Britzer Heimatbote Oktober/November/Dezember 2010

Seite 10
Chronik Ilgen
Britzer Heimatbote
nicht einmal dachte. Zu jener
Zeit begann auch mein Unterricht,
den ich im Violin- und Klavierspiel
erhielt. Bald konnte ich
auch damit im Konzerte dienen.
Und später bildete sich sogar
ein eigenes Konzert der Primaner,
und als die Wolf'sche
Schauspielertruppe sich längere
Zeit in Schmalkalden aufhielt,
fand ich als Glied eines
Orchesters freien Zutritt. Auch
da waren Anschauungen genug
zu bearbeiten, die ich in meine
Einsamkeit mit zurücknahm.
Einsamkeit? wird man fragen.
Ja! Das Hervortreten und Auftreten
war das Werk einzelner
Tage und Stunden. Die meiste
Zeit verstrich nur in dem Kreise
der schon erwähnten Tätigkeit.
Freilich kamen Tage, wo ich fast
gar nicht nach Hause kam und
darum auch nichts zu essen erhielt,
ja gestraft wurde, aber
dann war ich doch auch mit
meinen Gesellen in einer Art
Einsamkeit gewesen, wo irgend
eine Arbeit vollführt wird.
(2. Fortsetzung s. auch Ilgeniana
Nr. 1 S. 4 und Nr. 2 S. 3)
Da ich einen taubstummen Bruder
(Nr. 13 der Stammtafel) und
Vetter hatte, zu denen noch
zwei andere Taubstumme
kamen, so sass sich oft bei ihnen
in der großen Ofenecke und
erzählte ihnen Geschichten.
Alles ging stockstumm bei diesem
Erzählen her. Nur das
Minenspiel bezeichnete die
Distinktionen der Gegenstände,
Personen und Vorfälle. Wenn
dann etwas Komisches gemalt
oder etwas Schreckliches
gezeichnet wurde so brach auf
einmal ein lautes Gelächter
oder ein tiefes, klägliches
Gestöhn meiner Zuschauer aus.
Das ward Ursache, dass mein
Gesicht eine Menge von
Beweglichkeiten in allen Zügen
und Gestikulation eine fast
übermächtige Lebendigkeit
annahm.
Man denke, dass ich diesen armen
Brüdern Geschichten aller
Völker erzählte und für jedes
Volk eine Bezeichnung fand
welch sie fest fassten. Diese
Beziehung, einmal bekannt,
durfte ich dann auch abkürzen
oder nur andeuten, und sie war
ebenso kurz wie ein Wort und
ein Name. Wie drängte mich da
die Notwendigkeit, die wirklichen
Unterscheidungsmerkmale
der Völker in Gestalt, Sitten,
Taten zu denken und zu
greifen.
Eine wesentliche Übung, die
meinem Geschichtsstudium
frühe eine Schärfe
gab. Und wir hatten in
des Vaters Bibliothek
einen großen Bilder-Folianten
über Weltgeschichte.
Den verschlang ich mit
allen Einzelheiten, was
mir für die Schule und
Universität von grossem
Nutzen war.
Einer anderen jugendlichen
Unterhaltung gedenke
ich mit freudigem
Herzen. Die Tertianer
mussten alle Leichenzüge
mit Gesang zum
Totenhofe begleiten und
in der Totenhofkirche
beim Trauergottesdienst
singen. Während der
Predigt durften wir dann
im Winter in das nahe
Spital gehen und uns um
den Ofen setzen. Da war es
dann Sitte, dass einer den
Erzähler machte. Die Reihe
wechselte. Jeder gab sich Mühe,
etwas Schönes aus der Geschichte
aufzutischen. Noch
jetzt staune ich, was junge
Menschen vermögen, wenn sie
wollen.
(wird fortgesetzt)
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