Jonathan Meese - Zeit Kunstverlag
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Jonathan Meese - Zeit Kunstverlag
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Ausgabe 73<br />
Heft 5<br />
1. Quartal 2006<br />
B 26079<br />
Eine Edition der<br />
<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs<br />
GmbH & Co. KG<br />
Künstler<br />
Kritisches Lexikon der<br />
Gegenwartskunst<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong>
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:38 Uhr Seite 2<br />
Künstler<br />
Kritisches Lexikon der<br />
Gegenwartskunst<br />
erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />
28 Künstlermonografien auf über 500<br />
Text- und Bild-Seiten und kostet im<br />
Jahresabonnement einschl. Sammelordner<br />
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<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />
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›Künstler‹ erscheint in der<br />
<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />
Geschäftsführer<br />
Florian Wagner, Thomas Brackvogel,<br />
Dr. Rainer Esser<br />
Herausgeber<br />
Dr. Detlef Bluemler/Prof. Lothar Romain †<br />
Redaktion<br />
Dr. Detlef Bluemler (v. i. S. d. P.)<br />
Dokumentation<br />
Andreas Gröner<br />
Ständiger Redaktionsbeirat<br />
Dr. Eduard Beaucamp, Frankfurt/Main<br />
Dr. Christoph Brockhaus, Duisburg<br />
Prof. Dr. Johannes Cladders, Krefeld<br />
Prof. Rolf-Gunter Dienst, Baden-Baden<br />
Prof. Dr. Helmut Friedel, München<br />
Rainer Haarmann, Neuwittenbek/Kiel<br />
Prof. Dr. Wulf Herzogenrath, Bremen<br />
Prof. Klaus Honnef, Bonn<br />
Prof. Dr. Max Imdahl †<br />
Prof. Dr. Georg Jappe, Köln/Hamburg<br />
Prof. Dr. Jens Chr. Jensen, Hamburg<br />
Dr. Petra Kipphoff, Hamburg<br />
Dr. Ralph Köhnen, Bochum<br />
Prof. Kasper König, Köln<br />
Dr. Jochen Poetter, Köln<br />
Prof. Karl Ruhrberg, Oberstdorf<br />
Prof. Dr. Wieland Schmied, A-Vorchdorf<br />
Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, Köln<br />
Prof. Dr. Uwe M. Schneede, Hamburg<br />
Dr. Pamela C. Scorzin, I-Mailand<br />
Dr. Dierk Stemmler, Mönchengladbach<br />
Prof. Dr. Karin Stempel, Kassel<br />
Prof. Dr. Eduard Trier, Bonn<br />
Dr. Rolf Wedewer, Leverkusen<br />
Dr. Christoph Zuschlag, Heidelberg/Berlin<br />
Prof. Dr. Armin Zweite, Düsseldorf<br />
Grafik<br />
Michael Müller<br />
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© <strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />
München 2006<br />
Cover<br />
Ahoi, Ihr Gnierzl'-Nasn'..., 1998<br />
Installationsansicht: Contemporary Fine<br />
Arts, Berlin/Deutschland 1998<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts,<br />
Berlin/Deutschland<br />
ISSN 0934-1730<br />
Mein größtes Ziel ist es, der ERZRITTER HAGEN<br />
V. TRONJE zu sein, in seinem Namen Bayreuth zu<br />
inszenieren, und dann ›A Clockwork Orange II‹ zu<br />
machen ...<br />
J. M.<br />
Foto: Andrea Stappert
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:38 Uhr Seite 3<br />
Pamela C. Scorzin<br />
über <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong><br />
Der 2005 verstorbene Harald Szeemann nannte ihn noch zweifelnd<br />
»Konfusionist«1; die in großer Schar anläßlich dessen Gastvortrages<br />
im Karlsruher ZKM2 versammelte Studentenschaft hingegen<br />
wollte von ihm interessiert wissen, ob er denn ihr ersehnter<br />
neuer ›Messias‹ wäre, der sie in das große letzte Mysterium einweihe,<br />
was Kunst sei. <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>, ein berserkerhafter Freak<br />
aus einem beschaulichen Vorort von Hamburg, der die Gemüter<br />
der gesamten Kunstwelt derzeit wie kein Zweiter scheidet und<br />
extrem polarisiert, verheißt die M(eese)-Theorie, die absolute<br />
Kunst-Formel, die es heute mehr denn je ritterlich zu verteidigen<br />
gilt. Gleichzeitig irritiert der ›from zero to hero‹ gefeierte Shootingstar<br />
der internationalen Kunstszene sein Publikum und die wachsende<br />
Jüngerschaft vom Katheder aus mit häretischen Paradoxien,<br />
sektiererischen Mystifizierungen und zur Schau gestellter<br />
fundamentaler Naivität: »Wenn ich sage ›Ich mache keine Kunst‹,<br />
dann heißt das aber letztendlich nur, daß ich keine Rezepte habe,<br />
wie man sie herstellt. Ich habe keine Ahnung, keine Rechtfertigung,<br />
wie man sich verhalten soll, ich weiß nicht, was dazu führt,<br />
Kunst entstehen zu lassen. Ich glaube nicht an Kreativität, nicht<br />
an Phantasie, zumindest nicht als Garanten einer Kunstproduktion<br />
– das ist ein geheimnisvoller Prozeß, für den wir keine Worte<br />
haben. Ich glaube, daß die Kunst sich selbst erzeugt und dann<br />
auch selbst entscheidet, was sie ist.«3 Die Kunst ist für ihn folglich<br />
ein zu bewahrendes Geheimnis und auf diese Weise völlig<br />
autonom; sie gerät damit zu einer unerklärbaren, nur intuitiv erfaßbaren<br />
Glaubenssache und kultischen Religion.<br />
Messy-Messias<br />
Anfang des 21. Jahrhunderts ist <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> damit für viele<br />
ein angesagtes Prediger-Idol; seine bis zur totalen Erschöpfung<br />
gehenden delirischen Performances, theatralischen Aktionen<br />
und skurrilen Lesungen gelten zur <strong>Zeit</strong> als gehypter wie angesagter<br />
Kult! Der 1970 in Tokio geborene Sohn deutsch-walisischer<br />
Eltern darf dabei als charismatischer Popstar und düsterer<br />
Rebell der zeitgenössischen nationalen Kunstszene auch<br />
gewaltige publizistische Aufmerksamkeit und ein enormes Medienecho<br />
aus der seriösen wie der populären internationalen<br />
Presse genießen. »Viel Aufmerksamkeit und viel Erfolg für einen<br />
jungen Künstler«, hat Patrick Wildermann dazu angemerkt,<br />
»dessen Talent nicht zuletzt darin liegt, jede Gewißheit über sein<br />
Werk zu zerstreuen. Er zelebriert die heilige Dreifaltigkeit aus<br />
Pathos, Pose und Parodie derart aufrichtig, daß selbst gestandene<br />
Kunstkritiker mit einem Rest von Ratlosigkeit auf seine<br />
Gemälde, Installation und Skulpturen blicken, die nicht selten<br />
aussehen, als hätte sich ein Horrorfreak im LSD-Furor durchs<br />
Cabinet des Dr. Caligari gewühlt.«4 Die Kunstkritik läßt sich<br />
hierbei offensichtlich gerne auch von <strong>Meese</strong>s notorisch phantastischer,<br />
verbaler Formulierungsgewalt mitreißen und fühlt sich<br />
damit in vielerlei Hinsicht herausgefordert.<br />
Meesianismus<br />
Im <strong>Zeit</strong>alter des allgegenwärtigen Spektakels aber, das Guy Debord<br />
bereits Ende der 60er Jahre für unsere Gegenwart so erhellend<br />
diagnostiziert hat, spricht für den Künstler heute nicht<br />
mehr nur allein die Qualität und Originalität seiner Werke, sondern<br />
vielmehr die raffinierte Positionierung und gelungene Inszenierung<br />
jenes und dieser innerhalb der merkantilen Logik<br />
und Funktionsweise eines völlig durchökonomisierten und globalisierten<br />
Betriebssystems Kunst. Image ist heute eben alles,<br />
und <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> eignet sich dabei wahrlich zum provokanten<br />
Medienstar. Man preist ihn mitunter sensationsgeladen als<br />
›Massakreur konformistischer Gegenwartskunst‹. Mitunter wird<br />
dann schließlich auch mehr erst die Erscheinung einer Person<br />
als ihr schöpferisches Werk kommuniziert. Im Fall von <strong>Meese</strong><br />
wird die notorische ›onomatopoetisch-pathogene‹ Kreativität<br />
seiner eigenwillig apodiktischen Diktion über Kunst, übertragen<br />
auf die markante Figur des Künstlers, von der Presse gerne gespiegelt.<br />
Der in deutscher Aussprache rezipierte englische<br />
Nachname <strong>Meese</strong> verführte schließlich bereits etliche Journalisten<br />
geradezu zu labelhaften und werbewirksamen Wortspielen<br />
wie etwa ›der Messy-Messias‹.<br />
Ob man dann gleich auch noch in der medial ausgespähten<br />
christomorphen Gestalt mit den schwarzen Cordschlaghosen<br />
und der adidas-Trainingsjacke (ohne Markenfetischismus geht<br />
heute schließlich bei der Jugend gar nichts mehr) den »Schamanen<br />
und Wiedergänger von Joseph Beuys« ausmachen<br />
möchte, wie eine belehrstuhlte deutsche Kunstwissenschaftlerin<br />
sich nach einer Kölner Performance bereits 1999 hingerissen<br />
fühlte, mit akademischer Deutungshoheit zu behaupten, mag allerdings<br />
erst einmal so dahingestellt sein. Viel wichtiger wird damit<br />
aber zugleich angedeutet, wie sich <strong>Meese</strong>s individueller Mythologie-Kosmos<br />
ungeschehen in eine bestimmte Tradition<br />
deutscher Gegenwartskunst einordnen ließ, auf die noch <strong>Meese</strong>s<br />
trashiger Retro-80er-Stil überdies unübersehbar zu verweisen<br />
scheint – zu nennen wären hier u. a. Beuys (KLG 4/1988 +<br />
21/1993), Kiefer, Immendorff (KLG 71/2005) und die sogenannten<br />
Neuen Wilden. Wahrgenommen und angenommen wird<br />
schließlich letzten Endes oftmals nur das, was man auch irgendwie<br />
wiedererkennt, und so erstaunt es eigentlich nur wenig,<br />
daß der junge <strong>Meese</strong> nach seinem abgebrochenen kurzen<br />
Studium bei Franz Erhard Walther (KLG 2/1988) an der bislang<br />
einen äußerst liberalen Ruf genießenden Hochschule der Bildenden<br />
Künste in Hamburg bereits 1997/98 einen Karriere befördernden<br />
Galerievertrag bei der renommierten und einflußreichen<br />
Berliner Galerie Contemporary Fine Arts erhielt.5<br />
Erzritter, Renegat und Dissident<br />
Von seiner mönchischen Ordensburg Berlin-Mitte, wo der flippige<br />
Jungstar und hippe Gothic-Gralshüter der deutschen Szene<br />
neben Hausgalerie derzeit auch Atelier und Privatwohnung be-<br />
3
<strong>Meese</strong> 07.02.2006 14:25 Uhr Seite 4<br />
4<br />
1 The Third Man in the Round House/MALDORORTURM,<br />
1998<br />
Mixed media<br />
600 x 440 x 440 cm<br />
Museum Abteiberg, Mönchengladbach/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
2 Erzreligion Blutlazarett ..., 1999<br />
Bleistift, Filzstift auf Papier<br />
21 x 29,7 cm<br />
Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 5<br />
3 Hagen von Tronje v.s. Sigfried, 2000<br />
Mixed Media<br />
265 x 200 x 200 cm<br />
Bundesminsterium für Kultur und Medien,<br />
Berlin/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
4 Casino Royal (Goldenes Skelett), 2000<br />
Mixed Media<br />
Variable Maße<br />
Sammlung Falckenberg, Hamburg/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
5 Der Eimeese, 2001<br />
Ölfarbe auf Leinwand<br />
zweiteilig, 190 x 260 x 1,7 cm<br />
Privatbesitz<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
5
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 6<br />
sitzt6, konnte der selbsterklärte heilige Ordensritter <strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong>, der sich gerne auch mal mit Poetry-Slam-Pathos der<br />
Gemeinschaft als Erzritter Hagen von Tronje ausruft, fortan nun<br />
ausziehen, der blutleer-lauwarmen Avantgarde der internationalen<br />
Kunstszene mit einer ausgeprägt leidenschaftlich-pathetischen<br />
Radikalität, aberwitzig neologisierenden Worthuberei und<br />
liturgischen Geheimsprache sowie heftig-wilden Ekstase und<br />
fanatischem Enthusiasmus wahrlich das Fürchten zu lehren. <strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong> reitet selbst erklärtermaßen wider die künstlerische<br />
»feige Weltgleichschaltung«.<br />
Der Jungstar versteht dabei noch geschickt, das taktische Spiel<br />
des heroischen Protestes und der grundsätzlichen Anti-Haltung<br />
wie Alterität zum gerade vorrangig Gängigen und kurzlebig Modischen<br />
in der Gegenwartskunst mit strategischer Intuition zu<br />
spielen. Er darf dafür gerne als Renegat und Dissident von allem<br />
derzeit angesagten Politisch-Korrekten, von aktuellen Gender-<br />
Themen oder forciertem Institutionskritischen und ›gesellschaftlich<br />
Relevantem‹ im aktuellen Gewand etwa von ›Kunst als<br />
Dienstleistung‹ oder ›intervenierender Sozialarbeit‹ angesehen<br />
werden. <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> inkarniert und inthronisiert dafür wiederum<br />
mit Brio und Bravour abermals das männliche (defekte)<br />
Künstlersubjekt, das extensiv dem singulären Geniedasein und<br />
provozierenden Nonkonformismus frönt. Jedoch gerade dieses<br />
vermeintlich bereits überkommene moderne Künstlerbild, das<br />
durch stereotype Vorstellungen von einer originellen Vorzeige-<br />
Authentizität, einer stark subjektorientierten Autorschaft, obsessiven<br />
Werkautonomie und männlich-virilen Dominanz charakterisiert<br />
ist (Hubertus Butin), erlebte gerade Ende der 90er Jahre,<br />
in <strong>Zeit</strong>en des boomenden Neo-Liberalismus und erstarkenden<br />
Neo-Konservativismus, nochmals eine erstaunliche Renaissance.<br />
Praktiziert und propagiert wird hier offenkundig ein altes<br />
wie überraschenderweise wieder höchst aktuelles modernes<br />
Künstlerbild als manisch Getriebener, ästhetischer Außenseiter,<br />
widerspenstiger Egozentriker und genialisches Original. Und <strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong> füllt diese Rollen erstaunlich gut.<br />
Gemäß der Logik seines eigenen assoziativ-verketteten Denkens<br />
in genealogischen und dynastischen Verbindungen und<br />
seines subjektivistisch unifizierenden Weiter-, Um- und Überschreibens<br />
von modernen Mythen kann man in <strong>Meese</strong> aber<br />
auch das mit Lust und Genuß ewig schockierende und Tabus<br />
brechende Enfant terrible, den schrillen Marilyn Manson der von<br />
populären Massenmedien infiltrierten Kunstszene erkennen, der<br />
überdies noch leichtens einen explosiv eruptierenden Klaus<br />
Kinski oder schräg krawallierenden Christoph Schlingensief<br />
schnell in den Schatten stellt. Dabei entstand über nur wenige<br />
Jahre, begleitet von einer regen Ausstellungstätigkeit und ungeheuren<br />
medialen Präsenz (bis hin zu einer kleinen Nebendarstellerszene<br />
mit Oneliner im umstrittenen Film ›Sonnenallee‹ von<br />
6<br />
Leander Haußmann), zugleich ein überbordendes und vielschichtiges<br />
Gesamtwerk, das sich in der thematischen Intensität<br />
und Stringenz seines pop-trashigen und mythisch verbrämten<br />
Subjektivismus frank und frei aller nur erdenklicher und<br />
zur Verfügung stehender Medien und Materialien bedient, aus<br />
Gefundenem und Selbstgebasteltem hervorgeht.<br />
Vom Jugendzimmer zur Kunstinstallation<br />
Aus dem exemplarischen Sammeleifer eines spätpubertierenden<br />
Fans entstehen zunächst jugendzimmerähnliche Szenografien,<br />
die von der Verehrung strahlender Idole und fiktiver stereotyper<br />
Helden, vorwiegend aus dem Bereich Film- und Populärkultur<br />
(Kinski, Bronson, Eastwood, De Niro, Ventura und viele andere),<br />
künden. Die künstlerische Arbeit parallel zum zeitgenössischen<br />
Kuriosum jugendlicher ›Fan-Kulturen‹ und einem soziologisch<br />
recht interessanten, da fanatisch jeweils individuell betriebenem,<br />
gesellschaftlich hingegen eher völlig belanglosem, hermetischen<br />
Pseudo-Spezialwissen gründet beim cinephilen jungen <strong>Meese</strong> in<br />
einem obsessiv-manischen und neurotischen Sammeleifer, der<br />
in beeindruckend chaotisch geordneten Materialschlachten und<br />
strukturell überquellenden Arrangements kulminiert. Gesammelte<br />
und zusammengetragene Poster, ein Wust unzähliger Fanmagazin-Ausschnitte,<br />
Kopiertes und andere Devotionalien wachsen<br />
dabei zu regelrechten Weihestätten und Kultaltären heran und<br />
reflektieren darin zugleich das Phänomen.<br />
Aus diesen ersten, relativ privat und intim anmutenden, ausgestellten<br />
›<strong>Meese</strong>-Kojen‹, die vom Künstler mit strapaziösen Performances<br />
und inbrünstigen Lesungen belebt werden, entwickeln<br />
sich dann allmählich komplexe, raumgreifende,<br />
multi-mediale Installationen, die als wahre bunte Materialschlachten<br />
noch die bizarren Materialräume und opulenten Privatsammlungen<br />
von Künstlern wie Anna Oppermann (KLG<br />
8/1989) oder Dieter Roth (KLG 11/1990) in Erinnerung rufen (siehe<br />
Cover). Alles wird darin subjektiv mit jedem verbunden, surrealistisch<br />
»gesudet«, wie <strong>Meese</strong> selbst formuliert, und so erscheinen<br />
neben den Bildern der von ihm vielfach zitierten<br />
fiktiven Filmhelden wie z. B. Dr. No aus ›007 - James Bond‹,<br />
John Milius' ›Conan der Barbar‹, Emma Peel, Zed aus ›Zardoz‹,<br />
Alex de Large aus Stanley Kubricks ›A Clockwork Orange‹ oder<br />
Travis Bickle aus Martin Scorseses ›Taxis Driver‹ und dem Anti-<br />
Helden Toecutter (Abb. 7) aus dem ›Mad Max‹-Filmepos immer<br />
häufiger auch <strong>Meese</strong>s eigene Fotografien, die ihn in unterschiedlich<br />
adaptierten Posen, Masken und Rollenspielen zeigen.<br />
Der Sud der Bilder, Ideen und als Kommentar von <strong>Meese</strong> per<br />
Handschrift hinzugefügten kryptisch-poetischen Wortschöpfungen,<br />
die sich aus Verkürzen, Verschleifen und Zusammenziehen<br />
von unterschiedlichen Begriffen oder einfachem Hinzufügen von<br />
erklärten Vorsilben wie etwa ›Erz‹, ›Saint‹, ›Dr.‹, ›Dei‹ oder ›Staat‹<br />
ergeben, erinnert nicht zuletzt auch an dreidimensionale, große
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 7<br />
und damit real begehbar gewordene Sudelbücher. In eben dieser<br />
medialen Clip- und Zapptechnik ausgestaltete und gesampelte<br />
Künstlerbücher und Hefte in improvisierter jugendlichtrashiger<br />
Scrapbook-Ästhetik werden für <strong>Meese</strong> dabei schnell<br />
zu einer weiteren künstlerischen Domäne, während seine ersten<br />
frühen Rauminstallationen noch Affinitäten zur anglo-amerikanischen<br />
Trash- und Scatter-Art aufweisen und gleichzeitig von der<br />
internationalen Fachwelt als Neo-Dada oder – eher pejorativ –<br />
als ›Kraut Art‹ rezipiert wurden.<br />
Suden zum Gesamtkunstwerk<br />
Recht symptomatisch für ihre eigene <strong>Zeit</strong> künden indes diese<br />
materialintensiven Assemblagen, Arrangements und Installationen<br />
letztlich von der Fragmentierung und Zersplitterung der<br />
Wahrnehmung in einer total mediatisierten modernen Welt, in<br />
der Sinnsuche immer auch mit einer subjektiven Sinnkonstruktion<br />
einhergeht und das Individuum sich immer stärker damit<br />
konfrontiert sieht, aus der überbordenden Fülle das für ihn/sie<br />
individuell Relevante, Vorbildliche und Wesentliche zu schöpfen<br />
oder in einer alle Hierarchien und Kategorien nivellierenden medialen<br />
Informationsflut heillos zu versinken und dabei ohne Identitätsfindung<br />
hilflos unterzugehen. Auch <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> kennt<br />
dabei keine essentielle Trennung mehr zwischen High & Low,<br />
zwischen bürgerlicher Hochkultur und populärem Trash – nunmehr<br />
ist eben alles ein ›Sud‹.<br />
Plastische Konfigurationen und reale Objekte als integrale Bestandteile<br />
der aus Montage- und Collage-Techniken resultierenden<br />
bildergesättigten Arrangements erweitern Ende der 90er<br />
Jahre verstärkt <strong>Meese</strong>s Arbeiten zu größeren labyrinthartigen<br />
Rauminstallationen, nicht unähnlich den bizarr endlosen Wucherungen<br />
und Formmetastasen in Schwitters' legendären ›Merz-<br />
Bauten‹. In diese Räume zieht zugleich jetzt ein anderes, weniger<br />
harmloses Personal ein. Immer ambivalentere Charaktere und<br />
negativ besetzte Figuren der durch klischeehafte Konstruktion,<br />
abstrahierende Überhöhung und schablonenhafte Interpretation<br />
zum Mythos geronnenen Realgeschichte spuken nun immer<br />
häufiger in Gemeinschaft mit verschiedenen fiktiven Gestalten<br />
und Sagenfiguren in <strong>Meese</strong>s subjektivem und dennoch auch kollektivem<br />
Mythologie-Kosmos heftig herum: »Heidegger, Nietzsche,<br />
Stalin, Hitler, Caligula, Zardoz, Wagner, Echnaton, Kinski,<br />
Alex de Large, der Marquis de Sade. Demagogen und Despoten,<br />
Heilsverkünder und Schreckensbringer, Monster und Bestien,<br />
Kain und Abel, Ich und Es. Fasziniert von ihrer Tragik, ihrem<br />
Schicksal, ihrer existenziellen Rolle. Lust am (satanisch) Bösen,<br />
am Unkorrekten, am Verdrängten und Verschwiegenen. Daneben<br />
Jungfrauen, Busenwunder, Schönheitsköniginnen, Diven<br />
und Musen von Gestern und Heute. Eros und Thanatos als Movens<br />
der Menschheit. Triebkonflikte und Unterdrückung, Verdrängung<br />
und Sublimation, Hysterie und Nervosität. <strong>Meese</strong> zwi-<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
schen allen und allem als homo ludens, dessen unbändige Freude<br />
am Spiel einen Mythos, eine Religion, einen Kult erschafft,<br />
der aus Vergangenheit und Gegenwart seiner selbst und der<br />
Menschheit als ganzes schöpft.«7 Dieser auf gegenseitige Referenznahme,<br />
Analogiesetzung und Verweise aufgebaute binäre<br />
Geschichtskosmos aus archetypisch manichäischen Auffassungen,<br />
stereotypen Verkürzungen und universialisierenden Personifikationen<br />
zeigt das dabei subjektiv Imaginierte und Dargestellte<br />
nicht so sehr als Fiktion und Fälschung, als vielmehr als<br />
bewußte wie unbewußte Fabrikation und Erfindung, mit jener voluntaristischen<br />
Konstruktionsarbeit, die nicht nur dem Gedächtnis<br />
und der Erinnerung, sondern wohl generell allem Kulturellen<br />
zugrunde liegt. In schönster Weise demonstrieren hier <strong>Meese</strong>s<br />
künstlerische Arbeiten anschaulich, wie jede kulturelle Produktion<br />
von Sinn sich als grundsätzlich artifizielle und von Interesse<br />
gerichtete Konstruktionsarbeit erweist.<br />
Das von <strong>Meese</strong> dafür herbeizitierte und heraufbeschworene historische<br />
wie imaginäre Personenrepertoire aus Bayreuther Nibelungenschar<br />
bis zur Führerschaft des Dritten Reichs, das bald<br />
darauf regelrecht in karnevalistischen Endloszügen in seinem<br />
Werk immer wieder munter aufmarschiert, führt dabei gleichwohl<br />
in jüngster <strong>Zeit</strong> zu einem nicht ganz ungefährlichen, weil<br />
doch auch leicht mißverständlichen Spiel mit historisch vorbelasteten<br />
Symbolen und verbrämten Mythen der Nation. Doch ist<br />
dies alles bereits Kalkül. Wie etwa seine Altersgenossen von der<br />
deutschen Rock-Gruppe ›Rammstein‹ dient dieses kühn experimentierfreudige<br />
Zündeln mit dem verbotenen Tabubruch offensichtlich<br />
der Dekonstruktion durch Banalisierung, Ridikülisierung<br />
und parodistischen Vereinnahmung, was letztendlich auch zu einer<br />
entscheidenden semiotischen Verschiebung und Transformierung,<br />
d. h. zur ästhetischen Re-Territorialisierung und Resignifizierung<br />
historisch verlorener und bereits aufgegebener<br />
Ausdrucksformen führt. Bestenfalls jedenfalls, denn erhalten<br />
bleibt in diesem rabiaten Aneignungsprozeß oftmals gerade<br />
auch ihre magische Wirkung und geheimnisvolle Verführungskraft.<br />
Eine davon ausströmende Totalität und Radikalität, von<br />
der auch <strong>Meese</strong> selbst wie viele andere irgendwie eigenartig in<br />
Bann gezogen und fasziniert scheint. Die Macht und ambivalente<br />
Anziehungskraft der Namen und Symbole werden indes wiederum<br />
künstlerisch gebannt, ihre unerklärlich überwältigende<br />
Energie absorbiert, ohne deren Werte wirklich anzunehmen, und<br />
dann zum neuen Konsum gebracht. Bayreuth ist für <strong>Meese</strong> daher<br />
einmal mehr Destination und Endziel.<br />
Runen raunen<br />
Seit Ende der 90er Jahre verdüstern sich die Rauminstallationen<br />
zusehends. Allerlei symbolisch aufgeladene Zeichen, Kerzen<br />
und Kreuze ziehen ein, Runen raunen von den Wänden. Überall<br />
begleiten plötzlich die Farben Schwarz und Blutrot die visionäre<br />
7
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 8<br />
6<br />
7<br />
8
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 9<br />
6 La Chambre secrète de BALTHYS par <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>, 2001<br />
Mixed media<br />
Installationsansicht, Sammlung Falckenberg, Hamburg/Deutschland,<br />
und Kestner-Gesellschaft, Hannover/Deutschland, 2001<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
7 Die Ordensburg ›Mishimoend‹ (Toecutter's Mütze), 2002<br />
Mixed media<br />
Installationsansicht, Sammlung Falckenberg, Hamburg/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
8 <strong>Jonathan</strong> de Large (Ich mit brauner Trainingsjacke in Saalstellung<br />
später Squaw), 2002<br />
Mixed media<br />
70 x 100 x 190 cm<br />
Privatbesitz<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
9 Predatormeese der seltsamsten Mädchenblüte ..., 2002<br />
Ölfarbe auf Leinwand<br />
210 x 140 x 2 cm<br />
Privatbesitz<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
10 Dr Golddocgott im Wald, 2002<br />
Ölfarbe auf Leinwand<br />
210 x 140 x 2 cm<br />
Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
9 10<br />
8<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
9
<strong>Meese</strong> 07.02.2006 14:25 Uhr Seite 10<br />
kryptische Schrift an der Wand, die vom utopischen letzten Ritter-<br />
und Mönchstum kündet, Saal mit Staat vermählt, Hagen<br />
von Tronje (Abb. 3) bis Marquis de Sade, Echnaton bis Maldoror<br />
(Abb. 1) oder Martin von Essenbeck bis Martin Heidegger beschwört,<br />
und dabei noch schön zeitgeistig-jugendkulturell, eine<br />
frappierend modische Gothic-Atmosphäre und chice Horror-<br />
Ästhetik verströmt.<br />
<strong>Meese</strong>s adoleszente Rauminstallationen steigern sich nochmals<br />
zu Beginn des Jahrzehnts in begehbare Environments und<br />
großartige Raumkulissen, wie sie als Typus künstlerischer Räume<br />
mit bewußt nostalgisierender Patina und surrealistischer<br />
Sperrmüll-Aura etwa der US-amerikanische Pop Art-Künstler<br />
Edward Kienholz (KLG 36/1996) bereits in den 70er Jahren für<br />
die internationale Kunstwelt erfolgreich etabliert hat. So entsteht<br />
2004 für die Frankfurter Schirn-Kunsthalle ein weites Neuarrangement<br />
von bereits bestehenden Installationen aus der Hamburger<br />
Sammlung Falckenberg, die von <strong>Meese</strong> neuerlich zu einem<br />
einzigen, vierteiligen Raumsystem zusammengeführt<br />
werden: ›Der Vaterraum (Daddy)‹ (2000), ›Casino Royal (Goldenes<br />
Skelett)‹ (2000; Abb. 4), ›Die Ordensburg ›Mishimoend‹<br />
(Toecutters Mütze)‹ (2002; Abb. 7) und ›La Chambre secrète de<br />
BALTHYS par <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>‹ (2001; Abb. 6), das mit einer<br />
inszenierten Salonatmosphäre und Art bürgerlichem Herrenzimmer<br />
von des Künstlers Bewunderung und Seelenverwandschaft<br />
zu dem Maler Balthus (KLG 15/1991) erzählt.<br />
Alle Räume beherbergten darüber hinaus mehrere höchst unterschiedliche<br />
künstlerische Ausdrucksmedien, von denen insbesondere<br />
die neu hinzugetretenen horrormonsterhaften Bronzeplastiken<br />
im Retro-Art-brut-Stil (Abb. 15) sowie die mit Schrift<br />
verbundenen Malereien im heftigen neo-expressionistischen Stil<br />
neue Aufmerksamkeit erregten. Die fulminant kombinierte Einzelausstellung<br />
mit dem für <strong>Meese</strong> gewohnt kryptisch-poetischen<br />
und verballhornend übergreifenden Titel ›Képi blanc, nackt. DR.<br />
NOs DIAMANTENPLANTAGE, des PHANTOMMÖNCHS<br />
PRÄRIEERZHALL, nahe den wässrigen GOLDFELDERN des DR.<br />
SAU, dabei die DSCHUNGELHAUT über die ZAHNSPANGE des<br />
erntefrischen GEILMÄDCHENS ›SAINT JUST‹. (DER PLANETEN-<br />
KILLER DR. FRAU)‹8 verblüffte das Publikum gleichermaßen mit<br />
inhaltsschweren Details wie elaboriert vielschichtigem Gesamtkunstwerk-Charakter.<br />
Der Besucher konnte darin materialintensive<br />
wie assoziationsreich-durchtränkte Erinnerungs- und Phantasieräume<br />
durchstreifen, die ein die Sinne überwältigendes<br />
labyrinthisches Wahrnehmungsangebot und ein außergewöhnliches<br />
situatives Erfahrungspotential boten, ihn mit ungewöhnlich<br />
dichten Raum-Atmosphären affizierten.<br />
Wilde Malerei. Teil 2<br />
In diesem geschlossenen, symbolisch verdichteten und<br />
schwülen Raumklima schien wiederum hier und da auch Ver-<br />
10<br />
gessenes, Verdrängtes, Tabuiertes und Verworfenes zu schlummern,<br />
das langsam zu keimen begann, um bald darauf im Werk<br />
von <strong>Meese</strong> vollends auszubrechen. Etwa Pornografie als (andere)<br />
Kommunikationsform und universaler Code, als eine noch<br />
letzte sehr direkte und unverstellte radikale Sprache, vermeintlich<br />
immer noch gesellschaftliche Konventionen und Tabus brechend,<br />
wählt <strong>Meese</strong> nun verstärkt zum künstlerischen Ausdruckselement<br />
und riskiert damit, vielleicht nicht ganz<br />
ungewollt, daß seine Werke in Ausstellungen wiederum in geheimnisvoll-umwitterte<br />
Separees (X-rated) verbannt werden.<br />
Doch auch in seiner jüngsten heftigen Malerei, die offenbar eine<br />
kunstgeschichtliche Re-Vision und ein Revival der Neuen<br />
Wilden anstrebt, stolzieren nun die Phalli in stolzen Paraden,<br />
nochmals den Mythos von der künstlerischen Potenz männlichviriler<br />
Provenienz skandierend. Die Gemälde <strong>Meese</strong>s gleichen<br />
demnach auch einem expressiven Sinnenrausch, provozieren<br />
subtil den Eindruck von wahren Farbejakulationen (Abb. 9 + 10).<br />
Duett<br />
Etwas gezügelt hat ihn hier allein nur noch die – wohl durch einflußreiche<br />
Galeristen vermittelte und forcierte – jüngste Zusammenarbeit<br />
mit einem ›Altmeister‹ jener Neuen Wilden, die<br />
während der 80er Jahre mit einem schon legendären ›Hunger<br />
nach Bildern‹9 noch einmal wider das im 20. Jahrhundert wiederholt<br />
proklamierte Ende der Malerei in betont trotzig-rotziger<br />
Manier vehement anmalten. In Kollaboration mit Albert Oehlen<br />
(geb. 1954) entstehen seit einigen Jahren eine ganze Reihe von<br />
generationsverbindenden Gemeinschaftsarbeiten, lapidar betitelt<br />
mit ›Spezialbilder‹ (Abb. 13 + 14). <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> bleibt<br />
sich damit weiterhin treu, in Genealogien, Verwandtschaften<br />
und Dynastien zu denken. Die neuen Gemeinschaftswerke suchen<br />
aber auch vielfältige Bezüge zur Tradition der Kunstgeschichte,<br />
die immer wieder gleichzeitig auch verworfen, hinterfragt<br />
und ironisiert werden. Wie im gesamten Werk von<br />
<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> geht offenkundig mit jeder letzten Beschwörung<br />
einer Sache immer auch ein Stück verborgene, tiefgehende<br />
Verunsicherung und vergebliche Nostalgie einher, die<br />
nur noch allein im radikalen Kult die Konservierung erkennt.<br />
Gleichwohl frappieren diese ›Spezialbilder‹, aus Papiercollagen,<br />
übermalten fotografischen Vergrößerungen und gestisch-abstrahierenden<br />
Malereien bestehend, durch ein die künstlerische<br />
Authentizität, Kreativität, Originalität und Genealogie durchkreuzendes<br />
und gegenseitig überschreibendes Wechselspiel. So<br />
wurden beispielsweise von Albert Oehlen bereitgestellte digital<br />
bearbeitete und auf großes Leinwandformat vergrößerte, vorgefundene<br />
Fotografien von <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> be- und übermalt,<br />
während wiederum im Gegenzug der jüngere Künstler dem älteren<br />
Malerkollegen gepinselte Porträtbilder, die eine hybride<br />
Kreuzung von maskenhaften Cowboys, Regenten und Van
<strong>Meese</strong> 07.02.2006 14:25 Uhr Seite 11<br />
Gogh-Selbstbildnissen zeigen, zur weiteren künstlerischen Bearbeitung<br />
und endgültigen Fertigstellung zur Verfügung stellte.<br />
Der Wille zur Kunst<br />
Die Angebote für <strong>Meese</strong>s derzeitigen furiosen gestalterischen<br />
Schaffensdrang jedenfalls scheinen nahezu unbegrenzt: Der<br />
vielfach gefeierte Personalstil des energischen Künstlers erlaubt<br />
ihm schließlich die goldene Freiheit, sich in den unterschiedlichsten<br />
Formen und Medien weiter künstlerisch zu erproben und zu<br />
wachsen: »Man muß auch in die ganzen Fallen reintappen, oder<br />
alles versuchen, alles probieren, sich alles gestatten«10, rechtfertigt<br />
sich <strong>Meese</strong> mit jugendlichem Elan und schöpferischem<br />
Verve.<br />
In den letzten Jahren konzipierte <strong>Meese</strong> beispielsweise diverse<br />
Künstlerbücher und verfertigte Pamphlete11, illustrierte ein Hans<br />
Christian Andersen-Märchen12 und gestaltete 2004 für Frank<br />
Castorf an der Berliner Volksbühne das Bühnenbild für Pitigrillis<br />
›Kokain‹, das weitere Stationen beim Theaterfestival Avignon<br />
und bei den Festspielen Salzburg fand. Motivisch völlig frei und<br />
unabhängig von der seit 1921 immer noch stark skandalisierten<br />
Romanvorlage, die <strong>Meese</strong> selbst – so wird kolportiert – nur für<br />
bedingt interessant hielt, entstand am Ende, nachdem er die ursprüngliche<br />
Idee der Szenografierung einer Kirche auf der Bühne<br />
als Topos und Metapher wieder verworfen hatte, ein multimedial<br />
bespieltes, gewaltiges Eisernes Kreuz, das auch sonst<br />
noch in vielen Werken von <strong>Meese</strong> immer wieder vorkommt. Der<br />
Künstler selbst hat es auf der Volksbühne als rotierendes ›Getreidespeicher-Raumschiff‹<br />
bezeichnet, aus dessen schlotartigen<br />
Aufsätzen während der Aufführung mächtig viel Nebel waberte<br />
– um den Willen zum ultimativen Bühnenbild noch einmal<br />
etwas zu verschleiern?<br />
Jenseits von Gut und Böse, folgte 2005 zumindest völlig folgerichtig<br />
die gestalterische Bearbeitung und Interpretation des<br />
›Parsifal‹ an der Staatsoper Unter den Linden Berlin, dessen<br />
große ewige Themen wie Leben und Tod, Macht, Kampf, Zerstörung<br />
und Untergang spürbar so ganz nach dem wagnerianischen<br />
Geschmack von <strong>Meese</strong> sind. Der Künstler arbeitet sich in<br />
seinen Bühnen-Performances am machtbesetzten und totalisierenden<br />
Mythos des ›Bühnenweihfestspiels‹ ab; aber auch hier<br />
durchwirkt wiederum die euphorische Akklamation und vorgetragene<br />
Verehrung Richard Wagners ein im wesentlichen neurotischer<br />
Umgang mit überhöhten Autoritäten und die phobische<br />
Furcht vor dem Scheitern an eigenwillig interpretierten wie radikalisierten<br />
Vorbildern. »Wagner ist Gott, ich bin Bayreuth!«, so<br />
<strong>Meese</strong>.<br />
Kunst – offensichtlich also alles nur eine (anbetungswürdige)<br />
Glaubenssache. <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> liefert uns dafür als neuer Hohepriester<br />
der Inszenierungen eine neue Kunst zum Niederknien.<br />
Ave Meesias!<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
Die Autorin ist Kunst- sowie Medienwissenschaftlerin und gehört<br />
dem Beirat von ›Künstler – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst‹<br />
an. Sie lebt und arbeitet in Darmstadt und Mailand.<br />
Anmerkungen<br />
1 Siehe H. Szeemann, zitiert von der FAZ,<br />
31.07.2004<br />
2 Gastvortrag von <strong>Meese</strong> am 30. Mai 2005 im<br />
Karlsruher ZKM, Ausst. ›Werke aus der Sammlung<br />
Boros‹<br />
3 <strong>Meese</strong> im Gespräch mit Wildermann in: P. Wildermann:<br />
›Kunst kommt von Conan. Ein Porträt<br />
über <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>. Ortsgespräch in Berlin-<br />
Mitte: Sympathie de Large‹ (23.04.2004), publiziert<br />
unter www.portalkunstgeschichte.de/<br />
events/portraets_/9.php<br />
4 Ebenda<br />
5 Siehe auch die eigens von der Galerie eingerichtete<br />
Homepage für <strong>Meese</strong>s Kunst unter<br />
http://www.cfa-berlin.com/artists/jonathan_meese/<br />
6 Siehe hierzu auch Dirk von Lowtzow (Tocotronic):<br />
›Die schwarze Leinwand. Ein Besuch bei<br />
<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>‹, in: TEXTE ZUR KUNST, Heft<br />
49, März 2003, S. 53-57<br />
7 J.-H. Wentrup: ›Ein-Mann-Partei des getriebenen<br />
Ichs. Das literarische Wahlprogramm von <strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong>‹, in: <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>. Revolution,<br />
hrsg. von C. Ahrens und C. Haenlein, Katalogbuch<br />
Hannover 2002, S. 75-76<br />
8 Zur Frankfurter Ausstellung erschien überdies<br />
2004 ein beim Publikum äußerst gefragtes und<br />
rasch vergriffenes Katalogbuch (73 Seiten) bei<br />
Revolver, Archiv für aktuelle Kunst Frankfurt am<br />
Main, mit einem Interview und Texten von M.<br />
Hollein, M. Weinhart und J. <strong>Meese</strong>, das inzwischen<br />
bereits hohen Sammlerwert gewonnen<br />
hat.<br />
9 Vgl. W. M. Faust/G. de Fries: Hunger nach Bildern.<br />
Deutsche Malerei der Gegenwart, Köln<br />
1982<br />
10 <strong>Meese</strong> im TV-Feature ›Durch die Nacht mit Christoph<br />
Schlingensief und Jörg Immendorff‹, avanti<br />
media im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit<br />
mit arte, 2004<br />
11 Siehe beispielsweise ›Sils Maria‹, Berlin: Contemporary<br />
Fine Arts 2004<br />
12 Siehe ›Meine Schneekönigin. Ein Märchen von<br />
<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> für Hans Christian Andersen‹,<br />
hrsg. von J. Wangemann und Volksbühne am<br />
Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2004<br />
Fotonachweis<br />
Alle Abbildungen Jochen Littkemann<br />
Die Abbildungsvorlagen wurden uns freundlicherweise<br />
zur Verfügung gestellt von Contemporary<br />
Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
11
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 12<br />
11<br />
12<br />
12<br />
11 Die Jenseitskutsche des ewigen VORMÖNCHSOLDATEN<br />
›Sankt Diablossys‹ auf..., 2002<br />
Mixed media<br />
Maße variabel<br />
Privatbesitz<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
12 Die Jenseitskutsche des Diablossos (das Mädchending), 2002<br />
Mixed media<br />
126 x 100 x 180 cm<br />
Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 13<br />
13<br />
13 Albert Oehlen/<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong><br />
an der Wand, 2003<br />
Ölfarbe, Inkjet auf Holz<br />
208 x 280 cm<br />
Privatbesitz<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
14 Albert Oehlen/<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong><br />
Musikzimmer, 2004<br />
Inkjet, Ölfarbe auf Leinwand<br />
213 x 169 cm<br />
Im Besitz des Künstlers<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
14<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
13
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 14<br />
14
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 15<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
15
<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 16<br />
<strong>Jonathan</strong><br />
<strong>Meese</strong><br />
15 Relieffratze (Schweinenasenpüree Salsiccie), 2005<br />
Bronze<br />
30 x 23,5 x 11 cm<br />
Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />
16