ZAP-0118
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
1 2018<br />
4. Januar<br />
30. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />
Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Der kleine Rundumblick (S. 1)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Neue Fachanwaltschaft für Opferrecht vorerst gescheitert (S. 2) • BFH verpflichtet zur Mitteilung<br />
mandatsbezogener Daten (S. 4) • Dienstleister bietet Hilfe für die Nutzung des beA an (S. 7)<br />
Aufsätze<br />
Horst, Aktuelle Fragen zu Generalvollmacht, Betreuungs‐ und Patientenverfügung (S. 15)<br />
Sartorius/Pattar, Rechtsprechungsübersicht zum Sozialrecht (S. 29)<br />
Pieske‐Kontny, Unternehmereigenschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts (S. 43)<br />
Eilnachrichten<br />
BAG: Wirkung einer Änderungsvereinbarung im befristeten Arbeitsverhältnis (S. 12)<br />
EGMR: Tragen religiöser Kopfbedeckung im Gerichtssaal (S. 13)<br />
BGH: Widerruf der Rechtsanwaltszulassung wegen Vermögensverfalls (S. 14)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 1–2<br />
Anwaltsmagazin – – 2–8<br />
Eilnachrichten 1 1–6 9–14<br />
Horst, Aktuelle Fragen zu Generalvollmacht, Betreuungs‐<br />
und Patientenverfügung 12 357–370 15–28<br />
Sartorius/Pattar, Rechtsprechungs‐ und Literaturübersicht<br />
zum Sozialrecht – 1. Halbjahr 2017 18 1557–1570 29–42<br />
Pieske‐Kontny, Unternehmereigenschaft juristischer<br />
Personen des öffentlichen Rechts 20 639–644 43–48<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />
• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />
RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />
Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />
Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />
Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />
Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
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info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Der kleine Rundumblick<br />
Der Jahreswechsel liegt hinter uns. Haben auch<br />
Sie einmal zurückgeschaut, was 2017 für Sie<br />
bereitgehalten hat? Und schauen Sie nun nach<br />
vorn, was Sie in 2018 erwartet?<br />
Der Blick zurück auf das Jahr 2017 fällt zunächst auf<br />
das Gesetz zur Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie<br />
und zur Änderung weiterer Vorschriften im<br />
Bereich der rechtsberatenden Berufe (BGBl I 2017,<br />
S. 1121 ff.). Die Konkretisierungen im Zusammenhang<br />
mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach<br />
(beA) sind eine für die Praxis wichtige Hilfestellung<br />
– auch wenn diese angesichts der Anknüpfung<br />
der berufsrechtlichen Regelungen nach<br />
der BRAO (und damit auch des beA) am individuellen<br />
Rechtsanwalt der gegenwärtigen Situation nicht<br />
mehr gerecht wird. Diese ist von der Tätigkeit in<br />
Berufsausübungsgemeinschaften geprägt. Die Möglichkeit,<br />
eine weitere Kanzlei im beA einzurichten,<br />
hilft daher mit Blick auf die Einhaltung der Verschwiegenheit<br />
für Kanzleiwechsler und bei einer<br />
Tätigkeit in einer Sternsozietät. Sie ist jedoch kein<br />
Mittel, einen Kanzleibetrieb mit Blick auf die Einhaltung<br />
von Fristen adäquater zu organisieren.<br />
Die Regelung zur Handakte mit der nunmehr 6-jährigen<br />
Aufbewahrungsfrist darf nicht über die Notwendigkeit<br />
hinwegtäuschen, wegen der Haftungsgefahren<br />
die Akten zumindest bis zum Ablauf<br />
der potentiellen Verjährung und damit zumindest<br />
10 Jahre aufzubewahren.<br />
Die Kompetenzzuweisung an die Satzungsversammlung,<br />
die allgemeine Fortbildungspflicht zu<br />
konkretisieren, ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens<br />
leider gestrichen worden. Die in der<br />
Bundestagsdebatte hierzu vertretenen Auffassungen<br />
werden sicherlich in dieser Legislaturperiode<br />
nochmals einer kritischen Prüfung unterzogen<br />
werden müssen. Es bleibt zu hoffen, dass<br />
der inhaltlich begründete Appell der Satzungsversammlung,<br />
ihr die Kompetenz zuzuweisen,<br />
nicht ungehört verhallt.<br />
Der Blick nach vorn ist denn auch zunächst auf das<br />
beA gerichtet. Die Freischaltung liegt lange zurück.<br />
Alle Beteiligten haben sich bereits mehr oder<br />
weniger mit den technischen Gegebenheiten vertraut<br />
gemacht. Die hieraus folgende tägliche<br />
Aufgabe, die neuen technischen Möglichkeiten in<br />
den Kanzleialltag zu integrieren, ist nicht nur eine<br />
Aufgabe jedes einzelnen Berufsträgers. Sie wird<br />
auch die Gerichte fordern – mit Blick auf die<br />
Handhabung der Wiedereinsetzungsregelungen.<br />
Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Schutzes<br />
von Geheimnissen bei der Mitwirkung Dritter an<br />
der Berufsausübung schweigepflichtiger Personen<br />
(BGBl I 2017, S. 3618 ff.) ist ein wichtiger Meilenstein<br />
für eine rechtssichere Berufsausübung beim Outsourcing<br />
von Leistungen geschaffen worden. Die<br />
Praxis wird nunmehr auf dem sicheren Fundament<br />
der Verpflichtungsmöglichkeiten das ihrige veranlassen,<br />
um dem hohen Stellenwert der Einhaltung<br />
der Verschwiegenheit im Interesse der Mandanten<br />
gerecht zu werden.<br />
Was kommt im neuen Jahr?<br />
Ab dem 1.1.2018 besteht die passive Nutzungspflicht<br />
für das beA. Zudem treten bei der Nutzung des beA<br />
die Neuregelungen für die Rücksendung eines Empfangsbekenntnisses<br />
bei elektronischer Zustellung in<br />
Kraft. § 130 Nr. 1a ZPO ist mit Leben zu füllen, da<br />
nunmehr die elektronische Zustellung möglich ist.<br />
Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Überlegungen<br />
zur Modernisierung des anwaltlichen<br />
Berufsrechts entwickeln und ob sich hieraus<br />
Schritte in Richtung einer großen BRAO-<br />
Reform ergeben, die die vermehrte Berufsausübung<br />
in Berufsausübungsgesellschaften in den<br />
Blick nimmt.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 1
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Die Verbände arbeiten mit Elan an Überlegungen<br />
zu einem 3. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz.<br />
Nachdem inzwischen wieder mehr als 4,5 Jahre<br />
seit der letzten Gebührenanpassung verstrichen<br />
sind, ist es Zeit, auch die Anwaltsvergütung an die<br />
zwischenzeitlichen Entwicklungen der Tariflöhne<br />
anzupassen und im Zusammenhang hiermit auch<br />
den strukturellen Anpassungsbedarf umzusetzen.<br />
Schaut man auf gesetzliche Neuregelungen, scheint<br />
es ruhig zu sein. Der Blick in den anwaltlichen Alltag<br />
zeigt aber, dass – zumindest gefühlt – die Anforderungen<br />
an die berufliche Tätigkeit vor dem<br />
Hintergrund der Digitalisierung und der Schnelligkeit,<br />
mit der Neuregelungen in Kraft treten und<br />
zuverlässig umgesetzt werden müssen, zunehmen.<br />
Wer, wenn nicht die Anwaltschaft, sollte sich mit<br />
ihrer bunten Vielfalt und der Fähigkeit zu strukturiertem<br />
Denken und Vorgehen diesen Herausforderungen<br />
widmen? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen<br />
einen guten Start in das noch junge Jahr 2018!<br />
Rechtsanwältin EDITH KINDERMANN, Bremen<br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwälte treten immer seltener<br />
vor Gericht auf<br />
Die Vertretung ihrer Mandanten vor Gericht verliert<br />
für die meisten Rechtsanwältinnen und<br />
Rechtsanwälte in Deutschland immer mehr an<br />
Bedeutung. Im Mittel treten sie sechs Mal pro<br />
Monat vor Gericht auf. Das geht aus einer<br />
repräsentativen Umfrage des Soldan Instituts<br />
hervor, für die 1.593 Anwälte befragt wurden. Der<br />
mit 35 % relativ höchste Anteil von ihnen erscheint<br />
sogar nur ein bis zweimal pro Monat vor Gericht;<br />
7 % der Befragten gaben an, gar nicht mehr vor<br />
Gericht aufzutreten.<br />
Unterschiede gab es bei einer Betrachtung nach<br />
den Tätigkeitsgebieten. Bei Anwälten mit den<br />
Tätigkeitsschwerpunkten im Straf-, Verkehrs-,<br />
Familien-, Versicherungs- und Sozialrecht spielen<br />
die Prozessmandate noch eine größere Rolle. Hingegen<br />
sind ihre Kollegen mit den Schwerpunkten<br />
Bilanz- und Steuerrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht,<br />
Wirtschaftsverwaltungsrecht oder Wettbewerbsrecht<br />
überwiegend beratend tätig.<br />
„Es lässt sich feststellen, dass sich in der Anwaltschaft<br />
ausgeprägte Hemisphären ausgebildet haben. Auf der<br />
einen Seite stehen Rechtsanwälte, die eher beratend und<br />
gestaltend tätig sind und überwiegend Unternehmen<br />
betreuen, auf der anderen Seite finden sich Berufskollegen,<br />
die sich auf die prozessuale und außerprozessuale<br />
Vertretung gegenüber Dritten fokussiert haben<br />
und vor allem Privatleute zu ihren Mandanten zählen“,<br />
erklärte Prof. Dr. MATTHIAS KILIAN, Direktor des<br />
Soldan Instituts, die Resultate der Erhebung.<br />
Ein weiterer Befund der Untersuchung ist, dass<br />
Methoden der alternativen Konfliktbeilegung wie<br />
etwa die Mediation in der Anwaltschaft bislang<br />
kaum eine Rolle spielen. Der Studie zufolge<br />
wenden Anwälte im Durchschnitt lediglich 3 %<br />
ihrer Arbeitszeit darauf. Knapp drei Viertel der<br />
Befragten gaben sogar an, in diesem Tätigkeitsfeld<br />
überhaupt nicht tätig zu sein. [Quelle: Soldan]<br />
Neue Fachanwaltschaft für<br />
Opferrecht vorerst gescheitert<br />
Anfang Dezember fand die 5. Sitzung der 6. Satzungsversammlung<br />
bei der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
statt. Auf der Agenda standen u.a.<br />
Änderungen im Bereich der Fachanwaltschaften<br />
2 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
und der Schutz des Anwaltsgeheimnisses bei der<br />
Mitwirkung Dritter (Stichwort „Outsourcing“).<br />
Beschlossen wurde eine Änderung beim Fachanwalt<br />
für Verkehrsrecht. Hier war nämlich<br />
Praktikern – 12 Jahre nach Einführung dieser<br />
Fachanwaltschaft – aufgefallen, dass die Aufzählung<br />
der Tätigkeitsbereiche unvollständig geblieben<br />
ist. Statt das gesamte „Verkehrsverwaltungsrecht“<br />
in den Kanon aufzunehmen, hatte es<br />
seinerzeit nur das „Recht der Fahrerlaubnis“ in<br />
die Aufzählung des § 14d FAO geschafft. Dieses<br />
Versehen wurde nun behoben.<br />
Nicht einigen konnte man sich in der Satzungsversammlung<br />
dagegen auf die Einführung einer<br />
neuen Fachanwaltschaft für Opferrechte. Diese<br />
neue Spezialisierung war bereits 2012 von der<br />
Justizministerkonferenz angeregt worden und<br />
wird seit rund vier Jahren in der Satzungsversammlung<br />
diskutiert. Der zuständige Ausschuss<br />
der Versammlung hat die Einführung anhand eines<br />
Kriterienkatalogs schließlich empfohlen. Beraten<br />
und vertreten soll der neue Fachanwalt der<br />
Empfehlung zufolge neben den klageberechtigten<br />
Opfern im Strafverfahren auch Personen, die<br />
Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz<br />
(OEG) geltend machen. Unterschätzt wurde allerdings<br />
der Widerstand seitens der bereits im<br />
Strafrecht und im Sozialrecht spezialisierten Kollegen.<br />
Sie befürchteten wohl verstärkten Wettbewerb<br />
in ihren angestammten Tätigkeitsgebieten<br />
und eine Zersplitterung der Zuständigkeitsbereiche.<br />
Immerhin konnten die Befürworter einer<br />
Erweiterung der FAO durchsetzen, dass der zuständige<br />
Ausschuss bis Anfang kommenden Jahres<br />
die Anforderungen an die theoretischen Kenntnisse<br />
einer Fachanwaltschaft Opferrecht sowie die<br />
Anforderungen an die Fallzahlen präzisiert. Im<br />
April 2018 will sich die Satzungsversammlung<br />
dann erneut mit dem Thema befassen.<br />
Dass die Einführung neuer Fachanwaltschaften<br />
nicht mehr so schnell gelingt wie bisher, dürfte<br />
sich auch bei den für die weitere Zukunft<br />
diskutierten Fachanwaltschaften für Verbraucherrecht<br />
und für Sportrecht zeigen. Sie sollen<br />
als nächste auf die Agenda kommen, weil ihre<br />
Befürworter darauf drängen, diese Tätigkeitsbereiche<br />
nicht der außeranwaltlichen Konkurrenz<br />
zu überlassen. Der Widerstand gegen neue<br />
Fachanwaltschaften wächst allerdings, viele Mitglieder<br />
der Satzungsversammlung sind der Meinung,<br />
dass die FAO inzwischen genügend Möglichkeiten<br />
der Spezialisierung bietet.<br />
Ein weiteres wichtiges Thema der Tagung war<br />
der Schutz der Mandantendaten in Zeiten<br />
zunehmender Digitalisierung. Ein als Gastredner<br />
geladener Vertreter des Bundesamtes für Sicherheit<br />
in der Informationstechnik (BSI) beleuchtete<br />
den Einsatz sog. Cloud-Dienste und<br />
kam zu dem Ergebnis, dass solche Lösungen<br />
mehr Sicherheit bieten könnten als die ausschließliche<br />
Datenaufbewahrung innerhalb der<br />
Kanzlei. Er empfahl Anwälten, sich mit diesen<br />
Speicherlösungen zu beschäftigen und hierbei<br />
insbesondere auf die vom BSI erarbeiteten<br />
Mindeststandards zu achten.<br />
[Red.]<br />
Opferentschädigung nach<br />
Terroranschlägen<br />
Opfer von Terroranschlägen sollen künftig umfassender<br />
betreut und besser entschädigt werden.<br />
Das sieht ein gemeinsamer Antrag der<br />
Bundestagsfraktionen von Union, SPD, FDP<br />
und Bündnis 90/Die Grünen vor (vgl. BT-Drucks<br />
19/234). Anlass sind die Erfahrungen nach dem<br />
Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am<br />
Berliner Breitscheidplatz vom Dezember 2016,<br />
bei dem zwölf Menschen starben und laut<br />
Bundesinnenministerium mehr als 70 zum Teil<br />
schwer verletzt wurden.<br />
Der Bundesbeauftragte für die Opfer und Hinterbliebenen<br />
des Terroranschlags, KURT BECK, habe<br />
auf Defizite hingewiesen, heißt es zur Begründung<br />
des Antrags. Diese beträfen die Sicherheitsbehörden<br />
wie auch die Lage der Opfer und<br />
Hinterbliebenen des Anschlags. Verbesserungen<br />
seien „zwingend erforderlich“, heißt es in dem<br />
Antrag. So sollten auf Bundes- und Landesebene<br />
zentrale Anlaufstellen für Opfer eines Terroranschlags<br />
und deren Angehörige geschaffen werden.<br />
Die Fachleute sollten auf die Betroffenen<br />
zugehen und die Regulierung der Entschädigungsansprüche<br />
verantwortlich koordinieren. Ferner<br />
sei zu prüfen, wie Opfer von Gewalttaten<br />
einen schnelleren und unbürokratischen Zugang<br />
zu Sofortmaßnahmen erhalten und professionell<br />
begleitet werden könnten.<br />
Auch die bisherige Höhe der Entschädigungszahlungen<br />
für Verletzte und Hinterbliebene von<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 3
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
terroristischen Straftaten aus Haushaltsmitteln<br />
des Bundes sollte überprüft werden, heißt es in<br />
dem Antrag der vier Fraktionen weiter. Dabei sei<br />
zu erwägen, ob künftig auch ein höheres Schmerzensgeld<br />
und der Ersatz materieller Schäden<br />
geleistet werden könnten.<br />
Opfer von Terroranschlägen müssten stets auch<br />
Leistungen nach dem sozialen Entschädigungsrecht<br />
für die Opfer von Gewalttaten bekommen<br />
können. Die Höhe der pauschalen Entschädigungen<br />
sollte überprüft werden. Zu prüfen sei ferner<br />
auch, ob die Leistungen der staatlichen Opferentschädigung<br />
allen Betroffenen in gleicher Höhe<br />
und unabhängig von ihrer Nationalität und Aufenthaltsdauer<br />
zur Verfügung gestellt werden<br />
könnten.<br />
[Quelle: Bundestag]<br />
BFH verpflichtet zur Mitteilung<br />
mandatsbezogener Daten<br />
Die Verschwiegenheitspflicht von Rechtsanwälten<br />
gilt nicht absolut. Der Bundesfinanzhof (BFH)<br />
hat kürzlich entschieden, dass ein Anwalt u.U.<br />
zur Offenbarung gegenüber den Steuerbehörden<br />
verpflichtet ist. Zu diesem Zweck fingierte der<br />
BFH eine Einwilligung des Mandanten.<br />
Die Entscheidung betrifft den Umsatzsteuerbereich<br />
mit Auslandsbezug: Wer Unternehmer<br />
aus einem anderen EU-Mitgliedstaat anwaltlich<br />
berät, muss dem Bundeszentralamt für Steuern<br />
eine sog. Zusammenfassende Meldung übermitteln,<br />
in der u.a. die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer<br />
(USt-ID) des Leistungsempfängers,<br />
d.h. des Mandanten, anzugeben ist. Der<br />
BFH hat nun mit Urteil vom 27.9.2017 (XI R 15/15,<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 17/2018 – in diesem Heft) entschieden,<br />
dass Rechtsanwälte die Abgabe solcher<br />
Meldungen mit den darin geforderten Angaben<br />
nicht unter Berufung auf ihre anwaltliche<br />
Schweigepflicht verweigern dürfen.<br />
Im entschiedenen Fall erbrachte die Klägerin,<br />
eine Rechtsanwaltsgesellschaft, Leistungen aus<br />
anwaltlicher Tätigkeit an Unternehmer, die in<br />
anderen Mitgliedstaaten der EU ansässig sind.<br />
Der Ort der Leistungen lag somit nicht im Inland.<br />
Zudem waren die Leistungsempfänger in ihrem<br />
Ansässigkeitsstaat Steuerschuldner für die von<br />
der Klägerin bezogenen Leistungen. Dementsprechend<br />
erteilte die Klägerin Rechnungen<br />
ohne deutsche Umsatzsteuer. Die dann erforderliche<br />
Abgabe der „Zusammenfassenden Meldung“<br />
mit Angabe der USt-ID ihrer Mandanten<br />
verweigerte die Rechtsanwaltsgesellschaft allerdings<br />
unter Berufung auf die anwaltliche<br />
Schweigepflicht.<br />
Der BFH folgte dem nicht. Zwar stehe Rechtsanwälten<br />
im Besteuerungsverfahren gem. § 102<br />
AO tatsächlich ein Auskunftsverweigerungsrecht<br />
zu, das sowohl die Identität des Mandanten<br />
als auch die Tatsache seiner Beratung<br />
umfasse. Allerdings hätten die im EU-Ausland<br />
ansässigen Mandanten durch die Mitteilung der<br />
USt-ID gegenüber der Klägerin in deren Offenlegung<br />
mittels der „Zusammenfassenden Meldungen“<br />
eingewilligt. Dies ergebe sich aus dem<br />
EU-weit harmonisierten – und daher auch<br />
ausländischen Unternehmern als Leistungsempfängern<br />
bekannten – System der Besteuerung<br />
innergemeinschaftlicher Dienstleistungen.<br />
Ob § 18a UStG nicht ohnehin die anwaltliche<br />
Schweigepflicht zulässigerweise einschränkt,<br />
konnte aus Sicht des BFH deshalb offenbleiben.<br />
[Quelle: BFH]<br />
Raumordnungsbericht sagt<br />
anhaltende Landflucht voraus<br />
Ende 2015 lebten 82,2 Mio. Menschen in Deutschland<br />
und damit etwa 2 Mio. mehr als 1990. Das<br />
geht aus dem Raumordnungsbericht 2017 hervor,<br />
der als Unterrichtung durch die Bundesregierung<br />
vorliegt (vgl. BT-Drucks 18/13700). Von<br />
1990 bis 2015 sind dem Bericht zufolge 5 Mio.<br />
Menschen zugewandert, vor allem in die Großstädte<br />
und ihre Ballungsräume. In vielen ländlichen<br />
Regionen nehme die Bevölkerungszahl<br />
dagegen stetig ab. Derzeit würden 68 von 401<br />
Kreisen (einschließlich kreisfreier Städte) in<br />
Deutschland mit weniger als 100 Einwohnern<br />
pro Quadratkilometer als „dünn besiedelt“ gelten,<br />
heißt es. Bis 2035 könnte nach Regierungsangaben<br />
jeder siebte Kreis (51 Kreise) in den alten und<br />
jeder zweite Kreis (45 Kreise) in den neuen<br />
Bundesländern in diese Kategorie fallen.<br />
„Während periphere Landgemeinden überwiegend<br />
Bevölkerung verloren haben, haben vor allem die<br />
4 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Großstädte und Großstadtregionen zwischen 2005<br />
und 2015 über 1,4 Mio. Einwohner dazu gewonnen“,<br />
schreibt die Bundesregierung. Im gleichen Zeitraum<br />
seien 37 % der Mittelstädte und 52 %<br />
der Kleinstädte geschrumpft. Die zugrunde liegenden<br />
Wanderungsmuster dürften nach<br />
Ansicht der Regierung auch künftig Bestand haben:<br />
Insgesamt fänden pro Jahr etwa 2,6 Mio.<br />
Zu- oder Fortzüge über Kreisgrenzen hinweg<br />
statt – etwa 32 Wanderungen pro 1.000 Einwohner.<br />
Laut dem Bericht liegt das Durchschnittsalter<br />
der Bevölkerung in Deutschland derzeit bei 44,3<br />
Jahren. Im Jahr 2035 werde es nach einer<br />
Raumordnungsprognose des Bundesinstitutes<br />
für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)<br />
auf 47,3 Jahre steigen. Während die meisten<br />
Großstädte ihre Altersstruktur durch Zuwanderung<br />
stabil halten könnten, steige der Altersdurchschnitt<br />
in vielen ländlichen Regionen und<br />
Umlandregionen der Großstädte im Verhältnis<br />
stärker an.<br />
Vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung<br />
stellen die ambulante ärztliche Versorgung<br />
und die Versorgung mit Arzneimitteln<br />
einen zentralen Bestandteil der Daseinsvorsorge<br />
dar, schreibt die Bundesregierung. Ihrer Ansicht<br />
nach gibt es in Deutschland zwar keinen generellen<br />
Ärztemangel. Es gebe jedoch regionale<br />
Unterschiede bei den Entfernungen zum Hausund<br />
Facharzt sowie in der Versorgung, zumal in<br />
den dünn besiedelten Räumen bereits heute die<br />
Nachfolgeregelung oft schwieriger als in Städten<br />
und urbanen Räumen zu leisten sei. In den<br />
Landgemeinden hätten derzeit knapp 20 % der<br />
Bevölkerung einen Hausarzt in einer fußläufigen<br />
Erreichbarkeit von einem Kilometer.<br />
Gestiegen ist laut dem Raumordnungsbericht<br />
2017 die Zahl der pflegebedürftigen Menschen.<br />
Sie habe 2015 bei 2,9 Mio. Menschen und damit<br />
fast 50 % höher als noch 1999 gelegen. Nach der<br />
Raumordnungsprognose werde bis 2035 die<br />
demografisch bedingte Nachfrage nach Pflegeleistungen<br />
in allen Teilräumen West- und Ostdeutschlands<br />
erheblich zunehmen, heißt es in<br />
dem Bericht, in dem auch auf den gestiegenen<br />
Anteil der Abiturienten an allen Schulabgängern<br />
eingegangen wird, der – ebenso wie die Quote<br />
der Schulabgänger ohne Abschluss – regional<br />
unterschiedlich ausfalle. Thematisiert wird in<br />
der Vorlage auch das Angebot des Öffentlichen<br />
Personennahverkehrs (ÖPNV).<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Verbraucherverschuldung steigt<br />
weiter an<br />
Die Überschuldung von Privatpersonen in<br />
Deutschland ist seit 2014 zum vierten Mal in<br />
Folge angestiegen, allerdings weniger stark als zu<br />
befürchten war. Dies meldete der Finanzdienstleister<br />
Creditreform Anfang November. Danach<br />
wurde zum Stichtag 1. Oktober für die gesamte<br />
Bundesrepublik eine Überschuldungsquote von<br />
10,04 % gemessen. Damit sind über 6,9 Mio.<br />
Bürger über 18 Jahre überschuldet und weisen<br />
nachhaltige Zahlungsstörungen auf. Dies sind<br />
rund 65.000 Personen mehr als noch im letzten<br />
Jahr (+ 0,9 %). Die Überschuldungsquote sinkt<br />
insgesamt aber leicht, da die Bevölkerung nochmals<br />
spürbar zugenommen hat.<br />
Der aktuelle Anstieg der Überschuldungszahlen<br />
beruht im Gegensatz zu den letzten Jahren auf<br />
einer gleichzeitigen Zunahme der Fälle mit hoher<br />
und mit geringer Überschuldungsintensität. Die<br />
Zahl der Fälle mit juristischen Sachverhalten<br />
nahm in den letzten zwölf Monaten um rund<br />
53.000 Fälle zu (+ 1,2 %), die Zahl der Fälle mit<br />
nachhaltigen Zahlungsstörungen um rund 12.000<br />
Fälle (+ 0,5 %). Allerdings sinkt der Anstieg der<br />
harten Überschuldungsfälle im Vergleich zum<br />
Vorjahr deutlich. Hingegen nimmt die Zahl<br />
der Fälle mit geringer Überschuldungsintensität<br />
erstmals seit 2011/2012 wieder zu – und dies<br />
ausschließlich in Westdeutschland. Derzeit sind<br />
rund 4,22 Mio. Menschen in Deutschland in einer<br />
dauerhaften Überschuldungsspirale (2006/2017:<br />
+ 822.000 Fälle).<br />
Die Überschuldungsquote liegt aktuell in den<br />
neuen Bundesländern (10,42 %; - 0,1 Punkte,<br />
ohne Berlin) zum sechsten Mal in Folge (wie<br />
auch bis 2008) über dem Vergleichswert im<br />
Westen (9,97 %; - 0,03 Punkte). Insgesamt sind<br />
in diesem Jahr im Westen rund 5,79 Mio. Personen<br />
als überschuldet zu betrachten, im Osten<br />
Deutschlands sind dies rund 1,12 Mio. Personen.<br />
Alles in allem hat sich 2017 der Anstiegstrend im<br />
Vergleich zum letzten Jahr sowohl im Osten wie<br />
auch im Westen Deutschlands wieder verlangsamt.<br />
Die entsprechenden Vergleichswerte zeig-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 5
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
ten aber, dass sich die Überschuldungsspirale im<br />
Westen weiterhin schneller drehe als im Osten.<br />
Der (prozentuale) Anstieg der Fälle mit hoher<br />
Überschuldungsintensität sei im Westen (+ 1,3 %)<br />
weiterhin stärker ausgeprägt als im Osten<br />
(+ 0,9 %). Zugleich nehme auch in diesem Jahr<br />
die Zahl der Fälle mit nachhaltigen Zahlungsstörungen<br />
im Osten ab (- 0,8 %), während sie im<br />
Westen erstmals seit 2011/2012 wieder zunehme<br />
(+ 0,7 %). Auch deshalb falle die absolute<br />
Zunahme der Überschuldungsfälle im Westen<br />
Deutschlands (+ 62.000 Fälle) deutlich stärker<br />
aus als im Osten (+ 3.000 Fälle).<br />
Die weiterhin negative Entwicklung spiegelt sich<br />
auch im Vergleich der Überschuldungszahlen<br />
nach Bundesländern wider. So weisen zwar<br />
zwölf Bundesländer einen Rückgang der Überschuldungsquote<br />
auf, aber nur ein Bundesland<br />
weist auch einen Rückgang der Überschuldungsfälle<br />
auf (Brandenburg: 10,02 %; - 0,12<br />
Punkte; - 1.000 Überschuldungsfälle). Die<br />
stärksten Anstiege verzeichnen Bayern (7,47 %;<br />
+ 0,11 Punkte) und Sachsen (9,97 %; + 0,08<br />
Punkte). Diese Bundesländer, zudem Baden-<br />
Württemberg (8,31 %; - 0,03 Punkte), Thüringen<br />
(9,25 %; + 0,01 Punkte), Hessen (9,99 %; - 0,08<br />
Punkte) und Brandenburg bleiben damit unterhalb<br />
der Überschuldungsquote für ganz<br />
Deutschland. Bayern und Baden-Württemberg<br />
führen weiterhin fast traditionell das Ranking<br />
der Bundesländer an. Thüringen verbleibt seit<br />
2013 auf Rang drei. Auffällig ist jedoch, dass die<br />
Anstiege der Überschuldungsfälle in Bayern seit<br />
2015 über denen in NRW und in Baden-Württemberg<br />
liegen.<br />
Bei einer geschlechterspezifischen Betrachtung<br />
zeigt sich, dass in diesem Jahr in Deutschland<br />
rund 7,61 % der Frauen über 18 Jahre (2016:<br />
7,55 %) als überschuldet und zumindest nachhaltig<br />
zahlungsgestört gelten können. Bei Männern<br />
sind dies aktuell 12,59 % (2016: 12,72 %). Die<br />
Zahl der Überschuldungsfälle nahm in diesem<br />
Jahr bei den Frauen stärker zu (2,7 Mio.; + 39.000<br />
Fälle) als bei den Männern (4,2 Mio.; + 26.000<br />
Fälle).<br />
Das Thema „Altersüberschuldung“ bleibt virulent<br />
und zeigt einen weiter ansteigenden<br />
Trend. 2017 müssen rund 194.000 Menschen in<br />
Deutschland ab 70 Jahren als überschuldet<br />
eingestuft werden (+ 20.000 Fälle; + 12 %). Die<br />
entsprechende Überschuldungsquote (1,50 %;<br />
+ 0,16 Punkte) liegt weiterhin deutlich unter<br />
den Vergleichswerten der anderen Altersgruppen.<br />
Der Anstiegstrend ist im Mehrjahresvergleich<br />
2013–2017 mit plus 76 % allerdings überdurchschnittlich.<br />
Im Gegensatz dazu ist die<br />
Überschuldungszahl und -quote in der jüngsten<br />
Altersgruppe in diesem Jahr nochmals zurückgegangen.<br />
Die Überschuldungsquote beträgt<br />
hier 14,06 % (- 0,45 Punkte). Allerdings müssen<br />
weiterhin rund 1,66 Mio. junge Menschen in<br />
Deutschland (unter 30 Jahre) als überschuldet<br />
eingestuft werden (- 6.000 Fälle).<br />
Zudem zeigt eine Sonderauswertung nach Milieuzugehörigkeit,<br />
dass fast alle neuen Überschuldungsfälle<br />
aus der „Mitte der Gesellschaft“<br />
stammen (4,38 Mio.; + 69.000 Fälle) – die Zahl<br />
der Überschuldungsfälle aus den „gehobeneren<br />
Schichten“ (1,76 Mio.; - 3.000 Fälle) hat in diesem<br />
Jahr ebenso wie in den „unteren Schichten“<br />
(0,77 Mio.; - 1.000 Fälle) leicht abgenommen.<br />
Das diesjährige Sonderthema des Berichts („Die<br />
angegriffene Mitte“) befasste sich daher auch mit<br />
den Folgen von Überschuldung auf Mittelschichtfamilien<br />
in Deutschland: Die Identität<br />
von Familien aus der Mittelschicht werde erschüttert,<br />
wenn diese in Überschuldung und<br />
Privatinsolvenz geraten. Überschuldung zeige<br />
sich in jedem Fall als massiver Einschnitt in das<br />
normale Leben und führe die Betroffenen oft in<br />
eine „Schockstarre“.<br />
Für die nahe Zukunft rechnen die Verfasser der<br />
Studie nicht mit einer nachhaltigen Entspannung<br />
der privaten Überschuldungslage in Deutschland.<br />
[Quelle: Creditreform]<br />
Unternehmensinsolvenzen<br />
gesunken<br />
Während die Verbraucherinsolvenzen jüngst wieder<br />
gestiegen sind (vgl. vorstehende Meldung),<br />
meldet das Statistische Bundesamt für den<br />
Monat August im Unternehmensbereich sinkende<br />
Zahlen. 1.712 Unternehmensinsolvenzen<br />
berichteten die Amtsgerichte an das Bundesamt,<br />
das waren 4,3 % weniger als im Vergleichsmonat<br />
des vergangenen Jahres.<br />
Die meisten Insolvenzen gab es mit 331 Fällen<br />
im Wirtschaftsbereich Handel (einschließlich In-<br />
6 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
standhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen).<br />
265 Insolvenzanträge stellten Unternehmen<br />
des Baugewerbes. Im Wirtschaftsbereich Erbringung<br />
von freiberuflichen, wissenschaftlichen und<br />
technischen Dienstleistungen wurden 219 Insolvenzanträge<br />
gemeldet.<br />
Die voraussichtlichen Forderungen der Gläubiger<br />
aus beantragten Unternehmensinsolvenzen<br />
bezifferten die Amtsgerichte für August 2017 auf<br />
rund 4,5 Milliarden Euro. Im August 2016 hatten<br />
sie bei 1,7 Milliarden Euro gelegen. Dieser Anstieg<br />
der Forderungen bei gleichzeitigem Rückgang<br />
der Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist nach<br />
Angaben des Statistischen Bundesamtes darauf<br />
zurückzuführen, dass die Gerichte im August<br />
2017 mehr Insolvenzen von wirtschaftlich bedeutenden<br />
Unternehmen registriert hatten als<br />
im August 2016.<br />
Auf Basis der bisherigen Entwicklung rechnet das<br />
Amt für das gesamte Jahr 2017 mit rund 20.400<br />
Unternehmensinsolvenzen (2016: 21.518). Das wäre<br />
die niedrigste Zahl an Unternehmensinsolvenzen<br />
seit Einführung der Insolvenzordnung im<br />
Jahr 1999.<br />
[Quelle: Destatis]<br />
Zahl offener Haftbefehle bei<br />
rechtsextremistischen Straftätern<br />
Zum Stichtag 25. September haben im Polizeilichen<br />
Informationssystem (INPOL-Z) bzw.<br />
im Schengener Informationssystem (SIS II)<br />
insgesamt 648 Fahndungen aufgrund von Haftbefehlen<br />
im Phänomenbereich der politisch<br />
rechts motivierten Kriminalität vorgelegen. Abzüglich<br />
der Haftbefehle ausländischer Behörden<br />
(acht Fahndungen) richteten sich diese<br />
gegen insgesamt 501 Personen, die aufgrund<br />
polizeilicher Erkenntnisse diesem Phänomenbereich<br />
zugeordnet wurden. Dies geht aus einer<br />
Antwort der Bundesregierung auf eine<br />
Kleine Anfrage im Bundestag hervor (BT-Drucks<br />
19/144).<br />
Wie die Bundesregierung weiter ausführt, bestand<br />
zu dem Stichtag zu insgesamt 114 Personen<br />
mindestens ein offener Haftbefehl, dem ein<br />
Gewaltdelikt zugrunde lag. Gegen zehn dieser<br />
Personen hätten mehrere Haftbefehle aufgrund<br />
von Gewaltdelikten vorgelegen. Zu 23 der 114<br />
Personen sei ein Haftbefehl aufgrund einer politisch<br />
motivierten Gewalttat in INPOL-Z verzeichnet<br />
gewesen. [Quelle: Bundesregierung]<br />
Dienstleister bietet Hilfe für die<br />
Nutzung des beA an<br />
Ab dem 1. Januar gilt für alle Rechtsanwältinnen<br />
und Rechtsanwälte in Deutschland eine zumindest<br />
passive Nutzungspflicht für das besondere<br />
elektronische Anwaltspostfach (beA). Dies bedeutet,<br />
dass man regelmäßig die Post aus seinem<br />
Postfach abrufen muss.<br />
Doch nach Angaben der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
sind derzeit immer noch nicht alle Kolleginnen<br />
und Kollegen zur Nutzung des beA<br />
bereit. Damit allen denjenigen, die sich immer<br />
noch nicht mit der digitalen Anwaltspost anfreunden<br />
können, hier keine Rechtsnachteile<br />
drohen, bietet der Dienstleister Soldan verschiedene<br />
(kostenpflichtige) Optionen an, mit deren<br />
Hilfe man sich die Nutzung des beA deutlich<br />
vereinfachen kann. Interessierte können zwischen<br />
zwei Varianten wählen:<br />
• Die vollständigen Digitalverweigerer unter den<br />
Kollegen können sich die zugehenden Nachrichten<br />
als Dienstleistung ausdrucken und auf<br />
dem traditionellen Postweg zuschicken lassen.<br />
Konkret funktioniert dies so, dass ein<br />
zentraler Soldan-Server regelmäßig das betreffende<br />
beA-Postfach abruft und die beA-<br />
Nachrichten an die Deutsche Post weiterleitet.<br />
Diese druckt dann in ihrem Ausdruckzentrum<br />
die Nachrichten aus, kuvertiert sie und stellt sie<br />
dann per Postboten zu.<br />
• Bei der zweiten Option werden die beA-Nachrichten<br />
nicht per Post, sondern per (normaler)<br />
E-Mail an den betreffenden Kollegen zugestellt.<br />
Dies wird in der Form eingerichtet, dass auf<br />
dem Kanzleiserver eine Zusatzsoftware installiert<br />
wird, die den Nachrichtenabruf aus dem<br />
beA automatisiert und für eine Weiterleitung an<br />
die eigene E-Mail-Adresse sorgt.<br />
Für beide Varianten stellt Soldan 19 € pro Monat in<br />
Rechnung. Darüber hinaus bietet der Kanzleidienstleister<br />
weitere Hilfestellungen an, die je<br />
nach Umfang berechnet werden, etwa einen<br />
Einrichtungsservice oder eine Firewall. Interessierte<br />
können sich auf der Webseite des Kanzleispezialisten<br />
unter www.soldan.de informieren. [Red.]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 7
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
EU-Kommission verklagt<br />
Deutschland<br />
Die Kommission hat Anfang Dezember mitgeteilt,<br />
dass sie Deutschland, Frankreich und Belgien vor<br />
dem Gerichtshof der Europäischen Union verklagen<br />
wird. Diese Länder hätten es nämlich<br />
versäumt, die EU-Rechtsvorschriften über die<br />
Anerkennung von Berufsqualifikationen (Richtlinie<br />
2013/55/EU) vollständig umzusetzen.<br />
Die genannte Richtlinie hätte bis Mitte Januar<br />
2016 in nationales Recht umgesetzt werden<br />
müssen. Die Kommission übermittelte im September<br />
2016 mit Gründen versehene Stellungnahmen<br />
an die belgischen, französischen und<br />
deutschen Behörden. Bislang hätten diese Länder<br />
der Kommission aber noch immer nicht die<br />
vollständige Umsetzung der Richtlinie gemeldet.<br />
Obwohl vor allem in Deutschland und Frankreich<br />
„beträchtliche Fortschritte“ erzielt worden seien,<br />
habe die Kommission beschlossen, die drei Länder<br />
vor dem EuGH zu verklagen.<br />
Die Berufsanerkennungsrichtlinie hat in Deutschland<br />
u.a. zur Änderung des Gesetzes zur Tätigkeit<br />
europäischer Rechtsanwälte in Deutschland<br />
(EuRAG) geführt, das allerdings erst im Mai dieses<br />
Jahres verkündet werden konnte; hierzulande<br />
besser bekannt wurde die Novelle als „Kleine<br />
BRAO-Reform“, in der u.a. auch die Nutzungspflicht<br />
des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs<br />
(beA) und die Zustellung von Anwalt zu<br />
Anwalt geregelt wurden (vgl. dazu näher <strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin 12/2017, S. 608).<br />
Diese deutsche Umsetzung sieht die Kommission<br />
allerdings als nicht ausreichend an. Sie will nun<br />
beim EuGH beantragen, für Deutschland ein<br />
Zwangsgeld von 62.203,68 € pro Tag vom Tag<br />
der Urteilsverkündigung an bis zur vollständigen<br />
Umsetzung der Richtlinie und dem Inkrafttreten<br />
im nationalen Recht festzusetzen.<br />
[Quelle: EU-Kommission]<br />
Personalia<br />
Anfang Dezember ist der Richter des BVerfG<br />
Dr. h.c. WILHELM SCHLUCKEBIER nach 11-jähriger<br />
Amtszeit aus dem Amt geschieden. Dr. SCHLU-<br />
CKEBIER war zunächst Oberstaatsanwalt und später<br />
Richter am BGH, bevor er im Jahr 2006 vom<br />
Bundestag zum Richter des BVerfG gewählt<br />
wurde. Dort war er im Ersten Senat als Berichterstatter<br />
an bedeutenden Entscheidungen beteiligt,<br />
etwa zu den Ladenöffnungszeiten an Sonnund<br />
Feiertagen (BVerfGE 125, 39), zum Recht der<br />
offenen Vermögensfragen nach der Deutschen<br />
Einheit (BVerfGE 126, 331), zum Kopftuchverbot<br />
für Lehrkräfte (BVerfGE 138, 296) sowie zum<br />
Schutz des Karfreitags als stiller Feiertag (BVerfGE<br />
143, 161). Hinzu kommen Sondervoten u.a. zur<br />
Vorratsdatenspeicherung (BVerfGE 125, 260, 364).<br />
Zu seinem Nachfolger im Senat wurde der<br />
bisherige Vizepräsident des BVerwG, Dr. JOSEF<br />
CHRIST, ernannt.<br />
Bereits im Oktober ist die Richterin am BGH<br />
GABRIELE SCHUSTER kurz vor Vollendung ihres 61.<br />
Lebensjahres verstorben. Frau SCHUSTER war zunächst<br />
als Richterin am Bundespatentgericht<br />
tätig, bevor sie 2010 an den BGH berufen wurde.<br />
Dort gehörte sie zunächst dem vorübergehend<br />
eingerichteten Xa. Zivilsenat an und wechselte<br />
später in den für Patent- und Gebrauchsmusterstreitsachen<br />
X. Zivilsenat.<br />
In seiner Vollversammlung im November hat der<br />
Council of Bars and Law Societies of Europe<br />
(CCBE) die Berliner Rechtsanwältin und Strafverteidigerin<br />
Dr. MARGARETE GRÄFIN VON GALEN zur<br />
3. Vizepräsidentin gewählt. VON GALEN engagiert<br />
sich seit vielen Jahren u.a. im Ausschuss Europarecht<br />
der BRAK und im CCBE; von 2004 bis<br />
2009 war sie als erste Frau Präsidentin der RAK<br />
Berlin. Mit der Wahl VON GALENS gibt es nach über<br />
zehn Jahren wieder ein deutsches Mitglied im<br />
Präsidium des CCBE.<br />
[Quellen: BVerfG/BGH/BRAK]<br />
8 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Eilnachrichten 2018 Fach 1, Seite 1<br />
Eilnachrichten<br />
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Allgemeines Zivilrecht<br />
Facebook: Negative Äußerungen in einem Blogbeitrag sind u.U. hinzunehmen<br />
(OLG Frankfurt, Urt. v. 10.8.2017 – 16 U 255/16) • Der objektive Tatbestand des § 823 Abs. 1 BGB kann mit Blick<br />
auf den Geschäftsbetrieb eines Caterers durch beanstandete Äußerungen erfüllt sein, wenn die Äußerungen<br />
einen unmittelbaren Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb darstellen, der auch<br />
betriebsbezogen erfolgt ist. Dies kann bei einer namentlichen Nennung des Betriebs und der darauf bezogenen<br />
Äußerung „Finger weg von diesem Caterer! Wählt einen anderen Caterer!“ in einem Facebook-<br />
Blogbeitrag der Fall sein. Die Behinderung der Erwerbstätigkeit ist allerdings nur dann rechtswidrig, wenn<br />
das Schutzinteresse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt. Dabei ergibt<br />
sich die Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Rechts am Gewerbebetrieb erst aus einer Interessen- und<br />
Güterabwägung mit der im Einzelfall kollidierenden Interessensphäre anderer und ihrer Grundrechte. Bei der<br />
Abwägung sind die betroffenen Grundrechte interpretationsleitend zu beachten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 1/2018<br />
Kaufvertragsrecht<br />
Grundstückskaufvertrag: Verletzung vorvertraglicher Schutzpflichten<br />
(BGH, Urt. v. 13.10.2017 – V ZR 11/17) • Bei einem Grundstückskaufvertrag sind an die Verletzung vorvertraglicher<br />
Schutzpflichten strengere Anforderungen zu stellen. Bei einem solchen Vertrag löst die<br />
Verweigerung der Mitwirkung an der Beurkundung durch einen Verhandlungspartner nicht schon dann<br />
Schadensersatzansprüche aus, wenn es an einem triftigen Grund dafür fehlt, sondern nur, wenn eine<br />
besonders schwerwiegende, i.d.R. vorsätzliche Treuepflichtverletzung vorliegt. Es stellt keine besonders<br />
schwerwiegende Treuepflichtverletzung des (potentiellen) Verkäufers eines Grundstücks dar, wenn er –<br />
bei wahrheitsgemäßer Erklärung seiner Abschlussbereitschaft – dem Kaufinteressenten nicht offenbart,<br />
dass er sich vorbehält, den Kaufpreis zu erhöhen. Eine Haftung wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen<br />
scheidet deshalb aus. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2/2018<br />
Miete/Nutzungen<br />
Mieterhöhung: Wirksamkeit bei preisgebundenem Wohnraum<br />
(BGH, Urt. v. 20.9.2017 – VIII ZR 250/16) • Im Falle der Unwirksamkeit einer Schönheitsreparaturklausel<br />
darf der Vermieter preisgebundenen Wohnraums grds. gem. § 10 Abs. 1 S. 1 WoBindG die Kostenmiete<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 9
Fach 1, Seite 2 Eilnachrichten 2018<br />
einseitig um den Zuschlag nach § 28 Abs. 4 S. 2 II. BV erhöhen. Er ist nicht verpflichtet, dem Mieter eine<br />
wirksame Abwälzungsklausel anzubieten oder ein entsprechendes Angebot des Mieters anzunehmen.<br />
Hinweis: Beruft sich der Mieter preisgebundenen Wohnraums darauf, dass eine vereinbarte Schönheitsreparaturklausel<br />
unwirksam ist, so kann dieser Schuss nach hinten losgehen. Im Ergebnis könnte der<br />
Vermieter dann den sich aus § 28 Abs. 4 II. BV ergebenden Zuschlag verlangen. Es ist daher angezeigt, zu<br />
prüfen, ob eine Mitteilung des Mieters gegenüber dem Vermieter erfolgen kann, dass er die an sich<br />
unwirksame Schönheitsreparaturklausel gegen sich gelten lassen möchte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 3/2018<br />
Bauvertragsrecht<br />
Architektenvertrag: Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen das SchwarzArbG<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 18.10.2017 – 12 U 115/16) • Die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB, § 1 Abs. 2 Nr. 2<br />
SchwarzArbG hinsichtlich eines Architektenvertrags tritt auch ein, wenn die Vertragsparteien erst<br />
nachträglich und in Bezug auf einen Teil des Architektenhonorars eine „Ohne-Rechnung-Abrede“<br />
treffen. Eine isolierte Betrachtung der „Ohne-Rechnung-Abrede“ berücksichtigte nicht hinreichend den<br />
verfolgten Zweck, den ursprünglich geschlossenen Vertrag an die neu vereinbarten Konditionen<br />
anzupassen und damit abzuändern. Die Nichtigkeit des Architektenvertrags führt dazu, dass Mängelansprüche<br />
des Auftraggebers ausgeschlossen sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 4/2018<br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
WEG: Ausübungsbefugnis des Verbandes für bestimmte Ansprüche<br />
(BGH, Urt. v. 13.10.2017 – VZR45/17)• Für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche aus dem Miteigentum<br />
an dem Grundstück gem. § 1004 Abs. 1 BGB – anders als etwa für Schadensersatzansprüche – besteht keine<br />
geborene Ausübungsbefugnis des Verbandes gem. § 10 Abs. 6 S. 3 Hs. 1 WEG, sondern lediglich eine gekorene<br />
Ausübungsbefugnis gem. § 10 Abs. 6 S. 3 Hs. 2 WEG. Dies gilt nicht nur, wenn sich die Ansprüche gegen einen<br />
anderen Wohnungseigentümer richten, sondern auch dann, wenn Anspruchsgegner ein außerhalb der<br />
Wohnungseigentümergemeinschaft stehender Dritter ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 5/2018<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Vorfahrt: Radweg, Fahrradhelm<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 4.8.2017 – 9 U 173/16) • Der den für seine Fahrtrichtung nicht freigegebenen Radweg<br />
benutzende Fahrradfahrer behält gegenüber aus untergeordneten Straßen einbiegenden Verkehrsteilnehmern<br />
das Vorfahrtsrecht. Der Fahrradfahrer muss sich in diesen Fällen gem. § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB<br />
ein anspruchsminderndes Mit- bzw. Eigenverschulden entgegenhalten lassen, weil er durch sein Verhalten<br />
gegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO verstoßen hat. Der Verzicht auf einen Fahrradhelm begründet auch für einen<br />
Unfall aus dem Jahre 2013 keine Anspruchskürzung. Die Verletzung des Vorfahrtsrechts und die Benutzung<br />
eines nicht für die konkrete Fahrtrichtung freigegebenen Radwegs rechtfertigt eine Haftungsverteilung von<br />
1/3 zu 2/3 zu Lasten des die Vorfahrt verletzenden Kraftfahrers. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 6/2018<br />
Versicherungsrecht<br />
Unfallversicherung: Auslegung einer Kündigungs-Klausel in den AUB 2000<br />
(BGH, Urt. v. 18.10.2017 – IV ZR 188/16) • Die Regelung in Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen<br />
(hier: Nr. 10.3 AUB 2000), wonach der Vertrag durch den Versicherungsnehmer oder den Versicherer<br />
durch Kündigung beendet werden kann, wenn der Versicherer eine Leistung erbracht hat, ist dahin<br />
auszulegen, dass das Kündigungsrecht mit der ersten Leistung beginnt. Hierfür spricht bereits der<br />
10 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Eilnachrichten 2018 Fach 1, Seite 3<br />
Wortlaut der Klausel. Danach kann der Vertrag durch jede Vertragspartei beendet werden, wenn der<br />
Versicherer „eine Leistung erbracht“ hat. Auch aus dem dem Versicherungsnehmer erkennbaren Sinn und<br />
Zweck der Klausel erschließt sich ihm nicht, dass dem Versicherer jeweils ein neues Kündigungsrecht für<br />
den gesamten Vertrag zusteht, sobald er eine Teilleistung erbracht hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 7/2018<br />
Familienrecht<br />
Mitvormundschaft: Bestellung eines Rechtsanwalts für unbegleiteten Flüchtling<br />
(BGH, Beschl. v. 13.9.2017 – XII ZB 497/16) • Nach § 1773 Abs. 1 BGB erhält ein Minderjähriger einen<br />
Vormund, wenn er nicht unter elterlicher Sorge steht oder wenn die Eltern weder in den die Person<br />
noch in den das Vermögen betreffenden Angelegenheiten zur Vertretung des Minderjährigen berechtigt<br />
sind. Gemäß § 1775 S. 2 BGB besteht der Vorrang der Einzelvormundschaft. Nur aus besonderen Gründen<br />
können dem Mündel mehrere Vormünder bestellt werden. Nach § 1779 Abs. 2 S. 1 BGB soll das Gericht<br />
eine Person auswählen, die zur Führung der Vormundschaft geeignet ist. Letzteres ist bei einem zum<br />
Vormund bestellten Jugendamt stets der Fall. Die Bestellung eines Rechtsanwalts zum Mitvormund für<br />
einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling zur Vertretung in ausländerrechtlichen Angelegenheiten<br />
einschließlich des Asylverfahrens ist auch dann unzulässig, wenn es dem Vormund an (einschlägiger)<br />
juristischer Sachkunde fehlt. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 8/2018<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Ehegattentestament: Auslegung eines gemeinschaftlichen Testaments<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 12.9.2017 – 10 U 75/16) • Gemäß § 2270 Abs. 1 BGB sind Verfügungen eines<br />
gemeinschaftlich errichteten Testaments wechselbezüglich, wenn anzunehmen ist, dass die Verfügung<br />
des einen Ehegatten nicht ohne die Verfügung des anderen getroffen worden wäre. Verfügungen, die im<br />
Wechselbezug stehen, müssen nicht zwingend zeitgleich in einer einheitlichen Urkunde getroffen<br />
werden. Sie können auch nacheinander in getrennten Urkunden niedergelegt werden. Allerdings muss<br />
in diesem Fall ein entsprechender Verknüpfungswille feststellbar sein, der sich aus den Urkunden<br />
zumindest andeutungsweise ergeben muss. Auch ein langer Zeitraum von fast 40 Jahren, der zwischen<br />
den beiden Testamenten liegt, spricht nach den Gesamtumständen nicht entscheidend gegen die<br />
Annahme eines Verküpfungswillens der Eheleute. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 9/2018<br />
Zivilprozessrecht<br />
Wiedereinsetzung: Vermerk im Fristenbuch nach Berechnung der Berufungsbegründungsfrist<br />
(BGH, Beschl. v. 19.9.2017 – VI ZB 40/16) • Zwar erstreckt sich die Pflicht des Rechtsanwalts zur Prüfung<br />
grds. auch darauf, ob das (zutreffend errechnete) Fristende im Fristenkalender notiert worden ist. Ist die<br />
Berufungsbegründungsfrist errechnet und befindet sich in den Handakten ein Vermerk über die Notierung<br />
der Frist im Fristenbuch, kann sich der Rechtsanwalt jedoch grds. auf die Prüfung des Erledigungsvermerks<br />
in der Handakte beschränken und braucht nicht noch zu überprüfen, ob das Fristende auch tatsächlich im<br />
Fristenkalender eingetragen ist, außer es drängen sich an der Richtigkeit Zweifel auf. Andernfalls würde<br />
die Einschaltung von Bürokräften in die Fristenüberwachung weitgehend sinnlos, die jedoch aus organisatorischen<br />
Gründen erforderlich und deshalb zulässig ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 10/2018<br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Insolvenzverfahren: Verstrickung des Vermögensgegenstands<br />
(BGH, Urt. v. 21.9.2017 – IX ZR 40/17) • Eine durch Zwangsvollstreckung im letzten Monat vor dem Antrag<br />
auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag erlangte Sicherung führt zur öffentlich-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 11
Fach 1, Seite 4 Eilnachrichten 2018<br />
rechtlichen Verstrickung des Vermögensgegenstands. Verstrickung tritt auch bei einer während der<br />
Dauer des Insolvenzverfahrens durchgeführten Zwangsvollstreckung ein. Die Wirkungen der Verstrickung<br />
dauern im Insolvenzverfahren fort, bis sie auf einem dafür vorgesehenen Weg beseitigt worden<br />
sind. Der Drittschuldner kann sich gegenüber dem Auszahlungsverlangen des Insolvenzverwalters damit<br />
verteidigen, dass die Verstrickung der Vermögenswerte fortbesteht. Hinweis: Nach Ansicht des BGH<br />
ruht die Verstrickung nicht bis zum Ende des Insolvenzverfahrens, vielmehr bedarf es stets einer<br />
entsprechenden Entscheidung des Vollstreckungsorgans. Zum Schutz des pfändenden Gläubigers vor<br />
unzumutbaren Eingriffen ist es notwendig, die durch die Pfändung bewirkte öffentlich-rechtliche<br />
Verstrickung nicht weiter als erforderlich zu begrenzen. Daher wird die öffentlich-rechtliche Verstrickung<br />
nicht bereits durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unwirksam. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 11/2018<br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Internethandel: Selektives Verkaufsverbot für den autorisierten Fachhandel<br />
(EuGH, Urt. v. 6.12.2017 – C-230/16) • Ein Anbieter von Luxuswaren kann seinen autorisierten Händlern<br />
verbieten, die Waren im Internet über eine Drittplattform zu verkaufen. Ein solches Verbot ist geeignet,<br />
das Luxusimage der Waren sicherzustellen, und geht grds. nicht über das hierfür erforderliche Maß hinaus.<br />
Hinweis: Im vorliegenden Fall ging es um einen Anbieter von Luxusartikeln in Deutschland, der seinen<br />
autorisierten Fachhändlern den Vertrieb über Amazon untersagt hatte. Auf die Vorlage des OLG<br />
Frankfurt/M. verwies der EuGH auf seine ständige Rechtsprechung, wonach ein selektives Vertriebssystem<br />
für Luxuswaren, das primär der Sicherstellung des Luxusimages dieser Waren dient, nicht gegen<br />
das unionsrechtliche Kartellverbot verstößt, sofern folgende Bedingungen erfüllt sind: Die Auswahl der<br />
Wiederverkäufer muss anhand objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgen, die einheitlich für alle in<br />
Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden, zudem<br />
dürfen die festgelegten Kriterien nicht unverhältnismäßig sein. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 12/2018<br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Filesharing: Eltern haften für ihre Kinder<br />
(BGH, Urt. v. 30.3.2017 – I ZR 19/16) • Hat ein volljähriges Kind seinen Eltern gegenüber gestanden,<br />
mittels einer Filesharing-Software ohne Einwilligung des Verwertungsberechtigten urheberrechtliche<br />
Werke im Internet angeboten zu haben, so haften die Eltern als Anschlussinhaber gegenüber dem<br />
Berechtigten täterschaftlich auf Schadensersatz, wenn sie verschweigen, welches der erwachsenen<br />
Kinder die Urheberrechtsverletzung begangen hat. Im Falle einer über den von Eltern unterhaltenen<br />
Internetanschluss begangenen Urheberrechtsverletzung durch Teilnahme an einer Internettauschbörse<br />
umfasst die sekundäre Darlegungslast der Anschlussinhaber bei Inanspruchnahme durch den Tonträgerhersteller<br />
die Angabe des Namens ihres volljährigen Kindes. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 13/2018<br />
Arbeitsrecht<br />
Unbefristetes Arbeitsverhältnis: Wirkung einer Änderungsvereinbarung<br />
(BAG, Urt. v. 17.5.2017 – 7 AZR 301/15) • Die Wirksamkeit einer Befristung richtet sich nach den im Zeitpunkt<br />
des Vertragsschlusses gegebenen Umständen. Danach eintretende Änderungen wirken sich grds. nicht auf<br />
die vereinbarte Befristung aus. Daher entsteht kein unbefristetes Arbeitsverhältnis dadurch, dass der bei<br />
Vertragsschluss gegebene Sachgrund für die Befristung später entfällt. Dies gilt auch dann, wenn sich<br />
während der Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses die Tätigkeit des Arbeitnehmers ändert. Allerdings<br />
unterliegt der Änderungsvertrag als letzter Arbeitsvertrag der Befristungskontrolle, wenn in einem<br />
Änderungsvertrag unter Beibehaltung der vertraglich vereinbarten Befristungsdauer eine Änderung der<br />
Tätigkeit und ggf. der Vergütung vereinbart wird. Entscheidend ist, ob bei Abschluss des Änderungsvertrags<br />
ein Sachgrund für die Befristung vorlag oder nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 14/2018<br />
12 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Eilnachrichten 2018 Fach 1, Seite 5<br />
Sozialrecht<br />
Betriebsrente: Keine Beitragspflicht bis zum Beginn der Altersrente<br />
(BSG, Urt. v. 20.7.2017 – B 12 KR 12/15) • Die Betriebsrente aus einer Direktzusage bis zum Beginn der<br />
Altersrente stellt keinen Versorgungsbezug dar, der in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)<br />
beitragspflichtig ist. Denn dann steht der Überbrückungszweck der Leistung im Vordergrund. Jedoch<br />
mit Renteneintritt, spätestens aber mit Erreichen der Regelaltersgrenze, unterliegen solche Leistungen<br />
als Versorgungsbezüge der Beitragspflicht, da sich der ursprüngliche Überbrückungszweck erledigt.<br />
Hinweis: Wird die gewährte Leistung in den Versorgungsbestimmungen als „Ruhegeld“ bzw. im<br />
Aufhebungsvertrag als „Betriebsrente“ bezeichnet – und gibt der ehemalige Arbeitgeber darüber hinaus<br />
gegenüber dem SG undifferenziert an, die Betriebsrente werde zur Altersversorgung gezahlt – ist dies<br />
ohne Belang. Denn die Qualität einer Arbeitgeberleistung wird ausschließlich objektiv bestimmt und ist<br />
für die Arbeitsvertragsparteien insoweit nicht disponibel. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 15/2018<br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Religionsfreiheit: Tragen religiöser Kopfbedeckung im Gerichtssaal<br />
(EGMR, Entsch. v. 5.12.2017 – Beschwerde-Nr. 57792/15) • Einem Bürger das Tragen einer religiösen<br />
Kopfbedeckung vor Gericht zu verbieten, kann gegen Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />
(EMRK) verstoßen. Die in Art. 9 EMRK vorgesehenen Einschränkungen der Religionsfreiheit<br />
zielen in erster Linie auf Staatsdiener und das für sie geltende Neutralitätsgebot im Dienst und sind nicht<br />
ohne Weiteres auf Bürger übertragbar. Hinweis: In dem entschiedenen Fall weigerte sich ein gläubiger<br />
Muslim, als Zeuge in einem Strafprozess in Bosnien seine Kopfbedeckung vor Gericht abzunehmen.<br />
Ansonsten verhielt sich der Beschwerdeführer dem Gericht gegenüber respektvoll. Dennoch wurde<br />
er des Saals verwiesen und gegen ihn eine Geldstrafe wegen Missachtung des Gerichts verhängt. Ein<br />
ähnlicher Fall lag kürzlich dem BVerfG vor (Beschl. v. 8.11.2017 – 2 BvR 1366/17): Dort hatte sich ein<br />
Muslim als Angeklagter geweigert, zur Urteilsverkündung vor dem Amtsrichter aufzustehen. Seine<br />
Verfassungsbeschwerde wurde verworfen, weil er nicht hinreichend dargetan habe, dass die<br />
Festsetzung des Ordnungsgeldes in nicht gerechtfertigter Weise in sein Grundrecht auf Glaubensfreiheit<br />
eingegriffen habe (BVerfG, Beschl. v. 8.11.2017 – 2 BvR 1366/17). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 16/2018<br />
Steuerrecht<br />
Mandatsbezogene Daten: Verpflichtung von Rechtsanwälten zur Mitteilung<br />
(BFH, Urt. v. 27.9.2017 – XI R 15/15) • Ein Rechtsanwalt, der Beratungsleistungen an im übrigen<br />
Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer erbracht hat, die ihm ihre Umsatzsteuer-Identifikationsnummer<br />
(USt-ID) mitgeteilt haben, kann die u.a. für diese Fälle vorgeschriebene Abgabe einer sog.<br />
Zusammenfassenden Meldung mit den darin geforderten Angaben (u.a. USt-ID des Mandanten,<br />
Gesamtbetrag der Beratungsleistungen an den Mandanten) nicht unter Berufung auf seine Schweigepflicht<br />
verweigern. Hinweis: Vgl. hierzu die Meldung im <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 1/2018, S. 4.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 17/2018<br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Diebstahl: Wohnungsbegriff<br />
(BGH, Beschl. v. 5.9.2017 – 5 StR 361/17) • Dem Wohnungsbegriff des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB unterfallen<br />
auch Kellerräume, die mit einer Wohnung räumlich und baulich eine Einheit bilden bzw. so mit ihr<br />
verbunden sind, dass keine erheblichen Zugangshindernisse zu den Wohnräumen mehr bestehen. Der<br />
Wohnungsbegriff umfasst auch Wochenendhäuser. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 18/2018<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 13
Fach 1, Seite 6 Eilnachrichten 2018<br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Revision: Beanstandung unzureichender Dolmetscherleistungen<br />
(BGH, Beschl. v. 8.8.2017 – 1 StR 671/16) • Die Beanstandung unzureichender Dolmetscherleistungen kann<br />
einen relativen Revisionsgrund darstellen. Bei erfolgter, aber ungenügender Übersetzung während der<br />
Hauptverhandlung erfordert die Beanstandung jedenfalls konkreten Tatsachenvortrag zu den Mängeln<br />
der Übersetzung und deren Auswirkungen auf die Möglichkeiten des Angeklagten, dem Gang der<br />
Verhandlung zu folgen und die wesentlichen Verfahrensvorgänge so zu erfassen, wie dies für die Wahrung<br />
seiner Rechte erforderlich ist. Beanstandungen unzureichender Übersetzung müssen sich dabei auf die<br />
nicht genügende Erfüllung der Aufgaben des hinzugezogenen Dolmetschers beziehen. Diese bestehen vor<br />
allem darin, den Prozessverkehr zwischen dem Gericht und anderen am Verfahren beteiligten Personen<br />
dadurch zu ermöglichen, dass er die im Prozess abgegebenen Erklärungen durch Übertragung in eine<br />
andere Sprache der anderen Seite verständlich macht. Eine Beanstandung, die Dolmetschertätigkeit sei<br />
nur sehr eingeschränkt ausgeübt worden, genügt diesen Anforderungen nicht. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 19/2018<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Widerruf der Rechtsanwaltszulassung: Gesetzliche Vermutung des Vermögensverfalls<br />
(BGH, Beschl. v. 12.10.2017 – AnwZ (Brfg) 39/17) • Zur Widerlegung der aus einer Eintragung im<br />
Schuldnerverzeichnis resultierenden gesetzlichen Vermutung des Vermögensverfalls hat ein Rechtsanwalt<br />
bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt ein vollständiges und detailliertes Verzeichnis seiner Gläubiger<br />
und seiner Verbindlichkeiten vorzulegen und konkret – ggf. unter Vorlage eines nachvollziehbaren bzw.<br />
realistischen Tilgungsplans – darzulegen, dass seine Vermögens- und Einkommensverhältnisse nachhaltig<br />
geordnet sind. Hinweis: Aus Sicht des BGH ist mit dem Vermögensverfall eines Rechtsanwalts grds. eine<br />
Gefährdung der Interessen der Rechtsuchenden verbunden. Die Gefährdung der nach der gesetzlichen<br />
Wertung vorrangigen Interessen der Rechtsuchenden kann nur in seltenen Ausnahmefällen verneint<br />
werden, wobei den Rechtsanwalt die Feststellungslast trifft. Die Annahme einer derartigen Situation setzt<br />
jedoch zumindest voraus, dass der Rechtsanwalt seine anwaltliche Tätigkeit nur noch für eine<br />
Rechtsanwaltssozietät ausübt und mit dieser rechtlich abgesicherte Maßnahmen verabredet hat, die<br />
eine Gefährdung der Mandanten effektiv verhindern. Selbst auferlegte Beschränkungen des in<br />
Vermögensverfall geratenen Einzelanwalts sind nicht geeignet, eine Gefährdung der Rechtsuchenden<br />
auszuschließen (vgl. BGH, Beschl. v. 24.3.2017 – AnwZ (Brfg) 60/16). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 20/2018<br />
Gebührenrecht<br />
Kostenerstattung: Anwaltswechsel zwischen selbstständigem Beweis- und Hauptsacheverfahren<br />
(BGH, Beschl. v. 26.10.2017 – V ZB 188/16) • Gemäß § 91 Abs. 2 S. 2 ZPO sind die Kosten mehrerer<br />
Rechtsanwälte nur insoweit zu erstatten, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder<br />
als in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. Diese Regelung gilt auch bei einem<br />
Anwaltswechsel zwischen selbstständigem Beweisverfahren und nachfolgendem Hauptsacheverfahren.<br />
Das Beweis- und das Erkenntnisverfahren sind sachlich, zeitlich und hinsichtlich der Beteiligten eng<br />
verflochten. Der engen Zusammengehörigkeit der beiden Verfahren hat der Gesetzgeber durch die<br />
Anknüpfung der örtlichen Zuständigkeit für das Beweisverfahren an jene des Hauptsacheprozesses<br />
sowie durch die erleichterte Verwertung der selbstständig erhobenen Beweise in dem nachfolgenden<br />
Hauptprozess Rechnung getragen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 21/2018<br />
<strong>ZAP</strong>-Service: Die <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können und sollen nur eine stark komprimierte Wiedergabe der Originaltexte sein.<br />
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14 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 357<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
Erbrecht<br />
Aktuelle Fragen zu Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
Rechtsanwalt Dr. HANS REINOLD HORST, Hannover/Solingen<br />
Inhalt<br />
I. Einleitung<br />
II. Definition und Anwendungsbereich<br />
III. Inhaltliche Anforderungen an Vollmachten<br />
und Patientenverfügungen<br />
IV. Geltung der Vollmacht<br />
V. Widerrufbarkeit von Vollmacht und<br />
Verfügung<br />
1. Allgemeines<br />
2. Beispiele aus der Praxis<br />
VI. Form- und Haftungsfragen<br />
VII. Auswahl und Tätigkeit des Bevollmächtigten<br />
VIII. Kontrolle des Bevollmächtigten<br />
IX. Aufbewahrung der Vollmacht<br />
X. Kosten<br />
XI. Speziell: Bankvollmacht<br />
I. Einleitung<br />
Die vorliegende Abhandlung gibt einen Überblick zu möglichen Fragestellungen bei der Beratung von<br />
Mandanten im Vorsorgefall und versteht sich als Ergänzung zu dem Grundlagenbeitrag von KURZE (<strong>ZAP</strong><br />
F. 12, S. 327 ff.). Als FAQ-Katalog bietet der Beitrag eine schnelle Information zu aktuellen Fragen rund<br />
um die Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung.<br />
II.<br />
Definition und Anwendungsbereich<br />
Frage:<br />
Was ist eine Generalvollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung?<br />
Eine Generalvollmacht, Betreuungs- oder Patientenverfügung trifft Vorsorge für den Fall, dass der<br />
Verfügende krankheits-, alters- oder unfallbedingt nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zum Vollzug<br />
sowie zur Abwicklung oder Unterlassung von Rechtsgeschäften und Behandlungsmaßnahmen selbst zu<br />
artikulieren und seine Angelegenheiten selbst zu regeln. Einschlägig sind für die<br />
• Generalvollmacht:<br />
§§ 164 ff., 311b i.V.m. 167 Abs. 2 BGB und § 29 GBO, §§ 662 ff. oder 675 BGB, §§ 1904–1906 BGB,<br />
• Betreuungsverfügung:<br />
§§ 1804, 1896 ff., insb. §§ 1897 Abs. 4 S. 1, 1901 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2, 1901c–1908 BGB,<br />
• Patientenverfügung:<br />
§§ 1901a, 630 Abs. 1 S. 2 BGB,<br />
• Bankvollmacht:<br />
§§ 164 ff. BGB (nicht aber Nr. 5 AGB Banken und Sparkassen i.d.F. v. 31.10.2009; s. BGH, Urt. v. 8.10.2013<br />
– XI ZR 401/12, Vorinstanz: OLG Hamm, Urt. v. 1.10.2012 – I-31 U 55/12, ZEV 2012, 678).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 15
Fach 12, Seite 358<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
Frage:<br />
Benötigen nur ältere Menschen eine solche Verfügung?<br />
Nein, im Grunde benötigt jeder eine Generalvollmacht mit Patienten- und Betreuungsverfügung sowie<br />
mit Bankvollmacht. Denn Unfall und Krankheit können bei jedem Alter „zuschlagen.“<br />
Frage:<br />
Was passiert, wenn keine Vollmacht verfügt wurde?<br />
Kann ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder<br />
seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das<br />
Betreuungsgericht (früher Vormundschaftsgericht) auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn<br />
einen Betreuer (§ 1896 Abs. 1 S. 1 BGB).<br />
Liegt der Fall aber so, dass der Betroffene rein tatsächliche Angelegenheiten nicht mehr selbstständig<br />
erledigen kann, z.B. seinen Haushalt nicht mehr führen oder die Wohnung nicht mehr verlassen kann, so<br />
rechtfertigt dies für sich genommen noch nicht die Bestellung eines Betreuers (§ 1896 Abs. 2 S. 1 BGB).<br />
Hier bedarf es rein praktischer Hilfe in Form betreuten Wohnens, insbesondere der Reinigung und<br />
Pflege der Wohnung sowie der Verabreichung gesundheitskonformen Essens und schließlich der Hilfe<br />
und Unterstützung bei der eigenen Körperpflege.<br />
Ordnet das Betreuungsgericht Betreuung an, so bezieht sich das in aller Regel auf bestimmte<br />
Aufgaben- und Geschäftsbereiche (§ 1901 Abs. 1, 4 BGB), nicht auf eine generelle Betreuung in allen<br />
Angelegenheiten. Das kommt nur ausnahmsweise in Betracht (§ 1896 Abs. 2 S. 2 BGB, § 276 Abs. 1 S. 2<br />
Nr. 2 FamFG, dazu: BGH, Beschl. v. 17.2.2016 – XII ZB 498/15, MDR 2016, 463 f.; v. 3.2.2016 – XII ZB 425/14,<br />
MDR 2016, 464; BGH, v. 7.8.2013 – XII ZB 223/13, NJW 2013, 3522 = MDR 2013, 1183) und muss nicht sein.<br />
Denn in aller Regel möchte man die Person seines Vertrauens, die als Bevollmächtigter mit Geld und<br />
Vermögen umgeht und auch Aufenthalts- und Umgangsrechte bestimmen kann, selbst aussuchen. Oft<br />
genug kommt es dabei auch zu einer „Negativ-Auslese“, zumindest im Kopf des Betroffenen: „Jeder, aber<br />
um Gottes Willen nicht Onkel X oder Neffe Y“.<br />
Um solche Entwicklungen möglichst von vornherein abzuwenden, kann der Betroffene eine Generalvollmacht<br />
zugunsten eines Bevollmächtigten als selbst gewähltem Betreuer erstellen, die schriftlich<br />
verfasst werden muss (§§ 1901a Abs. 1 S. 1, Abs. 3, 1901c BGB). Eine existierende Vorsorgevollmacht<br />
des Betroffenen zugunsten eines Bevollmächtigten, insbesondere eine Generalvollmacht, steht also i.d.R.<br />
der Anordnung einer gerichtlichen Betreuung entgegen und genießt Vorrang (§ 1896 Abs. 2 S. 2 BGB).<br />
Frage:<br />
Gilt für Ehegatten Abweichendes?<br />
Nein, denn zwischen Ehegatten gibt es kein gesetzliches Vertretungsrecht, schon gar nicht in gesundheitlichen<br />
Fragen. Trotz ihrer Heirat werden sie bis auf zwei Ausnahmen im gesetzlichen<br />
Güterstand wie fremde Menschen behandelt: Zum einen bedarf ein Ehegatte der Zustimmung des<br />
Anderen, wenn er sein gesamtes Vermögen oder seinen wesentlichen Vermögensteil veräußern will<br />
(§ 1365 BGB). Zum anderen kann er den anderen Ehegatten nur im Rahmen sog. Geschäfte zur Deckung<br />
des täglichen Lebensbedarfs mit verpflichten. Dazu gehören gesundheitliche Fragen oder auch<br />
eingeräumte rechtsgeschäftliche Vollmachten keinesfalls.<br />
Der Bundestag hat deshalb am 17.5.2017 den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Beistandsmöglichkeiten<br />
unter Ehegatten und Lebenspartnern in Angelegenheiten der Gesundheitsfürsorge<br />
und in Fürsorgeangelegenheiten verabschiedet (BR-Drucks 505/16, BT-Drucks 18/10485 und<br />
16 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 359<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
18/12427). Der Ehegatte soll damit für den Anderen ein Entscheidungsrecht über gesundheitliche<br />
Angelegenheiten erhalten, wenn z.B. der Andere krankheits- oder unfallbedingt nicht mehr in der Lage<br />
ist, sich selbst zu Behandlungsfragen zu äußern. Dieses Recht wird daran geknüpft, dass die Ehegatten<br />
nicht dauernd getrennt leben, dem Arzt oder dem Krankenhaus keine anderweitigen Vollmachten z.B.<br />
in Gestalt von Patientenverfügung oder Generalvollmacht vorliegen dürfen und keine gerichtliche<br />
Betreuung angeordnet ist. Ferner darf ein entgegenstehender Wille des Betroffenen nicht bekannt sein.<br />
Das Gesetz ist noch nicht in Kraft getreten. Abgesehen davon macht all dies eine Generalvorsorgevollmacht<br />
nicht entbehrlich. Denn sie geht im Range dem eventuell einzuführenden gesetzlichen Recht, für<br />
den anderen Ehegatten in Gesundheitsfragen zu entscheiden, vor. Ferner bezieht sich dieses eventuelle<br />
gesetzliche Recht eben nur auf Gesundheitsfragen, während sich die Generalvollmacht darüber hinaus<br />
auf alle rechtlichen Fragen und auf eine umfassende Wahrnehmung der rechtlichen Angelegenheiten<br />
erstrecken kann, wenn auch nicht muss. Deshalb kann der Entwurf für den Fall, dass er Gesetz wird, eine<br />
Vorsorgevollmacht nicht ersetzen, was sachlich auch nicht beabsichtigt ist.<br />
III.<br />
Inhaltliche Anforderungen an Vollmachten und Patientenverfügungen<br />
Frage:<br />
Welcher Inhalt ist zu empfehlen?<br />
Vollmacht und Patientenverfügung geben Befugnisse nach außen mit sofortiger Wirkung. Deshalb<br />
muss im Innenverhältnis klar geregelt werden, dass der Betroffene allein statt des Bevollmächtigten alle<br />
Aufgabenkreise und Geschäfte wahrnimmt, solange die in der Vollmacht ausdrücklich erwähnten<br />
Verhinderungsfälle nicht eingetreten sind. Dies sollte in einer getrennten Urkunde erfolgen.<br />
Es sind hier auch die Konfliktfälle zu beschreiben, in denen die Vollmacht ausgeübt werden darf.<br />
Entsprechende Regelungen haben aber im Außenverhältnis der Vollmacht nichts zu suchen. Denn sie<br />
können die Handlungsfähigkeit des Bevollmächtigten einschränken und dem Zweck der errichteten<br />
Vollmacht zuwiderlaufen, sie schließlich sogar unwirksam machen (zur Gefahr insgesamt unwirksamer<br />
Vollmachten, die unter einer Bedingung stehen vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 8.3.2007 – 5 U 1153/06, ZEV<br />
2007, 595 – hier: Gebrauch nur bei Vorlage eines ärztlichen Attests mit bestimmtem Inhalt).<br />
Werden mehrere Bevollmächtigte bestimmt, so sollte immer geklärt werden, in welcher Reihenfolge<br />
die Vollmacht ausgeübt werden darf. Abzuraten ist von einem „Mehr-Augenprinzip“, d.h. von einer<br />
Befugnis nur zur gemeinschaftlichen Ausübung, da damit dem Konfliktfall Vorschub geleistet würde,<br />
dass die Bevollmächtigten sich mit jeweils entgegenstehenden Willen gleichzeitig selbst bei der<br />
Ausübung behindern und der Zweck erteilter Vollmachten in sein Gegenteil verkehrt würde.<br />
Wichtig ist zudem die Behandlung des Themas „Vergütung des Bevollmächtigten“ sowie eine klare<br />
Regelung zu Abrechnungsmodalitäten zwischen dem Bevollmächtigten und dem Vollmachtgeber.<br />
Schließlich sind Regelungen aufzunehmen, die festlegen, ob die erteilte Vollmacht über den Tod des<br />
Vollmachtgebers hinaus wirken soll (transmortale Vollmacht).<br />
Die Patientenverfügung sollte insbesondere die Haltung des Erklärenden zu folgenden Punkten<br />
beinhalten:<br />
• Intensivbehandlung?<br />
• Organtransplantation?<br />
• Anschluss an eine künstliche Niere?<br />
• Vornahme einer Bluttransfusion?<br />
• Durchführung künstlicher Beatmung?<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 17
Fach 12, Seite 360<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
• Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine?<br />
• Voraussetzungen hinsichtlich einer Einstellung künstlicher Ernährung?<br />
• Einsatz von angst- oder schmerzlindernden Maßnahmen?<br />
Auch die Patientenverfügung kann den behandelnden Ärzten die Verantwortung für die Behandlung<br />
nicht nehmen. Ergeben sich Zweifelsfragen, so sollte in der Patientenverfügung unbedingt eine<br />
Vertrauensperson benannt sein, die für den Verfügenden bei den behandelnden Ärzten auftritt und<br />
dessen Wünsche durchsetzt (§ 1901a Abs. 1 S. 2 BGB).<br />
Bei der Vorsorgevollmacht ist inhaltlich zwischen Regelungen der Vermögenssorge und der Personensorge<br />
zu unterscheiden.<br />
Im Hinblick auf die Vermögenssorge sollte im Einzelnen formuliert werden, dass der Bevollmächtigte<br />
berechtigt ist,<br />
• Vermögenswerte beliebiger Art in Empfang zu nehmen,<br />
• Verfügungen über Konten und Wertpapierdepots, insbesondere Neuanlage, zu treffen,<br />
• Verträge, auch Dauerschuldverhältnisse insbesondere mit Kliniken, Pflegeteams etc. zu schließen,<br />
• die Post entgegennehmen zu dürfen,<br />
• den Vollmachtgeber gegenüber Behörden zu vertreten und Prozesse in seinem Namen zu führen,<br />
• den Haushalt aufzulösen und über das Inventar zu verfügen, und ferner angeben,<br />
• ob Immobiliengeschäfte von der Vollmacht umfasst sein sollen oder nicht, und<br />
• negativ abzugrenzen, welche Rechtsgeschäfte/Vermögensbereiche ausgenommen bleiben sollen.<br />
Im Rahmen der Personensorge sollten folgende Punkte behandelt werden:<br />
1. Gesundheitssorge (§ 1904 Abs. 1 BGB):<br />
Der Vollmachtgeber kann dem Bevollmächtigten grundsätzlich überlassen zu entscheiden, ob<br />
ärztliche Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen werden oder nicht. Der Bevollmächtigte<br />
kann aber nicht in Fällen entscheiden, in denen die Gefahr besteht, dass der Vollmachtgeber<br />
wegen der zu entscheidenden Maßnahme stirbt oder einen schweren oder länger dauernden<br />
gesundheitlichen Schaden erleidet. Dann ist die Zustimmung des Betreuungsgerichts erforderlich. Im<br />
Übrigen kommt es – wie bei der Patientenverfügung – auf das Einvernehmen mit dem behandelnden<br />
Arzt an (§ 1904 Abs. 4 BGB).<br />
2. Unterbringung (§ 1906 Abs. 1 BGB):<br />
Bei Eigengefährdung des Vollmachtgebers sollte der Bevollmächtigte die Einweisung in eine<br />
geeignete Anstalt veranlassen können. Geht damit eine Freiheitsentziehung einher, bedarf die Maßnahme<br />
der Zustimmung des Betreuungsgerichts.<br />
3. Freiheitsentziehende oder -beschränkende Maßnahmen (§ 1906 Abs. 4 BGB):<br />
Diese bedürfen der Zustimmung des Betreuungsgerichts.<br />
4. Aufenthalts- und Umgangsbestimmung:<br />
Die Vollmacht kann dem Bevollmächtigten das Recht vermitteln zu bestimmen, wo sich der<br />
Vollmachtgeber aufhält und mit wem er Kontakt haben darf. Das ist wichtig, um der Patientenverfügung<br />
auf jeden Fall Geltung zu verschaffen. Will der Arzt des Krankenhauses A nicht wie<br />
gewünscht behandeln, kann das Aufenthaltsbestimmungsrecht diesen Arzt „aushebeln.“ Dann<br />
verlegt man den Patienten schlicht in das Krankenhaus B, das sicherstellt, dem Patientenwillen<br />
Genüge zu tun.<br />
5. Zeitpunkt des Inkrafttretens und Widerruf der Vollmacht:<br />
Die Vollmacht sollte sofort und unbeschränkt mit Unterzeichnung im Außenverhältnis wirksam<br />
werden, damit sie jederzeit genutzt werden kann. Denn Unfall- und Krankheitszeitpunkte sind<br />
naturgemäß vorher unbekannt. Nur so ist sichergestellt, dass die Vollmacht Wirkung entfaltet.<br />
18 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 361<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
Gleichzeitig ist für das Innenverhältnis zwischen Vollmachtgeber und -nehmer zu bestimmen, dass<br />
von ihr nur bei Erkrankung und bei Eintritt eines Unfalls Gebrauch gemacht werden darf. Für den Fall,<br />
dass der Bevollmächtigte die Vollmacht gegen den Willen des Vollmachtgebers verwendet, also<br />
bevor der Fall der Hilfebedürftigkeit eingetreten ist, kann der noch geschäftsfähige Vollmachtgeber<br />
die Vollmacht jederzeit widerrufen und rechtlich gegen den Bevollmächtigten intervenieren<br />
(Schadensersatz u.a.).<br />
6. Elterliche Sorge im Falle minderjähriger Kinder:<br />
Eltern minderjähriger Kinder sollten für den Fall vorsorgen, dass beide gleichzeitig, z.B. bei einem<br />
Unfall, versterben. Damit ist zu regeln, wer die elterliche Sorge über die minderjährigen Kinder in<br />
einem solchen Unglücksfall erhalten soll. Wird dies unterlassen, wird die elterliche Sorge zunächst<br />
vom Jugendamt ausgeübt. Danach bestimmt das Betreuungsgericht die Person, die auf Dauer die<br />
elterliche Sorge ausüben soll (§§ 1776, 1777 BGB). Diese Entscheidung können die Eltern beeinflussen<br />
und festlegen, wer an ihrer Stelle die elterliche Sorge ausüben soll. Selbstverständlich sollten<br />
derartige Regelungen niemals ohne vorherige einverständliche Absprache mit den Betrauten<br />
getroffen werden.<br />
Frage:<br />
Wie bestimmt muss die Verfügung sein?<br />
In der Patientenverfügung müssen Behandlungssituationen mit den jeweils vorzunehmenden oder zu<br />
unterlassenden Maßnahmen genau beschrieben werden. Andernfalls sind diese Verfügungen nicht<br />
bindend (BGH, Beschl. v. 8.2.2017 – XII ZB 604/15, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 287/2017 = NJW 2017, 1737; v. 6.7.2016 –<br />
XII ZB 61/16, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 668/2016 = NJW 2016, 3297; vgl. auch BGH, Beschl. v. 17.9.2010 – XII ZB 202/13,<br />
NJW 2014, 3572). Der Wunsch nach Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen reicht ebenso wenig<br />
aus wie der ausgewiesene Wunsch, würdevoll sterben zu können, wenn ein Heilungserfolg nicht mehr<br />
zu erwarten ist. Dies ist zu ungenau. Die Anforderungen des BGH im Hinblick auf die Konkretion des<br />
Inhaltes sind z.B. nur erfüllt, wenn genau angegeben wird, in welchen Fällen auf eine künstliche<br />
Ernährung verzichtet werden soll, und wenn dieser Verzicht ausdrücklich erwähnt wird.<br />
Insgesamt ist so präzise wie möglich zu artikulieren, welche ärztlichen Behandlungen und Maßnahmen<br />
gewünscht werden und welche nicht. Diese Anordnungen müssen sich auf bestimmte Lebens-<br />
und Behandlungssituationen sowie spezifische Krankheiten beziehen. Das schließt die Erwähnung<br />
konkreter Behandlungen ein, die der Verfügende ausschließen will, sofern keine Aussicht<br />
besteht, dass er gesund wird, und aus der Behandlung schwere Leiden drohen (z.B. Magensonde,<br />
Dialyse, Strahlentherapien etc.).<br />
Dies gilt natürlich auch für Generalvollmachten, in denen eine Patientenverfügung als Teil der<br />
Gesundheitsvorsorge mit enthalten ist. Insbesondere ist § 1904 Abs. 2, 5 BGB zu beachten.<br />
Im Hinblick auf die junge Rechtsprechung des BGH sollte der Mandant nach bereits bestehenden<br />
Vollmachten und Patientenverfügungen befragt werden, verbunden mit der Anregung, sie daraufhin<br />
zu überprüfen, ob sie den Anforderungen des BGH an die Konkretisierung des Inhaltes genügen (näher:<br />
SEIBL NJW 2016, 3277 ff.; MÜLLER ZEV 2016, 605 ff.; LINDNER, Bestimmtheit der Patientenverfügung, NJWaktuell<br />
Heft 22/2017, 14).<br />
Frage:<br />
Sollten Verhaltensweisen für bekannte Vorerkrankungen oder aktuelle Erkrankungen aufgenommen<br />
werden? Und wenn ja: Gibt es Muster?<br />
Dazu ist unbedingt zu raten, um den Anforderungen des BGH an die Konkretisierung des Inhalts<br />
der Verfügung zu genügen. Bieten bekannte Vorerkrankungen oder aktuelle Erkrankungen einen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 19
Fach 12, Seite 362<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
konkreten Anlass für die Äußerung von Behandlungswünschen, sind sie konkret und nicht allgemein<br />
zu benennen.<br />
Muster werden mittlerweile flächendeckend angeboten von Ärztekammern, Wohlfahrtsverbänden,<br />
Verlagen sowie im Internet. Selbstverständlich sind sie inhaltlich auf den konkreten Fall anzupassen<br />
und daraufhin zu überprüfen, ob sie im Hinblick auf ihre Konkretisierung den verschärften<br />
Anforderungen genügen, die der BGH in seinen Urteilen entwickelt hat (BGH, Beschl. v. 8.2.2017 –<br />
XII ZB 604/15, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 287/2017 = NJW 2017, 1737; v. 6.7.2016 – XII ZB 61/16, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 668/2016 =<br />
NJW 2016, 3297).<br />
Musterverwendungen bergen ebenso die Gefahr der Lückenhaftigkeit individuell notwendiger<br />
Regelungen (BGH, Urt. v. 1.4.2015 – XII ZB 29/15, ZEV 2015, 536 – zum Problem der lückenhaften<br />
Vollmacht).<br />
Frage:<br />
Geschäftsfähigkeit und Demenz: Sollte insbesondere bei der Patientenverfügung oder auch bei der<br />
Errichtung einer Generalvollmacht der Arzt/Hausarzt hinzugezogen werden?<br />
Zweifellos setzen Patientenverfügungen und Vorsorgevollmacht Geschäftsfähigkeit des Erklärenden<br />
voraus. Die Praxis zeigt, dass sie im Falle demenzieller Erkrankungen oder sonstiger Beeinträchtigungen<br />
der geistigen Kraft hinterfragt wird. Motiv hierbei kann der missliebige Inhalt der Verfügung genauso<br />
sein wie generell das Verhältnis zum eingesetzten Betreuer und/oder zum Betroffenen.<br />
Deshalb sollte ein Hausarzt oder im Falle bestimmter Erkrankungen ein Facharzt eingebunden werden,<br />
der die Geschäftsfähigkeit bestätigt und über verfügte Behandlungsmaßnahmen oder deren<br />
Unterlassung medizinisch berät. All dies sollte dokumentiert werden und in der Patientenverfügung<br />
bzw. der Generalvollmacht deutlich dokumentiert zum Ausdruck kommen. Notar und Rechtsanwalt<br />
sind bei indizierten Zweifeln im Hinblick auf die Geschäftsfähigkeit gehalten, den Mandanten<br />
aufzufordern, einen Facharzt mit einzubinden und dessen Befund durch ein ärztliches Attest zu<br />
dokumentieren (BayObLG, Beschl. v. 2.7.1992 – 3Z BR 58/92, DNotZ 1993, 471, 473).<br />
Auch der Notar prüft die Geschäftsfähigkeit vor der Beurkundung (§ 11 Abs. 1 BeurkG). Dies ersetzt aber<br />
die Einbindung eines Hausarztes/Facharztes nicht. Denn im Streitfall kann sich das Gericht über die<br />
urkundlichen Feststellungen des Notars hinwegsetzen (LG Mosbach, Urt. v. 23.12.2015 – 2 O 221/14,<br />
NJW-Spezial 2016, 72). Selbstverständlich obliegt dem Gericht dazu die abschließende Beurteilung (vgl.<br />
LIMMER, in: REIMANN/BENGEL/J. MAYER, Testament und Erbvertrag, 6. Aufl. 2015, Syst. A Rn 219; OLG Hamm,<br />
Beschl. v. 7.5.2009 – 15 Wx 316/08, EE 2010, 58 ff.).<br />
Mitunter wird auch empfohlen, bestehende Patientenverfügungen jährlich mit dem Hausarzt zu<br />
besprechen und diese Gespräche zu dokumentieren, damit im Behandlungsfall nachgewiesen werden<br />
kann, dass sie dem aktuellen Willen des Verfügenden nach einschlägiger medizinischer Beratung<br />
entsprechen.<br />
IV.<br />
Geltung der Vollmacht<br />
Frage:<br />
Ab und bis wann gilt die Vollmacht?<br />
Die Vollmacht gilt ab dem Zeitpunkt und in dem Umfang, der in ihr bestimmt ist, ansonsten ab<br />
Unterzeichnung. Sie gilt bis zu ihrer jederzeit möglichen Änderung oder ihrem jederzeit möglichen<br />
Widerruf durch den Betroffenen selbst, durch das Betreuungsgericht oder durch einen eingesetzten<br />
20 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 363<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
Kontrollbetreuer. Ist sie über den Tod hinaus ausgefertigt, gilt sie auch postmortal und berechtigt den<br />
Bevollmächtigten bis zum Widerruf durch die Erben.<br />
Frage:<br />
Was gilt, wenn der Aussteller der Vollmacht stirbt?<br />
Die Vollmacht kann Regelungen enthalten, die den Bevollmächtigten auch nach dem Tod des<br />
Betroffenen weiter handeln lassen (transmortale Vollmacht). Ein eintretender Erbfall hindert dann<br />
Wirksamkeit und Verwendung der erteilten Vollmacht nicht. Solche Regelungen sind insbesondere bis<br />
zur Klärung der Erbfolge sowie bis zum Widerruf der Vollmacht durch mögliche Erben sinnvoll (vgl.<br />
ZIMMER NJW 2016, 3341 ff.; KLINGER/MOHR NJW-Spezial 2006, 13; SIEBERT EE 2010, 98).<br />
Auch eine Generalvollmacht über den Tod hinaus stellt nicht sicher, dass nicht ein fremder Dritter zum<br />
Nachlasspfleger bestellt wird, wenn sich rechtliche Zweifel an der Wirksamkeit der Generalvollmacht<br />
sowie an der Wirksamkeit eines Testaments ergeben, durch das der Bevollmächtigte aus der<br />
Generalvollmacht gleichzeitig zum Testamentsvollstrecker bestellt wird (OLG Stuttgart, Beschl. v.<br />
27.5.2015 – 8 W 147/15, NJW-Spezial 2015, 648; zu den Möglichkeiten einer Nachlasspflegschaft trotz<br />
bestehender transmortaler Generalvollmacht s. ROTH NJW-Spezial 2010, 231).<br />
V. Widerrufbarkeit von Vollmacht und Verfügung<br />
1. Allgemeines<br />
Frage:<br />
Ist die Vollmacht/die Verfügung widerruflich oder unwiderruflich?<br />
Der Betroffene kann die Generalvollmacht und selbstverständlich auch die Patientenverfügung oder die<br />
Betreuungsvollmacht im Einzelnen jederzeit frei widerrufen (§ 1901a Abs. 1 S. 3 BGB). Dies kann<br />
entweder ausdrücklich oder konkludent durch die Abfassung einer neuen Erklärung oder insgesamt<br />
formlos geschehen (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 13.7.2016 – XII ZB 488/15, MDR 2016, 1209).<br />
Das Widerrufsrecht geht auf die Erben über. Auch sie haben im Fall einer trasmortal erteilten Vollmacht<br />
die Möglichkeit, die Erklärungen des Erblassers zu widerrufen.<br />
In jedem Fall des Widerrufs müssen ausgehändigte Vollmachten zurückgefordert werden. Der Widerruf<br />
muss gegenüber allen möglichen Geschäftspartnern bekannt gegeben werden. Dies gilt insbesondere<br />
in allen Fällen, in denen der Bevollmächtigte bereits im Außenverhältnis von der Vollmacht Gebrauch<br />
gemacht hat.<br />
Frage:<br />
Gilt die Vollmacht für den Fall angeordneter oder faktischer Betreuung unwiderruflich, also immer, oder<br />
lässt sie sich durch einen gerichtlichen Betreuungsantrag aushebeln?<br />
Trotz existierender wirksamer Vorsorgevollmacht einschließlich Patientenverfügung kann gerichtlich<br />
ein Kontrollbetreuer bestellt werden, der im Extremfall auch dazu ermächtigt werden kann, die<br />
existierende Vollmacht zu widerrufen. Ebenso kann das Gericht selbst die Vollmacht für kraftlos erklären<br />
und Betreuung anordnen (BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – XII ZB 425/14, NJW 2016, 1514 ff.; v. 3.2.2016 – XII ZB<br />
454/15, NJW 2016, 1516; v. 17.2.2016 – XII ZB 498/15; v. 14.3.2013 – XII ZB 206/13; v. 7.8.2013 – XII ZB 223/13).<br />
Einschlägige Fälle sind:<br />
• Der Bevollmächtigte kümmert sich mit Zeitverzug und nur sehr zögerlich um die Angelegenheiten<br />
des Vollmachtgebers (BGH, Beschl. v. 7.8.2013 – XII ZB 223/13, NJW 2013, 3522 = MDR 2013, 1183).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 21
Fach 12, Seite 364<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
• Der Bevollmächtigte kann sich gegen einen hineindrängenden Konkurrenten, der ohne rechtliche<br />
Grundlage rein tatsächlich die Angelegenheiten des Vollmachtgebers übernimmt und regelt, nicht<br />
durchsetzen und erweist sich deshalb als ungeeignet (BGH, Beschl. v. 17.2.2016 – XII ZB 498/15, MDR<br />
2016, 463 f.; v. 7.8.2013 – XII ZB 671/12, MDR 2013, 1224 = NJW 2013, 3373 = ZEV 2013, 626).<br />
• Es besteht eine konkrete Gefahr für das Wohl des Betroffenen, weil der Bevollmächtigte wegen<br />
erheblicher Bedenken an seiner Geeignetheit oder Redlichkeit als ungeeignet erscheint (BGH, Beschl.<br />
v. 14.8.2013 – XII ZB 206/13, ZEV 2013, 627; v. 13.4.2011 – XII ZB 584/10, NJW 2011, 2135 = ZEV 2011, 433).<br />
• Der Bevollmächtigte übt die ihm erteilte Generalvollmacht nicht im Interesse des Betroffenen aus<br />
und erscheint deshalb als ungeeignet (BGH, Beschl. v. 5.11.2014 – XII ZB 117/14, NJW 2015, 407 ff.,<br />
st. Rspr. vgl. ebenso: BGH, Beschl. v. 17.2.2016 – XII ZB 498/15, MDR 2016, 463 f.).<br />
• Aufgrund einer nachweisbaren und diagnostizierten Intelligenzminderung des Betroffenen wird<br />
fraglich, ob er bei Erteilung der Generalvollmacht geschäftsfähig oder geschäftsunfähig gewesen ist<br />
(BGH, Beschl. v. 14.8.2013 – XII ZB 206/13, ZEV 2013, 627).<br />
2. Beispiele aus der Praxis<br />
a) Aushebelung der Vorsorgevollmacht<br />
In der Praxis unternehmen Pflegeeinrichtungen bisweilen den Versuch, Vorsorgevollmachten<br />
„auszuhebeln“ und gerichtlich widerrufen zu lassen.<br />
Beispiel:<br />
Im Jahre 2008 erteilt der heute an Demenz leidende Betroffene B. seiner Schwester S. und seinem<br />
Schwager Sch. eine Vorsorgevollmacht, die u.a. der Vermeidung einer Betreuung dienen soll. Seit<br />
November 2010 lebt B. in einer Pflegeeinrichtung, die von einem Ehepaar betrieben wird. Zwischen Sch.<br />
und Frau E., der Betreiberin der Pflegeeinrichtung, kommt es zu Differenzen im Zusammenhang mit der<br />
Pflegesituation. Sch. wirft Frau E. vor, sie sei überlastet und ihr Umgangston sei oft grob, aggressiv und<br />
laut. Deshalb möchte Sch. B. aus dieser privaten Pflegeeinrichtung herausholen und in einem<br />
Altenpflegeheim unterbringen. Dagegen wehrt sich Frau E., die Sch. nicht für geeignet hält, die ihm<br />
erteilte Generalvollmacht im Interesse von B. auszuüben. Sie beantragt die gerichtliche Anordnung<br />
einer Betreuung für B. und den Widerruf der erteilten Generalvollmacht. Dagegen wehrt sich nun<br />
Sch. und legt gegen die gerichtlich angeordnete Betreuung Beschwerde im eigenen Namen ein.<br />
Der BGH verwirft die Beschwerde und erhält damit den ausgesprochenen Widerruf der erteilten<br />
Generalvollmacht aufrecht (BGH, Beschl. v. 5.11.2014 – XII ZB 117/14, NJW 2015, 407 ff.). Weder aus § 303<br />
Abs. 4 S. 1 FamFG, noch aus § 303 Abs. 2 Nr. 2 FamFG oder aus § 59 Abs. 1 FamFG ergebe sich ein<br />
eigenes Beschwerderecht. Beschwerde könne der Generalbevollmächtigte nur im Namen des<br />
Betroffenen als dessen gesetzlicher Vertreter (§ 1902 BGB) einlegen. Eigene Rechte des Bevollmächtigten<br />
gewährten schon nach dem Willen des Gesetzgebers kein Beschwerderecht und seien im<br />
Übrigen auch nicht durch die gerichtliche Anordnung einer Betreuung mit Widerruf einer privat<br />
erteilten Generalvollmacht betroffen. Denn mit der Vorsorgevollmacht solle der Bevollmächtigte in die<br />
Lage versetzt werden, im Interesse des Vollmachtgebers und nicht im eigenen Namen zu handeln. Die<br />
Vollmacht verleihe als die durch Rechtsgeschäft erteilte Vertretungsmacht (§ 166 Abs. 2 BGB) dem<br />
Bevollmächtigten ausschließlich die Legitimation, durch rechtsgeschäftliches Handeln im Namen des<br />
Vertretenen (Vollmachtgebers) unmittelbar für und gegen diesen Rechtswirkungen herbeizuführen.<br />
Sie schränke die eigene Rechtsmacht des Vollmachtgebers aber nicht ein und begründe deshalb auch<br />
kein eigenes subjektives Recht des Bevollmächtigten (BGH NJW 2015, 480 f.). Schließlich begründe<br />
auch das Rechtsverhältnis, das der Vollmacht zugrunde liege, kein eigenes subjektives Recht des<br />
Bevollmächtigten, in das durch die Betreuerbestellung unmittelbar eingegriffen worden wäre (BGH<br />
NJW 2015, 409).<br />
Es können sich auch weitere Umstände ergeben, die zum Widerruf der Vollmacht führen können. So<br />
kann sie lückenhaft formuliert sein. Das ist anzunehmen, wenn die Einsetzung eines Bevollmächtigten<br />
unter den Vorbehalt der eigenen ausgeschlossenen Fähigkeit gestellt wird, sich um seine Angelegen-<br />
22 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 365<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
heiten (rechtswirksam) zu kümmern. Formulierungen wie z.B. „Wenn ich nicht mehr selbst in der Lage dazu<br />
bin, dann … “ sind zu unscharf. Sie werfen Fragen auf: Wann ist man dazu nicht mehr in der Lage, wer<br />
muss das nachweisen? Ist ein solcher Nachweis möglich? Bleiben diese Fragen offen, so wird im Zweifel<br />
ein gerichtliches Betreuungsverfahren eingeleitet, obwohl eine Betreuungsvollmacht im Rahmen der<br />
ausgearbeiteten Generalvollmacht bereits existiert. Es passiert also genau das, was man mit der eigenen<br />
Generalvollmacht verhindern wollte.<br />
b) Offen gebliebene, aber regelungsbedürftige Fragen und unausgefüllte Stellen im Formular<br />
Eine lückenhafte Vollmacht kann sich auch unter dem Umstand ergeben, dass man nicht alle eigenen<br />
Lebensumstände berücksichtigt und geregelt hat. Gibt es z.B. bestimmte Krankheiten, auf die gesondert<br />
eingegangen werden muss? Gibt es spezielle Lebenssituationen oder Vermögenslagen? Das Urteil des<br />
BGH vom 1.4.2015 zeigt die Konsequenzen einer lückenhaft erstellten Vorsorgevollmacht auf:<br />
Beispiel:<br />
Ehemann E. erteilt seiner Frau F. Generalvollmacht. Dazu verwendet er ein Formular aus dem Internet.<br />
Der Punkt „Verbindlichkeiten eingehen“ wird weder positiv noch negativ beantwortet, also weder mit Ja<br />
noch mit Nein angekreuzt, der Punkt „Vertretung vor Gericht“ mit Nein. E. wird geschäftsunfähig. Das<br />
zuständige Amtsgericht leitet trotz bestehender Generalvollmacht eine Betreuung ein. Aus dem<br />
„Ankreuzverhalten“ des E. zieht das Gericht den Schluss, dass die Vollmacht insgesamt nicht wirksam<br />
ausgefertigt worden ist. Dagegen führt F. Beschwerde. Das Amtsgericht beschränkt daraufhin das<br />
Betreuungsverfahren auf die beiden unklar beantworteten und sich gegenseitig widersprechenden<br />
Bereiche.<br />
Der BGH „kassierte“ diese Entscheidung und betont, eine Betreuung dürfe nur für die Aufgabenkreise<br />
gestellt werden, für die die Bestellung auch notwendig geworden sei. Soweit ein konkreter Bedarf nicht<br />
bestehe, dürfe auch keine Betreuung eingeleitet werden. Hier war weder eine Vertretung vor Gericht<br />
notwendig, noch sollten Verbindlichkeiten eingegangen werden. Für alle anderen Fälle der Vermögenssorge<br />
sei F. wirksam bevollmächtigt worden. Erst der BGH in letzter Instanz repariert damit einen<br />
eigentlich „krankenden“ Sachverhalt, der seine Ursache im Inhalt der erteilten Vollmacht findet (BGH,<br />
Urt. v. 1.4.2015 – XII ZB 29/15, ZEV 2015, 536).<br />
c) Zweifel an der Geschäftsfähigkeit<br />
Praxisrelevant sind auch Widerrufsfälle wegen zweifelhafter Geschäftsfähigkeit des Vollmachtgebers.<br />
Beispiel:<br />
Oma O. erteilt ihrer Schwester S. und ersatzweise deren Ehemann G. eine Generalvollmacht. Später widerruft<br />
sie diese Generalvollmacht schriftlich. Das zuständige Amtsgericht leitet ein Betreuungsverfahren<br />
über O. ein. S. und G. wehren sich dagegen mit der Beschwerde zum LG.<br />
In letzter Instanz hatte der BGH (Beschl. v. 19.8.2015 – XII ZB 610/14, NJW 2016, 159) zu klären, ob der<br />
Widerruf rechtswirksam erfolgt ist oder nicht. Denn auch er setzt als geschäftsähnliche Handlung wie<br />
die Ausfertigung der Vollmacht die Geschäftsfähigkeit des Handelnden (BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – XII ZB<br />
425/14, MDR 2016, 464 m.w.N.) – hier O. – voraus. Da die Geschäftsfähigkeit der O. zwar zum Zeitpunkt<br />
der Erteilung der Vollmacht, nicht aber zum Zeitpunkt des Widerrufs geklärt werden konnte, könnte<br />
eine wirksame Vollmacht weiterhin vorliegen, wenn O. bei ihrem Widerruf geschäftsunfähig gewesen<br />
sein sollte. Da sich dies nicht eindeutig klären ließ, bestätigt der BGH die Einsetzung einer gerichtlichen<br />
Betreuung. Denn: „Die Akzeptanz der Vollmacht im Rechtsverkehr wird (…) eingeschränkt, wenn Zweifel an<br />
der Wirksamkeit des Widerrufs verbleiben“ (vgl. ebenso BGH, Beschl. v. 17.2.2016 – XII ZB 498/15, MDR 2016,<br />
463 f.; v. 3.2.2016 – XII ZB 425/14, MDR 2016, 464).<br />
Zusammengefasst gilt: Trotz Erteilung einer Vollmacht ist die Anordnung einer Betreuung durch das<br />
Betreuungsgericht möglich und geboten, wenn die Wirksamkeit der vorgelegten Vollmacht<br />
zweifelhaft ist, wenn die erteilte Vollmacht den Anforderungen an eine Vorsorgevollmacht nicht<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 23
Fach 12, Seite 366<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
genügt oder wenn der Bevollmächtigte die Vollmacht zum Nachteil des Betroffenen missbraucht hat<br />
(OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.3.2005 – 11 Wx 3/05, NJW 2005, 1587 m.w.N).<br />
VI.<br />
Form- und Haftungsfragen<br />
Frage:<br />
Welche Form gilt für die Generalvollmacht, die Betreuungs- und die Patientenverfügung?<br />
Eine Patientenverfügung ist wirksam und bindend, wenn sie von einem einwilligungsfähigen<br />
Volljährigen verfasst wurde, in schriftlicher Form niedergelegt wurde und eine Entscheidung über die<br />
Einwilligung oder über die nicht erfolgte Einwilligung in eine bestimmte, noch nicht unmittelbar<br />
bevorstehende ärztliche Maßnahme zum Gegenstand hat (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB).<br />
Für die Erteilung von Vorsorgevollmachten gilt ebenso die einfache Schriftform (§ 1901a Abs. 3, Abs. 1 S. 1<br />
BGB). § 1901c S. 1 BGB geht für die Betreuungs- und Vorsorgevollmacht von einem „Schriftstück“ aus.<br />
Konstitutiv ist dies zwar nicht zu verstehen. Die Vorschrift greift aber den Regelfall einer schon aus<br />
Legimitations- und Beweiszwecken schriftlich abgefassten Erklärung auf.<br />
Die selbst verfasste Generalvollmacht reicht nur solange, wie der Bevollmächtigte nicht selbst nach dem<br />
Willen des Vollmachtgebers notariell beurkundungspflichtige Rechtsgeschäfte abschließen soll. Das ist<br />
z.B. für immobilienbezogene Geschäfte der Fall.<br />
Frage:<br />
Empfiehlt sich trotzdem die notarielle Beurkundung oder zumindest die notarielle Beglaubigung der<br />
Unterschriften?<br />
Bei Rechtsgeschäften, für die selbst eine notarielle Beurkundung vorgeschrieben ist, wie z.B. der<br />
Grundstückserwerb, der Grundstücksverkauf oder die Belastung von Grundeigentum, muss die<br />
Vollmacht notariell beurkundet sein (§ 311b BGB i.V.m. § 29 GBO, der auch eine öffentliche<br />
Beglaubigung der Urkunde zulässt). Denn entgegen § 167 Abs. 2 BGB ist die Vollmacht dann Teil des<br />
formbedürftigen Gesamtvertrages gem. § 311b BGB. Wird die für Immobiliengeschäfte notwendige<br />
Form nicht eingehalten, so muss für diesen Bereich durch das Betreuungsgericht ein eigener Betreuer<br />
bestellt werden (BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – XII ZB 454/15, NJW 2016, 1516 ff.).<br />
Sinnvoll ist die Hinzuziehung eines Notars auch, wenn es im Vollzug einer zu errichtenden Vollmacht<br />
um die Anmeldung zum Handelsregister oder um die Ausschlagung von Erbschaften (§ 1945 Abs. 1 Alt. 2,<br />
Abs. 3 BGB) geht.<br />
Eine notarielle Beglaubigung, die lediglich die Richtigkeit der Unterschrift bestätigt und den Text<br />
inhaltlich nicht prüft, reicht solange, wie der Bevollmächtigte nicht selbst nach dem Willen des<br />
Vollmachtgebers notariell beurkundungspflichtige Rechtsgeschäfte abschließen soll.<br />
Frage:<br />
Welche Funktion füllt der Rechtsanwalt aus?<br />
Je nach persönlicher Vermögenssituation ist die Klärung vielschichtiger Einzelfragen in dann länger<br />
notwendigen Beratungsgesprächen unabdingbar. Dies gilt besonders bei komplexeren Situationen, sei<br />
es, dass sie durch ein besonders umfangreiches Vermögen entstehen, oder sei es, dass sie sich aus<br />
(mehreren) unternehmerischen Engagements ergänzend zur privaten Situation ergeben. Dies gilt<br />
besonders in Fragen des Vermögensanlagenbereichs, der Vermögensbetreuung, dem Verhältnis zu<br />
Banken und sonstigen Geldinstituten sowie der Vermögensverwaltung von Immobilien. Die Lösung<br />
dieser Fragen, niedergelegt in der Vorsorgevollmacht, muss für jeden einzelnen Fall passen. Dies<br />
24 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 367<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
macht es auch notwendig, im Einzelnen darzustellen, wie das Verhältnis des Betroffenen zum<br />
Bevollmächtigten rechtlich ausgestaltet sein kann.<br />
Gerade dann, wenn verwandtschaftliche und familiäre Verhältnisse als prekär bezeichnet werden<br />
müssen, ist darüber hinaus die Abstimmung mit dem Erbrecht zwingend. Dies gilt genauso und<br />
besonders in Fällen der Unternehmensnachfolge.<br />
Neben der Vermögenssituation ist die Frage der Personensorge sowie die gesundheitliche Situation zu<br />
bedenken. Hier kommt es ebenso auf die exakte Ermittlung der Situation des Mandanten an. Wichtig<br />
ist z.B. die Entwicklung von Vorgaben für den Bevollmächtigten für den künftigen Abschluss von<br />
Heimverträgen sowie die Lösung von wirtschaftlichen Fragen im Zusammenhang mit künftigen<br />
Krankenhausaufenthalten oder der Überstellung ins Pflegeheim.<br />
Besonders einzugehen ist auch auf die gewünschte Ausgestaltung von Kontrollmechanismen,<br />
insbesondere die Pflicht zur Rechenschaft des Bevollmächtigten gegenüber dem Betroffenen oder<br />
gegenüber seinen Erben (näher: SARRES EE 2010, 159, 160).<br />
Insbesondere bei aktuell bestehenden oder bei überwundenen bekannten Erkrankungen sollte dazu<br />
aufgefordert werden, einen Arzt hinzuzuziehen, der in medizinischen Fragen aufklärt und berät sowie<br />
darüber hinaus den aktuellen Gesundheitszustand insbesondere im Hinblick auf die Geschäftsfähigkeit<br />
des Betroffenen dokumentiert (vgl. dazu auch BayObLG, Beschl. v. 2.7.1992 – 3Z BR 58/92, DNotZ 1993,<br />
471, 473).<br />
Zusammengefasst ist festzustellen: Ob nun notariell beurkundungspflichtige Rechtsgeschäfte mit<br />
umfasst sein sollen oder nicht – die anwaltliche Betreuung bei der Erstellung von Generalvollmachten<br />
oder/und Patientenverfügungen ist sinnvoll (dazu näher: LANGE NJW 2017, 137 ff.).<br />
Frage:<br />
Wer haftet bei gemeinsamer Tätigkeit von Rechtsanwalt und Notar?<br />
Beurkundet der Notar eine Vollmacht nach dem von einem Rechtsanwalt gefertigten Entwurf, haftet<br />
der Rechtsanwalt im Regressfall dafür primär allein (BGH, Urt. v. 24.10.2002 – III ZR 107/02, NJW 2003,<br />
202, 203). Die Haftung des Notars ist ohnehin subsidiär ausgestaltet (§ 19 Abs. 1 S. 2 BNotO).<br />
VII. Auswahl und Tätigkeit des Bevollmächtigten<br />
Frage:<br />
Wie wählt man den Bevollmächtigten aus?<br />
Insbesondere die Generalvollmacht vermittelt umfassende Befugnisse mit dem Effekt tiefer Einschnitte<br />
in Lebenssituation und Lebensführung des Betroffenen. Von größter Bedeutung sind auch die Befugnisse,<br />
die durch eine Patientenverfügung auf den Bevollmächtigten übertragen werden. Deshalb<br />
kommen nur absolute Vertrauenspersonen als Bevollmächtigte in Betracht, deren Auswahl sorgfältig<br />
bedacht, beraten und danach mit den infrage kommenden Personen vor der Abfassung entsprechender<br />
Erklärungen besprochen werden muss. Findet sich eine solche Vertrauensperson nicht oder bleiben<br />
Bedenken, sollte von der Abfassung einer Vollmacht besser abgeraten werden.<br />
Frage:<br />
Wird der Bevollmächtigte entgeltlich oder unentgeltlich tätig?<br />
Beides ist möglich und kann in der Bevollmächtigung bestimmt werden. Wird der Bevollmächtigte<br />
entgeltlich tätig, ist ein Geschäftsbesorgungsvertrag anzunehmen (§ 675 BGB). Wird er unentgeltlich<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 25
Fach 12, Seite 368<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
tätig, ist Auftragsrecht einschlägig (§§ 662 ff. BGB). Enthält die Vollmacht dazu keine ausdrücklichen<br />
Ausführungen, ist Unentgeltlichkeit und damit Auftragsrecht anzunehmen (OLG Karlsruhe, Urt. v.<br />
16.5.2017 – 9 U 167/15, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 505/2017).<br />
Frage:<br />
Muss der Bevollmächtigte über sein Tun Rechenschaft ablegen?<br />
Der Bevollmächtigte ist rechenschaftspflichtig sowohl gegenüber dem Betroffenen als auch im Falle<br />
dessen Todes gegenüber dem Erben. Dies wurde z.B. für eine Tochter entschieden, die aufgrund einer<br />
Generalvollmacht Bargeldbeträge vom Bankkonto der pflegebedürftigen Mutter abgehoben hat, um<br />
diese Gelder für die Mutter zu verwenden. Nach dem Tode der Mutter hat die Tochter gegenüber den<br />
Erben zu beweisen, dass sie die Gelder auftragsgemäß verwendet hat. Im Einzelfall kann dieser Beweis<br />
auch durch eine informatorische Anhörung der Bevollmächtigten erbracht werden. In dem entschiedenen<br />
Rechtsstreit hatte der Erbe von der Tochter die Herausgabe der abgehobenen Bargeldbeträge<br />
verlangt (OLG Karlsruhe <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 505/2017; vgl. auch OLG Köln, Urt. v. 19.9.2012 – 16 U 196/11,<br />
ZEV 2013, 339 zur Abgrenzung von Kontovollmachten zur Erledigung bloßer Gefälligkeiten – tägliches<br />
Einkaufen für die alte und kranke Mutter; OLG Hamm, Urt. v. 20.11.2007 – 26 U 62/06, ZEV 2008, 600 f.<br />
– zum Schadensersatz des Bevollmächtigten bei durch Tatsachen unterlegten Zweifeln an seiner<br />
Zuverlässigkeit und seiner Geschäftsbesorgung, Zweifel wegen des Umfangs ungeklärter Verfügungen<br />
i.H.v. 130.000 € in einem Zeitraum von 6,5 Jahren nach Abzug der angemessenen Pflege- und<br />
Mietkosten; BGH, Urt. v. 25.3.2014 – X ZR 94/12, NJW 2014, 3021 ff. – zum Widerruf der Schenkung von<br />
Immobilien an den Bevollmächtigten bei Verstoß gegen dessen Pflicht zu möglichst schonendem<br />
Gebrauch seiner eingeräumten Befugnisse unter bestmöglicher Wahrung der personellen Autonomie<br />
des Betroffenen, sofortige Abschiebung ins Pflegeheim mit der Anordnung der Isolation von sozialen<br />
Kontakten nach Krankenhausaufenthalt).<br />
VIII. Kontrolle des Bevollmächtigten<br />
Frage:<br />
Kann man den Bevollmächtigten kontrollieren lassen?<br />
Ja, ein Kontrollbetreuer kann bestellt werden. Das kann schon durch den Vollmachtgeber geschehen.<br />
Damit verhindert er, dass eine Betreuung gerichtlich angeordnet wird, wenn die Vollmacht erteilt<br />
wurde, um diesen Fall gerade zu verhindern. Andernfalls kann das Betreuungsgericht einen<br />
Kontrollbevollmächtigten einsetzen, wenn der Vollmachtgeber den Bevollmächtigten nicht mehr<br />
überwachen kann (OLG Hamm, Beschl. v. 23.1.2001 – 15 W 365/00, FamRZ 2001, 870; BGH, Beschl.<br />
v. 30.3.2011 – XII ZB 537/10, NJW 2011, 2137). Weitere Anlässe für die Einsetzung des Kontrollbetreuers<br />
sind der erwartete Verdacht, der Bevollmächtigte habe dem Vollmachtgeber Geld weggenommen,<br />
konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Bevollmächtigte nicht mehr vereinbarungsgemäß und für<br />
den Vollmachtgeber interessengemäß handelt (BGH, Beschl. v. 9.9.2015 – XII ZB 125/15, NJW 2015,<br />
3575), besondere Schwierigkeiten bei der Führung einzelner Geschäfte (BGH, Beschl. v. 16.7.2014 –<br />
XII ZB 142/14, ZEV 2014, 612) sowie konkrete Verdachtsmomente, dass die Vollmacht hinter dem<br />
Umfang des aktuellen Betreuungsbedarfs zurückbleibt (OLG Köln, Beschl. v. 30.3.2009 – 16 Wx 19/09,<br />
BtPrax 2009, 306).<br />
Können sich Kinder, die durch eine Vorsorgevollmacht zur Einzelvertretung befugt sind, nicht über die<br />
weitere Pflege und Versorgung des Betroffenen einigen, ist dies allein kein Grund zur Einsetzung einer<br />
Kontrollbetreuung (§ 1896 Abs. 3 BGB; BGH, Beschl. v. 30.3.2011 – XII ZB 507 30/10, NJW 2011, 2137).<br />
Als letztes Mittel kann der Kontrollbetreuer dazu ermächtigt werden, die (wirksame) Vorsorgevollmacht<br />
zu widerrufen (BGH, Beschl. v. 14.10.2015 – XII ZB 177/15, MDR 2015, 1423; v. 23.9.2015 – XII ZB<br />
624/14, MDR 2015, 1423 f.).<br />
26 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Nachlass/Erbrecht Fach 12, Seite 369<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
IX.<br />
Aufbewahrung der Vollmacht<br />
Frage:<br />
Sollte die Vollmacht im Zentralen Versorgungsregister erfasst werden (Vorteile auch bei privatschriftlicher<br />
Vollmacht)?<br />
Die Vorsorgevollmacht kann über das Internet (www.vorsorgeregister.de) oder per Post (Adresse:<br />
Zentrales Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer, Postfach 080151, 10001 Berlin) registriert<br />
werden. Das gilt für selbst errichtete sowie für notariell beurkundete oder beglaubigte Erklärungen.<br />
Auch der Notar kann die Registrierung bei der Bundesnotarkammer – Zentrales Vorsorgeregister –<br />
veranlassen (§ 78a Abs. 1 S. 1 BNotO). Die Pauschale beträgt 20 € (KV-Nr. 22124 GNotKG). Die Meldung<br />
stellt sicher, dass die Vollmacht durch die Betreuungsgerichte auch gefunden wird. Kliniken und Ärzte<br />
haben keinen Zugriff. Denn die Registrierung bezieht sich nicht auf Patientenverfügungen zu<br />
medizinischen Behandlungsentscheidungen.<br />
Die Bundesnotarkammer – Zentrales Vorsorgeregister – bewahrt keine isoliert erstellten Patientenverfügungen<br />
auf, wohl aber Patientenverfügungen in Verbindung mit einer Vorsorgevollmacht und<br />
einer Betreuungsverfügung (§§ 78 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 78a BNotO).<br />
X. Kosten<br />
Frage:<br />
Was kosten die notarielle Beurkundung oder die notarielle Beglaubigung?<br />
Beides richtet sich nach § 34 GNotKG. Für die Beurkundung der Vollmacht und der Patientenverfügung<br />
inklusive der Fertigung des Entwurfs und inklusive dessen Beratung fällt eine 1,0 Gebühr an (KV-<br />
Nr. 21200 GNotKG). Sie bestimmt sich nach dem Vermögenswert des Betroffenen. Anzusetzen ist<br />
maximal die Hälfte des Vermögens als Geschäftswert (§ 98 Abs. 3 S. 2 GNotKG). Soll die Vorsorgevollmacht<br />
erst im Krankheitsfall eingesetzt werden und wird sie deshalb nicht sofort an den Bevollmächtigten<br />
ausgehändigt, wird mit Abschlägen gearbeitet (30 % des Vermögenswertes: vgl, GOTTWALD<br />
EE Sonderausgabe, 1, 18 unter Zitat von: Streifzug durch das GNotKG, 10. Aufl., Rn 2422).<br />
Der nach billigem Ermessen (§ 36 Absatz 2 GNotKG) zu bestimmende Geschäftswert einer Patientenverfügung<br />
wird im Regelfall mit 5.000 € angesetzt.<br />
Werden Bestimmungen zum Innenverhältnis zwischen Vollmachtgeber und Bevollmächtigtem, die<br />
nicht in der nach außen zu verwendenden Generalvollmacht enthalten sein dürfen, mit beurkundet, und<br />
wird der Bevollmächtigte hieran beteiligt, werden 2,0 Gebühren fällig (KV-Nr. 21100 GNotKG). Wird der<br />
Bevollmächtigte nicht beteiligt, bleibt es bei einer 1,0 Gebühr (KV-Nr. 21200 GNotKG).<br />
Die Übermittlung von Anträgen an das Zentrale Vorsorgeregister wird mit einer Pauschale abgegolten<br />
(KV-Nr. 22124 GNotKG).<br />
Auslagen in Form einer Dokumentenpauschale (KV-Nr. 32001 GNotKG) sowie in Form von Entgelten in<br />
voller angefallener Höhe für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (KV-Nr. 32004 GNotKG)<br />
treten hinzu und bilden die Nettorechnungssumme, die mit 19 % Umsatzsteuer (KV-Nr. 32014 GNotKG)<br />
besteuert wird.<br />
Bei der bloßen Unterschriftsbeglaubigung kommt es ebenfalls auf den Vermögenswert an. Fällig wird<br />
aber lediglich eine 0,2 Gebühr zwischen 20 und 70 € (KV-Nr. 25100 GNotKG).<br />
Frage:<br />
Wie rechnet der Rechtsanwalt einen von ihm gefertigten Entwurf ab?<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 27
Fach 12, Seite 370<br />
Nachlass/Erbrecht<br />
FAQ – Generalvollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung<br />
Einschlägig ist § 34 RVG, wonach es auf eine Honorarvereinbarung ankommt. In Betracht kommen<br />
deshalb Zeitgebühren oder eine Pauschalgebühr. Wird die Vergütung nicht klar vereinbart, gilt die<br />
„übliche“ Gebühr (§ 34 Abs. 1 S. 2 RVG, §§ 675, 612, 632 Abs. 2 BGB; PALANDT/SPRAU, BGB, 75. Aufl. 2016, § 675<br />
BGB Rn 8, 23; PALANDT/WEIDENKAFF, a.a.O., § 612 BGB Rn 11).<br />
Soll der Rechtsanwalt „hinterher“ als Vorsorgebevollmächtigter handeln, so kommt es ebenfalls für die<br />
Abgeltung auf eine Honorarvereinbarung an (§ 1 Abs. 2 RVG). Im Zweifel ist eine übliche Honorarhöhe<br />
vereinbart.<br />
Soll der Rechtsanwalt „später“ als Berufsbetreuer tätig werden, so gilt mangels einzelner Vereinbarungen<br />
für die Abgeltung seiner Tätigkeit ebenso nicht das RVG (§ 1 Abs. 2 RVG), sondern § 5 VBVG,<br />
wenn keine Honorarvereinbarung getroffen wurde. Hinzu treten jeweils Umsatzsteuer und Auslagenpauschale.<br />
XI.<br />
Speziell: Bankvollmacht<br />
Frage:<br />
Was gilt für Vollmachten gegenüber Geldinstituten (Bankvollmacht)?<br />
Im Rahmen der Vorsorgevollmacht sollte auch eine Bankvollmacht erteilt werden. Zunächst: Geldinstitute<br />
müssen eine Vorsorgevollmacht im Grundsatz akzeptieren, solange sie wirksam ist (LG<br />
Detmold, Urt. v. 14.1.2015 – 10 S 110/14, ZEV 2015, 353). Denn Nr. 5 der AGB-Banken bzw. AGB-<br />
Sparkassen i.d.F. vom 31.10.2009, die zum Nachweis der erbrechtlichen Verfügungsbefugnis die Vorlage<br />
eines Erbscheins, eines Testamentsvollstreckerzeugnisses oder einer Ausfertigung oder einer<br />
beglaubigten Abschrift eines Testaments mit Eröffnungsniederschrift erforderlich macht, verstößt<br />
gegen § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB und ist unwirksam (BGH, Urt. v. 8.10.2013 – XI ZR 401/12, NJW-aktuell<br />
Heft 47/2013, 8; Vorinstanz: OLG Hamm, Urt. v. 1.10.2012 – I-31 U 55/12, ZEV 2012, 678). Nach diesem<br />
Urteil ist davon auszugehen, dass die „AGB Banken/Sparkassen“ entsprechend angeglichen und<br />
derartige Nachweisklauseln entfernt oder auf Zweifelsfälle einer konkreten Erbberechtigung reduziert<br />
haben.<br />
Aus Sicht des Geldinstituts ist der Vorbehalt einer notwendigen Legitimation durch Erbschein klar:<br />
Denn in diesem Fall kann immer schuldbefreiend geleistet werden, auch wenn der Erbschein falsch ist<br />
(§§ 2366, 2367 BGB). Eine Leistung an den Falschen, ohne dass er sich unter Vorlage eines Erbscheins als<br />
berechtigter Erbe präsentiert, birgt dagegen die Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme der Bank (vgl.<br />
zum Schadensersatzanspruch einer Erbin gegen die Bank aus § 280 BGB wegen verweigerter Akzeptanz<br />
eines vorgelegten tauglichen Legitimationsnachweises: BGH, Urt. v. 5.4.2016 – XI ZR 440/15, NJW 2016,<br />
2409 ff.).<br />
Selbstverständlich bleibt es dem Geldinstitut zur Vermeidung eigener Regressfälle unbenommen, die<br />
vorgelegte Vollmacht im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und ihren Handlungsumfang vorab zu<br />
überprüfen (dazu näher: GÜNTHER NJW 2013, 3681 ff.). Deshalb, also aus rein praktischen Gründen, ist<br />
die Erteilung einer speziellen Bankvollmacht anzuraten, idealerweise unter Verwendung eigener<br />
Vollmachtmuster und des Überprüfungsverfahrens des kontoführenden Geldinstitutes. Überprüfungszeiträume<br />
beim Abwickeln von Geschäften fallen dann weg und werden in die Ausstellungsphase<br />
vorverlagert. So können Verzögerungen vermieden werden.<br />
Literaturhinweise:<br />
• Zur Legitimation des Erben gegenüber der Bank des Erblassers vgl. GOTTWALD <strong>ZAP</strong> F. 12, S. 339 ff.<br />
• Zu Nachlasskonten – Verfügungen nach dem Tode des Kontoinhabers vgl. GLENK/BAUER/HOFMANN <strong>ZAP</strong><br />
F. 8, S. 553 ff.<br />
28 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1557<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Rechtsprechung<br />
Rechtsprechungs- und Literaturübersicht zum Sozialrecht – 1. Halbjahr 2017<br />
Von Dr. ULRICH SARTORIUS, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeits- und Sozialrecht, Breisach, und<br />
Prof. Dr. ANDREAS PATTAR, Hochschule für öffentliche Verwaltung, Kehl<br />
Inhalt<br />
I. Existenzsicherungsrecht<br />
1. Leistungsberechtigung von Ausländerinnen<br />
und Ausländern<br />
2. Bedarfe für Unterkunft und Heizung,<br />
Nebenkosten nach Wohnungswechsel<br />
3. Berücksichtigung von Selbsthilfe<br />
4. Sanktionen und Ersatzansprüche<br />
5. Eingliederungsleistungen<br />
6. Im Bereich der Existenzsicherungssysteme<br />
modifiziertes Verfahrensrecht:<br />
Zugunstenverfahren<br />
II. Arbeitsförderungsrecht<br />
1. Nichtigkeit einer Eingliederungsvereinbarung<br />
im SGB III<br />
2. Versicherungspflicht aus sonstigen Gründen<br />
III. Sozialversicherung: Beitragserstattung trotz<br />
vorsätzlich falscher Entrichtung<br />
IV. Krankenversicherungsrecht: Krankengeldanspruch<br />
bei irrtümlichem Nichterstellen<br />
einer AU-Bescheinigung durch Vertragsärzte<br />
V. Unfallversicherungsrecht<br />
1. Umfang des Versicherungsschutzes bei<br />
betrieblichen Veranstaltungen<br />
2. Berufskrankheit durch Einwirkung von<br />
Chrom trotz langjährigen Rauchens<br />
VI. Verfahrensrecht<br />
1. Voraussetzung des Erlöschens von Geldleistungen<br />
nach dem Tode der Verletzten<br />
2. Unwirksamkeit der Erhebung eines Rechtsschutzbegehrens<br />
beim BSG mittels einfacher<br />
E-Mail<br />
3. Nichtzulassungsbeschwerde/Verfahrensfehler:<br />
Ablehnung eines Beweisantrags<br />
ohne „hinreichende“ Begründung<br />
I. Existenzsicherungsrecht<br />
1. Leistungsberechtigung von Ausländerinnen und Ausländern<br />
In Reaktion auf frühere BSG-Entscheidungen (BSG, Urt. v. 3.12.2015 – B 14 AS 44/15 R; v. 3.12.2015 –<br />
B 4 AS 59/13 R; v. 3.12.2015 – B 4 AS 43/15 R; v. 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R; v. 16.12.2015 – B 14 AS 18/14 R;<br />
v. 16.12.2015 – B 14 AS 33/14 R; v. 20.1.2016 – B 14 AS 35/15 R; v. 17.2.2016 – B 4 AS 24/14 R; v. 17.3.2016 –<br />
B 4 AS 32/15 R; vgl. dazu etwa PATTAR SGb 2016, 665–672; KANALAN ZESAR 2016, 365–371 u. 414–421) hat<br />
der Gesetzgeber mit Wirkung vom 29.12.2016 die Leistungsausschlusstatbestände für Ausländerinnen<br />
und Ausländer in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II und flankierend dazu in § 23 SGB XII deutlicher und strenger<br />
gefasst. Das BSG hatte entschieden, dass Ausländerinnen und Ausländer ohne Aufenthaltsrecht und<br />
solche, deren Aufenthaltsrecht ausschließlich zum Zwecke der Arbeitssuche besteht, zwar keinen<br />
Anspruch auf SGB II-Leistungen haben, dass aber nach einem mindestens sechsmonatigen Inlandsaufenthalt<br />
eine Ermessensreduzierung auf Null auf Gewährung von SGB XII-Leistungen besteht.<br />
Für den bis zum 28.12.2016 geltenden Rechtsstand hat das BSG (Urt. v. 23.2.2017 – B 4 AS 7/16 R) diese Linie<br />
nun erneut bestätigt. Zum neuen Recht liegen noch keine Entscheidungen des BSG vor. Die zuvor schon<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 29
Fach 18, Seite 1558<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
sehr kritischen Untergerichte halten die Neufassung für verfassungsgemäß und wenden sie in strenger<br />
Weise an (LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.2.2017 – L 23 SO 30/17 B ER; LSG NRW, Beschl. v. 16.3.2017 –<br />
L 19 AS 190/17 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 18.4.2017 – L 13 AS 113/17 B ER; Beschl.<br />
v. 19.5.2017 – L 11 AS 247/17 B ER; milder hingegen LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 31.5.2017 – L1AS<br />
1815/17 ER-B).<br />
Das treibt erstaunliche Blüten: So fordert das LSG Berlin-Brandenburg für die Annahme einer<br />
Arbeitnehmereigenschaft, dass im Arbeitsverhältnis der Mindestlohn eingehalten wird (Beschl. v. 10.5.2017 –<br />
L 31 AS 571/17 B ER), obwohl die Lohnzahlungspflicht aus dem Arbeitsverhältnis folgt und nicht seine<br />
Voraussetzung ist. Obwohl ein Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der früheren,<br />
milderen Fassung von § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II vor dem BVerfG weiter anhängig ist (SG Mainz, Vorlagebeschl. v.<br />
18.4.2016 – S 3 AS 149/16; Az. beim BVerfG: 1 BvL 4/16), wird weithin auch eine vorläufige Leistung nach § 41a<br />
Abs. 7 SGB II abgelehnt (LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 24.3.2017 – L 5 AS 449/17 B ER; LSG<br />
Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 18.4.2017 – L 13 AS 113/17 B ER; v. 19.5.2017 – L 11 AS 247/17 B ER).<br />
Eine gewisse Ausnahme bildet ein Beschluss des LSG Sachsen-Anhalt (v. 7.3.2017 – L 2 AS 127/17 B ER).<br />
Hiernach ist der Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 SGB XII in der seit 29.12.2016 geltenden Fassung für<br />
Staatsangehörige aus Unterzeichnerstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (Belgien, Dänemark,<br />
Estland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Irland, Italien, Luxemburg, Malta,<br />
Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Türkei, Großbritannien) nicht anwendbar. Damit<br />
bleibt es für diese Personengruppe im Wesentlichen bei der Rechtslage, wie sie durch die BSG-Urteile<br />
vorgezeichnet ist. Auch das LSG Schleswig-Holstein hält den neuen Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 S. 2<br />
Nr. 2 Buchst. c SGB II für europarechtswidrig (Beschl. v. 17.2.2017 – L 6 AS 11/17 B ER).<br />
Hinweis:<br />
Insgesamt ist es zwar erheblich schwerer geworden, SGB II- oder SGB XII-Leistungsansprüche von<br />
Ausländerinnen und Ausländern durchzusetzen, die nicht eindeutig Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer<br />
sind oder ein sonstiges Aufenthaltsrecht haben. Insbesondere im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes,<br />
bei dem der Rechtsweg beim LSG endet, ist eine Art Flickenteppich aus strengeren und weniger strengen<br />
LSG entstanden. Durch die Neuregelung ist allerdings nicht alles geklärt, wie der Gesetzgeber gehofft hatte,<br />
vielmehr sind neue Streitlinien aufgebrochen. Von Klagen kann also keinesfalls abgeraten werden.<br />
2. Bedarfe für Unterkunft und Heizung, Nebenkosten nach Wohnungswechsel<br />
Unterkunftsbedarfe (§ 22 Abs. 1 S. 1 SGB II) umfassen grundsätzlich nur Aufwendungen für die<br />
tatsächlich genutzte konkrete Wohnung, die den aktuellen Unterkunftsbedarf deckt. Besteht das<br />
Mietverhältnis noch, werden auch Nebenkostennachforderungen aus der Zeit vor der Hilfebedürftigkeit<br />
übernommen, die erst nach deren Eintritt fällig werden. Problematisch sind dabei Nebenkostennachforderungen<br />
für eine nicht mehr bewohnte Wohnung. Diese sind – weil nicht aktuell – nur dann<br />
ausnahmsweise zu übernehmen, wenn Leistungsberechtigte sowohl bei ihrer tatsächlichen Entstehung<br />
als auch bei ihrer Fälligkeit im SGB II-Leistungsbezug standen, die Aufgabe der bisherigen Wohnung zur<br />
Erfüllung einer Kostensenkungsobliegenheit (vgl. § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II) erfolgt und keine andere<br />
Bedarfsdeckung eingetreten ist (so bereits BSG, Urt. v. 20.6.2015 – B 14 AS 40/14 R).<br />
Nach dem Urteil des BSG vom 30.3.2017 (B 14 AS 13/16 R) gilt dies darüber hinaus auch dann, wenn die<br />
Mieter durchgehend seit dem Zeitraum, für den die Nebenkostenforderung erhoben wird, bis zu deren<br />
Fälligkeit im Leistungsbezug nach dem SGB II standen und eine Zusicherung hinsichtlich des Umzugs<br />
(§ 22 Abs. 4 SGB II) vorlag. Es bestehe dann eine existenzsicherungsrechtlich relevante Verknüpfung der<br />
Nebenkostennachforderung für die frühere Wohnung mit dem aktuellen unterkunftsbezogenen Bedarf,<br />
weil Entstehung und Fälligkeit der Nachforderung einen ununterbrochenen Zeitraum betreffen, in dem<br />
der SGB II-Träger für die Unterkunftsbedarfe aufzukommen hat. Ferner entstünde sonst eine faktische<br />
Umzugssperre: Weil Leistungsbezieher die Höhe nicht auskömmlicher Vorauszahlungen nicht beein-<br />
30 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1559<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
flussen können, bestehe ein Verschuldungsrisiko. Ferner sei zu berücksichtigen, dass eine Nebenkostenerstattung<br />
nach § 22 Abs. 3 SGB II stets die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung mindert.<br />
Hinweis:<br />
Der 4. BSG-Senat hat sich dieser Auffassung angeschlossen (Urt. v. 13.7.2017 – B 4 AS 12/16 R).<br />
3. Berücksichtigung von Selbsthilfe<br />
a) Einkommensanrechnung<br />
Das BSG hat mehrere Entscheidungen zur Einkommensanrechnung gefällt.<br />
aa) Bereite Mittel<br />
In einem der entschiedenen Fälle (BSG, Urt. v. 24.5.2017 – B 14 AS 32/16 R) hatte der Kläger von seinem<br />
Arbeitgeber ein Darlehen erhalten. Der Arbeitgeber behielt zur Darlehenstilgung 100 € monatlich vom<br />
Lohn ein. Streitig war, ob diese Darlehensrate i.H.v. 100 € monatlich entweder als nicht bereites Mittel<br />
unberücksichtigt bleiben oder nach § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB II vom Einkommen abgesetzt werden muss.<br />
Das BSG verneinte (laut Terminbericht) beide Fragen: Die Darlehensrate sei nicht mit der Erzielung des<br />
Einkommens verbunden, so dass eine Absetzung nach § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SGB II nicht möglich sei.<br />
Obwohl das Einkommen des Klägers in Höhe der Darlehensrate nicht zur Auszahlung komme, handele<br />
es sich dennoch um ein bereites Mittel. Das BSG begrenzte den Anwendungsbereich der Rechtsprechung<br />
zu den bereiten Mitteln: Nur bei einer fiktiven Einkommenszurechnung trotz vorzeitigen<br />
Verbrauchs einmaliger Einnahmen und bei der Zurechnung von Einnahmen, die im Moment ihres<br />
Zuflusses noch nicht zur Existenzsicherung eingesetzt werden können, greife diese Rechtsprechung.<br />
Hier habe der Kläger jedoch – wenn auch vor dem maßgeblichen Zeitraum – eine freiwillige<br />
Verwendungsentscheidung getroffen. Immerhin lässt das BSG ein Schlupfloch offen: Am Ende stellt es<br />
die Kontrollüberlegung an, ob das Existenzminimum des Klägers trotz Anrechnung der tatsächlich<br />
einbehaltenen 100 € noch gedeckt sei. Es bejaht dies, weil dieser Einbehalt durch den Erwerbstätigenfreibetrag<br />
nach § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SGB II gedeckt sei.<br />
Hinweis:<br />
Die BSG-Rechtsprechung zu bereiten Mitteln dürfte im SGB II als eigenständiges Argument durch die<br />
jüngsten Gesetzesänderungen an Bedeutung verlieren. So sieht § 24 Abs. 4 S. 2 SGB II seit 1.1.2017<br />
ausdrücklich die Gewährung von Darlehen vor, wenn einmalige Einnahmen, die über einen Verteilzeitraum<br />
von sechs Monaten anzurechnen sind (§ 11 Abs. 3 S. 4 SGB II), vorzeitig verbraucht worden sind. Auch die<br />
zweite Fallgruppe, dass eine einmalige Einnahme nicht sofort verwertet werden kann, wird schon deshalb<br />
an Bedeutung verlieren, weil seit 1.8.2016 Einnahmen in Geldeswert nicht mehr als Einkommen gelten.<br />
bb) Absetzbarkeit von Aufwendungen<br />
In mehreren Entscheidungen befasste sich das BSG darüber hinaus mit der Absetzbarkeit von<br />
Aufwendungen.<br />
So bestätigte es (BSG, Urt. v. 8.2.2017 – B 14 AS 10/16 R) eine Entscheidung des LSG NRW (Urt. v. 28.1.2016 –<br />
L 7 AS 948/15), nach der Beiträge zu einer gesetzlich vorgeschriebenen Hundehalterhaftpflichtversicherung<br />
nicht nach § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II vom Einkommen abzusetzen sind: Zwar spreche<br />
der Wortlaut von § 11b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II für eine Absetzbarkeit. Entstehungsgeschichte, Sinn und<br />
Zweck und Systematik der Norm verwiesen aber darauf, dass nur solche gesetzlich vorgeschriebenen<br />
Versicherungsbeiträge abzusetzen seien, „die einen spezifischen Bezug zu den Zielen des SGB II aufweisen, weil<br />
sie entweder einem der in die Existenzsicherung einbezogenen Bedarfe oder der Eingliederung in Arbeit zuzurechnen<br />
sind.“ Dies sei bei einer Hundehalterhaftpflichtversicherung bei aus privaten Gründen gehaltenen Hunden<br />
nicht der Fall.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 31
Fach 18, Seite 1560<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
Für Versicherungen, die nach Grund und Höhe angemessen sind, sieht § 6 Alg II-V eine Versicherungspauschale<br />
i.H.v. 30 € monatlich vor, die nach § 6 Abs. 1 Alg II-V bei Volljährigen stets, bei Minderjährigen<br />
jedoch nur dann abzusetzen ist, wenn für den jeweiligen Minderjährigen eine Versicherung besteht. Der<br />
14. BSG-Senat (Urt. v. 30.3.2017 – B 14 AS 55/15 R) schloss sich nun entgegen der Vorinstanz (LSG Baden-<br />
Württemberg, Urt. v. 20.10.2015 – L 13 AS 4522/13) dem 4. Senat (Urt. v. 8.12.2016 – B 4 AS 59/15 R) in der<br />
Auffassung an, dass eine Sammel-Zusatzversicherung mit einem nur symbolischen Beitrag von 1 €<br />
jährlich nicht ausreicht, diese Pauschale auszulösen, weil es an einem äquivalenten Austauschverhältnis<br />
zwischen den Vertragspartnern fehle.<br />
Mit Urteil vom 8.2.2017 (B 14 AS 22/16 R) bestätigte das BSG, dass Unterhaltszahlungen nach § 11b Abs. 1 S. 1<br />
Nr. 7 SGB II nur dann vom Einkommen abgesetzt werden können, wenn sie tatsächlich erbracht werden,<br />
auf einer gesetzlichen Verpflichtung beruhen und tituliert sind. Dabei hat das BSG klargestellt, dass eine<br />
Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG – hiernach müssen diejenigen, die eine solche Erklärung<br />
abgeben, die öffentlichen Mittel erstatten, die in einem Zeitraum von fünf Jahren für den Lebensunterhalt<br />
eines Ausländers aufgewendet werden – nicht mit einem Unterhaltstitel gleichzusetzen sind.<br />
Praxishinweis:<br />
Im entschiedenen Fall ging es um Zahlungen an die ausländische Mutter des Klägers zur Vermeidung der<br />
Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen. Hätte sich der Kläger nicht auf die Verpflichtungserklärung<br />
berufen, sondern seiner Mutter einen Unterhaltstitel gegen ihn verschafft, hätte die Situation anders<br />
ausgesehen. In solchen Situationen sollte also versucht werden, einen solchen Titel herbeizuführen, um eine<br />
Absetzbarkeit des tatsächlich gezahlten Unterhalts zu erreichen.<br />
b) Vermögensanrechnung<br />
In der zweiten Entscheidung (BSG, Urt. v. 24.5.2017 – B 14 AS 16/16 R) befasste sich das BSG mit den Voraussetzungen<br />
für ein Darlehen nach § 24 Abs. 5 SGB II. Hiernach können Leistungen als Darlehen gewährt<br />
werden, wenn der sofortige Verbrauch oder die sofortige Verwertung des Vermögens nicht möglich oder<br />
nicht zuzumuten ist. Das BSG verneinte die Voraussetzungen dieser Vorschrift, weil der Kläger trotz<br />
entsprechenden Hinweises des Beklagten keinerlei Verwertungsbemühungen unternommen hat.<br />
Hinweis:<br />
Im entschiedenen Fall hatte der Kläger von vornherein keinerlei Verwertungsbemühungen unternommen.<br />
Ein Verwertungsausschluss wegen Unmöglichkeit der Verwertung kann aber nur angenommen werden,<br />
wenn Verwertungsbemühungen erfolglos bleiben. Sie sollten daher mindestens versucht werden.<br />
4. Sanktionen und Ersatzansprüche<br />
Mit Urteil vom 8.2.2017 (B 14 AS 3/16 R) hat das BSG zum Verhältnis zwischen Sanktionen nach den<br />
§§ 31–32 SGB II und Ersatzansprüchen nach § 34 SGB II Stellung genommen. Nach §§ 31–32 SGB II führen<br />
bestimmte Pflichtverletzungen zu einer regelmäßig dreimonatigen Absenkung des Leistungsanspruchs<br />
um einen bestimmten Prozentsatz des Regelbedarfs. Demgegenüber sieht § 34 SGB II einen Ersatzanspruch<br />
vor: Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen<br />
für die Gewährung von Leistungen an sich oder andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft<br />
herbeiführt, ist zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet. Die Vorschrift<br />
ist die Reaktion darauf, dass die Existenzsicherungsleistungen wegen ihrer besonderen Bedeutung<br />
für das Grundrecht auf Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz bei Bedürftigkeit unabhängig<br />
von der Ursache der Hilfebedürftigkeit zu erbringen sind, also auch dann, wenn die Leistungsberechtigten<br />
die Hilfebedürftigkeit selbst herbeigeführt haben. Allerdings kann das Jobcenter in diesen Fällen sozialwidrigen<br />
Verhaltens unter den Voraussetzungen des § 34 SGB II Ersatz seiner Leistungen verlangen.<br />
Streitig war, ob ein Ersatzanspruch wegen sozialwidrigen Verhaltens auch dann bestehen kann, wenn<br />
das sozialwidrige Verhalten zugleich eine Pflichtverletzung im Sinne der Sanktionsvorschriften war. Das<br />
32 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1561<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
BSG nimmt nun an, dass die beiden Vorschriften nebeneinander treten, dass also ein Ersatzanspruch<br />
nicht ausgeschlossen ist, wenn das sozialwidrige Verhalten, auf welches der Anspruch gestützt wird,<br />
zugleich eine sanktionierbare Pflichtverletzung i.S.v. §§ 31–32 SGB II darstellt. Bei dieser Gelegenheit<br />
stellt das BSG klar, dass nach § 34 SGB II in der bis zum 31.7.2016 geltenden Fassung das Aufrechterhalten<br />
der Hilfebedürftigkeit keinen Ersatzanspruch ausgelöst hat.<br />
5. Eingliederungsleistungen<br />
Nach § 16c Abs. 1 SGB II können Leistungsberechtigte, die eine selbstständige Tätigkeit ausüben, unter<br />
bestimmten Voraussetzungen Darlehen zur Beschaffung von Sachgütern erhalten. Mit PKH-<br />
Ablehnungsbeschluss (v. 25.4.2017 – B 4 AS 12/17 BH m. Anm. SENGER NZS 2017, 556) hat das BSG nun<br />
klargestellt, dass die Gewährung eines Darlehens für ein beabsichtigtes Geschäft mit dem Handel von<br />
Indexderivaten an der Terminbörse nicht hierunter fällt.<br />
6. Im Bereich der Existenzsicherungssysteme modifiziertes Verfahrensrecht: Zugunstenverfahren<br />
Im Bereich der Existenzsicherungssysteme bestehen manche Besonderheiten beim Verfahrensrecht.<br />
Wegen des starken Gegenwartsbezugs der Leistungen war insbesondere bei der Anwendung von § 44<br />
SGB X unklar, ob ein Nachzahlungsanspruch bestehen bleibt, auch wenn nicht durchgängig bis zur<br />
Antragstellung nach § 44 SGB X Hilfebedürftigkeit bestand. Für das SGB XII hatte das BSG hierzu<br />
entschieden, dass ein Nachzahlungsanspruch nur besteht, wenn durchgängig Hilfebedürftigkeit<br />
bestand (zuletzt BSG, Urt. v. 29.9.2009 – B 8 SO 16/08 R). Für das SGB II hat das BSG demgegenüber<br />
nun ausdrücklich entschieden: Durchgängige Hilfebedürftigkeit ist im SGB II keine Anspruchsvoraussetzung<br />
für einen Nachzahlungsanspruch (BSG, Urt. v. 4.4.2017 – B 4 AS 6/16 R; ebenso schon BSG, Urt.<br />
v. 1.6.2010 – B 4 AS 78/09 R).<br />
II.<br />
Arbeitsförderungsrecht<br />
1. Nichtigkeit einer Eingliederungsvereinbarung im SGB III<br />
In der Rechtsprechungsübersicht zum 1. Halbjahr 2016 (<strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1476 f.) hatten wir über die strengen<br />
Anforderungen berichtet, die das BSG an die Wirksamkeit einer Eingliederungsvereinbarung (EGV) im<br />
SGB II stellt. Das Gericht hatte dort die konkret abgeschlossene Vereinbarung wegen Verstoßes gegen<br />
das in § 58 Abs. 2 Nr. 4 SGB X geregelte Kopplungsverbot für nichtig angesehen: Die Eigenbemühungsverpflichtung<br />
des Klägers sei unangemessen i.S.v. § 55 Abs. 1 S. 2 SGB X, weil dieser keiner Gegenleistung<br />
des Jobcenters zur finanziellen Unterstützung dieser Bemühungen entsprach. Diese Rechtsprechung gilt<br />
auch dann, wenn die entsprechende Regelung durch Verwaltungsakt erfolgt, weil eine EGV nicht<br />
zustande kommt, § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II.<br />
Auch in § 37 Abs. 2 u. 3 SGB III ist der Abschluss einer EGV vorgesehen und – wenn diese nicht zustande<br />
kommt – ergänzend eine Festsetzung der Eigenbemühungen durch Verwaltungsakt (§ 37 Abs. 3 S. 4<br />
SGB III). Durch Urteil vom 4.4.2017 (B 11 AL 5/16 R) hat das BSG die vorgenannte Rechtsprechung zum<br />
SGB II auf die EGV nach § 37 SGB III übertragen und im konkreten Fall die Nichtigkeit der Vereinbarung<br />
wegen Verstoßes nach § 55 Abs. 1 S. 2 SGB X i.V.m. § 58 Abs. 2 Nr. 4 SGB X festgestellt, weil der Vertrag<br />
keine Regelung zur Übernahme von Bewerbungskosten und/oder Reisekosten enthielt. Entgegen der<br />
Auffassung der Bundesagentur für Arbeit (BA) konnte demnach die fragliche EGV keine Sperrzeit nach<br />
§ 159 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB III begründen. Gleiches muss für den Fall gelten, dass die Eigenbemühungen<br />
durch Verwaltungsakt gem. § 37 Abs. 3 S. 4 SGB III konkretisiert werden.<br />
Hinweis:<br />
In einer weiteren Entscheidung zu einer EGV nach § 37 SGB III vom gleichen Tag (BSG, Urt. v. 4.4.2017 – B11<br />
AL 19/16 R) hat das BSG die Entscheidung der Vorinstanz hinsichtlich eines Sperrzeiteintritts nach § 159<br />
Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB III gebilligt. Hier enthielt die fragliche Vereinbarung die Zusage verschiedener<br />
Leistungen der BA, insbesondere auch die Übernahme von Bewerbungs- und Reisekosten. Das BSG trat<br />
im Hinblick auf den Wortlaut des Sperrzeittatbestands in § 159 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB III der Auffassung des<br />
Klägers entgegen, es komme nur darauf an, ob die von ihm versprochenen Eigenbemühungen tatsächlich<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 33
Fach 18, Seite 1562<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
vorgenommen worden seien, nicht aber auf deren Nachweis. Das Gegenteil ergebe sich bereits aus dem<br />
Wortlaut der Norm, der ausdrücklich davon spricht, dass Arbeitslose die Eigenbemühungen nachweisen.<br />
2. Versicherungspflicht aus sonstigen Gründen<br />
a) Auslegung des Merkmals „unmittelbar“ in § 26 Abs. 2 SGB III<br />
Gemäß § 24 Abs. 1 SGB III stehen solche Personen in einem Versicherungspflichtverhältnis, die als<br />
Beschäftigte oder aus sonstigen Gründen versicherungspflichtig sind. Den Personenkreis dieser<br />
Versicherungspflichtigen bestimmt § 26 SGB III. § 26 Abs. 2 SGB III betrifft Bezieher von Einkommensersatz-<br />
und anderer Leistungen, die aufgrund anderer Sachverhalte schon unmittelbar vor dem Bezug<br />
dieser Leistungen versicherungspflichtig im SGB III waren. Nach bisheriger Auffassung der BA, eines<br />
Teils der Instanzgerichte und der Literatur (s. etwa die durch die unten erwähnten BSG-Urteile<br />
aufgehobenen LSG-Entscheidungen und SCHEIDT, in: NK-SGB III, 6. Aufl., § 26 Rn 43) soll das Merkmal der<br />
Unmittelbarkeit nur erfüllt sein, wenn zwischen dem Ende der Versicherungspflicht bzw. dem Ende des<br />
Leistungsbezugs im SGB III und dem Beginn der in § 26 Abs. 2 SGB III angesprochenen Leistungen ein<br />
Zeitraum von nicht mehr als einem Monat liegt. Dieser Auffassung ist das BSG in zwei Entscheidungen<br />
vom 23.2.2017 entgegengetreten.<br />
b) Unterbrechung durch verzögerten Rentenbezug nach Alg-Bezug unschädlich<br />
Der Klägerin des Verfahrens hatte die BA zuletzt am 16.11.2011 für noch 149 Tage Arbeitslosengeld<br />
zugesprochen (BSG, Urt. v. 23.2.2017 – B 11 AL 3/16 R). Im Februar 2012 stellte die Deutsche<br />
Rentenversicherung (DRV) eine volle Erwerbsminderung der Klägerin fest und bewilligte ihr Zeitrente<br />
vom 1.5.2012 bis Ende 2013. Die BA hob die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 8.3.2012 auf, weil die<br />
objektive Verfügbarkeit der Klägerin krankheitsbedingt entfallen war und wegen Feststellung<br />
verminderter Erwerbsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger ein Anspruch auch nach der<br />
„Nahtlosigkeitsregelung“ (§ 145 SGB III) nicht mehr bestand.<br />
Die Klägerin bezog Erwerbsminderungsrente ab dem 1.5.2012 bis zum 31.12.2013 und beantragte<br />
Arbeitslosengeld ab dem 1.1.2014. Sie ging hierbei davon aus, sie sei während des Rentenbezugs nach<br />
§ 26 Abs. 2 Nr. 3 SGB III im Arbeitsförderungsrecht pflichtversichert gewesen und habe die<br />
Anwartschaftszeit (§ 142 SGB III) für einen neuen Anspruch über acht Monate nach § 147 Abs. 2 SGB III<br />
erfüllt. Ihr stehe nicht lediglich der Restanspruch über 149 Tage abzüglich bereits bis 8.3.2012 erhaltener<br />
Tage zu.<br />
Das BSG hat im Sinne der Klägerin entschieden: Diese habe durch den Bezug der Erwerbsminderungsrente<br />
im Zeitraum 1.5.2012 bis 31.12.2013 in einem Versicherungspflichtverhältnis gem. § 26 Abs. 2 Nr. 3 SGB III<br />
gestanden, was bei der Bestimmung der Dauer ihres Alg-Anspruchs zu berücksichtigen sei. Trotz des<br />
Zeitraums von 43 Tagen zwischen dem Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld am 8.3.2012 und dem<br />
Beginn der Rente wegen Erwerbsminderung am 1.5.2012 sei hier noch von einem unmittelbar<br />
vorausgehenden Leistungsbezug i.S.v. § 26 Abs. 2 SGB III auszugehen. Wortlaut, Entstehungsgeschichte,<br />
Systematik sowie Sinn und Zweck dieser Vorschrift würden es nicht ausschließen, bei einzelnen<br />
Tatbeständen trotz Unterbrechungszeiträumen von mehr als einem Monat eine Versicherungszeit<br />
anzuerkennen. Der Schutzzweck der jeweiligen Regelung erfordere im Einzelfall die Prüfung, welche<br />
besonderen Umstände zur Unterbrechung geführt hätten. Besonderheiten der in § 26 Abs. 2 SGB III im<br />
Einzelnen angeführten Lohnersatzleistungen seien in diesem Rahmen zu berücksichtigen. Das Gericht<br />
führt weiter aus, Grund für die Einfügung des hier anwendbaren § 26 Abs. 2 Nr. 3 SGB III sei der Befund<br />
gewesen, dass Personen, die wegen Erwerbsunfähigkeit ihre Beschäftigung aufgeben müssen oder den<br />
Bezug von Arbeitslosengeld beenden, bei späterer Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nur unzureichend in das<br />
Leistungssystem der Arbeitsförderung mit einbezogen sind. Eine enge Auslegung des Begriffs „unmittelbar“<br />
würde den Zweck der Vorschrift, den Schutz in der Arbeitslosenversicherung dieser trotz zeitweiliger<br />
Erwerbsminderung auf den Arbeitsmarkt zurückkehrenden Personengruppe zu verbessern, verfehlen.<br />
34 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1563<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Hinweis:<br />
Der Gesetzgeber hat mit Wirkung zum 1.1.2017 durch den neuen Absatz 1a in § 101 SGB III eine Lücke beim<br />
Übergang in die Erwerbsminderungsrente geschlossen (hierzu auch WINKLER info also 2017, 106). Regelmäßig<br />
werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gem. § 101 Abs. 1 SGB VI nicht vor<br />
Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Stellt<br />
der Rentenversicherungsträger das Vorliegen von Erwerbsminderung fest, entfällt regelmäßig die objektive<br />
Verfügbarkeit und es endet der Anspruch auf Arbeitslosengeld. Der Zeitraum bis zum Bezug der Erwerbsminderungsrente<br />
kann, wenn auch kein Anspruch auf Krankengeld mehr gegeben ist, nur noch durch<br />
existenzsichernde Leistungen überbrückt werden – allerdings nur bei Vorliegen von Bedürftigkeit. Nunmehr<br />
können Renten wegen voller Erwerbsminderung bereits vor Beginn des siebten Monats nach dem Eintreten<br />
der Erwerbsminderung gezahlt werden, wenn<br />
• entweder die Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger<br />
zur Folge hat, dass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entfällt oder<br />
• nach Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger ein<br />
Anspruch auf Krankengeld nach § 48 SGB V oder auf Krankentagegeld von einem privaten Krankenversicherungsunternehmer<br />
endet<br />
• und der siebte Monat nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit noch nicht erreicht ist.<br />
c) Unterbrechung durch verzögerten Bezug von Krankentagegeld (§ 26 Abs. 2 SGB III) unschädlich<br />
In dem Verfahren (BSG, Urt. v. 23.2.2016 – B 11 AL 4/16 R) ging es um die Frage, ob eine Lücke von 38 Tagen<br />
beim Bezug von Krankentagegeld aus einer privaten Versicherung noch das Merkmal der Unmittelbarkeit<br />
i.S.v. § 26 Abs. 2 Nr. 2 SGB III erfüllt. Der Kläger dieses Verfahrens war ab dem 31.1.2010 arbeitslos und in der<br />
Zeit vom 28.1.2010 bis 1.5.2011 arbeitsunfähig erkrankt und erhielt von seiner Krankenversicherung<br />
vertragsgemäß ab dem 43. Kalendertag der Krankmeldung Krankentagegeld (11.3.2010 bis 1.5.2011). Anschließend<br />
nahm er zu Lasten des Rentenversicherungsträgers an einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben<br />
teil und bezog Übergangsgeld. Das BSG entschied auch hier, dass der Kläger entgegen der<br />
Auffassung des LSG die erforderliche Anwartschaftszeit für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt hat.<br />
Zur Begründung verweist es auf seine Ausführungen im oben (s. unter a – Auslegung des Merkmals „unmittelbar“<br />
in § 26 Abs. 2 SGB III) genannten Verfahren und hebt hinsichtlich der Vorschrift des § 26 Abs. 2 Nr. 2<br />
SGB III darauf ab, diese bezwecke, versicherungspflichtige Beschäftigte, die nicht gesetzlich krankenversichert<br />
sind, bei privater Absicherung für den Fall der Arbeitsunfähigkeit durch ein Krankentagegeld den gesetzlich<br />
versichert Beschäftigten gleichzustellen. Hier sei eine Gleichstellung erforderlich, weil die vom Kläger nicht<br />
zu beeinflussende Arbeitsunfähigkeit kurz vor dem Ende seines Beschäftigungsverhältnisses bewirke, dass<br />
die Krankentagegeldzahlung trotz des Wegfalls der Entgeltfortzahlung erst am 11.3.2010 einsetzte.<br />
III. Sozialversicherung: Beitragserstattung trotz vorsätzlich falscher Entrichtung<br />
Das BSG hatte über einen Erstattungsanspruch auf bewusst zu Unrecht entrichtete Beiträge zur<br />
Sozialversicherung nach § 26 Abs. 2 SGB IV zu entscheiden (BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 KR 9/16 R).<br />
Der Kläger betrieb ein Taxiunternehmen und überließ seine Fahrzeuge an Fahrer, die ihm dafür tägliche<br />
Pauschalbeträge bezahlten, die von ihnen erzielten Einnahmen aber behalten durften. Da der Kläger davon<br />
ausging, dieses „Mietmodell“ verstoße gegen das Personenbeförderungsgesetz, meldete er, um diesen<br />
Sachverhalt zu verschleiern, die beteiligten Taxifahrer zur Sozialversicherung an und zahlte Beiträge auf<br />
Grundlage eines tatsächlich nie gezahlten Arbeitslohns. Im Zusammenhang mit diesem Verhalten wurde<br />
der Kläger wegen Steuerhinterziehung strafrechtlich verurteilt. Daraufhin beantragte er die Erstattung von<br />
Sozialversicherungsbeiträgen und berief sich für die Begründung seines Anspruchs auf das Strafurteil, in<br />
dem ausgeführt worden sei, die am „Mietmodell“ beteiligten Taxifahrer seien selbstständig tätig gewesen.<br />
Klage und Berufung des Klägers gegen den ablehnenden Erstattungsbescheid der Einzugsstelle blieben<br />
erfolglos: Gemäß § 814 Alt. 1 BGB (Ausschluss des Bereicherungsanspruchs bei Leistung in Kenntnis<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 35
Fach 18, Seite 1564<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
einer Nichtschuld) könne der Kläger die Sozialversicherungsbeiträge nicht zurückverlangen, weil er bei<br />
deren Entrichtung selbst davon ausgegangen sei, eine Beitragspflicht bestehe tatsächlich nicht. Die<br />
Revision des Klägers war im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung erfolgreich.<br />
Die Aufhebung erfolgte zunächst, weil das LSG es unterlassen hatte, die zuständige Pflegekasse sowie<br />
die betroffenen Taxifahrer zum Verfahren beizuladen, was gem. § 75 Abs. 2 SGG notwendig war. In der<br />
Sache selbst entschied das Gericht, die Vorschrift des § 814 Alt. 1 BGB finde auf den Beitragserstattungsanspruch<br />
des § 26 Abs. 2 SGB IV keine Anwendung. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der<br />
Vorschrift, der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte des Beitragserstattungsrechts.<br />
Hinsichtlich der Gesetzessystematik verweist das Gericht auf die Vorschrift des § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X, die<br />
bei vorsätzlichem Verhalten den Anspruch auf eine Rücknahme eines Verwaltungsakts ausschließt.<br />
Hätte der Gesetzgeber einen entsprechenden Ausschluss wegen eines vorwerfbaren Verhaltens auch im<br />
Zusammenhang mit der Beitragserstattung nach § 26 Abs. 2 SGB IV regeln wollen, wäre dies ebenfalls<br />
normativ zum Ausdruck gebracht worden. Auch der mit § 26 Abs. 2 SGB IV verfolgte Zweck, der darauf<br />
abzielt, eine rechtsgrundlose Vermögensverschiebung auszugleichen, die darauf beruht, dass Beiträge<br />
zur Sozialversicherung zu Unrecht entrichtet wurden, ohne an ein eventuell vorwerfbares Verhalten<br />
eines am Beitragseinzug Beteiligten anzuknüpfen, erfordere kein anderes Ergebnis.<br />
Hinweis:<br />
Allerdings konnte das BSG anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen, ob die an dem<br />
„Mietmodell“ beteiligten Taxifahrer abhängig beschäftigt i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB IV oder selbstständig tätig<br />
waren. Dies wird nach der Zurückverweisung zu klären sein.<br />
IV.<br />
Krankenversicherungsrecht: Krankengeldanspruch bei irrtümlichem Nichterstellen einer<br />
AU-Bescheinigung durch Vertragsärzte<br />
Hinweis:<br />
Rechtsprechungsänderung!<br />
Nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn sie – abgesehen von den<br />
Fällen stationärer Behandlung – infolge Krankheit arbeitsunfähig sind. Ob und ggf. in welchem Umfang<br />
Krankengeld beansprucht werden kann, bestimmt sich nach dem Versicherungsverhältnis, das zum<br />
Zeitpunkt des jeweils in Betracht kommenden Entstehungstatbestands für Krankengeld vorliegt.<br />
Die durch die Beschäftigten-Versicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) begründete Mitgliedschaft endet nicht<br />
mit dem Ablauf des Tages, an dem das Beschäftigungsverhältnis gegen Arbeitsentgelt endet (§ 190<br />
Abs. 2 SGB V), sondern besteht unter den Voraussetzungen des § 192 SGB V fort, was u.a. der Fall ist,<br />
solange ein Anspruch auf Krankengeld besteht (§ 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V). Der dadurch erfolgte Verweis<br />
auf die Vorschriften über den Krankengeldanspruch bedeutet, dass ein Versicherungsverhältnis mit<br />
Anspruch auf Krankengeld vorliegen muss. Bis zum 22.7.2015 stellte § 46 S. 1 Nr. 2 SGB V für den Beginn<br />
des Krankengeldanspruchs (außerhalb stationärer Behandlung) auf den Tag ab, der auf den Tag der<br />
ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (AU) folgt (s. aber BSG, Urt. v. 10.5.2012 – B 1 KR 19/11 R,<br />
<strong>ZAP</strong> F. 18, 1274 f.), seitdem entsteht der Anspruch am Tag der Feststellung.<br />
Für die AU-Folgebescheinigung galt bis zum 22.7.2015 nach früherer, recht rigider Rechtsprechung des<br />
1. Senats des BSG (s. etwa BSG, Urt. v. 4.3.2014 – B 1 KR 17/13 R, hierzu <strong>ZAP</strong> F. 18, 1401; BSG, Urt. v. 16.12.2014<br />
– B 1 KR 31/13 R u. 32/13 R), dass die Arbeitsunfähigkeit vor Ablauf des Krankenbewilligungsabschnitts<br />
erneut ärztlich festgestellt werden musste und zwar auch dann, wenn der letzte Tag der vorhergehenden<br />
Arbeitsunfähigkeit auf einen Samstag oder auf einen Sonntag fällt. Der Gesetzgeber hat daraufhin auch<br />
mit Wirkung ab 23.7.2015 in § 46 Abs. 1 S. 2 SGB V angeordnet, dass der Anspruch auf Krankengeld jeweils<br />
bis zu dem Tag bestehen bleibt, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit<br />
36 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1565<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag – Samstage gelten<br />
insoweit nicht als Werktage – nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.<br />
Der früher zuständige 1. Senat des BSG hat bei fehlender oder verspäteter AU-Feststellung ausnahmsweise<br />
gleichwohl einen Krankengeldanspruch bejaht, wenn die Feststellung durch Umstände verhindert<br />
wurde, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse zuzurechnen sind bzw. bei von der<br />
Krankenkasse zu vertretenden Organisationsmängeln, ferner bei Nichterteilung einer AU-Bescheinigung<br />
wegen irrtümlich verneinter Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer ärztlichen Fehlbeurteilung (BSG, Urt. v.<br />
16.12.2014 – B 1 KR 31/13 R; s. auch LANGE jurisPR-SozR 16/2016, Anm. 2). In Fällen, in denen im Zusammenhang<br />
mit der Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit Ärzte unzutreffende rechtliche<br />
Auskünfte erteilt haben, hat das BSG Krankengeldansprüche verneint und die Versicherten auf<br />
Schadensersatzansprüche gegen ihre Ärzte verwiesen.<br />
Hinweis:<br />
Diese Rechtsprechung hat nunmehr der für das Krankengeldrecht allein zuständige 3. Senat des BSG durch<br />
Urteil vom 11.5.2017 (B 3 KR 22/15 R) teilweise geändert, ergangen noch zu dem bis zum 22.7.2015 geltenden<br />
Recht.<br />
Der Klägerin war im Zeitraum 23.11.2012 bis zum 3.1.2013 ununterbrochen Arbeitsunfähigkeit attestiert<br />
worden. Sie hat ihren Hausarzt noch am 3.1.2013 aufgesucht und ihn auf die Krankmeldung bzw. die<br />
Notwendigkeit der Verlängerung angesprochen. Dieser erklärte, es reiche aus, dass die Fachärztin, bei<br />
der die Klägerin am kommenden Tag einen Termin habe, die entsprechende Feststellung ausstelle. Das<br />
BSG bejahte den Anspruch der Klägerin auf Krankengeldzahlungen über den 7.1.2013 hinaus und hob das<br />
klageabweisende Berufungsurteil auf. Der Senat erweitert die bereits in bisheriger Rechtsprechung<br />
anerkannten Ausnahmefälle um den Fall der aus nichtmedizinischen Gründen irrtümlich nicht<br />
zeitgerecht erstellten AU-Bescheinigung. Unter der Voraussetzung, dass keine Zweifel an der ärztlich<br />
festgestellten Arbeitsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitraum vorliegen und keinerlei Anhaltspunkte für<br />
einen Leistungsmissbrauch ersichtlich sind, haben die Versicherten – wie hier die Klägerin – Anspruch<br />
auf Krankengeld, wenn sie<br />
• alles in ihrer Macht Stehende und ihnen Zumutbare getan haben, um die Ansprüche zu wahren,<br />
indem sie einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufsuchen und ihm ihre<br />
Beschwerden schildern,<br />
• um die ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu<br />
erreichen, und<br />
• dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw. anspruchserhaltenden zeitlichen<br />
Grenzen für den Krankengeldanspruch erfolgt ist,<br />
• an der Wahrung der Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des<br />
Vertragsarztes gehindert wurden (wie hier durch die irrtümlich nicht zeitgerecht erstellte AU-<br />
Bescheinigung),<br />
• und – zusätzlich – ihre Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen<br />
Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V (eine Woche) nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler<br />
geltend machen.<br />
Eine solche Sichtweise ist vor allem geboten, um dem Schutzbedürfnis des Versicherten in der sozialen<br />
Krankenversicherung gerecht zu werden (vgl. § 2 Abs. 2 SGB I: möglichst weitgehende Verwirklichung<br />
der sozialen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften des SGB). Es wäre unverhältnismäßig, einem<br />
Pflichtversicherten, der alle sonstigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, den ggf. bis zu 78 Kalenderwochen<br />
währenden Krankengeldanspruch wegen einer nicht zeitgerechten Feststellung der AU, für<br />
deren Erhalt er alles Erforderliche getan hat, zu versagen.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 37
Fach 18, Seite 1566<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
Das Gericht führt ferner aus, Versicherte seien insofern nicht auf – ungewisse – Regressansprüche<br />
gegen die Ärzte zu verweisen. Ferner stellt der 3. Senat des BSG auf die Regelung in § 6 Abs. 2 der AU-<br />
Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses ab: Diese Vorschrift erlaubt – anders als das Gesetz –<br />
eine rückwirkende AU-Bescheinigung. Es könne daher regelmäßig nicht angenommen werden, dass<br />
Vertragsärzte wissen, dass das ihnen gestattete, rückwirkende Attest grundsätzlich zu einem Verlust<br />
langzeitiger Krankengeldansprüche bei den Versicherten führe. Vertreter der Krankenkassen wirken<br />
aber bei den Beschlussfassungen im Gemeinsamen Bundesausschuss mit. Es erscheine bei diesem<br />
Sachverhalt treuwidrig, wenn sich die Krankenkassen trotz ihrer Mitverantwortung für die AU-<br />
Richtlinien von ihrer Leistungspflicht gegenüber den Versicherten befreien könnten.<br />
In einem weiteren Verfahren (BSG, Urt. v. 11.5.2017 – B 3 KR 12/16 R) hatte der Arzt angegeben, es sei<br />
leider versäumt worden, eine AU-Bescheinigung auszustellen. Nachträglich bejahte er durchgehende<br />
Arbeitsunfähigkeit. In diesem Fall hat die beklagte Krankenkasse ausweislich des Terminberichts vom<br />
11.5.2017 den Klageanspruch im Rahmen der mündlichen Verhandlung über die Revision des Klägers<br />
gegen das seine Klage auf Krankengeld abweisende Berufungsurteil anerkannt.<br />
V. Unfallversicherungsrecht<br />
1. Umfang des Versicherungsschutzes bei betrieblichen Veranstaltungen<br />
In <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1509 ff. ist über verschiedene Entscheidungen des BSG im zweiten Halbjahr 2016 zum<br />
Umfang des Versicherungsschutzes bei Unfällen berichtet worden. Das BSG hat seine Grundsätze in<br />
einer neueren Entscheidung vom 30.3.2017 (Urt. v. B 2 U 15/15 R, NZS 2017, 625 m. Anm. KAINZ) bestätigt.<br />
Für den Schutz der Beschäftigtenversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII ist Voraussetzung, dass eine<br />
versicherte Tätigkeit als Beschäftigter vorliegt. Dies ist dann der Fall, wenn die Verletzten zur Erfüllung<br />
eines von ihnen begründeten Rechtsverhältnisses, insbesondere eines Arbeitsverhältnisses, eine eigene<br />
Tätigkeit in Eingliederung in das Unternehmen eines anderen (vgl. § 7 Abs. 1 SGB IV) zu dem Zweck<br />
verrichten, dass die Ergebnisse dessen Verrichtung dienen und nicht ihnen selbst unmittelbar zum<br />
Vorteil oder Nachteil gereichen.<br />
In dem entschiedenen Fall war der Verletzte am 7.9.2006 als Außendienstmitarbeiter in der<br />
Vertriebsdirektion beschäftigt, für welche die Arbeitgeberin an einem sog. Tag des Vertriebs ein Kfz-<br />
Sicherheitstraining durchführte. Ebenfalls auf Einladung der Arbeitgeberin beteiligte er sich an der<br />
anschließenden Abendveranstaltung im Tagungslokal. Nach der Vorstellung von Ergebnissen einer<br />
Mitarbeiterbefragung fand bis kurz vor Mitternacht ein gemeinsames Abendessen statt. Ein weiteres<br />
geselliges Beisammensein nach dem Abendessen war in der Einladung nicht vorgesehen. Im Anschluss<br />
an das Abendessen begaben sich der Kläger sowie weitere Führungskräfte und Mitarbeiter, die im<br />
Tagungshotel übernachteten, in die Hotelbar. Für 25 Mitarbeiter waren im Hotel Zimmer reserviert<br />
worden, wobei die Außendienstmitarbeiter die Unterbringungskosten über die Reisekosten abrechnen<br />
konnten. Der Leiter der Vertriebsdirektion fuhr nach Hause, ohne zuvor andere Beschäftigte mit der<br />
Durchführung des Ausgangs zu beauftragen; er hatte diesen Teil des Abends auch weder informell<br />
initiiert, noch angeregt oder organisiert.<br />
Im späteren Verlauf des Abends stürzte der Kläger auf einer Treppe, die zu den Toiletten führte. Er<br />
wurde bewusstlos am Ende der Treppe aufgefunden, die nur auf der linken Seite einen Handlauf aufwies<br />
und besonders steil war. Die später durchgeführte Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 2,5 ‰.<br />
Aufgrund der erfolgten Hirnschädigung leidet der Kläger seitdem an einem apallischen Syndrom.<br />
Das BSG billigte das die Klage – die beim SG erfolgreich, jedoch „nur“ gerichtet war auf Feststellung, dass<br />
es sich bei dem Ereignis vom 7.9.2006 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat (s. hierzu unten „Hinweis“) –<br />
abweisende Urteil der Berufungsinstanz. Mit den Gesprächen im Kollegenkreis nach Abschluss der<br />
Abendveranstaltung erfüllte der Verletzte zu dieser Zeit an diesem Ort keine von der Arbeitgeberin<br />
erzwingbare Haupt- oder Nebenpflicht aus seinem Arbeitsverhältnis als Außendienstmitarbeiter. Wenn<br />
38 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1567<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
auch die Gespräche der Pflege kollegialer Beziehungen und der Förderung eines angenehmen<br />
Betriebsklimas dienten, woran sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer allgemein interessiert sind,<br />
genügt dies nach Auffassung des BSG allein nicht, um entsprechende Gespräche dem versicherungsrechtlich<br />
geschützten Bereich zuzurechnen. Die Grenze verläuft bei Besprechungen oder sonstigen<br />
Zusammenkünften dort, wo die arbeitsvertragliche Haupt- oder Nebenpflicht zur Teilnahme an einem<br />
Gespräch, Arbeits- oder Gemeinschaftsessen endet und der informelle kollegiale Austausch beginnt.<br />
Die Abgrenzung könne zwar im Einzelfall schwierig sein, wenn der Übergang vom dienstlichen Gespräch<br />
zum späteren kollegialen Austausch fließend ist und keine deutliche Zäsur erfolgte. Im vorliegenden Fall<br />
bewirkte nach Auffassung des Gerichts die Beendigung des gemeinsamen Abendessens und der damit<br />
beendete „Tag des Vertriebs“ die Abreise mehrerer Teilnehmer einschließlich des Abteilungsleiters und<br />
der Übergang in die Bar eine deutliche Zäsur.<br />
Bei dem später durchgeführten „Ausklang“ handele es sich auch nicht um eine im Schutzbereich des § 2<br />
Abs. 1 Nr. 1 SGB VII liegende betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung. Es fehlt hier bereits an dem<br />
Erfordernis, dass eine solche Veranstaltung „im Einvernehmen“ mit der Unternehmensleitung (s. hierzu<br />
<strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1503 ff., 1509 f.) stattfinden muss: Der Ausklang war weder im Veranstaltungsprogramm<br />
noch in den Einladungsschreiben erwähnt. Schließlich stand der Verletzte auch nicht deshalb unter<br />
Versicherungsschutz, weil er durch die Umstände einer Dienstreise besonderen Gefahren ausgesetzt<br />
war, die ihm während seines normalen Verweilens am Wohn- oder Beschäftigungsort nicht begegnet<br />
wären (s. hierzu BSG, Urt. v. 18.3.2008 – B 2 U 13/07 R; MERTEN jurisPR-SozR 17/2008, Anm. 2). Soweit die<br />
Treppe zur Toilette besonders steil und mit nur einem Handlauf versehen gewesen war, bestand beim<br />
Begehen dieser Treppe kein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, weil sich der<br />
Verletzte den damit verbundenen Risiken und Gefahren freiwillig ausgesetzt hat. Er hätte sich ohne<br />
Weiteres diesen Gefahren dadurch entziehen können, dass er zur Benutzung der Toilette sein reserviertes<br />
Hotelzimmer aufgesucht hätte.<br />
Im Übrigen dürfte auch im vorliegenden Fall wegen der hohen Alkoholisierung (Blutalkoholkonzentration<br />
2,5 ‰) eine Lösung von einer – etwaigen – beruflichen Tätigkeit eingetreten und damit der<br />
innere sachliche Zusammenhang (Unfallkausalität) zu verneinen sein (s. BSG, Urt. v. 30.1.2007 – B2U<br />
23/05 R; REYELS jurisPR-SozR 7/2008 Anm. 3). Auf diese Fragestellung ist das Gericht nicht eingegangen.<br />
Hinweis:<br />
Verfahrensrechtlich ist von Interesse: Der Verletzte ist während des Revisionsrechtsstreits verstorben.<br />
Seine Erbinnen sind in dessen verfahrensrechtliche Position eingetreten (§ 1922 BGB) und führten den<br />
Rechtsstreit fort. Die Voraussetzungen einer vorrangigen Sonderrechtsnachfolge (§ 56 Abs. 1 Nr. 1 Nr. 2<br />
SGB I – die Vorschrift hat Vorrang gegenüber der gesetzlichen und gewillkürten Erbfolge nach BGB) liegen<br />
schon deshalb nicht vor, weil der Verletzte vor dem SG keine fälligen Ansprüche auf laufende Geldleistung<br />
erstritten, sondern „nur“ die gerichtliche Feststellung erreicht hat, „dass es sich bei dem Ereignis vom 7.9.2006<br />
um einen Arbeitsunfall gehandelt hat“. Das für die Fortführung des Rechtsstreits berechtigte Interesse der<br />
Klägerinnen an einer alsbaldigen Feststellung (§ 55 Abs. 2 Hs. 2 SGG) besteht fort. Es wäre mit dem Tod des<br />
Verletzten nur dann entfallen, wenn gewiss wäre, dass die Klägerinnen aus der Feststellung keine Rechte<br />
mehr herleiten können, wovon nicht auszugehen ist. Zwar sind die Ansprüche auf Dienst- oder<br />
Sachleistungen mit dem Tode des Verletzten nach § 59 S. 1 SGB I erloschen und daher von vornherein<br />
nicht auf die Klägerinnen übergegangen. Gleiches gilt für Ansprüche auf Geldleistungen aber nur, soweit sie<br />
im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten nicht bereits festgestellt waren oder ein Verwaltungsverfahren<br />
über sie anhängig war, § 59 S. 2 SGB I. Zwar waren Ansprüche auf Geldleistungen am 7.3.2017 nicht positiv<br />
festgestellt, die Beklagte hatte im ablehnenden Bescheid dem Verletzten gerade Leistungen aus der<br />
gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlass des Ereignisses vom 7.9.2006 verweigert und dies im Widerspruchsbescheid<br />
bekräftigt. Der Verletzte ließ diese umfassende Leistungsablehnung bestandskräftig werden<br />
(§ 77 SGG), als er im Klageverfahren nur beantragte „festzustellen, dass das Ereignis vom 7.9.2006 ein<br />
Arbeitsunfall war“. Es kommt jedoch in Betracht, dass die Klägerinnen im Erfolgsfall die bestandskräftige<br />
Ablehnung der Verwaltungsentscheidung (z.B. auf Zahlung von Verletztenrente) im Zugunstenverfahren<br />
nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X wieder aufgreifen und überprüfen lassen. Dies sieht der Senat als Voraussetzung<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 39
Fach 18, Seite 1568<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
für das fortbestehende Feststellungsinteresse als ausreichend an und lässt offen, ob die bloße Absicht einer<br />
der Klägerinnen, aus dem möglichen Versicherungsfall Hinterbliebenenleistungen nach §§ 63 ff. SGB VII<br />
geltend zu machen, für sie selbst und die weitere Klägerin ein berechtigtes Interesse an der baldigen<br />
Feststellung begründen könnte.<br />
2. Berufskrankheit durch Einwirkung von Chrom trotz langjährigen Rauchens<br />
Neben Arbeitsunfällen gehören nach § 7 Abs. 1 SGB VII auch Berufskrankheiten zu den Versicherungsfällen.<br />
Bei diesen handelt es sich um Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung als<br />
Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3<br />
oder 6 SGB VI begründenden Tätigkeit erleiden. Den Katalog der Berufskrankheiten enthält Anlage 1 zur<br />
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) vom 31.10.1997, der wiederholt geändert und ergänzt wurde.<br />
Hinweis:<br />
Zuletzt wurde die Berufskrankheiten-Verordnung am 1.8.2017 geändert. Neu aufgenommen wurden:<br />
• Leukämie durch 1,3 Butadien (ein farbloses Gas, das insbesondere zur Weiterverarbeitung bei der<br />
Herstellung verschiedener Kunst- und Kautschuksorten sowie in der Kunststoffindustrie verwendet<br />
wird),<br />
• Harnblasenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), die u.a. bei der Arbeit in<br />
Druckereien, im Straßenbau sowie bei der Schornsteinreinigung entstehen,<br />
• die „Vokale Dystonie“ als Erkrankung des zentralen Nervensystems bei Instrumentalmusikern durch<br />
feinmotorische Tätigkeit hoher Intensität.<br />
Die Berufskrankheit Nr. 4113 (Lungenkrebs durch PAK) wird um die Erkrankung „Kehlkopfkrebs“ und die<br />
Berufskrankheit Nr. 4104 (Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbest) um „Eierstockkrebs“<br />
erweitert.<br />
Der Versicherte der hier darzustellenden Entscheidung (BSG, Urt. v. 30.3.2017 – B 2 U 6/15 R) war als<br />
Maschinenschlosser in einem Stahlwerk von April 1977 bis Ende 1985 tätig. Bei seiner Tätigkeit als<br />
Schweißer war er u.a. Atemwegsbelastungen, insbesondere durch Chrom und Nickel, ausgesetzt. Die<br />
Chrom-Exposition betrug mehr als 300 Chrom-Jahre, die Nickelbelastung rund 196 Nickel-Jahre.<br />
Allerdings rauchte der Versicherte erheblich und zwar über einen Zeitraum von 20 Jahren mindestens 20<br />
Zigaretten täglich. Er erkrankte 2004 an einem Bronchialkarzinom und verstarb hieran. Die von der<br />
Ehefrau des Versicherten beklagte Berufsgenossenschaft (BG) lehnte die Anerkennung dieser<br />
Erkrankung als Berufskrankheit Nr. 1103 BKV ab.<br />
Das BSG billigt die Feststellung des Berufungsgerichts, wonach die Dosis der Chrombelastung – für die<br />
nach heutiger Auffassung kein Grenzwert, sondern nur ein Orientierungswert existiert –, der er<br />
während seiner Versichertentätigkeit ausgesetzt war, (mit-)ursächlich für seine Erkrankung war. Das<br />
Gericht widerspricht aber der Auffassung des LSG, soweit im Rahmen der Wesentlichkeitsprüfung der<br />
Einwirkung durch Chrombelastung diejenige durch Tabakrauch gegenübergestellt und ziffermäßig<br />
abgewogen wird. Die Wesentlichkeit der berufsbedingten Krankheitsursache ist, so das BSG, vielmehr<br />
dann zu bejahen, wenn die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller festgestellten mitwirkenden<br />
unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten<br />
Versicherungstatbestands fallenden Gefahr ist. Eine solche Gegebenheit liegt hier vor, weil die gesetzliche<br />
Unfallversicherung im Rahmen der BK 1103 vor Erkrankungen, insbesondere vor Bronchialkarzinom,<br />
durch betriebliche Chrombelastungen schützen und im Fall des Eintritts einer solchen<br />
Erkrankung Leistungen gewähren soll. Die Normformulierung der BK 1103, insbesondere der Umstand,<br />
dass kein Schwellenwert festgeschrieben wurde, der überschritten sein muss, damit die BK festgestellt<br />
werden kann, zeigt, dass Chrom und seine Verbindungen auch niedrigschwellig als gefährlich eingestuft<br />
werden. Außerdem wird der Versicherte im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung in dem<br />
gesundheitlichen Zustand geschützt, in dem er mit dem gefährdenden Stoff konfrontiert wird. Die<br />
40 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Sozialrecht Fach 18, Seite 1569<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Entscheidung des LSG, wonach die abstrakte Möglichkeit, dass die Erkrankung durch eine andere,<br />
außerberufliche Einwirkung (mit-)verursacht wurde, würde die Wertentscheidung der BKV unterlaufen.<br />
Der Tatbestand der BK 1103 wäre weitgehend bedeutungslos, weil Krebserkrankungen regelmäßig<br />
multifaktorielle Geschehensabläufe zugrunde liegen, deren Ursachen teils im beruflichen,<br />
teils im außerberuflichen Bereich liegen, ohne dass insofern eine wissenschaftlich begründete exakte<br />
Bezifferung der jeweiligen Verursachungsbeiträge möglich ist. Bergen die beruflichen Einwirkungen für<br />
sich allein ein so hohes Gefährdungspotential, dass sich darauf eine hinreichende Verursachungswahrscheinlichkeit<br />
stützen lässt, ist das Vorhandensein weiterer Einwirkungen rechtlich nicht mehr<br />
erheblich.<br />
Die Zurückverweisung erfolgte, weil das LSG – von seiner Rechtsauffassung her konsequent – keine<br />
Feststellung zur Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und zur Zahlung einer Verletztenrente<br />
getroffen hat.<br />
VI.<br />
Verfahrensrecht<br />
1. Voraussetzung des Erlöschens von Geldleistungen nach dem Tode der Verletzten<br />
Hinweis:<br />
Insoweit wird auf die Ausführungen unter V. Entscheidungen zum Unfallversicherungsrecht (1. Umfang des<br />
Versicherungsschutzes bei betrieblichen Veranstaltungen), hier der Hinweis a.E. verwiesen.<br />
2. Unwirksamkeit der Erhebung eines Rechtsschutzbegehrens beim BSG mittels einfacher E-Mail<br />
In <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1517 f. (s. auch <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1487) ist über Risiken im Zusammenhang mit elektronischer<br />
Berufungs- und Revisionseinlegung berichtet worden.<br />
Das BSG hat durch Beschluss vom 22.2.2017 (B 1 KR 19/16 S) entschieden, dass Rechtsbehelfe beim BSG<br />
nicht durch einfache E-Mail wirksam eingelegt werden können. Rechtsschutzbegehren sind<br />
grundsätzlich an das BSG schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle<br />
zu erheben, soweit das SGG nicht Schriftform erfordert (so z.B. in § 160a Abs. 1 S. 3 SGG). § 65a Abs. 1<br />
SGG lässt – anstelle der Schriftform – die Übermittlung von elektronischen Dokumenten nach<br />
Maßgabe von Rechtsverordnungen des Bundes oder des jeweiligen Landes zu. Für Dokumente,<br />
die einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleichstehen, ist eine qualifizierte elektronische<br />
Signatur vorzuschreiben, § 65a Abs. 1 S. 3 SGG. Für das BSG lässt die Verordnung über den<br />
elektronischen Rechtsverkehr beim BSG vom 18.12.2006 (BGBl I, S. 3219) die Übermittlung elektronischer<br />
Dokumente zu. § 2 dieser Verordnung bestimmt: „Die für Dokumente, die [wie vorliegend die<br />
Beschwerde] einem schriftlich zu unterzeichnenden Schriftstück gleichstehen, erforderliche qualifizierte elektronische<br />
Signatur muss dem Profil ISIS-MTT entsprechen und das ihr zugrunde liegende Zertifikat muss durch<br />
das Gericht prüfbar sein. Eine einfache E-Mail erfüllt diese Voraussetzungen nicht.“ Der Senat betont<br />
gleichzeitig, dass vom Formerfordernis einer qualifizierten elektronischen Signatur auch nicht ausnahmsweise<br />
abgesehen werden kann, selbst wenn sich aus E-Mails oder begleitenden Umständen<br />
die Urheberschaft und der Wille, das elektronische Dokument in den Verkehr zu bringen, hinreichend<br />
sicher ergibt. Prüfungsmaßstab ist hier ausschließlich § 65a SGG bzw. die entsprechende Rechtsverordnung.<br />
Ein die dortigen Voraussetzungen einschränkender Rückgriff auf Grundsätze, die für<br />
originär schriftlich eingelegte Rechtsmittel entwickelt wurden, kommt somit nicht in Betracht (so<br />
bereits BSG, Urt. v. 12.10.2016 – B 4 AS 1/16 R).<br />
3. Nichtzulassungsbeschwerde/Verfahrensfehler: Ablehnung eines Beweisantrags ohne<br />
„hinreichende“ Begründung<br />
Zu berichten ist hier über eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde, die u.a. auf die Verletzung der<br />
tatrichterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gestützt wurde (BSG, Beschl. v. 30.3.2017 – B2U<br />
181/16 B, ASR 2017, 169).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 41
Fach 18, Seite 1570<br />
Rechtsprechungsübersicht – 1. Hj. 2017<br />
Sozialrecht<br />
Der Kläger behauptete einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den bei ihm bestehenden<br />
psychoreaktiven Gesundheitsstörungen und dem Unfallereignis. Der erstinstanzlich beauftragte Sachverständige<br />
bejahte dies, weshalb das SG der Klage im Wesentlichen stattgab. Die Beklagte legte im<br />
Berufungsverfahren eine beratungsärztliche nervenärztliche Stellungnahme vor, die zum gegenteiligen<br />
Ergebnis kam. Unter Hinweis auf diese Stellungnahme und mit der Begründung, das erstinstanzlich<br />
eingeholte Gutachten sei im Ergebnis nicht überzeugend, hat das LSG das erstinstanzliche Urteil<br />
aufgehoben und die Klage abgewiesen. Dem zu Protokoll erklärten, also bis zuletzt aufrecht erhaltenen<br />
Beweisantrag des Klägers, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen zur Frage der<br />
Ursächlicheit des Arbeitsunfalls für das bestehende psychische Krankheitsbild, ist das LSG nicht gefolgt<br />
– ohne hinreichende Begründung, wie das BSG entschieden hat.<br />
Dabei ist nach Auffassung des BSG unerheblich, ob das LSG die Ablehnung des Beweisantrags<br />
hinreichend begründet hat. Allein kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist,<br />
den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, obes<br />
sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Soweit der Sachverhalt nicht<br />
hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur<br />
Verfügung stehen, Gebrauch machen. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn<br />
• es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt (Unerheblichkeit des<br />
Beweismittels),<br />
• diese Tatsache (zugunsten des Beweisführenden) als wahr unterstellt werden kann,<br />
• das Beweismittel unzulässig, völlig ungeeignet oder unerreichbar ist,<br />
• die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder<br />
• die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist.<br />
Die Ablehnung des Beweisantrags, weil das Fehlen des behaupteten Ursachenzusammenhangs<br />
aufgrund des Verwaltungsgutachtens bereits erwiesen sei, genügt diesen Anforderungen nicht und<br />
rechtfertigt die fehlende Zuziehung eines weiteren Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem<br />
Gebiet nicht.<br />
Zwar können Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m.<br />
§§ 415 ff. ZPO) verwertet werden und auch alleinige Entscheidungsgrundlage sein. Dies setzt einmal<br />
voraus, dass das Verwaltungsgutachten in Form und Inhalt den Mindestanforderungen entspricht, die<br />
an Sachverständigengutachten zu stellen sind. Ferner muss das LSG im Rahmen von § 128 Abs. 1 S. 2<br />
SGG erkennen lassen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten<br />
verwertet hat und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises bewusst gewesen sind, zu denen<br />
beispielsweise die fehlende Verantwortlichkeit des Gutachters gegenüber dem Gericht (§ 118 Abs. 1 S. 1<br />
SGG; §§ 404a, 407a ZPO), die fehlende Strafandrohung (§ 153 ff. StGB) und die fehlende Möglichkeit der<br />
Beeidigung (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG; § 410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG; § 406<br />
ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht (§§ 116 S. 2, 118 Abs. 1 S. 1 SGG; §§ 397, 402, 411 Abs. 4<br />
ZPO; § 62 SGG) zählen. Auf alle diese Aspekte ist das Berufungsgericht nach Auffassung des BSG nicht<br />
(hinreichend) eingegangen.<br />
Hinweis:<br />
Zum notwendigen Inhalt der Beschwerdebegründung, mit der Verstöße gegen die tatrichterliche<br />
Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt werden s. auch BSG, Beschl. v. 27.6.2017 – B 5 R 38/17 B. Im<br />
dortigen Fall blieb die Nichtzulassungsbeschwerde aufgrund unzureichender Begründung erfolglos.<br />
Ferner hat der 9. Senat des BSG im Berichtszeitraum entschieden, bei zwei sich widersprechenden<br />
Gutachtenergebnissen bestehe nicht generell eine Verpflichtung zu Einholung eines sog. Obergutachtens,<br />
sondern nur dann, wenn das Gericht sich keinem der bereits vorliegenden Gutachten<br />
anschließen kann (BSG, Beschl. v. 16.2.2017 – B 9 V 48/16 B, Rn 13).<br />
42 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Steuerrecht Fach 20, Seite 639<br />
Umsatzsteuerpflicht juristischer Personen öffentlichen Rechts<br />
Umsatzsteuerrecht<br />
Unternehmereigenschaft juristischer Personen des öffentlichen Rechts<br />
Von Dipl.-Kfm. DETLEF PIESKE-KONTNY, Berlin<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
II. Rechtslage vor 2017 (§ 2 Abs. 3 UStG a.F.)<br />
III. Anwendung von EU-Recht<br />
1. Mehrwertsteuersystemrichtlinie<br />
2. Beispiele aus der Rechtsprechung<br />
IV. Neuregelung der Umsatzbesteuerung<br />
(§ 2b UStG)<br />
1. Anwendungsbereich<br />
2. Unternehmereigenschaft<br />
V. Übergangsvorschrift (§ 27 Abs. 22 UStG)<br />
VI. Zusammenfassung<br />
I. Vorbemerkung<br />
Das Steueränderungsgesetz 2015 beendete die jahrelange Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Umsatzbesteuerung<br />
der juristischen Personen des öffentlichen Rechts und passte das Umsatzsteuergesetz an<br />
das EU-Recht an. Tätigkeiten, die sich bisher im Rahmen der (steuerlich unbeachtlichen) Vermögensverwaltung<br />
einer juristischen Person des öffentlichen Rechts bewegten, können nunmehr zu einer<br />
Steuerpflicht führen.<br />
Sofern die juristische Person des öffentlichen Rechts aufgrund der gesetzlichen Neuregelung jetzt als<br />
Unternehmerin zu behandeln ist, ergeben sich für deren gesetzliche Vertreter und Justiziare auch neue<br />
Verpflichtungen. Nach Einschätzung der kommunalen Spitzenverbände führt die gesetzliche Neuregelung<br />
zu einer erheblichen administrativen und finanziellen Mehrbelastung.<br />
Die juristische Person des öffentlichen Rechts muss u.a. ihre Tätigkeiten auf steuerpflichtige Vorgänge<br />
überprüfen, beim Finanzamt eine Steuernummer und USt-Identifikationsnummer für innergemeinschaftliche<br />
Erwerbe beantragen, etwaige Steuerbefreiungstatbestände gem. § 4 UStG ermitteln,<br />
Jahressteuererklärungen und monatliche Umsatzsteuer-Voranmeldungen erstellen und im Falle einer<br />
Steuerschuldnerschaft für bestimmte, an sie im Inland ausgeführte steuerpflichtige Umsätze die<br />
Umsatzsteuer gem. § 13b UStG einbehalten und an das Finanzamt abführen, die Haushaltsplanungen<br />
hinsichtlich abzuführender Umsatzsteuerbeträge, aber auch zu erwartender Vorsteuererstattungen<br />
vom Finanzamt ändern, ihre Mitarbeiter entsprechend schulen sowie bestehende und noch<br />
abzuschließende Verträge hinsichtlich des Umsatzsteuer-Ausweises überprüfen und ggf. ändern.<br />
Nicht zuletzt ergeben sich Änderungen hinsichtlich der Umsatzsteuer und des Leistungsortes gem.<br />
§ 3a UStG auch für einen leistenden Unternehmer im In- und Ausland, soweit es um Verträge mit<br />
juristischen Personen des öffentlichen Rechts geht.<br />
Hierfür bedarf es der Hilfestellung durch fachkundige Rechtsberater.<br />
II. Rechtslage vor 2017 (§ 2 Abs. 3 UStG a.F.)<br />
Nach § 2 Abs. 3 S. 1 UStG a.F. waren juristische Personen des öffentlichen Rechts nur im Rahmen ihrer<br />
Betriebe gewerblicher Art (§§ 1 Abs. 1 Nr. 6; 4 KStG) und ihrer land- oder forstwirtschaftlichen Betriebe<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 43
Fach 20, Seite 640<br />
Umsatzsteuerpflicht juristischer Personen öffentlichen Rechts<br />
Steuerrecht<br />
gewerblich oder beruflich tätig. Die Gesamtheit aller Betriebe gewerblicher Art und aller land- und<br />
forstwirtschaftlichen Betriebe stellte das Unternehmen der juristischen Person des öffentlichen Rechts<br />
dar (vgl. BFH v. 18.8.1988 – V R 194/83, BStBl II 1988, S. 932).<br />
Nur die in diesen Betrieben und Tätigkeitsbereichen ausgeführten Umsätze unterlagen der Umsatzsteuer.<br />
Andere Leistungen waren nicht steuerbar, auch wenn sie nicht in Ausübung öffentlicher Gewalt<br />
bewirkt wurden, es sei denn, die Behandlung als nichtsteuerbar hätte zu größeren Wettbewerbsverzerrungen<br />
geführt (vgl. BFH v. 11.6.1997 – XI R 33/94, BStBl II 1999, S. 418).<br />
Daneben galten zudem die in § 2 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 bis 5 UStG a.F. bezeichneten Tätigkeitsbereiche als<br />
unternehmerische Tätigkeiten im Sinne des Gesetzes.<br />
Hinweis:<br />
Die Anwendung von § 2 Abs. 3 UStG a.F. führte zu erheblichen Rechtsunsicherheiten und Streitigkeiten<br />
mit der Finanzverwaltung, da § 2 Abs. 3 UStG a.F. im Widerspruch zum EU-Recht stand.<br />
III.<br />
Anwendung von EU-Recht<br />
1. Mehrwertsteuersystemrichtlinie<br />
Nach Art. 13 Abs. 1 Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom<br />
28.11.2006 (ABl L 347 2006, 1, zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2016/1065 des Rates zur<br />
Änderung der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Behandlung von Gutscheinen vom 27.6.2016, ABl<br />
L 177 2016, 9, abgekürzt: Mehrwertsteuersystemrichtlinie – MwStSystRL) gelten juristische Personen<br />
des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige, soweit sie Tätigkeiten ausüben oder Leistungen<br />
erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang<br />
mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.<br />
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL sind juristische Personen des öffentlichen Rechts jedoch<br />
als Steuerpflichtige zu behandeln, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren<br />
Wettbewerbsverzerrungen im Wettbewerb mit privaten Wirtschaftsteilnehmern (so EuGH, Urt. v.<br />
19.1.2017 – C-344/15, DStRE 2017, 366) führen würde.<br />
Nach der EuGH-Rechtsprechung ist der Begriff „größere Wettbewerbsverzerrungen“ i.S.d. Art. 4 Abs. 5<br />
Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG (v. 17.5.1977, ABl 1977, L 145, 1, zum 1.1.2007 abgelöst durch Art. 13<br />
Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL) dahingehend auszulegen, dass die Wettbewerbsverzerrungen „mehr als<br />
unbedeutend“ sein müssen (EuGH, Urt. v. 16.9.2008 – C-288/07, Isle of Wight Council u.a., BFH/NV<br />
2009, 108, Ls. 3, Rn 76).<br />
Unter Berücksichtigung von Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL und der dazu ergangenen EuGH-Rechtsprechung<br />
legten der BFH und die Finanzgerichte § 2 Abs. 3 UStG a.F. in ständiger Rechtsprechung<br />
(vgl. BFH v. 20.8.2009 – V R 70/05, BFH/NV 2009, 2077; v. 17.3.2010 – XI R 17/08, BFH/NV 2010, 2359;<br />
v. 15.4.2010 – V R 10/09, BFHE 229, 416; v. 2.3.2011 – XI R 65/07, BFH/NV 2011, 1454; v. 10.11.2011 – VR<br />
41/10, DStR 2012, 348; v. 1.12.2011 – V R 1/11, DStR 2012, 352; v. 13.2.2014 – V R 5/13, BFH/NV 2014, 1159;<br />
v. 5.11.2014 – XI R 42/12, BFH/NV 2015, 294) nur noch EU-rechtskonform aus.<br />
2. Beispiele aus der Rechtsprechung<br />
• Eine Gemeinde ist nach der Entscheidung des Sächsischen Finanzgerichts (v. 7.3.2013 – 6 K 221/12, ZKF<br />
2013, 187) mit dem Betrieb einer Sport- und Freizeithalle als Unternehmerin tätig und erbringt<br />
umsatzsteuerpflichtige Tätigkeiten, wenn sie die Halle entgeltlich dem ortsansässigen Sportverein<br />
und der Nachbargemeinde für den Sportunterricht der dortigen Grundschule überlässt.<br />
• Kann eine als einheitliche Leistung zu beurteilende Gesamtleistung aufgrund von militärischen<br />
Sicherheits- und Geheimhaltungsbestimmungen für einzelne Leistungsbestandteile nicht von<br />
einem privaten Unternehmer erbracht werden, so liegt nach dem Urteil des Finanzgerichts<br />
44 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Steuerrecht Fach 20, Seite 641<br />
Umsatzsteuerpflicht juristischer Personen öffentlichen Rechts<br />
Rheinland-Pfalz vom 22.8.2013 (6 K 1961/09, EFG 2015, 771; Rev. eingelegt unter Az.: V R 48/14) keine<br />
Wettbewerbssituation vor, auch wenn andere Leistungsbestandteile für sich gesehen von privaten<br />
Unternehmern erbracht werden könnten.<br />
• Erfolgt die Überlassung eines Freibads durch eine Stadt auf der Basis eines Pachtvertrags und damit<br />
einer privatrechtlichen Vereinbarung, übt die Stadt gemäß der Entscheidung des Sächsischen<br />
Finanzgerichts vom 16.10.2013 (2 K 1183/13, EFG 2014, 391) eine umsatzsteuerpflichtige wirtschaftliche<br />
Tätigkeit aus und unterhält einen Betrieb gewerblicher Art gem. § 2 Abs. 3 UStG<br />
unabhängig vom Bestehen einer Gewinnerzielungsabsicht und der Beteiligung am allgemeinen<br />
wirtschaftlichen Verkehr.<br />
• Vermietet eine Gemeinde Standflächen bei einer Kirmesveranstaltung auf zivilrechtlicher Grundlage,<br />
handelt sie nach der Entscheidung des BFH vom 13.2.2014 (V R 5/13, BFH/NV 2014, 1159) als<br />
Unternehmerin.<br />
• Errichtet eine juristische Person des öffentlichen Rechts eine Mehrzweckhalle und überlässt diese auf<br />
privatrechtlicher Grundlage an Vereine gegen eine nicht kostendeckende Nutzungspauschale (mit<br />
einem Kostendeckungsgrad von 12,03 %) im Rahmen des Erwachsenensports, handelt sie als<br />
Unternehmerin und ist zum Vorsteuerabzug aus den Herstellungskosten für die Mehrzweckhalle<br />
berechtigt (vgl. FG Baden-Württemberg v. 13.3.2015 – 9 K 2732/13, MwStR 2016, 213; Rev. wurde mit<br />
Urt. v. 28.6.2017 – XI R 12/15, DStR 2017, 1873 als unbegründet zurückgewiesen).<br />
• Eine Dienstleistung wird „gegen Entgelt“ erbracht, wenn zwischen dem Leistenden und dem<br />
Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht und die vom Leistenden empfangene Vergütung<br />
den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (vgl.<br />
EuGH, Urt. v. 12.5.2016 – C-520/14, Gemeente Borsele, MwStR 2016, 492, Rn 24).<br />
Der Umstand, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit zu einem Preis unter oder über dem Selbstkostenpreis<br />
ausgeführt wird, ist unerheblich, wenn es darum geht, einen Umsatz als „entgeltlichen<br />
Umsatz“ zu qualifizieren (BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, DStR 2017, 1873, Rn 33).<br />
• Eine Landesärztekammer ist als juristische Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der sog. externen<br />
Qualitätssicherung Krankenhaus nach der Entscheidung des BFH (Urt. v. 10.2.2016 – XI R 26/13, BFH/NV<br />
2016, 865) nicht unternehmerisch tätig, wenn sie auf öffentlich-rechtlicher Grundlage handelt und ihre<br />
Behandlung als Nichtunternehmerin nicht zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führt.<br />
IV. Neuregelung der Umsatzbesteuerung (§ 2b UStG)<br />
Da § 2 Abs. 3 UStG a.F. nicht dem EU-Recht entsprach, musste die Umsatzbesteuerung von juristischen<br />
Personen des öffentlichen Rechts den Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts angepasst<br />
werden. Durch das Steueränderungsgesetz 2015 vom 2.11.2015 (BGBl I 2015, S. 1834) wurden die<br />
Regelungen zur Unternehmereigenschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts daher in<br />
§ 2b UStG neu gefasst, der seit dem 1.1.2017 anwendbar ist (vgl. BMF-Schreiben v. 16.12.2016 – III C 2-S<br />
7107/16/10001, BStBl I 2016, S. 1451; v. 27.7.2017 – III C 2-S 7106/0:002).<br />
1. Anwendungsbereich<br />
Juristische Personen des öffentlichen Rechts i.S.v. § 2b Abs. 1 UStG sind:<br />
Definition:<br />
Juristische Personen des öffentlichen Rechts i.S.v. § 2b Abs. 1 UStG sind insbesondere die Gebietskörperschaften<br />
(Bund, Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände, Zweckverbände), die öffentlich-rechtlichen<br />
Religionsgemeinschaften, die Innungen, Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern, die<br />
staatlichen Hochschulen und sonstige Gebilde, die aufgrund öffentlichen Rechts eigene Rechtspersönlichkeit<br />
besitzen. Dazu gehören neben Körperschaften auch Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts,<br />
z.B. Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts und Universitätsklinika in der Rechtsform von Anstalten<br />
des öffentlichen Rechts (BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 3).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 45
Fach 20, Seite 642<br />
Umsatzsteuerpflicht juristischer Personen öffentlichen Rechts<br />
Steuerrecht<br />
2. Unternehmereigenschaft<br />
a) Grundsatz<br />
Für die Beurteilung der Unternehmereigenschaft von juristischen Personen des öffentlichen Rechts sind<br />
die allgemeinen Regelungen des § 2 Abs. 1 UStG maßgeblich. Hiernach sind juristische Personen des<br />
öffentlichen Rechts grundsätzlich als Unternehmer anzusehen, wenn sie selbstständig eine nachhaltige<br />
Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen (eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.v. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL)<br />
ausüben. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, welcher Art die entsprechenden Einnahmen sind<br />
(BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 4).<br />
Hinweis:<br />
Soweit juristische Personen des öffentlichen Rechts jedoch Tätigkeiten ausüben, die ihnen im Rahmen der<br />
öffentlichen Gewalt obliegen, gelten sie grundsätzlich nicht als Unternehmer i.S.v. § 2 UStG, auch wenn<br />
sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.<br />
b) Größere Wettbewerbsverzerrungen<br />
Sofern die Behandlung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts als Nichtunternehmer zu<br />
größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde, ist sie gem. § 2b Abs. 1 S. 2 UStG als Unternehmerin<br />
zu behandeln (vgl. schon oben III.).<br />
aa) Wettbewerb<br />
Verzerrungen des Wettbewerbs können nur stattfinden, wenn überhaupt Wettbewerb besteht. Dies<br />
setzt voraus, dass die von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts auf öffentlich-rechtlicher<br />
Grundlage erbrachte Leistung gleicher Art auch von einem privaten Unternehmer erbracht werden<br />
könnte. Die Tätigkeit der juristischen Person des öffentlichen Rechts muss also marktrelevant sein<br />
(BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 23) und darf sich nicht nur auf einen lokalen Markt beziehen<br />
(vgl. EuGH, Urt. v. 16.9.2008 – C-288/07, Isle of Wight Council u.a., BFH/NV 2009, 108).<br />
bb) Wettbewerbsgrenze<br />
Größer sind Wettbewerbsverzerrungen bereits dann, wenn sie nicht lediglich unbedeutend sind (BMF-<br />
Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 31, m. Hinw. auf EuGH, Urt. v. 16.9.2008 – C-288/07, a.a.O.).<br />
Keine größeren Wettbewerbsverzerrungen liegen gem. § 2b Abs. 2 UStG vor, wenn der von einer<br />
juristischen Person des öffentlichen Rechts aus gleichartigen Tätigkeiten erzielte Jahresumsatz 17.500 €<br />
nicht überschreitet oder vergleichbare, auf privatrechtlicher Grundlage erbrachte Leistungen – ohne<br />
Recht auf Verzicht auf Steuerbefreiungen gem. § 9 UStG – einer Steuerbefreiung unterliegen.<br />
Für die Ermittlung der Wettbewerbsgrenze ist der Umsatz der einzelnen gleichartigen Tätigkeiten im<br />
Kalenderjahr zu berücksichtigen. Es ist auf die voraussichtlich zu vereinnahmenden Beträge abzustellen.<br />
Maßgebend ist die zu Beginn eines Jahres vorzunehmende Beurteilung der Verhältnisse für das laufende<br />
Kalenderjahr. Ist danach ein voraussichtlicher Umsatz von nicht mehr als 17.500 € zu erwarten, ist dieser<br />
Betrag auch dann maßgebend, wenn der tatsächliche Umsatz im Laufe des Kalenderjahres die Grenze von<br />
17.500 € überschreitet.<br />
Hinweis:<br />
Nimmt die juristische Person des öffentlichen Rechts die Tätigkeit, für die das Vorliegen einer größeren<br />
Wettbewerbsverzerrung zu prüfen ist, im Laufe des Kalenderjahres neu auf, ist allein auf den voraussichtlichen<br />
Umsatz des laufenden Kalenderjahres abzustellen. Eine Umrechnung auf einen fiktiven Jahresumsatz<br />
unterbleibt (BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 34).<br />
cc) Juristischen Personen öffentlichen Rechts vorbehaltene Leistungen<br />
Sofern eine Leistung an eine andere juristische Person des öffentlichen Rechts ausgeführt wird, liegen<br />
keine größere Wettbewerbsverzerrungen gem. § 2b Abs. 3 UStG vor, wenn<br />
46 <strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018
Steuerrecht Fach 20, Seite 643<br />
Umsatzsteuerpflicht juristischer Personen öffentlichen Rechts<br />
• die Leistungen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nur von juristischen Personen des öffentlichen<br />
Rechts erbracht werden dürfen oder<br />
• die Zusammenarbeit durch gemeinsame spezifische öffentliche Interessen bestimmt wird, was regelmäßig<br />
anzunehmen ist, wenn die Leistungen aufgrund langfristiger öffentlich-rechtlicher Vereinbarungen<br />
erfolgen, dem Erhalt der öffentlichen Infrastruktur dienen, die Leistungen ausschließlich<br />
gegen Kostenerstattung erbracht werden und der Leistende gleichartige Leistungen im Wesentlichen<br />
an andere juristische Personen des öffentlichen Rechts erbringt.<br />
Hinweis:<br />
Unter den Begriff „Erhalt der öffentlichen Infrastruktur“ fällt auch deren Förderung, Ausbau und Errichtung.<br />
Die öffentliche Infrastruktur umfasst alle Einrichtungen materieller und institutioneller Art, die für die<br />
Ausübung öffentlicher Gewalt i.S.v. § 2b Abs. 1 UStG notwendig sind. Hierzu gehören die materielle bzw.<br />
technische und digitale Infrastruktur (z.B. Verkehrswegenetz, Entsorgung von Wasser), die immaterielle<br />
bzw. soziale Infrastruktur (z.B. Bildungswesen, innere Sicherheit, öffentlich-rechtlicher Rundfunk) und die<br />
institutionelle Infrastruktur (z.B. Rechtsordnung, Wirtschaftsordnung, Sozialordnung). Als öffentliche Infrastruktur<br />
i.S.d. § 2b Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b UStG sind bei kirchlichen juristischen Personen des öffentlichen<br />
Rechts insbesondere die Verkündigung und Seelsorge sowie die dafür genutzten öffentlichen Sachen<br />
anzusehen, so neben Kirchen und Kapellen z.B. auf Kirchengrundstücken befindliche Pfarrgebäude (Pastorat)<br />
und Gemeindehäuser (BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 48).<br />
dd) Fazit<br />
Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2b Abs. 3 UStG vor, greift § 2b Abs. 1 S. 1 UStG, wonach<br />
juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht als Unternehmer gelten.<br />
Hinweis:<br />
Hinsichtlich der Leistungen der Vermessungs- und Katasterbehörden bei der Wahrnehmung von Aufgaben<br />
der Landesvermessung und des Liegenschaftskatasters (§ 2b Abs. 4 Nr. 3 UStG) gelten weiterhin die zu § 2<br />
Abs. 3 S. 2 Nr. 4 UStG a.F. ergangenen Verwaltungsanweisungen in Abschnitt 2.11 Abs. 7–11 Umsatzsteuer-<br />
Anwendungserlass (UStAE) gemäß BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 56.<br />
c) Katalogtätigkeiten<br />
Darüber hinaus sind juristische Personen des öffentlichen Rechts gem. § 2b Abs. 4 UStG mit der<br />
Ausübung der im Anhang zur Mehrwertsteuersystemrichtlinie genannten Tätigkeiten (u.a. auf dem<br />
Gebiet des Telekommunikationswesens, der Lieferung von Wasser, Gas, Elektrizität und thermischer<br />
Energie, der Güterbeförderung, der Hafen- und Flughafendienstleistungen, der Personenbeförderung<br />
und der gewerblichen Tätigkeiten der Rundfunk- und Fernsehanstalten) stets als Unternehmer zu<br />
behandeln, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist (vgl. Anhang I – Verzeichnis der<br />
Tätigkeiten i.S.d. Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 3 MwStSystRL).<br />
Der Umfang dieser Tätigkeiten ist dann nicht mehr unbedeutend, wenn die damit erzielten Umsätze<br />
einen Betrag in Höhe von jeweils 17.500 € für die einzelne Tätigkeit übersteigen. Wird die Betragsgrenze<br />
überschritten und liegen die übrigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 UStG vor, ist die juristische Person<br />
des öffentlichen Rechts mit der Ausführung der von § 2b Abs. 4 Nr. 5 UStG erfassten Tätigkeiten stets<br />
Unternehmer im Sinne des UStG (BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 57).<br />
V. Übergangsvorschrift (§ 27 Abs. 22 UStG)<br />
§ 2 Abs. 3 UStG a.F. war auf Umsätze, die nach dem 31.12.2015 und vor dem 1.1.2017 ausgeführt wurden,<br />
gem. § 27 Abs. 22 S. 1 UStG weiterhin anzuwenden. Mit Schreiben vom 27.7.2017 (a.a.O.) weist das BMF<br />
jedoch darauf hin, dass die Finanzverwaltung es nicht beanstandet, wenn die juristische Person des<br />
öffentlichen Rechts stattdessen die von § 2 Abs. 3 UStG a.F. abweichende Rechtsprechung des BFH der<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 1 4.1.2018 47
Fach 20, Seite 644<br />
Umsatzsteuerpflicht juristischer Personen öffentlichen Rechts<br />
Steuerrecht<br />
Besteuerung zugrunde legt, sofern dies einheitlich für das gesamte Unternehmen erfolgt. Eine<br />
Beschränkung auf einzelne Tätigkeitsbereiche oder Leistungen ist dabei jedoch nicht zulässig.<br />
§ 2b UStG ist gem. § 27 Abs. 22 S. 2 UStG auf alle Umsätze anzuwenden, die nach dem 31.12.2016<br />
ausgeführt werden. Die juristische Person des öffentlichen Rechts konnte jedoch gem. § 27 Abs. 22 S. 3<br />
UStG dem Finanzamt gegenüber einmalig erklären, dass sie § 2 Abs. 3 UStG in der am 31.12.2015<br />
geltenden Fassung für sämtliche nach dem 31.12.2016 und vor dem 1.1.2021 ausgeführten Leistungen<br />
weiterhin anwenden will (sog. Optionserklärung).<br />
Hinweis:<br />
Die Optionserklärung war gem. § 27 Abs. 22 S. 5 UStG bis zum 31.12.2016 abzugeben. Eine Beschränkung der<br />
Erklärung auf einzelne Tätigkeitsbereiche oder Leistungen war gem. § 27 Abs. 22 S. 4 UStG nicht zulässig,<br />
ebenso wenig wie die Abgabe der Optionserklärung durch eine einzelne Organisationseinheit oder<br />
Einrichtung der juristischen Person des öffentlichen Rechts für ihren Bereich (z.B. Behörde, Dienststelle,<br />
Betrieb gewerblicher Art oder land- und forstwirtschaftlicher Betrieb, vgl. BMF-Schreiben v. 19.4.2016 –<br />
III C 2-S 7106/07/10012-06, BStBl 2016 I, S. 481).<br />
Im Fall des Zusammenschlusses mehrerer bestehender Körperschaften, von denen nicht alle die<br />
Option wirksam ausgeübt haben, muss die daraus entstehende Körperschaft einheitlich entscheiden, ob<br />
die Rechtsfolgen der Option gelten sollen. Eine Beschränkung auf einzelne Tätigkeiten ist auch in<br />
diesem Fall nicht möglich (BMF-Schreiben v. 19.4.2016, a.a.O.).<br />
Eine nach dem 31.12.2016 neu errichtete juristische Person des öffentlichen Rechts kann wegen des<br />
Ablaufs der gesetzlichen Ausschlussfrist keine wirksame Optionserklärung abgeben (BMF-Schreiben v.<br />
19.4.2016, a.a.O.).<br />
Hinweis:<br />
Die Optionserklärung kann gem. § 27 Abs. 22 S. 6 UStG nur mit Wirkung vom Beginn eines auf die Abgabe<br />
folgenden Kalenderjahres an widerrufen werden. Ein rückwirkender Widerruf zum Beginn eines auf 2016<br />
folgenden Kalenderjahres ist grundsätzlich möglich. Dies gilt allerdings nur für solche Veranlagungszeiträume,<br />
deren Steuerfestsetzung nach den Vorschriften der Abgabenordnung noch änderbar ist, d.h. für die<br />
noch keine materielle Bestandskraft eingetreten ist (BMF-Schreiben v. 16.12.2016, a.a.O., Rn 59).<br />
VI. Zusammenfassung<br />
Soweit juristische Personen des öffentlichen Rechts Tätigkeiten ausüben, die ihnen im Rahmen der<br />
öffentlichen Gewalt obliegen, gelten sie grundsätzlich nicht als Unternehmer i.S.v. § 2 UStG, auch wenn<br />
sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.<br />
Führt die Behandlung einer juristischen Person des öffentlichen Rechts als Nichtunternehmerin jedoch zu<br />
größeren Wettbewerbsverzerrungen, ist sie gem. § 2b Abs. 1 S. 2 UStG als Unternehmerin zu behandeln.<br />
Die Ausübung bestimmter Tätigkeiten durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, u.a. auf dem<br />
Gebiet des Telekommunikationswesen, der Lieferung von Wasser, Gas, Elektrizität und thermischer<br />
Energie, der Güterbeförderung, der Hafen- und Flughafendienstleistungen, der Personenbeförderung<br />
oder der gewerblichen Tätigkeiten der Rundfunk- und Fernsehanstalten, ist jedoch stets unternehmerisch,<br />
sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.<br />
Bei rechtzeitiger Ausübung des Optionsrechts gem. § 27 Abs. 22 UStG vor dem 31.12.2016 gilt § 2 Abs. 3<br />
UStG in der am 31.12.2015 geltenden Fassung weiterhin für sämtliche nach dem 31.12.2016 und vor dem<br />
1.1.2021 ausgeführten Leistungen.<br />
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