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zds#45

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22 | pORTRÄT<br />

leitete Johr das Projekt, seit dem vergangenen Jahr<br />

engagiert sie sich ehrenamtlich im Initiativkreis<br />

Stolpersteine Bremen. Landeszentrale und Initiativkreis<br />

sind zusammen mit dem Verein „Erinnern<br />

für die Zukunft“ in Bremen zuständig. Die nötige<br />

Recherche wird ehrenamtlich betrieben. Wichtige<br />

Quellen sind neben Einwohnermeldekarten auch<br />

Entschädigungsakten, die im Staatsarchiv liegen.<br />

„Wenn allerdings die ganze Familie ermordet<br />

wurde, gibt es keine Entschädigungsakten, da niemand<br />

Forderungen stellen konnte“, sagt Johr.<br />

Neben der Biografie der Opfer werde auch<br />

nach Angehörigen gesucht. „Wir wollen die Steine<br />

nicht gegen ihren Wunsch verlegen“, erklärt Johr.<br />

„Wenn wir Familienmitglieder finden, reisen diese<br />

auch häufig zur Verlegung an – bei einer weitverzweigten<br />

Familie kamen die Verwandten aus<br />

Tokio, Israel und England nach Bremen.“<br />

Mit der Recherche entstehen Biografien, Einblicke<br />

in das Leben der Opfer. Elisabeth Schwabe,<br />

geboren am 21. September 1892, lebte seit 1921 mit<br />

ihren Eltern in der Humboldtstraße 10. Das Haus<br />

gehörte ihrem Vater. Nach dessen Tod 1938 erbte<br />

sie es, zusammen mit drei weiteren Immobilien.<br />

1939 musste sie verkaufen. Da war es bereits ein<br />

sogenanntes „Judenhaus“ – so nannte man Häuser<br />

jüdischer Eigentümer, in die jüdische MieterInnen<br />

zwangsweise eingewiesen wurden.<br />

Jutta Lehmann* lebt seit mittlerweile fünf<br />

Jahren in der Humboldtstraße. Sie hat sich vor<br />

allem mit der Geschichte des „Judenhauses“ auseinandergesetzt:<br />

„Ich wollte wissen, wer dort untergebracht<br />

war. Es waren viele Menschen. Mich<br />

interessiert, wer noch so hier in der Straße gelebt<br />

hat.“ Auch im Alltag wird sie an die Stolpersteine<br />

erinnert. „Man sieht immer wieder Leute, die<br />

stehenbleiben und die Steine betrachten“, erzählt<br />

Lehmann.<br />

Henny Warschauer, geboren am 2. März 1884,<br />

und ihre Söhne Walter, geboren am 19. Dezember<br />

1921, und Kurt, geboren am 30. Dezember 1924,<br />

zogen 1936 in die Humboldtstraße 10. Henny Warschauers<br />

Ehemann Jakob war 1929 verstorben.<br />

Nach dem Tod ihres Mannes führte sie sein Geschäft,<br />

einen Fahrrad- und Nähmaschinenhandel,<br />

weiter. In der NSDAP-Broschüre „Auch dich geht<br />

es an“ von 1935, die im Staatsarchiv liegt, wird zum<br />

Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen – auch<br />

Henny Warschauers Laden ist darin aufgeführt.<br />

Sie musste das Geschäft im September 1936 schließen.<br />

Doch auch danach war sie weiter mit dem Verkauf<br />

gebrauchter Fahrräder und Nähmaschinen<br />

beschäftigt. Dies lässt sich aus einem Polizeidokument<br />

von 1938 schließen, in dem notiert ist, dass<br />

Henny Warschauer aufgefordert wurde, ein „Trödlerbuch“<br />

zu führen. Der Hausstand der Warschauers<br />

wurde nach ihrer Deportation versteigert. Das<br />

geht aus den Entschädigungsakten hervor – zu den<br />

versteigerten Gegenständen gehörten neben Möbeln<br />

auch ein Gasherd, Geschirr, Kleiderbügel und<br />

Wäsche. Der gesamte Hausrat, so steht es im Protokoll<br />

der Auktion, wurde für 1.031,25 Reichsmark<br />

verkauft. Den Erlös erhielt das Deutsche Reich.<br />

Nina Idzkowska, geboren am 12. November<br />

1904 in Polen, zog 1928 von Königsberg nach<br />

Bremen. Auf einer Einwohnermeldekarte ist ihr<br />

Beruf als „Bardame“ angegeben. Ab 1941 lebte sie<br />

ebenfalls in der Humboldtstraße 10. Zusammen<br />

mit den anderen BewohnerInnen wurde sie am<br />

18. November 1941 in das Ghetto Minsk deportiert.<br />

Dort ermordeten die Nazis alle fünf.<br />

Auch Jutta Lehmanns Nachbarn, Paul Schulz*,<br />

fallen immer wieder Menschen auf, die sich die<br />

Steine anschauen. Er lebt seit zwei Jahren in der<br />

Humboldtstraße. „Das ist eigentlich lang genug,<br />

um sich mit dem Thema zu beschäftigen“, sagt<br />

Schulz. „Ich weiß, dass es die Stolpersteine gibt,<br />

habe mich selbst aber noch nicht damit auseinandergesetzt“,<br />

räumt er ein. „Ehrlich gesagt ist es<br />

verrückt, dass ich das noch nicht gemacht habe.<br />

Vielleicht ist das ein Anstoß, es jetzt doch zu tun.“<br />

In 19 Ländern liegen über 56.000 Stolpersteine, neun davon in der Humboldtstraße.<br />

Auch die BewohnerInnen der Humboldtstraße<br />

5 wurden im November 1941 deportiert und in<br />

Minsk ermordet: Aron, geboren am 10. Februar<br />

1885, Gerda, geboren am 3. April 1895, und Marion-Dorrit<br />

Orbach, geboren am 13. Juni 1927. Die<br />

Eltern heirateten 1926, sie waren vermutlich vermögend.<br />

Aron Orbach war als Kaufmann in der<br />

Textilbranche tätig, seine Frau brachte Aktien<br />

mit in die Ehe. Im Juli 1935 zog die Familie in die<br />

Humboldtstraße 5, 1941 wurde sie in ein Haus in<br />

der Contrescarpe eingewiesen. In der Entschädigungsakte<br />

ist eine „Hingabe an Wertpapieren an<br />

Zahlungs statt“ aufgeführt – dabei handelt es sich<br />

um die „Judenvermögensabgabe“, eine willkürliche<br />

Sonderabgabe, die deutsche Juden in der Zeit<br />

des Nationalsozialismus zahlen mussten, die durch<br />

die Übertragung von Aktien 1938 beglichen wurde.<br />

Nach ihrer Deportation wurde das restliche<br />

Vermögen der Familie 1942 eingezogen und floss<br />

– wie der Erlös der Versteigerung des Hausstands<br />

der Warschauers – an das Deutsche Reich.<br />

Über das Leben Käthe Uteschs aus Haus Nummer<br />

183 ist heute nur noch wenig bekannt. Die am<br />

31. Juli 1899 geborene Frau war seit 1925 in zweiter<br />

Ehe mit dem Lehrer Georg Utesch verheiratet.<br />

1940 zeigten sich bei ihr Anzeichen einer psychischen<br />

Erkrankung. Von 1940 bis 1943 war sie in<br />

der Bremer Nervenklinik untergebracht. Nach<br />

deren Bombardierung wurde Käthe Utesch mit<br />

anderen Patienten am 9. Dezember 1943 in die<br />

Anstalt Meseritz-Obrawalde gebracht, wo sie am<br />

17. Dezember 1943 verstarb. Die Anstalt im heutigen<br />

Polen wurde während des Nationalsozialismus<br />

für die systematische Ermordung kranker<br />

Menschen genutzt. Allein zwischen 1943 und 1945<br />

wurden dort über 10.000 Menschen getötet.<br />

* Name von der Redaktion geändert.<br />

Jördis Früchtenicht studiert Medienkultur. Sie war bei<br />

der Recherche besonders von der tief gehenden Suche<br />

des Initiativkreises Stolpersteine nach den Biografien der<br />

Opfer beeindruckt.<br />

Die Stolpersteine bremsen das eigene Tempo, wenn man<br />

sie denn Zeile für Zeile liest. Norbert Schmacke hat diese<br />

Erfahrung erneut gemacht, als er mit der Kamera in dieser<br />

wunderschönen Allee unterwegs war.

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