Seite 12 HAITI > KINDERNOTHILFE MAGAZIN > 4/<strong>2010</strong> Die vielen Gesichter des Wiederaufbaus Haiti Port au Prince Viele Haitianer müssen auch neun Monate nach dem Beben noch in provisorischen Zeltstädten leben. In dem kleinen Bergdorf Coupeau können 80 Mädchen und Jungen indes schon ihre neue Schule beziehen. Unsere Reportage erklärt die vielen Gesichter des Wiederaufbaus. Fotos: Katja Anger
Roberta reibt sich die Augen und blinzelt in die ersten Sonnenstrahlen des Tages, die durch ein kleines Loch in der Plane ihres Zeltes fallen. Es ist sechs Uhr morgens, Zeit für die Elfjährige aufzustehen, Wasser am nahe gelegenen Brunnen zu holen, das Zelt zu säubern und Frühstück für ihre vier kleinen Schwestern zu machen. Ihre Mutter arbeitet bereits auf dem Markt, um ein wenig Geld zu verdienen, damit sie sich und ihre fünf Kinder über die Runden bringen kann. Denn Robertas Vater ist beim Erdbeben ums Leben gekommen, begraben unter den Trümmern des eigenen Hauses. Seitdem lebt die Familie in der Zeltstadt Cinéas, mitten in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Roberta ist eines von vielen Kindern, die auch neun Monate nach der Katastrophe immer noch in Zelten wohnen müssen. Allein in Cinéas leben über 18.000 Menschen auf nicht einmal 13.000 Quadratmetern – einer Fläche, so groß wie 50 Tennisplätze. Nicht nur unzählige Zelte erstrecken sich auf dem Areal, sondern inzwischen auch selbstgezimmerte Hütten aus Wellblech und Holzstämmen. Die Einwohner von Cinéas sind fleißig und einfallsreich und haben sich in der Not gut organisiert: Es gibt sogar eine Bäckerei, zwei Friseure, ein Internet-Café, mehrere Restaurants und kleine Einkaufsläden.Auf den Straßen und Gassen im Lager herrscht reger Verkehr. Und mittendrin: das Kinderzentrum der <strong>Kindernothilfe</strong>. „Das ist mein Lieblingsplatz in Cinéas“, strahlt Roberta, „ich treffe hier meine Freunde und wir machen viele schöne Aktivitäten: tanzen, trommeln, singen, basteln und malen können wir hier. Zudem lernen wir lesen und schreiben. Am liebsten spiele ich Theater oder bepflanze den Projektgarten.“ Die <strong>Kindernothilfe</strong> und ihr lokaler Partner Amurt bieten 1.400 Kindern in Cinéas einen geschützten Raum und geben ihnen inmitten des Chaos einen strukturierten Alltag zurück. Zudem werden die Mädchen und Jungen auch psychosozial betreut, denn viele sind durch das Beben schwer traumatisiert. „Diese Kinder sind verstört“, erklärt der Psychologe des Kinderzentrums, Monsieur Samedi, „sie neigen zu Wutausbrüchen oder Gewalt gegenüber anderen Kindern. Denn sie wissen nicht, wie sie mit den furchtbaren Erlebnissen des Erdbebens umgehen sollen.“ Sogenannte Trauma-Bücher helfen, die seeli- Projekt-Nr.: 4448/AD/55 schen Wunden zu heilen: „Die Bücher geben den Kindern die Gelegenheit, die schlimmen Erfahrungen mit ihren ganz eigenen Mitteln auszudrücken. Darin können sie zum Beispiel malen und ihre Gedanken und Erinnerungen aufschreiben.“ Warum aber, so fragt man sich, gibt es in Haiti überhaupt noch 1.300 Lager,in denen rund 1,3 Millionen Menschen leben?„Dafür gibt es sehr viele, sehr verschiedene Gründe“, erklärt Alinx Jean- Baptiste, Haiti-Landesdirektor der <strong>Kindernothilfe</strong>. „Allein das Ausmaß des Erdbebens macht den Wiederaufbau so schwierig: Mehr als vier Millionen Menschen wurden Opfer der Katastrophe, sind direkt oder indirekt betroffen.“ Über 190.000 Häuser hat das Beben zerstört oder unbewohnbar gemacht. „Zum Vergleich: Indonesien – ein Land, das längst nicht so arm wie Haiti ist – hat nach dem Tsunami im Jahr 2004 fünf Jahre gebraucht, um die 139.000 zerstörten Häuser wieder aufzubauen“, so Jean-Baptiste, „auch wir hier in Haiti werden noch sehr lange brauchen.“ Aber nicht nur Naturgewalten sind für den schwierigen Wieder- Nicht nur Naturgewalten sind verantwortlich aufbau verantwortlich:„Der Staat hat bis heute keine effektive Umsiedlungsstrategie auf den Weg gebracht“, sagt Jean- Baptiste. Viele Menschen sind nach dem Beben in die Zeltlager geflohen, um dort die nötigste Versorgung zu bekommen. Und viele wollen die Lager und Port-au-Prince bis heute nicht verlassen, denn anderswo sehen sie keine Möglichkeit, ihre Familien zu ernähren. „Die haitianische Regierung müsste ihnen aber dringend Alternativen bieten“, so Jean-Baptiste. „Sie hätte Anreize geben und mithelfen können, in weniger bevölkerten Regionen neue Siedlungen mit fester Sozial- und Infrastruktur aufzubauen.“ Man müsse aber auch bedenken: „Der Staat ist nach dem Beben noch geschwächter, als er ohnehin schon war. 17 Ministerien sind eingestürzt und begruben 15 Prozent der dort angestellten Mitarbeiter sowie viele wichtige Unterlagen unter sich.“ Noch immer leben 1,3 Millionen Haitianer in 1.300 Zeltlagern. Die <strong>Kindernothilfe</strong> bietet den Mädchen und Jungen darin Schutzräume. Seite 13