E_1939_Zeitung_Nr.051
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- N°51<br />
«Moellermann!»<br />
Moellermann lächelte gutmütig. «Es wird<br />
weiter nichts sein, Fräulein. Er wird aufgegeben<br />
haben.»<br />
«Meinen Sie?» Es klang ganz zaghaft und<br />
weinerlich,<br />
Moellermann stieg von der Brüstung der<br />
Boxe. «Ich geh' zum Zeitnehmerhaus 'rüber,<br />
dort werden sie es wissen!» Und er ging hinter<br />
den Boxen den kleinen Weg zum Zeitnehmerhaus<br />
entlang, das mit allen Teilen der Strecke<br />
telephonisch in Verbindung stand.<br />
Charlotte hockte indessen in einem Winkel<br />
der Boxe auf einigen dort liegenden Ersatzreifen<br />
und hatte die Hände auf die Brust gepresst,<br />
während in ihren grossen, sonst so fest<br />
BRAUNWALD<br />
blickenden Augen ein feuchter Schimmer der<br />
Angst und der Ungewissheit stand.<br />
Es dauerte lange, bis Moellermann zurückkam.<br />
Der Lautsprecher war schneller als<br />
er. Der Lautsprecher sagte, gerade als einige<br />
Wägen vorüberrasten, so dass man es nur undeutlich<br />
verstehen konnte: «Wagen Nummer<br />
fünf bei Kilometerstein dreizehn aus der Bahn<br />
gekommen und...» Der Rest wurde von dem<br />
Geheul der Motoren verschlungen.<br />
Ronny war verunglückt.<br />
Zunächst war dies wie eine Nachricht, die<br />
an die Ohren klang und nicht in das Bewusstsein<br />
einzudringen vermochte, dann aber, einige<br />
Sekunden später, drang es wie ein schneidender,<br />
glühender Stahl mitten in das Herz.<br />
Ronny war verunglückt!<br />
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Und dann wurde es eine jähe und furchtbare<br />
Gewissheit, die gellte: cRonny war verunglückt!»<br />
Ronny hatte, von dem Augenblick, da der<br />
Starter seine Fahne senkte und die Meute<br />
der Wagen losraste, mit einer Art von verbissener,<br />
tierischer Wut hinter dem Steuer gesessen.<br />
Er sah vor sich die gerade Rennstrecke<br />
und hörte hinter und neben sich seine Konkurrenten.<br />
Das Heulen des Motors, dessen entfesselte<br />
Kraft den Wagen bis in die Speichen<br />
des Steuerrades erbeben liess, die pfeifend<br />
über das niedrige und kleine Schutzglas hinwegbrausende<br />
Luft, steigerten diesen Nervenrausch<br />
nur noch mehr.<br />
Er dachte, während er dahinstürmte, in kurzen,<br />
abgerissenen Sätzen, die durch sein Bewusstsein<br />
zuckten. Der Tourenzähler vor ihm<br />
auf dem Spritzbrett hatte seinen Zeiger bedenklich<br />
nahe an dem roten Strich, der anzeigte,<br />
dass noch mehr Umdrehungen dem<br />
Motor gefährlich werden würden. Ronny achtete<br />
nicht darauf. Er fuhr auf Biegen oder<br />
Brechen. So oder so, es musste zu einer Entscheidung<br />
kommen. Als die wilde Jagd der<br />
Wagen an den Ersatzteilboxen vorübersauste,<br />
die als verschwimmender Strich vorbeiflogen,<br />
dachte Ronny an das blonde Mädel, das da<br />
irgendwo sitzen musste. Und an den Brief,<br />
den es jetzt wohl gelesen hatte. Ein paar Zeilen<br />
standen nur in dem Brief, eigentlich nur<br />
ein paar Worte.<br />
Und Ronny beugte den Kopf dem Wind entgegen.<br />
Pfeif, dachte er, pfeif dich tot! Der<br />
blaue und der rote Wagen Vor ihm tanzten<br />
über die Strasse, und Ronny biss die Zähne<br />
zusammen. Er musste noch schneller werden,<br />
anders konnte er nicht das Tempo halten.<br />
Langsam kletterte der Zeiger über die rote<br />
Markierungslinie, der Ton des Motors wurde<br />
anders, er wurde schriller, zorniger, wie der<br />
eines bis zur höchsten Wut gereizten Tieres.<br />
Ein wenig verringerte sich der Abstand zwischen<br />
dem roten Wagen und ihm. Jetzt kam<br />
bald die Südkurve, die war verdammt gefährlich.<br />
Gas weg! Die Reifen begannen zu schril-<br />
len, die Welt drehte sich wie ein irrsinnig gewordenes<br />
Karussel um sich selber, und der<br />
Wagen frass sich wieder in die lange Gerade<br />
'ein.<br />
Ronny gab wieder Gas. Der Motor schrie<br />
auf und ein paar heisse Oelspritzer brannten<br />
auf der Wange wie glühendes Blei. Die Fuss-<br />
, sohle auf dem Gaspedal fing zu brennen an,<br />
-und der Fuss schmerzte bei dieser glühenden<br />
Hitze, die der Motor ausstrahlte. Der Zeiger<br />
war fünf Striche über der roten Markierungslinie.<br />
Schneller, dachte Ronny, noch schneller,<br />
und wenn die ganze Kiste in Fetzen geht. Was<br />
liegt daran! Was liegt überhaupt an diesem<br />
jämmerlichen Leben?... Und wie nett das<br />
Mädel lachen konnte... Es tat ihm weh, einen<br />
solchen Brief an sie geschrieben zu haben...<br />
Und Ronny sprach vor sich hin: «Ich darf Sie<br />
nicht wiedersehen, Charlotte! Nie!...» Was<br />
für einen Blödsinn er da geschrieben hatte!<br />
Ronny raste wie ein Besessener. Er beobachtete,<br />
dass der Blaue, der bis jetzt die Spitze<br />
gehalten hatte, langsamer wurde und gegen<br />
den roten Wagen zurückfiel. Der wird sauer,<br />
dachte er.<br />
Wieder huschten Tribünen vorbei, ein verschwommener,<br />
schwärzlicher Strich. Die Räder<br />
frassen sich unermüdlich die Bahn entlang.<br />
Jetzt kam gleich die Nordkurve, also, Gas<br />
weg! Der Wagen legte sich in die überhöhte<br />
Kurve, und Ronny hielt das Steuer fest, damit<br />
es nicht seitlich ausbrach. Die Reifen jaulten<br />
leise auf der festgestampften Strasse. Ein paar<br />
Musikfetzen klangen an sein Ohr. Dann lag<br />
die Gerade abermals vor ihm.<br />
Ronny gab Gas, der Motor stöhnte; Lange<br />
wird er es nicht mehr machen, fuhr es Ronny<br />
durch den Sinn. Und er begann zum Motor zu<br />
sprechen. «Das ist deine letzte Fahrt, mein<br />
Junge, benimm dich anständig, zieh dich<br />
ehrenvoll aus der Affäre, so wie das dein<br />
Herr tun wird, hörst du? Halt noch ein wenig<br />
durch. Klapp nicht gleich zusammen. Haltung,<br />
verdammt nochmal!»<br />
Der Zeiger der Uhr wies auf halb vier.<br />
Zwanzig Minuten waren seit dem Start vergangen.<br />
Vor ihm lagen immer noch der blaue<br />
und der rote Wagen. Der rote lag an der<br />
Spitze, der blaue fuhr dicht hinter ihm. In<br />
dem kleinen Rückspiegel vor sich konnte<br />
Ronny einen anderen blauen Wagen entdecken,<br />
der langsam näher und näher kam.<br />
Seine Vorderräder tanzten über die Unebenheiten<br />
der Bahn hinweg, er schien sich in<br />
grossen, pfeilschnellen Sprüngen fortzubewegen.<br />
Wie ein himmelblauer, starker Tänzer,<br />
der mit Ronny spielte, wirkte er. Ronny begann<br />
diesen Verfolger zu hassen. Er musste<br />
ihm entkommen. Er musste noch schneller<br />
werden. Er duckte sich zusammen, stemmte<br />
sich gegen das Steuerrad, als könne er durch<br />
sein Gewicht den Wagen noch mehr beschleunigen.<br />
Aber die Grenze war erreicht. Mehr<br />
leistete der Motor nicht Es war ein Wunder,<br />
dass er überhaupt noch lief.<br />
Der Blaue kam immer näher, Zentimeter um<br />
Zentimeter rückte er heran. In der Südkurre,<br />
die Ronny wie verrückt nahm, dass die Hinterräder<br />
herumschleuderten und eine grauschwarze<br />
Staubwolke aufwühlten, gewann er<br />
nochmals kurz an Terrain, auf der nun folgenden<br />
Geraden konnte er dem blauen Verfolger<br />
nicht mehr entrinnen. Als er mit ihm<br />
kurz vor der Nordkurve auf gleicher Höhe<br />
lag, glaubte er, dass der Fahrer ihm höhnisch<br />
zulächelte. Die dunklen Brillengläser, die seine<br />
Augen verbargen, und die Windkappe Hessen<br />
ihn wie ein bösartiges Insekt mit Stielaugen<br />
erscheinen. Langsam zog er vorbei.<br />
Es ist aus, dachte Ronny, und nahm eine Sekunde<br />
den schmerzenden Fuss vom Gaspedal.<br />
Der Motor brach einen Augenblick sein schrilles<br />
Klangkonzert ab, um dann noch wilder<br />
loszuheulen. Die Hitze, die er ausstrahlte,<br />
wurde unerträglich, und der Geruch verbannten<br />
Oels, der aus der Haube kam, drohte ihn<br />
fast zu betäuben.<br />
«Jetzt kommt Herr Singer zu seinem Geld»,<br />
sagte Ronny laut in die höllische Motorenmelodie,<br />
als er wieder in die Gerade bog. Der<br />
Zeiger hatte sich nicht mehr weiter von dem<br />
roten Markierungsstrich entfernt, aber das<br />
Tempo des Wagens war ersichtlich langsamer<br />
geworden. Ronny fühlte deutlich, wie die Maschine<br />
schwerer arbeitete, wie ihr die rasende<br />
Umdrehung, die ihre Triebwerkteile vollführten,<br />
schmerzhaft war.<br />
«Lass nicht gleich nach, alter Junge», sagte<br />
Ronny. «Benimm dich wie ein Gentleman, ein<br />
Gentleman zeigt auch nicht aller Welt, wenn<br />
er nicht mehr weiter kann. Wir werden für<br />
einen guten Abgang sorgen, für dich und für<br />
mich!»<br />
Ronny jagte auf die Ersatzteilboxen zu und<br />
sah schon von weitem die rote Flagge Moellermanns.<br />
Er hob den Arm, zum Zeichen, dass<br />
er das Signal verstanden habe. Die Sonne<br />
stand jetzt tiefer, und ihre Strahlen brannten<br />
nicht mehr so sehr. Ein weiches, gütiges, rötliches<br />
Licht hatte sich über die Bahn gesenkt<br />
und Hess alle Farben wie in Glut aufleuchten.<br />
Ronny hob den Kopf. Er riss die Brille vom<br />
Gesicht und liess den Luftstrom um Nase und<br />
Augen spülen, er riss sich mit-einem Ruck die<br />
weisse Haube ab und liess sich die Haare<br />
durchwühlen.<br />
Eine Sekunde nur ist es, dachte er, eine<br />
kleine Sekunde, die du nicht achtzugeben<br />
brauchst, wo du das Steuer ein bisschen schräg<br />
stellst. Und doch ist es so schwer. Da ist irgendwo<br />
im Gehirn ein kleiner Riegel, der<br />
schnappt ein, wenn du es tun willst, und hält<br />
dich davon zurück. Es erfordert eine verdammte<br />
Kraft, einen idiotischen Willen, damit<br />
der Riegel nicht einschnappt. Wenn ich jetzt<br />
das Steuer fester fasse und die Augen<br />
schliesse ... So etwa... und das Gaspedal<br />
durchtrete und ... dann ... Ronny biss sich<br />
die Lippen blutig. Der Wagen schwankte wie<br />
ein Schiff, irgend jemand schrie auf. In diesem<br />
Augenblick öffnete Ronny ganz weit die<br />
Augen und starrte in die Sonne. Die Sonne<br />
war blutrot und stürzte auf die Erde, mitten<br />
auf Ronny zu. Mit einem fürchterlichen Krachen<br />
wurde es plötzlich dunkel...<br />
Irgendwo, ganz fern, in einer tiefroten<br />
Grotte glaubte Ronny zu liegen.<br />
Und dann wurde es wunderbar still.<br />
«Wird er leben bleiben, Herr Professor ?<br />
Sagen Sie mir nur, wird er leben?»<br />
Professer Deutz schob die goldgeränderte<br />
Brille hoch und sah die junge Dame, die da<br />
blass und zitternd vor ihm stand, aus seinen<br />
etwas melancholischen, guten, braunen Augen<br />
an.<br />
«Liebes Kind, beruhigen Sie sich erst mal.<br />
Ein Prophet bin ich ja schliesslich auch nicht.<br />
So, geben Sie mir mal Ihre Hand. Und nun<br />
setzen wir uns schön hierher. So.»<br />
Und Professor Deutz nahm die junge Dame<br />
und führte sie zum Sofa.<br />
«Herr Professor, ich bitte Sie ...»<br />
Professor Deutz lächelte.<br />
«Haben Sie ihn denn so schrecklich gern?<br />
Sind Sie eine Verwandte?»<br />
«Nein.»<br />
«Ach so», der Professor tätschelte ihre<br />
Hand. «Na, na, nicht gleich weinen. Zum Weinen<br />
ist kein Grund. Wir sind ja noch jung,<br />
nicht?»<br />
Die junge Dame aber weinte, ihr Kopf sank<br />
dem Professor an die Brust.<br />
(Fortsetzung im nächsten Magazin.)