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12/2016 - 01/2017

Fritz + Fränzi

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jährige nach der Standpauke wütend<br />

ins Zimmer verschwindet, statt sich<br />

mit der Familie an den Tisch zu setzen.<br />

Und uns als Lehrpersonen geht<br />

es nicht anders: Alissa kommt weiterhin<br />

zu spät, Max fehlt zwar nicht<br />

mehr, doch die Mathematik interessiert<br />

ihn immer noch nicht, und<br />

Marco beginnt, den Unterricht zu<br />

stören.<br />

Das Paradox von Freiheit und Zwang<br />

Es liegt im Wesen der Erziehungssituation,<br />

dass wir als Erziehende<br />

nicht wirklich wissen, was im Kind<br />

vorgeht, wir können es nur erahnen.<br />

Und wir können nicht wirklich wissen,<br />

was unsere Interventionen<br />

bewirken: Einsicht oder Widerstand.<br />

Es gibt unzählige Erziehungsratgeber<br />

und unzählige erziehungswissenschaftliche<br />

Studien, welche<br />

empirisch belegen wollen, welche<br />

Interventionen welche Effekte<br />

haben. Die Herstellung von klaren<br />

kausalen Zusammenhängen beim<br />

pädagogischen Handeln übersieht<br />

aber die Freiheit des Kindes. Schon<br />

der Philosoph Kant hat auf dieses<br />

dem Erziehungshandeln zugrunde<br />

liegende Paradoxon hingewiesen<br />

und gefragt: «Wie kultiviere ich die<br />

Freiheit bei dem Zwange?» Dieses<br />

Paradoxon gehört unmittelbar zur<br />

pädagogischen Situation und zum<br />

pädagogischen Handeln und lässt<br />

sich nicht auflösen.<br />

Davon ausgehend ergeben sich<br />

weitere Fragen: Was ist verhandelbar,<br />

was nicht? Wann entscheide ich<br />

mich zugunsten des Einzelnen,<br />

wann zugunsten der Gemeinschaft?<br />

Inwiefern fühle ich mich in die<br />

Situa tion des Kindes ein und wann<br />

distanziere ich mich vom gezeigten<br />

Verhalten? Wann ist mir die Sache<br />

wichtig – Pünktlichkeit, genügend<br />

Schlaf, gesunde Ernährung – und<br />

wann stelle ich die Bedürfnisse des<br />

Kindes in den Vordergrund?<br />

Solche Antinomien auflösen zu<br />

wollen und bestimmte Technologien<br />

anzupreisen, welche zu gewünschten<br />

Zielen führen, widerspricht den<br />

pädagogischen Absichten zutiefst,<br />

denn das Ziel – nicht die Voraussetzung<br />

– der Erziehung ist der Erwerb<br />

der Fähigkeit des eigenständigen<br />

Denkens und Handelns des zukünftig<br />

Erwachsenen.<br />

«Wir zeigen den<br />

Kindern den Weg,<br />

sich in der Welt<br />

zu orientieren.»<br />

Erziehung meint nicht nur die Herstellung<br />

von erwünschtem Verhalten,<br />

sondern umfasst stets auch das<br />

praktische Handeln in einer Beziehung<br />

zwischen Jüngeren und Älteren,<br />

bei welchem die Eltern eine<br />

zweifache Verantwortung übernehmen,<br />

für das Leben und Werden des<br />

Kindes wie für den Fortbestand der<br />

Welt, wie es Hanna Arendt formuliert.<br />

Erziehend zeigen wir den Kindern<br />

die Welt, eine Welt, für welche<br />

wir Erwachsenen eine gewisse Leidenschaft<br />

haben und der wir nicht<br />

gleichgültig gegenüberstehen sollten.<br />

Und damit die Kinder lernen,<br />

sich in der Welt zu orientieren, zeigen<br />

wir ihnen immer wieder den<br />

Weg. Erziehung findet immer in<br />

einem asymmetrischen Verhältnis<br />

statt, auch wenn das geltende Ideal<br />

der symmetrischen Kommunikation<br />

dem entgegensteht und das<br />

Generationenverhältnis an Bedeutsamkeit<br />

verloren hat.<br />

Erziehung ist eine Herausforderung,<br />

eine Zumutung für beide Seiten.<br />

Manchmal möchten wir nicht<br />

erziehen, weil uns die Welt jetzt<br />

gerade gleichgültig ist, weil wir gerade<br />

genug haben von Auseinandersetzungen;<br />

manchmal wissen wir<br />

den Weg selber nicht; und manchmal<br />

möchten wir uns gerade nicht<br />

erwachsen verhalten. Und unsere<br />

Kinder, unsere Schülerinnen und<br />

Schüler möchten manchmal den<br />

eigenen Kopf durchsetzen, etwas<br />

anderes tun als das, was gerade von<br />

ihnen erwartet wird, oder überhaupt<br />

nichts tun.<br />

Erziehen ermöglicht neue Sichten<br />

auf die Welt<br />

Die Herausforderungen, welche die<br />

Erziehung an Sie als Eltern und an<br />

uns als Lehrpersonen stellt, sind vielfältig.<br />

Die Paradoxien und Unabwägbarkeiten,<br />

welche ihr innewohnen,<br />

sollten aber nicht dazu verleiten, sie<br />

mit Rezepten aus Erziehungsratgebern<br />

oder Massnahmekatalogen<br />

basierend auf erziehungswissenschaftlichen<br />

Forschungen aus der<br />

Welt schaffen zu wollen. Oder, noch<br />

schlimmer, das Erziehungsverhältnis<br />

zu negieren, indem wir Kinder<br />

immer als Gleiche adressieren und<br />

zu einer Pseudopartizipation verführen.<br />

Erziehen ist letztlich auch eine<br />

wunderschöne Aufgabe, weil sie uns<br />

immer wieder neue Sichten auf die<br />

Welt, auf uns selbst und auf unsere<br />

Kinder, unsere Schülerinnen und<br />

Schüler und all das Neue, was sie<br />

einbringen, ermöglicht.<br />

In diesem Sinne wünsche ich<br />

Ihnen, liebe Eltern, wie auch uns<br />

Lehrerinnen und Lehrern weiterhin<br />

viel Freude an der Erziehung, welcher<br />

wir uns gemeinsam widmen<br />

und welche wir zu unserer gemeinsamen<br />

Sache machen sollten. Der<br />

Pädagogik schliesslich wünsche ich<br />

jenen Platz im wissenschaftlichen<br />

Diskurs, der ihr als bedeutsames<br />

Fach zusteht, um die der Erziehung<br />

zugrunde liegenden Phänomene zu<br />

erkennen, zu verstehen und zu<br />

erklären.<br />

Nur so können wir alle weiterhin<br />

über die pädagogischen Probleme<br />

nachdenken, statt so zu tun, als gäbe<br />

es einfache Antworten bei komplexen<br />

Phänomenen.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Dezember <strong>2<strong>01</strong>6</strong> / Januar 2<strong>01</strong>757

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