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2·2012 - Österreichisches Bibliothekswerk

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impulse<br />

Schrecklich unermesslich<br />

: virtuelle und andere Abgründe<br />

von Brigitte Krautgartner<br />

Die Sonne steht tief am Himmel, bald wird<br />

sie im Meer versinken. Ein paar Wölkchen<br />

verleihen dem Schauspiel noch zusätzlichen<br />

Reiz, sie haben goldene Ränder wie in den<br />

kunstvollen Malereien einer Barock-Kirche.<br />

In der Land’s End Tavern herrscht nicht mehr<br />

viel Betrieb. Der Wirt macht die Abrechnung<br />

und genehmigt sich jetzt selber ein Glas Wein.<br />

Den ganzen Tag war viel los, er ist regelrecht<br />

heimgesucht worden von den Besuchern der<br />

idyllisch gelegenen Badebucht. Inzwischen<br />

haben sie sich fast alle auf den Heimweg gemacht,<br />

zwei Touristen warten noch mit gezückten<br />

Kameras auf den Sonnenuntergang.<br />

Der Wirt der Taverne am Ende der Welt kennt<br />

den Rhythmus seiner Gäste, er hat sich seit<br />

Jahren nicht wesentlich verändert.<br />

Kap Finisterre, so heißt ein Landzipfel, der in<br />

Nordspanien in den Atlantik hineinragt – auch<br />

ein Ende der Welt. Die meisten Jakobsweg-<br />

Pilger wissen davon zu berichten, denn wer<br />

es bis nach Santiago geschafft hat, der besucht<br />

auch meist diesen besonderen Ort.<br />

Ob die Römer, die dem Ort diesen Namen<br />

gegeben haben, wirklich geglaubt haben,<br />

dass hier die Welt endet? Dass man hier früher<br />

oder später von der Scheibe hinunterfällt,<br />

wenn man sich – mit einem Boot etwa<br />

– zu weit hinauswagt? Vielleicht dachten sich<br />

226<br />

bn 2012 / 2<br />

©<br />

H Matthew Howarth<br />

viele Familien, die Angehörige auf See verloren<br />

hatten, die Männer seien einfach zu weit<br />

hinausgefahren und hätten den Rand der<br />

Weltscheibe nicht bemerkt? Waren die Seefahrer<br />

damals darauf bedacht, sich vor einem<br />

Abgrund in Acht zu nehmen, den es gar nicht<br />

gab? Wollten sie einen Absturz vermeiden,<br />

der ihnen gar nicht gedroht hätte?<br />

Virtuelle Abgründe haben eine fatale Auswirkung:<br />

Sie führen dazu, dass man sich nicht zu<br />

weit vorwagt, in unbekanntes Terrain, obwohl<br />

das durchaus möglich wäre, obwohl es Neues<br />

zu entdecken gäbe, Erfolge zu verbuchen, Pionierleistungen<br />

zu vollbringen.<br />

Virtuelle Abgründe sind von zentraler Bedeutung<br />

für all jene, die nicht wollen, dass sich<br />

die Dinge verändern: Mit ihren beständigen<br />

Warnungen vor Gefahren verhindern sie,<br />

dass Neues gedacht und umgesetzt wird, dass<br />

Menschen und Gesellschaften mündiger werden.<br />

Das Volk Israel war an den Fleischtöpfen<br />

Ägyptens in Sicherheit, es fehlte ihm nur<br />

eines: Selbstbestimmung. Diese erlangte es,<br />

indem es den virtuellen Abgrund nicht scheute,<br />

sondern aufbrach. So fand es seinen eigenen<br />

Weg, mit Gottes Hilfe durch Wüste und<br />

Meer – bis ins gelobte Land.<br />

Vor allem die Künstler (und Künstlerinnen)<br />

aller Epochen waren es, die sich von War-

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