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FernUni Perspektive | Ausgabe Winter 2017

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<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong> Seite 9<br />

Antrittsvorlesung Prof. Katharina Walgenbach<br />

Bildungsprivilegien unter Druck<br />

Kann man Anfang des 21. Jahrhunderts<br />

noch von Bildungsprivilegien<br />

sprechen? Wie diese unter Druck geraten,<br />

war jetzt Thema der Antrittsvorlesung<br />

von Prof. Dr. Katharina<br />

Walgenbach. Die Wissenschaftlerin<br />

leitet seit zwei Jahren das Lehrgebiet<br />

Bildung und Differenz an der Fern-<br />

Universität in Hagen und baut das<br />

Thema Bildungsprivilegien als Forschungsschwer-<br />

punkt aus. „Dabei<br />

geht es mir um einen<br />

Wechsel der<br />

<strong>Perspektive</strong>: Nicht<br />

Bildungsbenachteiligung<br />

steht im Mittelpunkt, sondern<br />

Bildungsprivilegien“, sagt Katharina<br />

Walgenbach.<br />

Grundlage ihrer Forschung sind Studien<br />

von Pierre Bourdieu. Der französische<br />

Soziologe fand in den 1960er<br />

Jahren heraus, dass bildungsprivilegierte<br />

Studierende ihren eigenen Bildungserfolg<br />

auf Talent oder Begabung<br />

zurückführten, nicht aber auf<br />

privilegierte Startbedingungen.<br />

Öffnung der Hochschulen<br />

Seitdem ist viel in Bewegung geraten.<br />

Die Bildungsreformen in<br />

Deutschland haben zu einer gestiegenen<br />

Bildungsbeteiligung beigetragen.<br />

In allen sozialen Milieus ist das<br />

Bildungsniveau gestiegen. Die Quote<br />

der Studienberechtigten lag im<br />

Jahr 2016 bei 52 Prozent.<br />

„Bildungsprivilegien sind Anfang des 21. Jahrhunderts<br />

unter Druck geraten.“<br />

„Das Abitur hat sich von einem exklusiven<br />

Bildungstitel zu einem Massenzertifikat<br />

gewandelt“, sagt Katharina<br />

Walgenbach. Hinzu kommen<br />

der technische Fortschritt und<br />

der gesellschaftliche Strukturwandel.<br />

Alle diese Tendenzen tragen zu<br />

einer Öffnung der höheren Bildung<br />

bei, „wie wir sie an der <strong>FernUni</strong>versität<br />

täglich in der Lehre erleben“,<br />

sagt Walgenbach. Darüber hinaus<br />

öffnen sich die Hochschulen gegenüber<br />

neuen Zielgruppen wie zum<br />

Beispiel Beruflich Qualifizierten, denen<br />

ein Studium auch ohne Abitur<br />

erleichtert wird. Bestes Beispiel ist<br />

hier das Förderprogramm „Aufstieg<br />

durch Bildung: offene Hochschulen“<br />

des Bundesministeriums für Bildung<br />

und Forschung (BMBF), das von der<br />

<strong>FernUni</strong> wissenschaftlich begleitet<br />

wird. Die Folge: „Bildungsprivilegien<br />

sind Anfang des 21. Jahrhunderts<br />

unter Druck geraten“, fasst Walgenbach<br />

zusammen.<br />

Unsichtbare Ressource<br />

Im Fokus ihrer Forschung steht ein<br />

bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG)<br />

beantragtes Projekt<br />

zu Bildungsprivilegien<br />

als unsichtbare<br />

Ressource.<br />

„Inwiefern<br />

stellen Bildungsprivilegien für Studierende<br />

der oberen sozialen Milieus<br />

nach wie vor eine unsichtbare<br />

Ressource dar?“, lautet die zentrale<br />

Forschungsfrage. Geplant sind problemzentrierte<br />

Interviews mit Studierenden<br />

der Musikwissenschaft,<br />

Medizin und Betriebswissenschaft.<br />

Prof. Katharina Walgenbach<br />

In einem zweiten Projekt geht es um<br />

Eltern unter Druck und Humanistische<br />

Gymnasien als Refugien für Bildungsprivilegien:<br />

Wie geraten Gymnasien<br />

im Kontext der Etablierung<br />

neuer Schulformen unter Druck und<br />

wie legitimieren sie sich?<br />

Prof. Katharina Walgenbach (2.v.li.) nach ihrer Antrittsvorlesung mit Rektorin Prof.<br />

Ada Pellert (2.v.re.), Kanzlerin Regina Zdebel und Dekan Prof. Frank Hillebrandt.<br />

(Foto: <strong>FernUni</strong>versität)<br />

Des Weiteren möchte Katharina<br />

Walgenbach das Forschungsfeld<br />

Hochschule und Diversität stärker<br />

fokussieren. Dazu hat sie ab Sommer<br />

2018 eine Nachwuchsforschergruppe<br />

von der Hans-Böckler-Stiftung bewilligt<br />

bekommen.<br />

Zwei Rufe abgelehnt<br />

Ihre Forschungsinteressen sieht sie<br />

im Kontext der <strong>FernUni</strong> hervorragend<br />

aufgehoben. „Die Idee der<br />

Chancengerechtigkeit im Feld der<br />

universitären Bildung gehört zum<br />

Gründungsnarrativ der <strong>FernUni</strong>versität.<br />

Was liegt also näher, als<br />

meine Forschungsvorhaben zu Bildung<br />

und sozialer Ungleichheit Anfang<br />

des 21. Jahrhundert in genau<br />

dieser Bildungsinstitution zu verorten?“,<br />

betonte Katharina Walgenbach<br />

zum Abschluss ihrer Antrittsvorlesung.<br />

Dazu passt auch, dass<br />

sie zuletzt zwei Rufe der Universitäten<br />

Duisburg-Essen und Wien abgelehnt<br />

hat, um Lehre und Forschung<br />

an der <strong>FernUni</strong>versität fortführen zu<br />

können.<br />

can<br />

Antrittsvorlesung Prof. André Schulz<br />

Vom Gitternetz zum Objekt<br />

Zirkel, Geodreieck und Lineal – daran<br />

denken viele beim Wort „Geometrie“.<br />

Für seine wissenschaftliche<br />

Tätigkeit an der <strong>FernUni</strong>versität in<br />

Hagen greift Prof. Dr. André Schulz<br />

auf exaktere Mittel zurück: Er und<br />

sein Team vom Lehrgebiet Theoretische<br />

Informatik, das er seit 2015<br />

leitet, nutzen moderne Rechensoftware<br />

und Algorithmen, um geometrische<br />

Objekte zu visualisieren.<br />

Bei seiner Antrittsvorlesung zeigte<br />

der Wissenschaftler jetzt einen<br />

Ausschnitt seiner Arbeit. Mit dem<br />

Vortragsthema verwies Prof. Schulz<br />

auf ein mathematisches Problem,<br />

für das die Forschung bislang keine<br />

vollständig befriedigende Lösung<br />

finden konnte: „Wie zeichnet man<br />

ein Polyeder?“<br />

Gemeint sind keine Zeichnungen<br />

mit Bleistift auf Millimeterpapier:<br />

André Schulz ist Algorithmen auf<br />

der Spur, die zweidimensionale Graphen<br />

zu dreidimensionalen Körpern,<br />

sogenannten Polyedern, umformen.<br />

„Polyeder sind elementare<br />

geometrische Objekte, die bereits<br />

seit der Antike untersucht werden“,<br />

erklärt der Forscher. Viele Beispiele<br />

solcher Gebilde sind aus dem Mathematikunterricht<br />

bekannt – etwa<br />

Pyramiden, Würfel oder Quader.<br />

Prof. André Schulz hält das Modell eines Polyeders in den Händen.<br />

(Foto: <strong>FernUni</strong>versität)<br />

Sie weisen also ausschließlich ebene<br />

Flächen auf. Auch komplexe Objekte<br />

wie das Rhombendodekaeder<br />

mit zwölf viereckigen Flächen zählen<br />

zu den Polyedern.<br />

Kompakte Körper als Ziel<br />

Die Graphen, von denen André<br />

Schulz‘ Überlegungen ausgehen,<br />

kann man sich als „Gitternetze“<br />

vorstellen. Tatsächlich erinnert ihr<br />

Aussehen vage an auf dem Boden<br />

ausgebreitete Fischernetze. Von solchen<br />

Gittern auf einen dreidimensionalen<br />

geometrischen Körper zu<br />

schließen, ist nicht einfach: „Graphen<br />

enthalten ausschließlich kombinatorische<br />

Daten über die Struktur<br />

eines Objektes, also zum Beispiel<br />

Informationen darüber, welche Flächen<br />

wie miteinander ‚verklebt‘<br />

sind“, erklärt Schulz. „Was fehlt,<br />

sind die geometrischen Daten, also<br />

die Werte der einzelnen Koordinaten.“<br />

So kann man zwar von einem<br />

Gitternetz auf eine Pyramide<br />

abstrahieren. Doch darüber, wie<br />

groß oder klein diese wäre und<br />

ob sie eher „wohlproportioniert“<br />

oder völlig asymmetrisch geformt<br />

sein würde, gibt der Graph keine<br />

Auskunft.<br />

Ziel der Forschung ist, einen Algorithmus zu finden, der aus<br />

einem Gitternetz (li.) ein kompaktes, „wohlgeformtes“<br />

Polyeder (re.) macht. (Grafik: André Schulz)<br />

Das hat sichtbare Folgen für den<br />

mathematischen Anwendungsfall:<br />

Auf Grundlage eines „flachen“ Gitternetzes<br />

kann ein dreidimensionales<br />

Objekt erstellt werden, dieses<br />

nimmt aber teils überbordende<br />

Ausmaße an. Die Visualisierung des<br />

Körpers am PC-Monitor sieht dann<br />

unter Umständen besonders langgezogen<br />

oder gestaucht aus, was<br />

Schulz nicht zufriedenstellt: „Unser<br />

Ziel ist, ein kompaktes Polyeder<br />

zu realisieren. Zuerst müssten dafür<br />

die Koordinaten, die aus dem Algorithmus<br />

hervorgehen, ganzzahlig<br />

und möglichst klein werden –<br />

schon weil so komplizierte Zahlen<br />

wie ‚Pi‘ einen zu hohen Rechenaufwand<br />

bedeuten“, so der Forscher.<br />

„Erst wenn wir diesen Schritt geschafft<br />

haben, können wir weitere<br />

Wünsche an das Verfahren äußern,<br />

damit die Polyeder noch ‚schöner‘<br />

werden.“<br />

Geometrie in der Informatik<br />

Die Suche nach der besten Art, Polyeder<br />

zu zeichnen, ist mehr als ein<br />

mathematisches Gedankenspiel.<br />

„Die Frage ist elementar für Informatiker<br />

wie Mathematiker und die<br />

Geometrie in fast jedem ihrer Teilgebiete<br />

präsent“, betont Schulz. Jeder<br />

Fortschritt könnte somit auch<br />

die moderne Informationstechnik<br />

ein Stück voranbringen: „Geometrie<br />

spielt auch dort eine Rolle, wo<br />

man es nicht vermuten würde, etwa<br />

beim Thema ‚Big Data‘. Die erhobenen<br />

Daten haben sehr viele Dimensionen,<br />

sodass auch hier geometrische<br />

Algorithmen zum Einsatz<br />

kommen. Diese helfen dann zum<br />

Beispiel, gesammelte Bewegungsdaten<br />

mit ihren vielen Parametern<br />

in eine einfachere Struktur mit weniger<br />

Dimensionen zu übertragen.“<br />

Aktuell wird das Forschungsprojekt<br />

„Graphzeichnen mit niedriger<br />

visueller Komplexität“ im Lehrgebiet<br />

Theoretische Informatik von<br />

der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG) gefördert. Hierin geht<br />

es um zweidimensionales Zeichnen<br />

auf Basis von Graphen. br

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