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soziologie heute Februar 2010

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<strong>Februar</strong> <strong>2010</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 35<br />

sondern die Kräfte-Verhältnisse, in die<br />

jeder Sprecher verwoben ist und in deren<br />

Rahmen er sich bewegt.<br />

Besonderes Augenmerk innerhalb des<br />

Werkes Foucaults verdient demnach<br />

der für die Semiotik wichtige Begriff<br />

des Dispositivs. „Dispositiv“ heißt<br />

nach Foucault eine Diskursformation,<br />

in der Macht, Recht und Wahrheit<br />

verknüpft und Praktiken institutionalisiert<br />

sind, die menschliches Begehren<br />

(désir) und gesellschaftliche Not (urgence)<br />

befriedigen. Sex gilt Foucault<br />

als Beispiel eines solchen Dispositivs,<br />

die Justiz ist ein anderes. Im Falle der<br />

Justiz etwa formt das Dispositiv die<br />

Gesamtheit der modernen rechtsstaatlichen<br />

Pflichten. Es gibt dem Rechtszeichen<br />

seinen aktuellen Inhalt. Zwar sind<br />

Macht, Recht und Wahrheit abstrakt<br />

zu unterscheiden, aber institutionell<br />

wirken sie zusammen. Macht schafft<br />

die Handlungsdisposition, Recht verpflichtet<br />

zur konkreten Aktion, und<br />

Wahrheit orientiert diese Pflichten mit<br />

der Folge, dass wir von der Macht gezwungen<br />

werden, die Wahrheit zu produzieren;<br />

sie fordert es, sie braucht sie,<br />

um zu funktionieren: wir müssen die<br />

Wahrheit sagen, wir sind gezwungen<br />

oder dazu verurteilt, die Wahrheit zu<br />

bekennen oder sie zu finden. Rechtsregeln,<br />

Machtmechanismen und Wahrheitswirkungen<br />

vereinheitlichen sich<br />

im juristischen „Dreieck“, in dem von<br />

einer Seite Handlungen befohlen, auf<br />

der anderen für diese Befehle Grenzen<br />

gesetzt und von einer dritten Seite<br />

Grenzen wie Befehle auf ihren wahren<br />

Inhalt nach der wirklichen Sachlage<br />

kontrolliert werden.<br />

Die Vernetzung der drei Diskurse des<br />

Rechts, der Macht und der Wahrheit<br />

führt dazu, dass in der modernen Jurisprudenz<br />

keiner mehr „rein“ anzutreffen<br />

ist. Die Macht tritt rechtsförmig<br />

auf, nicht „blank“, und das Machtinteresse<br />

im Recht ist darauf gerichtet,<br />

die Wahrheit zu finden. Wir müssen die<br />

Wahrheit sagen und sind der Wahrheit<br />

unterworfen auch in dem Sinne, dass<br />

die Wahrheit das Gesetz macht, dass<br />

sie den wahren Diskurs produziert, der<br />

- zumindest teilweise - selbst Machtwirkungen<br />

bestimmt, übermittelt, vorantreibt.<br />

In diesem Zusammenhang gehören<br />

Foucaults Überlegungen, ob die Institution<br />

des Gefängnisses auch wirklich<br />

eine humanere Form von Bestrafung<br />

als die Folter darstellt. Besonderes<br />

Interesse widmet er den Disziplinierungsmaßnahmen<br />

der Gesellschaft,<br />

etwa durch körperliches Training in<br />

Kasernen und Schulen.<br />

Auf Jeremy Benthams Projekt des „Panopticons“<br />

gründet Foucault seine<br />

Theorie von der Umstellung der Strafen.<br />

Führten Körper- und Leibesstrafen<br />

zu Martern, so ersetzt der moderne<br />

Vollzug die Martern durch Zurichtungen<br />

der Disziplin. Die Macht des Panopticons<br />

besteht nicht darin, dass die<br />

Gefangenen gefoltert, sondern dass<br />

sie beobachtet werden. Der zentrale<br />

Wachturm in der Mitte ermöglicht jederzeit<br />

den allseitigen Einblick in die<br />

ringförmig an der Peripherie errichteten<br />

Gefangenengebäude, in denen<br />

sich nicht mehr die amorphe, dicht<br />

gedrängte, ruhelose Masse befindet,<br />

sondern in jeder Minute der Tagesablauf<br />

der Individuen kontrolliert wird.<br />

Während die Gefangenen immer mit einer<br />

Kontrolle rechnen müssen und keine<br />

Privatheit beanspruchen können,<br />

bleibt der Machthaber im zentralen<br />

Turm unsichtbar und darf wählen, wen<br />

er wie lange observiert. Die Befolgung<br />

des Befehls muss nicht mehr durch<br />

ständige Gewaltwirkung und Marterung<br />

erzwungen werden, sondern sie<br />

erfolgt über die „Disziplinierung“ der<br />

Individuen, die Gewalt einschließt,<br />

aber nicht zum augenfälligen Merkmal<br />

macht. Der Befehl ist seitdem das<br />

Scharnier zwischen Machtwillen und<br />

Rechtsform geblieben. Wer etwas will,<br />

befiehlt es, und wenn er von Rechts<br />

wegen als einer eingesetzt ist, der befehlen<br />

darf (sonst wäre er ein Narr),<br />

dann ist das, was er sagt, legitimer<br />

Rechtsbefehl.<br />

Zuletzt sei noch hingewiesen auf die<br />

Nähe Foucault zur Biologie. Die Genetik<br />

hält er als Bestätigung Darwins,<br />

doch weist er die nahe liegende Vermutung<br />

zurück, dass damit die Vorstellung<br />

des Menschen ende, die Rückkehr<br />

zur Tier-Maschine unausweislich<br />

sei. Ein derartiges In-Frage-Stellen des<br />

Menschen erscheint ihm überkommen.<br />

So wie man nun die Zelle wie<br />

eine Rechenmaschine betrachte, der<br />

Begriff des Programms im Mittelpunkt<br />

der Biologie stehe, so sei auch über die<br />

nietzscheanische Dekonstruktion des<br />

Subjekts hinauszugehen.<br />

Foucault lokalisiert seine eigene Arbeit<br />

an derselben Front wie jene der Genetiker,<br />

nämlich dort, wo der Mensch im<br />

Verschwinden begriffen war.<br />

Interessante Werke:<br />

Archäologe des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

1995 (Orig. 1969)<br />

Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978<br />

(Orig. 1966)<br />

Sexualität und Wahrheit, 3 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

1983 ff (Orig. 1977 ff)<br />

Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976 (Orig. 1975)<br />

Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des<br />

Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

1973 (Orig. 1961)<br />

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