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Jonathan Meese - Zeit Kunstverlag

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Ausgabe 73<br />

Heft 5<br />

1. Quartal 2006<br />

B 26079<br />

Eine Edition der<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs<br />

GmbH & Co. KG<br />

Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong>


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:38 Uhr Seite 2<br />

Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />

28 Künstlermonografien auf über 500<br />

Text- und Bild-Seiten und kostet im<br />

Jahresabonnement einschl. Sammelordner<br />

und Schuber € 148,–,<br />

im Ausland € 158,–, frei Haus.<br />

www.weltkunst.de<br />

Postanschrift für Verlag und Redaktion<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

D-80636 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

Telefax 0 89/12 69 90-11<br />

Bankkonto: Commerzbank Stuttgart<br />

Konto-Nr. 525 55 34, BLZ 600 400 71<br />

›Künstler‹ erscheint in der<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Geschäftsführer<br />

Florian Wagner, Thomas Brackvogel,<br />

Dr. Rainer Esser<br />

Herausgeber<br />

Dr. Detlef Bluemler/Prof. Lothar Romain †<br />

Redaktion<br />

Dr. Detlef Bluemler (v. i. S. d. P.)<br />

Dokumentation<br />

Andreas Gröner<br />

Ständiger Redaktionsbeirat<br />

Dr. Eduard Beaucamp, Frankfurt/Main<br />

Dr. Christoph Brockhaus, Duisburg<br />

Prof. Dr. Johannes Cladders, Krefeld<br />

Prof. Rolf-Gunter Dienst, Baden-Baden<br />

Prof. Dr. Helmut Friedel, München<br />

Rainer Haarmann, Neuwittenbek/Kiel<br />

Prof. Dr. Wulf Herzogenrath, Bremen<br />

Prof. Klaus Honnef, Bonn<br />

Prof. Dr. Max Imdahl †<br />

Prof. Dr. Georg Jappe, Köln/Hamburg<br />

Prof. Dr. Jens Chr. Jensen, Hamburg<br />

Dr. Petra Kipphoff, Hamburg<br />

Dr. Ralph Köhnen, Bochum<br />

Prof. Kasper König, Köln<br />

Dr. Jochen Poetter, Köln<br />

Prof. Karl Ruhrberg, Oberstdorf<br />

Prof. Dr. Wieland Schmied, A-Vorchdorf<br />

Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, Köln<br />

Prof. Dr. Uwe M. Schneede, Hamburg<br />

Dr. Pamela C. Scorzin, I-Mailand<br />

Dr. Dierk Stemmler, Mönchengladbach<br />

Prof. Dr. Karin Stempel, Kassel<br />

Prof. Dr. Eduard Trier, Bonn<br />

Dr. Rolf Wedewer, Leverkusen<br />

Dr. Christoph Zuschlag, Heidelberg/Berlin<br />

Prof. Dr. Armin Zweite, Düsseldorf<br />

Grafik<br />

Michael Müller<br />

Abonnement und Leserservice<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

Postfach 19 09 18<br />

D-80609 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

›Künstler‹ ist auch<br />

über den Buchhandel erhältlich<br />

Prepress<br />

Franzis print & media GmbH, München<br />

Druck<br />

Aumüller Druck KG, Regensburg<br />

Die Publikation und alle in ihr<br />

enthaltenen Beiträge und Abbildungen<br />

sind urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung, die nicht ausdrücklich vom<br />

Urheberrechtsgesetz zugelassen ist,<br />

bedarf der vorherigen Zustimmung des<br />

Verlages. Dies gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Bearbeitungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

die Einspeicherung und Verarbeitung<br />

in elektronischen Systemen.<br />

© <strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />

München 2006<br />

Cover<br />

Ahoi, Ihr Gnierzl'-Nasn'..., 1998<br />

Installationsansicht: Contemporary Fine<br />

Arts, Berlin/Deutschland 1998<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts,<br />

Berlin/Deutschland<br />

ISSN 0934-1730<br />

Mein größtes Ziel ist es, der ERZRITTER HAGEN<br />

V. TRONJE zu sein, in seinem Namen Bayreuth zu<br />

inszenieren, und dann ›A Clockwork Orange II‹ zu<br />

machen ...<br />

J. M.<br />

Foto: Andrea Stappert


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:38 Uhr Seite 3<br />

Pamela C. Scorzin<br />

über <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong><br />

Der 2005 verstorbene Harald Szeemann nannte ihn noch zweifelnd<br />

»Konfusionist«1; die in großer Schar anläßlich dessen Gastvortrages<br />

im Karlsruher ZKM2 versammelte Studentenschaft hingegen<br />

wollte von ihm interessiert wissen, ob er denn ihr ersehnter<br />

neuer ›Messias‹ wäre, der sie in das große letzte Mysterium einweihe,<br />

was Kunst sei. <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>, ein berserkerhafter Freak<br />

aus einem beschaulichen Vorort von Hamburg, der die Gemüter<br />

der gesamten Kunstwelt derzeit wie kein Zweiter scheidet und<br />

extrem polarisiert, verheißt die M(eese)-Theorie, die absolute<br />

Kunst-Formel, die es heute mehr denn je ritterlich zu verteidigen<br />

gilt. Gleichzeitig irritiert der ›from zero to hero‹ gefeierte Shootingstar<br />

der internationalen Kunstszene sein Publikum und die wachsende<br />

Jüngerschaft vom Katheder aus mit häretischen Paradoxien,<br />

sektiererischen Mystifizierungen und zur Schau gestellter<br />

fundamentaler Naivität: »Wenn ich sage ›Ich mache keine Kunst‹,<br />

dann heißt das aber letztendlich nur, daß ich keine Rezepte habe,<br />

wie man sie herstellt. Ich habe keine Ahnung, keine Rechtfertigung,<br />

wie man sich verhalten soll, ich weiß nicht, was dazu führt,<br />

Kunst entstehen zu lassen. Ich glaube nicht an Kreativität, nicht<br />

an Phantasie, zumindest nicht als Garanten einer Kunstproduktion<br />

– das ist ein geheimnisvoller Prozeß, für den wir keine Worte<br />

haben. Ich glaube, daß die Kunst sich selbst erzeugt und dann<br />

auch selbst entscheidet, was sie ist.«3 Die Kunst ist für ihn folglich<br />

ein zu bewahrendes Geheimnis und auf diese Weise völlig<br />

autonom; sie gerät damit zu einer unerklärbaren, nur intuitiv erfaßbaren<br />

Glaubenssache und kultischen Religion.<br />

Messy-Messias<br />

Anfang des 21. Jahrhunderts ist <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> damit für viele<br />

ein angesagtes Prediger-Idol; seine bis zur totalen Erschöpfung<br />

gehenden delirischen Performances, theatralischen Aktionen<br />

und skurrilen Lesungen gelten zur <strong>Zeit</strong> als gehypter wie angesagter<br />

Kult! Der 1970 in Tokio geborene Sohn deutsch-walisischer<br />

Eltern darf dabei als charismatischer Popstar und düsterer<br />

Rebell der zeitgenössischen nationalen Kunstszene auch<br />

gewaltige publizistische Aufmerksamkeit und ein enormes Medienecho<br />

aus der seriösen wie der populären internationalen<br />

Presse genießen. »Viel Aufmerksamkeit und viel Erfolg für einen<br />

jungen Künstler«, hat Patrick Wildermann dazu angemerkt,<br />

»dessen Talent nicht zuletzt darin liegt, jede Gewißheit über sein<br />

Werk zu zerstreuen. Er zelebriert die heilige Dreifaltigkeit aus<br />

Pathos, Pose und Parodie derart aufrichtig, daß selbst gestandene<br />

Kunstkritiker mit einem Rest von Ratlosigkeit auf seine<br />

Gemälde, Installation und Skulpturen blicken, die nicht selten<br />

aussehen, als hätte sich ein Horrorfreak im LSD-Furor durchs<br />

Cabinet des Dr. Caligari gewühlt.«4 Die Kunstkritik läßt sich<br />

hierbei offensichtlich gerne auch von <strong>Meese</strong>s notorisch phantastischer,<br />

verbaler Formulierungsgewalt mitreißen und fühlt sich<br />

damit in vielerlei Hinsicht herausgefordert.<br />

Meesianismus<br />

Im <strong>Zeit</strong>alter des allgegenwärtigen Spektakels aber, das Guy Debord<br />

bereits Ende der 60er Jahre für unsere Gegenwart so erhellend<br />

diagnostiziert hat, spricht für den Künstler heute nicht<br />

mehr nur allein die Qualität und Originalität seiner Werke, sondern<br />

vielmehr die raffinierte Positionierung und gelungene Inszenierung<br />

jenes und dieser innerhalb der merkantilen Logik<br />

und Funktionsweise eines völlig durchökonomisierten und globalisierten<br />

Betriebssystems Kunst. Image ist heute eben alles,<br />

und <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> eignet sich dabei wahrlich zum provokanten<br />

Medienstar. Man preist ihn mitunter sensationsgeladen als<br />

›Massakreur konformistischer Gegenwartskunst‹. Mitunter wird<br />

dann schließlich auch mehr erst die Erscheinung einer Person<br />

als ihr schöpferisches Werk kommuniziert. Im Fall von <strong>Meese</strong><br />

wird die notorische ›onomatopoetisch-pathogene‹ Kreativität<br />

seiner eigenwillig apodiktischen Diktion über Kunst, übertragen<br />

auf die markante Figur des Künstlers, von der Presse gerne gespiegelt.<br />

Der in deutscher Aussprache rezipierte englische<br />

Nachname <strong>Meese</strong> verführte schließlich bereits etliche Journalisten<br />

geradezu zu labelhaften und werbewirksamen Wortspielen<br />

wie etwa ›der Messy-Messias‹.<br />

Ob man dann gleich auch noch in der medial ausgespähten<br />

christomorphen Gestalt mit den schwarzen Cordschlaghosen<br />

und der adidas-Trainingsjacke (ohne Markenfetischismus geht<br />

heute schließlich bei der Jugend gar nichts mehr) den »Schamanen<br />

und Wiedergänger von Joseph Beuys« ausmachen<br />

möchte, wie eine belehrstuhlte deutsche Kunstwissenschaftlerin<br />

sich nach einer Kölner Performance bereits 1999 hingerissen<br />

fühlte, mit akademischer Deutungshoheit zu behaupten, mag allerdings<br />

erst einmal so dahingestellt sein. Viel wichtiger wird damit<br />

aber zugleich angedeutet, wie sich <strong>Meese</strong>s individueller Mythologie-Kosmos<br />

ungeschehen in eine bestimmte Tradition<br />

deutscher Gegenwartskunst einordnen ließ, auf die noch <strong>Meese</strong>s<br />

trashiger Retro-80er-Stil überdies unübersehbar zu verweisen<br />

scheint – zu nennen wären hier u. a. Beuys (KLG 4/1988 +<br />

21/1993), Kiefer, Immendorff (KLG 71/2005) und die sogenannten<br />

Neuen Wilden. Wahrgenommen und angenommen wird<br />

schließlich letzten Endes oftmals nur das, was man auch irgendwie<br />

wiedererkennt, und so erstaunt es eigentlich nur wenig,<br />

daß der junge <strong>Meese</strong> nach seinem abgebrochenen kurzen<br />

Studium bei Franz Erhard Walther (KLG 2/1988) an der bislang<br />

einen äußerst liberalen Ruf genießenden Hochschule der Bildenden<br />

Künste in Hamburg bereits 1997/98 einen Karriere befördernden<br />

Galerievertrag bei der renommierten und einflußreichen<br />

Berliner Galerie Contemporary Fine Arts erhielt.5<br />

Erzritter, Renegat und Dissident<br />

Von seiner mönchischen Ordensburg Berlin-Mitte, wo der flippige<br />

Jungstar und hippe Gothic-Gralshüter der deutschen Szene<br />

neben Hausgalerie derzeit auch Atelier und Privatwohnung be-<br />

3


<strong>Meese</strong> 07.02.2006 14:25 Uhr Seite 4<br />

4<br />

1 The Third Man in the Round House/MALDORORTURM,<br />

1998<br />

Mixed media<br />

600 x 440 x 440 cm<br />

Museum Abteiberg, Mönchengladbach/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

2 Erzreligion Blutlazarett ..., 1999<br />

Bleistift, Filzstift auf Papier<br />

21 x 29,7 cm<br />

Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 5<br />

3 Hagen von Tronje v.s. Sigfried, 2000<br />

Mixed Media<br />

265 x 200 x 200 cm<br />

Bundesminsterium für Kultur und Medien,<br />

Berlin/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

4 Casino Royal (Goldenes Skelett), 2000<br />

Mixed Media<br />

Variable Maße<br />

Sammlung Falckenberg, Hamburg/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

5 Der Eimeese, 2001<br />

Ölfarbe auf Leinwand<br />

zweiteilig, 190 x 260 x 1,7 cm<br />

Privatbesitz<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

5


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 6<br />

sitzt6, konnte der selbsterklärte heilige Ordensritter <strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong>, der sich gerne auch mal mit Poetry-Slam-Pathos der<br />

Gemeinschaft als Erzritter Hagen von Tronje ausruft, fortan nun<br />

ausziehen, der blutleer-lauwarmen Avantgarde der internationalen<br />

Kunstszene mit einer ausgeprägt leidenschaftlich-pathetischen<br />

Radikalität, aberwitzig neologisierenden Worthuberei und<br />

liturgischen Geheimsprache sowie heftig-wilden Ekstase und<br />

fanatischem Enthusiasmus wahrlich das Fürchten zu lehren. <strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong> reitet selbst erklärtermaßen wider die künstlerische<br />

»feige Weltgleichschaltung«.<br />

Der Jungstar versteht dabei noch geschickt, das taktische Spiel<br />

des heroischen Protestes und der grundsätzlichen Anti-Haltung<br />

wie Alterität zum gerade vorrangig Gängigen und kurzlebig Modischen<br />

in der Gegenwartskunst mit strategischer Intuition zu<br />

spielen. Er darf dafür gerne als Renegat und Dissident von allem<br />

derzeit angesagten Politisch-Korrekten, von aktuellen Gender-<br />

Themen oder forciertem Institutionskritischen und ›gesellschaftlich<br />

Relevantem‹ im aktuellen Gewand etwa von ›Kunst als<br />

Dienstleistung‹ oder ›intervenierender Sozialarbeit‹ angesehen<br />

werden. <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> inkarniert und inthronisiert dafür wiederum<br />

mit Brio und Bravour abermals das männliche (defekte)<br />

Künstlersubjekt, das extensiv dem singulären Geniedasein und<br />

provozierenden Nonkonformismus frönt. Jedoch gerade dieses<br />

vermeintlich bereits überkommene moderne Künstlerbild, das<br />

durch stereotype Vorstellungen von einer originellen Vorzeige-<br />

Authentizität, einer stark subjektorientierten Autorschaft, obsessiven<br />

Werkautonomie und männlich-virilen Dominanz charakterisiert<br />

ist (Hubertus Butin), erlebte gerade Ende der 90er Jahre,<br />

in <strong>Zeit</strong>en des boomenden Neo-Liberalismus und erstarkenden<br />

Neo-Konservativismus, nochmals eine erstaunliche Renaissance.<br />

Praktiziert und propagiert wird hier offenkundig ein altes<br />

wie überraschenderweise wieder höchst aktuelles modernes<br />

Künstlerbild als manisch Getriebener, ästhetischer Außenseiter,<br />

widerspenstiger Egozentriker und genialisches Original. Und <strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong> füllt diese Rollen erstaunlich gut.<br />

Gemäß der Logik seines eigenen assoziativ-verketteten Denkens<br />

in genealogischen und dynastischen Verbindungen und<br />

seines subjektivistisch unifizierenden Weiter-, Um- und Überschreibens<br />

von modernen Mythen kann man in <strong>Meese</strong> aber<br />

auch das mit Lust und Genuß ewig schockierende und Tabus<br />

brechende Enfant terrible, den schrillen Marilyn Manson der von<br />

populären Massenmedien infiltrierten Kunstszene erkennen, der<br />

überdies noch leichtens einen explosiv eruptierenden Klaus<br />

Kinski oder schräg krawallierenden Christoph Schlingensief<br />

schnell in den Schatten stellt. Dabei entstand über nur wenige<br />

Jahre, begleitet von einer regen Ausstellungstätigkeit und ungeheuren<br />

medialen Präsenz (bis hin zu einer kleinen Nebendarstellerszene<br />

mit Oneliner im umstrittenen Film ›Sonnenallee‹ von<br />

6<br />

Leander Haußmann), zugleich ein überbordendes und vielschichtiges<br />

Gesamtwerk, das sich in der thematischen Intensität<br />

und Stringenz seines pop-trashigen und mythisch verbrämten<br />

Subjektivismus frank und frei aller nur erdenklicher und<br />

zur Verfügung stehender Medien und Materialien bedient, aus<br />

Gefundenem und Selbstgebasteltem hervorgeht.<br />

Vom Jugendzimmer zur Kunstinstallation<br />

Aus dem exemplarischen Sammeleifer eines spätpubertierenden<br />

Fans entstehen zunächst jugendzimmerähnliche Szenografien,<br />

die von der Verehrung strahlender Idole und fiktiver stereotyper<br />

Helden, vorwiegend aus dem Bereich Film- und Populärkultur<br />

(Kinski, Bronson, Eastwood, De Niro, Ventura und viele andere),<br />

künden. Die künstlerische Arbeit parallel zum zeitgenössischen<br />

Kuriosum jugendlicher ›Fan-Kulturen‹ und einem soziologisch<br />

recht interessanten, da fanatisch jeweils individuell betriebenem,<br />

gesellschaftlich hingegen eher völlig belanglosem, hermetischen<br />

Pseudo-Spezialwissen gründet beim cinephilen jungen <strong>Meese</strong> in<br />

einem obsessiv-manischen und neurotischen Sammeleifer, der<br />

in beeindruckend chaotisch geordneten Materialschlachten und<br />

strukturell überquellenden Arrangements kulminiert. Gesammelte<br />

und zusammengetragene Poster, ein Wust unzähliger Fanmagazin-Ausschnitte,<br />

Kopiertes und andere Devotionalien wachsen<br />

dabei zu regelrechten Weihestätten und Kultaltären heran und<br />

reflektieren darin zugleich das Phänomen.<br />

Aus diesen ersten, relativ privat und intim anmutenden, ausgestellten<br />

›<strong>Meese</strong>-Kojen‹, die vom Künstler mit strapaziösen Performances<br />

und inbrünstigen Lesungen belebt werden, entwickeln<br />

sich dann allmählich komplexe, raumgreifende,<br />

multi-mediale Installationen, die als wahre bunte Materialschlachten<br />

noch die bizarren Materialräume und opulenten Privatsammlungen<br />

von Künstlern wie Anna Oppermann (KLG<br />

8/1989) oder Dieter Roth (KLG 11/1990) in Erinnerung rufen (siehe<br />

Cover). Alles wird darin subjektiv mit jedem verbunden, surrealistisch<br />

»gesudet«, wie <strong>Meese</strong> selbst formuliert, und so erscheinen<br />

neben den Bildern der von ihm vielfach zitierten<br />

fiktiven Filmhelden wie z. B. Dr. No aus ›007 - James Bond‹,<br />

John Milius' ›Conan der Barbar‹, Emma Peel, Zed aus ›Zardoz‹,<br />

Alex de Large aus Stanley Kubricks ›A Clockwork Orange‹ oder<br />

Travis Bickle aus Martin Scorseses ›Taxis Driver‹ und dem Anti-<br />

Helden Toecutter (Abb. 7) aus dem ›Mad Max‹-Filmepos immer<br />

häufiger auch <strong>Meese</strong>s eigene Fotografien, die ihn in unterschiedlich<br />

adaptierten Posen, Masken und Rollenspielen zeigen.<br />

Der Sud der Bilder, Ideen und als Kommentar von <strong>Meese</strong> per<br />

Handschrift hinzugefügten kryptisch-poetischen Wortschöpfungen,<br />

die sich aus Verkürzen, Verschleifen und Zusammenziehen<br />

von unterschiedlichen Begriffen oder einfachem Hinzufügen von<br />

erklärten Vorsilben wie etwa ›Erz‹, ›Saint‹, ›Dr.‹, ›Dei‹ oder ›Staat‹<br />

ergeben, erinnert nicht zuletzt auch an dreidimensionale, große


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 7<br />

und damit real begehbar gewordene Sudelbücher. In eben dieser<br />

medialen Clip- und Zapptechnik ausgestaltete und gesampelte<br />

Künstlerbücher und Hefte in improvisierter jugendlichtrashiger<br />

Scrapbook-Ästhetik werden für <strong>Meese</strong> dabei schnell<br />

zu einer weiteren künstlerischen Domäne, während seine ersten<br />

frühen Rauminstallationen noch Affinitäten zur anglo-amerikanischen<br />

Trash- und Scatter-Art aufweisen und gleichzeitig von der<br />

internationalen Fachwelt als Neo-Dada oder – eher pejorativ –<br />

als ›Kraut Art‹ rezipiert wurden.<br />

Suden zum Gesamtkunstwerk<br />

Recht symptomatisch für ihre eigene <strong>Zeit</strong> künden indes diese<br />

materialintensiven Assemblagen, Arrangements und Installationen<br />

letztlich von der Fragmentierung und Zersplitterung der<br />

Wahrnehmung in einer total mediatisierten modernen Welt, in<br />

der Sinnsuche immer auch mit einer subjektiven Sinnkonstruktion<br />

einhergeht und das Individuum sich immer stärker damit<br />

konfrontiert sieht, aus der überbordenden Fülle das für ihn/sie<br />

individuell Relevante, Vorbildliche und Wesentliche zu schöpfen<br />

oder in einer alle Hierarchien und Kategorien nivellierenden medialen<br />

Informationsflut heillos zu versinken und dabei ohne Identitätsfindung<br />

hilflos unterzugehen. Auch <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> kennt<br />

dabei keine essentielle Trennung mehr zwischen High & Low,<br />

zwischen bürgerlicher Hochkultur und populärem Trash – nunmehr<br />

ist eben alles ein ›Sud‹.<br />

Plastische Konfigurationen und reale Objekte als integrale Bestandteile<br />

der aus Montage- und Collage-Techniken resultierenden<br />

bildergesättigten Arrangements erweitern Ende der 90er<br />

Jahre verstärkt <strong>Meese</strong>s Arbeiten zu größeren labyrinthartigen<br />

Rauminstallationen, nicht unähnlich den bizarr endlosen Wucherungen<br />

und Formmetastasen in Schwitters' legendären ›Merz-<br />

Bauten‹. In diese Räume zieht zugleich jetzt ein anderes, weniger<br />

harmloses Personal ein. Immer ambivalentere Charaktere und<br />

negativ besetzte Figuren der durch klischeehafte Konstruktion,<br />

abstrahierende Überhöhung und schablonenhafte Interpretation<br />

zum Mythos geronnenen Realgeschichte spuken nun immer<br />

häufiger in Gemeinschaft mit verschiedenen fiktiven Gestalten<br />

und Sagenfiguren in <strong>Meese</strong>s subjektivem und dennoch auch kollektivem<br />

Mythologie-Kosmos heftig herum: »Heidegger, Nietzsche,<br />

Stalin, Hitler, Caligula, Zardoz, Wagner, Echnaton, Kinski,<br />

Alex de Large, der Marquis de Sade. Demagogen und Despoten,<br />

Heilsverkünder und Schreckensbringer, Monster und Bestien,<br />

Kain und Abel, Ich und Es. Fasziniert von ihrer Tragik, ihrem<br />

Schicksal, ihrer existenziellen Rolle. Lust am (satanisch) Bösen,<br />

am Unkorrekten, am Verdrängten und Verschwiegenen. Daneben<br />

Jungfrauen, Busenwunder, Schönheitsköniginnen, Diven<br />

und Musen von Gestern und Heute. Eros und Thanatos als Movens<br />

der Menschheit. Triebkonflikte und Unterdrückung, Verdrängung<br />

und Sublimation, Hysterie und Nervosität. <strong>Meese</strong> zwi-<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

schen allen und allem als homo ludens, dessen unbändige Freude<br />

am Spiel einen Mythos, eine Religion, einen Kult erschafft,<br />

der aus Vergangenheit und Gegenwart seiner selbst und der<br />

Menschheit als ganzes schöpft.«7 Dieser auf gegenseitige Referenznahme,<br />

Analogiesetzung und Verweise aufgebaute binäre<br />

Geschichtskosmos aus archetypisch manichäischen Auffassungen,<br />

stereotypen Verkürzungen und universialisierenden Personifikationen<br />

zeigt das dabei subjektiv Imaginierte und Dargestellte<br />

nicht so sehr als Fiktion und Fälschung, als vielmehr als<br />

bewußte wie unbewußte Fabrikation und Erfindung, mit jener voluntaristischen<br />

Konstruktionsarbeit, die nicht nur dem Gedächtnis<br />

und der Erinnerung, sondern wohl generell allem Kulturellen<br />

zugrunde liegt. In schönster Weise demonstrieren hier <strong>Meese</strong>s<br />

künstlerische Arbeiten anschaulich, wie jede kulturelle Produktion<br />

von Sinn sich als grundsätzlich artifizielle und von Interesse<br />

gerichtete Konstruktionsarbeit erweist.<br />

Das von <strong>Meese</strong> dafür herbeizitierte und heraufbeschworene historische<br />

wie imaginäre Personenrepertoire aus Bayreuther Nibelungenschar<br />

bis zur Führerschaft des Dritten Reichs, das bald<br />

darauf regelrecht in karnevalistischen Endloszügen in seinem<br />

Werk immer wieder munter aufmarschiert, führt dabei gleichwohl<br />

in jüngster <strong>Zeit</strong> zu einem nicht ganz ungefährlichen, weil<br />

doch auch leicht mißverständlichen Spiel mit historisch vorbelasteten<br />

Symbolen und verbrämten Mythen der Nation. Doch ist<br />

dies alles bereits Kalkül. Wie etwa seine Altersgenossen von der<br />

deutschen Rock-Gruppe ›Rammstein‹ dient dieses kühn experimentierfreudige<br />

Zündeln mit dem verbotenen Tabubruch offensichtlich<br />

der Dekonstruktion durch Banalisierung, Ridikülisierung<br />

und parodistischen Vereinnahmung, was letztendlich auch zu einer<br />

entscheidenden semiotischen Verschiebung und Transformierung,<br />

d. h. zur ästhetischen Re-Territorialisierung und Resignifizierung<br />

historisch verlorener und bereits aufgegebener<br />

Ausdrucksformen führt. Bestenfalls jedenfalls, denn erhalten<br />

bleibt in diesem rabiaten Aneignungsprozeß oftmals gerade<br />

auch ihre magische Wirkung und geheimnisvolle Verführungskraft.<br />

Eine davon ausströmende Totalität und Radikalität, von<br />

der auch <strong>Meese</strong> selbst wie viele andere irgendwie eigenartig in<br />

Bann gezogen und fasziniert scheint. Die Macht und ambivalente<br />

Anziehungskraft der Namen und Symbole werden indes wiederum<br />

künstlerisch gebannt, ihre unerklärlich überwältigende<br />

Energie absorbiert, ohne deren Werte wirklich anzunehmen, und<br />

dann zum neuen Konsum gebracht. Bayreuth ist für <strong>Meese</strong> daher<br />

einmal mehr Destination und Endziel.<br />

Runen raunen<br />

Seit Ende der 90er Jahre verdüstern sich die Rauminstallationen<br />

zusehends. Allerlei symbolisch aufgeladene Zeichen, Kerzen<br />

und Kreuze ziehen ein, Runen raunen von den Wänden. Überall<br />

begleiten plötzlich die Farben Schwarz und Blutrot die visionäre<br />

7


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 8<br />

6<br />

7<br />

8


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 9<br />

6 La Chambre secrète de BALTHYS par <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>, 2001<br />

Mixed media<br />

Installationsansicht, Sammlung Falckenberg, Hamburg/Deutschland,<br />

und Kestner-Gesellschaft, Hannover/Deutschland, 2001<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

7 Die Ordensburg ›Mishimoend‹ (Toecutter's Mütze), 2002<br />

Mixed media<br />

Installationsansicht, Sammlung Falckenberg, Hamburg/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

8 <strong>Jonathan</strong> de Large (Ich mit brauner Trainingsjacke in Saalstellung<br />

später Squaw), 2002<br />

Mixed media<br />

70 x 100 x 190 cm<br />

Privatbesitz<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

9 Predatormeese der seltsamsten Mädchenblüte ..., 2002<br />

Ölfarbe auf Leinwand<br />

210 x 140 x 2 cm<br />

Privatbesitz<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

10 Dr Golddocgott im Wald, 2002<br />

Ölfarbe auf Leinwand<br />

210 x 140 x 2 cm<br />

Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

9 10<br />

8<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

9


<strong>Meese</strong> 07.02.2006 14:25 Uhr Seite 10<br />

kryptische Schrift an der Wand, die vom utopischen letzten Ritter-<br />

und Mönchstum kündet, Saal mit Staat vermählt, Hagen<br />

von Tronje (Abb. 3) bis Marquis de Sade, Echnaton bis Maldoror<br />

(Abb. 1) oder Martin von Essenbeck bis Martin Heidegger beschwört,<br />

und dabei noch schön zeitgeistig-jugendkulturell, eine<br />

frappierend modische Gothic-Atmosphäre und chice Horror-<br />

Ästhetik verströmt.<br />

<strong>Meese</strong>s adoleszente Rauminstallationen steigern sich nochmals<br />

zu Beginn des Jahrzehnts in begehbare Environments und<br />

großartige Raumkulissen, wie sie als Typus künstlerischer Räume<br />

mit bewußt nostalgisierender Patina und surrealistischer<br />

Sperrmüll-Aura etwa der US-amerikanische Pop Art-Künstler<br />

Edward Kienholz (KLG 36/1996) bereits in den 70er Jahren für<br />

die internationale Kunstwelt erfolgreich etabliert hat. So entsteht<br />

2004 für die Frankfurter Schirn-Kunsthalle ein weites Neuarrangement<br />

von bereits bestehenden Installationen aus der Hamburger<br />

Sammlung Falckenberg, die von <strong>Meese</strong> neuerlich zu einem<br />

einzigen, vierteiligen Raumsystem zusammengeführt<br />

werden: ›Der Vaterraum (Daddy)‹ (2000), ›Casino Royal (Goldenes<br />

Skelett)‹ (2000; Abb. 4), ›Die Ordensburg ›Mishimoend‹<br />

(Toecutters Mütze)‹ (2002; Abb. 7) und ›La Chambre secrète de<br />

BALTHYS par <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>‹ (2001; Abb. 6), das mit einer<br />

inszenierten Salonatmosphäre und Art bürgerlichem Herrenzimmer<br />

von des Künstlers Bewunderung und Seelenverwandschaft<br />

zu dem Maler Balthus (KLG 15/1991) erzählt.<br />

Alle Räume beherbergten darüber hinaus mehrere höchst unterschiedliche<br />

künstlerische Ausdrucksmedien, von denen insbesondere<br />

die neu hinzugetretenen horrormonsterhaften Bronzeplastiken<br />

im Retro-Art-brut-Stil (Abb. 15) sowie die mit Schrift<br />

verbundenen Malereien im heftigen neo-expressionistischen Stil<br />

neue Aufmerksamkeit erregten. Die fulminant kombinierte Einzelausstellung<br />

mit dem für <strong>Meese</strong> gewohnt kryptisch-poetischen<br />

und verballhornend übergreifenden Titel ›Képi blanc, nackt. DR.<br />

NOs DIAMANTENPLANTAGE, des PHANTOMMÖNCHS<br />

PRÄRIEERZHALL, nahe den wässrigen GOLDFELDERN des DR.<br />

SAU, dabei die DSCHUNGELHAUT über die ZAHNSPANGE des<br />

erntefrischen GEILMÄDCHENS ›SAINT JUST‹. (DER PLANETEN-<br />

KILLER DR. FRAU)‹8 verblüffte das Publikum gleichermaßen mit<br />

inhaltsschweren Details wie elaboriert vielschichtigem Gesamtkunstwerk-Charakter.<br />

Der Besucher konnte darin materialintensive<br />

wie assoziationsreich-durchtränkte Erinnerungs- und Phantasieräume<br />

durchstreifen, die ein die Sinne überwältigendes<br />

labyrinthisches Wahrnehmungsangebot und ein außergewöhnliches<br />

situatives Erfahrungspotential boten, ihn mit ungewöhnlich<br />

dichten Raum-Atmosphären affizierten.<br />

Wilde Malerei. Teil 2<br />

In diesem geschlossenen, symbolisch verdichteten und<br />

schwülen Raumklima schien wiederum hier und da auch Ver-<br />

10<br />

gessenes, Verdrängtes, Tabuiertes und Verworfenes zu schlummern,<br />

das langsam zu keimen begann, um bald darauf im Werk<br />

von <strong>Meese</strong> vollends auszubrechen. Etwa Pornografie als (andere)<br />

Kommunikationsform und universaler Code, als eine noch<br />

letzte sehr direkte und unverstellte radikale Sprache, vermeintlich<br />

immer noch gesellschaftliche Konventionen und Tabus brechend,<br />

wählt <strong>Meese</strong> nun verstärkt zum künstlerischen Ausdruckselement<br />

und riskiert damit, vielleicht nicht ganz<br />

ungewollt, daß seine Werke in Ausstellungen wiederum in geheimnisvoll-umwitterte<br />

Separees (X-rated) verbannt werden.<br />

Doch auch in seiner jüngsten heftigen Malerei, die offenbar eine<br />

kunstgeschichtliche Re-Vision und ein Revival der Neuen<br />

Wilden anstrebt, stolzieren nun die Phalli in stolzen Paraden,<br />

nochmals den Mythos von der künstlerischen Potenz männlichviriler<br />

Provenienz skandierend. Die Gemälde <strong>Meese</strong>s gleichen<br />

demnach auch einem expressiven Sinnenrausch, provozieren<br />

subtil den Eindruck von wahren Farbejakulationen (Abb. 9 + 10).<br />

Duett<br />

Etwas gezügelt hat ihn hier allein nur noch die – wohl durch einflußreiche<br />

Galeristen vermittelte und forcierte – jüngste Zusammenarbeit<br />

mit einem ›Altmeister‹ jener Neuen Wilden, die<br />

während der 80er Jahre mit einem schon legendären ›Hunger<br />

nach Bildern‹9 noch einmal wider das im 20. Jahrhundert wiederholt<br />

proklamierte Ende der Malerei in betont trotzig-rotziger<br />

Manier vehement anmalten. In Kollaboration mit Albert Oehlen<br />

(geb. 1954) entstehen seit einigen Jahren eine ganze Reihe von<br />

generationsverbindenden Gemeinschaftsarbeiten, lapidar betitelt<br />

mit ›Spezialbilder‹ (Abb. 13 + 14). <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> bleibt<br />

sich damit weiterhin treu, in Genealogien, Verwandtschaften<br />

und Dynastien zu denken. Die neuen Gemeinschaftswerke suchen<br />

aber auch vielfältige Bezüge zur Tradition der Kunstgeschichte,<br />

die immer wieder gleichzeitig auch verworfen, hinterfragt<br />

und ironisiert werden. Wie im gesamten Werk von<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> geht offenkundig mit jeder letzten Beschwörung<br />

einer Sache immer auch ein Stück verborgene, tiefgehende<br />

Verunsicherung und vergebliche Nostalgie einher, die<br />

nur noch allein im radikalen Kult die Konservierung erkennt.<br />

Gleichwohl frappieren diese ›Spezialbilder‹, aus Papiercollagen,<br />

übermalten fotografischen Vergrößerungen und gestisch-abstrahierenden<br />

Malereien bestehend, durch ein die künstlerische<br />

Authentizität, Kreativität, Originalität und Genealogie durchkreuzendes<br />

und gegenseitig überschreibendes Wechselspiel. So<br />

wurden beispielsweise von Albert Oehlen bereitgestellte digital<br />

bearbeitete und auf großes Leinwandformat vergrößerte, vorgefundene<br />

Fotografien von <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> be- und übermalt,<br />

während wiederum im Gegenzug der jüngere Künstler dem älteren<br />

Malerkollegen gepinselte Porträtbilder, die eine hybride<br />

Kreuzung von maskenhaften Cowboys, Regenten und Van


<strong>Meese</strong> 07.02.2006 14:25 Uhr Seite 11<br />

Gogh-Selbstbildnissen zeigen, zur weiteren künstlerischen Bearbeitung<br />

und endgültigen Fertigstellung zur Verfügung stellte.<br />

Der Wille zur Kunst<br />

Die Angebote für <strong>Meese</strong>s derzeitigen furiosen gestalterischen<br />

Schaffensdrang jedenfalls scheinen nahezu unbegrenzt: Der<br />

vielfach gefeierte Personalstil des energischen Künstlers erlaubt<br />

ihm schließlich die goldene Freiheit, sich in den unterschiedlichsten<br />

Formen und Medien weiter künstlerisch zu erproben und zu<br />

wachsen: »Man muß auch in die ganzen Fallen reintappen, oder<br />

alles versuchen, alles probieren, sich alles gestatten«10, rechtfertigt<br />

sich <strong>Meese</strong> mit jugendlichem Elan und schöpferischem<br />

Verve.<br />

In den letzten Jahren konzipierte <strong>Meese</strong> beispielsweise diverse<br />

Künstlerbücher und verfertigte Pamphlete11, illustrierte ein Hans<br />

Christian Andersen-Märchen12 und gestaltete 2004 für Frank<br />

Castorf an der Berliner Volksbühne das Bühnenbild für Pitigrillis<br />

›Kokain‹, das weitere Stationen beim Theaterfestival Avignon<br />

und bei den Festspielen Salzburg fand. Motivisch völlig frei und<br />

unabhängig von der seit 1921 immer noch stark skandalisierten<br />

Romanvorlage, die <strong>Meese</strong> selbst – so wird kolportiert – nur für<br />

bedingt interessant hielt, entstand am Ende, nachdem er die ursprüngliche<br />

Idee der Szenografierung einer Kirche auf der Bühne<br />

als Topos und Metapher wieder verworfen hatte, ein multimedial<br />

bespieltes, gewaltiges Eisernes Kreuz, das auch sonst<br />

noch in vielen Werken von <strong>Meese</strong> immer wieder vorkommt. Der<br />

Künstler selbst hat es auf der Volksbühne als rotierendes ›Getreidespeicher-Raumschiff‹<br />

bezeichnet, aus dessen schlotartigen<br />

Aufsätzen während der Aufführung mächtig viel Nebel waberte<br />

– um den Willen zum ultimativen Bühnenbild noch einmal<br />

etwas zu verschleiern?<br />

Jenseits von Gut und Böse, folgte 2005 zumindest völlig folgerichtig<br />

die gestalterische Bearbeitung und Interpretation des<br />

›Parsifal‹ an der Staatsoper Unter den Linden Berlin, dessen<br />

große ewige Themen wie Leben und Tod, Macht, Kampf, Zerstörung<br />

und Untergang spürbar so ganz nach dem wagnerianischen<br />

Geschmack von <strong>Meese</strong> sind. Der Künstler arbeitet sich in<br />

seinen Bühnen-Performances am machtbesetzten und totalisierenden<br />

Mythos des ›Bühnenweihfestspiels‹ ab; aber auch hier<br />

durchwirkt wiederum die euphorische Akklamation und vorgetragene<br />

Verehrung Richard Wagners ein im wesentlichen neurotischer<br />

Umgang mit überhöhten Autoritäten und die phobische<br />

Furcht vor dem Scheitern an eigenwillig interpretierten wie radikalisierten<br />

Vorbildern. »Wagner ist Gott, ich bin Bayreuth!«, so<br />

<strong>Meese</strong>.<br />

Kunst – offensichtlich also alles nur eine (anbetungswürdige)<br />

Glaubenssache. <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> liefert uns dafür als neuer Hohepriester<br />

der Inszenierungen eine neue Kunst zum Niederknien.<br />

Ave Meesias!<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

Die Autorin ist Kunst- sowie Medienwissenschaftlerin und gehört<br />

dem Beirat von ›Künstler – Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst‹<br />

an. Sie lebt und arbeitet in Darmstadt und Mailand.<br />

Anmerkungen<br />

1 Siehe H. Szeemann, zitiert von der FAZ,<br />

31.07.2004<br />

2 Gastvortrag von <strong>Meese</strong> am 30. Mai 2005 im<br />

Karlsruher ZKM, Ausst. ›Werke aus der Sammlung<br />

Boros‹<br />

3 <strong>Meese</strong> im Gespräch mit Wildermann in: P. Wildermann:<br />

›Kunst kommt von Conan. Ein Porträt<br />

über <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>. Ortsgespräch in Berlin-<br />

Mitte: Sympathie de Large‹ (23.04.2004), publiziert<br />

unter www.portalkunstgeschichte.de/<br />

events/portraets_/9.php<br />

4 Ebenda<br />

5 Siehe auch die eigens von der Galerie eingerichtete<br />

Homepage für <strong>Meese</strong>s Kunst unter<br />

http://www.cfa-berlin.com/artists/jonathan_meese/<br />

6 Siehe hierzu auch Dirk von Lowtzow (Tocotronic):<br />

›Die schwarze Leinwand. Ein Besuch bei<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>‹, in: TEXTE ZUR KUNST, Heft<br />

49, März 2003, S. 53-57<br />

7 J.-H. Wentrup: ›Ein-Mann-Partei des getriebenen<br />

Ichs. Das literarische Wahlprogramm von <strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong>‹, in: <strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong>. Revolution,<br />

hrsg. von C. Ahrens und C. Haenlein, Katalogbuch<br />

Hannover 2002, S. 75-76<br />

8 Zur Frankfurter Ausstellung erschien überdies<br />

2004 ein beim Publikum äußerst gefragtes und<br />

rasch vergriffenes Katalogbuch (73 Seiten) bei<br />

Revolver, Archiv für aktuelle Kunst Frankfurt am<br />

Main, mit einem Interview und Texten von M.<br />

Hollein, M. Weinhart und J. <strong>Meese</strong>, das inzwischen<br />

bereits hohen Sammlerwert gewonnen<br />

hat.<br />

9 Vgl. W. M. Faust/G. de Fries: Hunger nach Bildern.<br />

Deutsche Malerei der Gegenwart, Köln<br />

1982<br />

10 <strong>Meese</strong> im TV-Feature ›Durch die Nacht mit Christoph<br />

Schlingensief und Jörg Immendorff‹, avanti<br />

media im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit<br />

mit arte, 2004<br />

11 Siehe beispielsweise ›Sils Maria‹, Berlin: Contemporary<br />

Fine Arts 2004<br />

12 Siehe ›Meine Schneekönigin. Ein Märchen von<br />

<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong> für Hans Christian Andersen‹,<br />

hrsg. von J. Wangemann und Volksbühne am<br />

Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2004<br />

Fotonachweis<br />

Alle Abbildungen Jochen Littkemann<br />

Die Abbildungsvorlagen wurden uns freundlicherweise<br />

zur Verfügung gestellt von Contemporary<br />

Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

11


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 12<br />

11<br />

12<br />

12<br />

11 Die Jenseitskutsche des ewigen VORMÖNCHSOLDATEN<br />

›Sankt Diablossys‹ auf..., 2002<br />

Mixed media<br />

Maße variabel<br />

Privatbesitz<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

12 Die Jenseitskutsche des Diablossos (das Mädchending), 2002<br />

Mixed media<br />

126 x 100 x 180 cm<br />

Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 13<br />

13<br />

13 Albert Oehlen/<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong><br />

an der Wand, 2003<br />

Ölfarbe, Inkjet auf Holz<br />

208 x 280 cm<br />

Privatbesitz<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

14 Albert Oehlen/<strong>Jonathan</strong> <strong>Meese</strong><br />

Musikzimmer, 2004<br />

Inkjet, Ölfarbe auf Leinwand<br />

213 x 169 cm<br />

Im Besitz des Künstlers<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

14<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

13


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 14<br />

14


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 15<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

15


<strong>Meese</strong> 27.01.2006 13:39 Uhr Seite 16<br />

<strong>Jonathan</strong><br />

<strong>Meese</strong><br />

15 Relieffratze (Schweinenasenpüree Salsiccie), 2005<br />

Bronze<br />

30 x 23,5 x 11 cm<br />

Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

Courtesy Contemporary Fine Arts, Berlin/Deutschland<br />

16

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