugnisse [geraten], da die Versuche
nicht dem Wohl des Kindes dienen“. 177 Grundsätzlich kann
eine Untersuchung an nicht einwilligungsfähigen Probanden ohne
direkten Nutzen für die Probanden, aber verbunden mit erheblichem
Risiko, nach den Bestimmungen des Nürnberger Kodex und
der Deklaration von Helsinki nicht gerechtfertigt sein (vergleiche
Abschnitt 3).
Es kann auch nicht das Argument gelten, dass die Impfstoffversuche
an den Heimkindern dem Allgemeinwohl dienten und damit
das Individualwohl zurückgestanden hätte. Wenn es um das Allgemeinwohl
geht, dann müssen auch die Risiken gleichmäßig auf alle
sozialen Schichten verteilt werden. Und im Sinne des Allgemeinwohls
wären die sozial und gesundheitlich Schwachen – wie die
Heimkinder – am ehesten zu schützen.
176
Günther, Grundlagen (wie Anm. 30), hier S. 437.
177
Gerfried Fischer, Medizinische Versuche am Menschen. Göttinger Rechtswissenschaftliche
Studien Band 105. Göttingen 1979, S. 34.
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