ZAP-2018-07
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<strong>ZAP</strong><br />
Zeitschrift für die Anwaltspraxis<br />
7 <strong>2018</strong><br />
28. März<br />
30. Jahrgang<br />
ISSN 0936-7292<br />
Herausgeber: Rechtsanwalt Dr. Egon Schneider (†), Much • Rechtsanwalt Ekkehart Schäfer, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer<br />
• Rechtsanwalt beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • Rechtsanwalt Martin W. Huff, Köln •<br />
Prof. Dr. Martin Henssler, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln • Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann,<br />
Bremen • Rechtsanwalt und Notar Herbert P. Schons, Duisburg • Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln<br />
} Mit dem <strong>ZAP</strong> Buchreport<br />
Inklusive<br />
<strong>ZAP</strong> App!<br />
Details unter: www.zap-zeitschrift.de/App<br />
AUS DEM INHALT<br />
Kolumne<br />
Warum Mediation? (S. 313)<br />
Anwaltsmagazin<br />
Einreichung von Schutzschriften übergangsweise ohne beA (S. 315) • Strafverteidiger fordern<br />
Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe (S. 318) • Kampf gegen Geldwäsche stockt (S. 319)<br />
Aufsätze<br />
Prütting, Die Mediation und die rechtsberatenden Berufe (S. 335)<br />
Maaß, Grundzüge der Betriebsratswahl (S. 341)<br />
Sartorius, Neuerungen im Sozialrecht (S. 353)<br />
Eilnachrichten<br />
BGH: Anforderungen an die Bestellung eines Betreuers (S. 331)<br />
EuGH: Wirksamkeit von Schiedsklauseln bei Investitionsschutzabkommen (S. 332)<br />
BVerfG: Auslagenerstattung bei Erledigterklärung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (S. 334)<br />
In Zusammenarbeit mit der<br />
Bundesrechtsanwaltskammer
Inhaltsverzeichnis Fach Fach/Seite Heft/Seite<br />
Kolumne – – 313–314<br />
Anwaltsmagazin – – 315–320<br />
Buchreport – – 321–328<br />
Eilnachrichten 1 55–60 329–334<br />
Prütting, Die Mediation und die rechtsberatenden<br />
Berufe 13 2203–2208 335–340<br />
Maaß, Grundzüge der Betriebsratswahl 17 1291–1302 341–352<br />
Sartorius, Neuerungen im Sozialrecht 2017/<strong>2018</strong> 18 1585–1590 353–358<br />
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Redaktionsbeirat<br />
Ass. jur. Dr. Helene Bubrowski, Frankfurt/M. (F 25) • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg (F 9, 21, 22, 22R) • Prof. Dr.<br />
Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. (F 2) • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. (F 6) • RA Dr. Lutz Förster, Brühl (F 12) • RA Dr.<br />
Andreas Geipel, München (F 13) • RA Dr. Peter Haas, Bochum (F 20) • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin (F 24) • RAin Dr.<br />
Annegret L. Harz, München (F 4, 4R, 7) • RA Prof. Dr. Bernd Hirtz, Köln (F 15) • RA Martin W. Huff, Köln (F 23) • RA Daniel Krause,<br />
Braunschweig (F 5) • RAin Dr. Kirstin Maaß, Köln (F 17, 17R) • RA a.D. Ralf Rödel, Málaga (F 19, 19R) • RA Dr. Ulrich Sartorius,<br />
Breisach a.R. (F 18) • RA Volker Simmer (F 3) • RiAG a.D. Prof. Dr. Heinz Vallender, Erftstadt (F 14) • RA Dr. Hubert W. van Bühren,<br />
Köln (F 10) • RiAG a.D. Dr. Wolfram Viefhues, Gelsenkirchen (F 11, 11R) • RA Guido Vierkötter, Neunkirchen-Seelscheid (F 16) • RA<br />
beim BGH Dr. Christian Zwade, Karlsruhe (F 8).<br />
Ständige Mitarbeiter<br />
Prof. Dr. Wilfried Alt, Frankfurt/M. • VorsRiVG Prof. Dr. Bernd Andrick, Gelsenkirchen • RiAG Prof. Dr. Ulf Börstinghaus, Gelsenkirchen<br />
• RiSG Thomas Bubeck, Freiburg • RiOLG a.D. RA Detlef Burhoff, Münster/Augsburg • VorsRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf •<br />
Prof. Dr. Nikolaj Fischer, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Eckhard Flohr, Gasteig/Kirchdorf i.T. • VorsRiLG a.D. Uwe Gottwald, Vallendar •<br />
RA Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, Köln • RA Dr. Peter Haas, Bochum • VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin • RA Dr.<br />
Wolfgang Hartung, Mönchengladbach • Prof. Dr. Martin Henssler, Köln • RA, Justitiar Haus u. Grund Hans Reinold Horst,<br />
Langenhagen • RiAG Ralph Kossmann, Wuppertal • Notar Dr. Hans-Frieder Krauß, Hof • RAuN Dr. Wilhelm Krekeler, Dortmund • RA<br />
Günter Lange, Haltern • RA Dr. Jörg Lauer, Mannheim • PräsSG a.D. RA Dr. Klaus Louven, Geldern • RA Dietmar Mampel, Bonn • RA<br />
Prof. Dr. Volkmar Mehle, Bonn • RA Prof. Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund • RA Kai-Jochen Neuhaus, Dortmund • RA Dr. Mark Niehuus,<br />
Mühlheim a.d.R. • RA Prof. Dr. Hermann Plagemann, Frankfurt/M. • RA Prof. Dr. Hans-Jürgen Rabe, Hamburg • RiOLG a.D. Heinrich<br />
Reinecke, Lehrte • RA beim BGH Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, Karlsruhe • RA Dr. Kurt Reinking, Köln • RA Prof. Dr. Franz Salditt,<br />
Neuwied • RA Dr. Ulrich Sartorius, Breisach a.R. • PräsLG a.D. Kurt Schellhammer, Konstanz • RA Norbert Schneider, Neunkirchen •<br />
RiAG a.D. Kurt Stollenwerk, Bergisch Gladbach • RiAG a.D. Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck, Köln • RiAG Prof. Dr. Heinz Vallender,<br />
Erftstadt • RA Dr. Hubert W. van Bühren, Köln • RA Prof. Dr. Hans-Friedrich Frhr. von Dörnberg, Dresden.<br />
Impressum<br />
Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Annahme zur Veröffentlichung erfolgt<br />
schriftlich. Mit der Annahme überträgt der Autor dem Verlag das ausschließliche Verlagsrecht. Eingeschlossen sind insb. die<br />
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Erscheinungsweise: zweimal im Monat. Bezugspreis: Jährlich 243,- € zzgl. MwSt. und Versandkosten. Der Abonnementsvertrag<br />
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Jahresende erfolgen. Verlag: <strong>ZAP</strong> Verlag GmbH, Rochusstr. 2–4, 53123 Bonn, Telefon: 0228/91911-62, Telefax: 0228/91911-66, E-Mail:<br />
info@zap-verlag.de. Redaktion: RAin Eva Maria Marzinkowski (V.i.S.d.P.) – verantwortliche Redakteurin; Cordula Haak –<br />
Redaktionsassistentin, E-Mail: redaktion@zap-verlag.de.<br />
Druck: Appel & Klinger Druck und Medien GmbH, Schneckenlohe. ISSN 0936-7292
<strong>ZAP</strong><br />
Kolumne<br />
Kolumne<br />
Warum Mediation? – Die Suche nach einer Antwort, auch außerhalb<br />
des rein rechtlichen Denkens<br />
Nehmen wir einmal an, wir wären irgendwo in<br />
Deutschland im Jahre 1805 und Sie wären Duellsekundant.<br />
Das Duell ist vor dem West-Tor Ihrer<br />
Stadt am nächsten Morgen um 4 Uhr angesetzt. Am<br />
Vorabend besucht Sie der Sekundant der anderen<br />
Partei und bittet Sie, den Konflikt durch Rechtsentscheid<br />
zu lösen: „Wie Sie sicher wissen, hat<br />
NAPOLEON letztes Jahr den „Code civil“ erlassen. Das<br />
ist die Verwirklichung der Idee von ROUSSEAU und der<br />
Französischen Revolution, dass „Recht“ nicht mehr<br />
der willkürliche Wille eines feudalen Herrschers ist,<br />
sondern ein „contrat social“ zwischen uns Bürgern.<br />
Streitigkeiten werden nicht mehr mit individueller<br />
Macht gelöst, sondern generell durch Recht entschieden.<br />
Es soll nicht mehr der gewinnen, der<br />
schneller oder treffsicherer schießt, sondern der, der<br />
seinen Rechtsanspruch durchsetzen kann!“<br />
Sie hören sich an, was der andere Sekundant<br />
erzählt, und weisen es von sich: „Diesem neumodischen<br />
Kram traue ich nicht. Ich vertraue auf das,<br />
was sich über Jahrtausende bewährt hat: Wenn<br />
jemand in seiner Ehre verletzt wird, wird die<br />
Sache im Duell gelöst. Wir sehen uns morgen um<br />
4 Uhr!“<br />
Das Duell findet statt und Ihr Mandant erledigt<br />
die Sache kurz und elegant. Sie fühlen sich gut,<br />
aber leider nur noch wenige Jahre. Das Recht<br />
setzt sich als Konfliktlösungsform gegenüber der<br />
Macht durch und in weniger als zehn Jahren<br />
ändert sich Ihre Einkommensgrundlage.<br />
Warum erzähle ich das? Weil es Indizien dafür<br />
gibt, dass wir uns im Moment inmitten eines<br />
neuen Paradigmenwechsels befinden: Wie seinerzeit<br />
das Recht die Macht als Konfliktlösungsmittel<br />
abgelöst hat, ist es zzt. der Interessenausgleich<br />
– unter Juristen hauptsächlich unter<br />
dem Namen Mediation bekannt –, der das Recht<br />
als Konfliktlösungsmittel ablöst. Anstatt die Lösung<br />
in einem vorgeschriebenen Code zu suchen,<br />
der bestimmt, was richtig und was falsch ist, gibt<br />
es immer mehr Menschen, die nicht mehr „Recht“<br />
haben wollen. Sie gehen davon aus, dass sich eine<br />
rechtliche Lösung ökonomisch nicht lohnt, für sie<br />
nicht stimmig ist oder keine kompetente Herangehensweise<br />
darstellt.<br />
Sie glauben das nicht? Wie kommt es dann, dass die<br />
Zugänge zu den erstinstanzlichen Gerichten zwischen<br />
1995 und 2015 um 37 % zurückgegangen sind<br />
(TOMBRINK BRAK-Mitteilungen 2017, 152 f.) und dass<br />
die Rechtsschutzversicherungen in den letzten<br />
zehn Jahren schon Hunderttausende von Streitigkeiten<br />
mit „Telefonmediation“ dem Rechtsmarkt<br />
entzogen haben? ADOLPHSEN spricht von 60 Millionen<br />
Fällen, die bereits von eBay durch „rechtsferne“<br />
Online Dispute Resolution (ODR – Online-Streitbeilegung)<br />
gelöst worden sind (ADOLPHSEN BRAK-<br />
Mitteilungen 2017, 147 f.).<br />
Eine ähnliche Verschiebung von „Recht“ zu „Effizienz“<br />
und „Erfolg“ stelle ich auch in Großkanzleien<br />
fest: Von 100 Anwälten arbeiten vielleicht<br />
noch fünf Anwälte als „Litigator“. 95 Kollegen sind<br />
im Kern Unternehmensberater „im Schatten des<br />
Rechts“: „Unsere Kunden interessieren sich nicht<br />
mehr dafür, was richtig oder falsch ist, sondern<br />
dafür, was effizient ist, und das ist fast nie die<br />
Schlacht vor dem Gericht, sondern eine ökonomisch<br />
ausgewogene Lösung, wo Recht eher eine<br />
untergeordnete Rolle spielt.“<br />
Im jährlichen JUVE-Ranking der besten Anwaltskanzleien<br />
Deutschlands geht es daher nicht<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 313
Kolumne<br />
<strong>ZAP</strong><br />
um die rechtlich beste Lösung, sondern um<br />
Umsatz pro Kanzlei und Berufsträger (UBT).<br />
EIDENMÜLLER hat es mit seinen Überlegungen zu<br />
„Effizienz als Rechtsprinzip: Möglichkeiten und<br />
Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts“<br />
zum Professor in Oxford gebracht. Kollegen haben<br />
vor 20 Jahren in der Schweiz die erste postrechtliche,<br />
primär ökonomisch denkende Steuerberatungsgesellschaft<br />
gegründet und PONSCHAB<br />
die erste reine Mediationskanzlei in Deutschland.<br />
Beide sind außergewöhnlich erfolgreich.<br />
Woher kommt das? Um das zu erklären, ist es<br />
vermutlich sinnvoll, sich etwas mit der evolutionären<br />
Entwicklung der Gesellschaftsformen zu befassen.<br />
Ich verweise hier auf JEAN GEBSER, LAWRENCE<br />
KOHLBERG,CLARE GRAVES,ROBERT KEAGAN,JANE LOEVINGER,<br />
DON BECK,CHRISTOPHER COWAN,KEN WILBER, Y.N. HARARI<br />
und JOSEF DUSS-VON WERDT.<br />
Die erste Form, in der der Homo sapiens in seiner<br />
Zeit als Jäger und Sammler zusammenlebte, war<br />
die Schar. Hier ging es primär ums Überleben<br />
oder Sterben. Mit dem Übergang zum Ackerbau<br />
und der Viehzucht formten die Scharen Stämme.<br />
Es wurde zwischen „dazugehörig“ und „fremd“<br />
unterschieden. Wenn jemand aus dem Stamm<br />
ausgeschlossen wurde, war er „vogelfrei“. Ein<br />
Stamm setzte sich gegen die anderen durch und<br />
dem tribalen System folgte das feudale. Die stärkeren<br />
Karolinger oder Habsburger setzten sich<br />
gegenüber den schwächeren Stämmen durch.<br />
Die feudalen Systeme wurden nach der französischen<br />
Revolution beseitigt: Es sollte in einem<br />
Streit nicht mehr der obsiegen, der stärker ist,<br />
sondern der, der „Recht“ hat (konformistische Gesellschaft).<br />
Mit der Verbreitung der industriellen<br />
Revolution folgte die Meritokratie: Wir folgen<br />
nicht mehr dem, der etwas richtig tut, sondern<br />
dem, der es erfolgreich tut. Dies führte zu einer<br />
Gesellschaft der ökonomisch Erfolgreichen und<br />
Erfolglosen. Die soziale Marktwirtschaft (egalitäre<br />
Gesellschaft) versucht den Ausgleich durch<br />
Umverteilung, es soll für alle stimmen. Dies führte<br />
in Skandinavien zu einem Überborden des<br />
Sozialstaats. Seit den 90er Jahren geht es dort<br />
eher um Kompetenz als um Ausgleich. Die richtige<br />
Person am richtigen Ort. Die Dichotomie ist<br />
nicht mehr eigen/fremd, stark/schwach, richtig/<br />
falsch, erfolgreich/erfolglos, gleich/ungleich, sondern<br />
kompetent/nicht kompetent (integrale Gesellschaft).<br />
In dieser Entwicklung wird bis zum Ende der<br />
konformistischen Phase das Heil in der Befolgung<br />
von äußeren Regeln und Gesetzen gesucht. Mit<br />
dem Beginn der Meritokratie verlagert sich der<br />
Fokus vom Gesetz zum Individuum und mit dem<br />
Aufkommen der egalitären Gesellschaft nach innen,<br />
wo sich die seelischen Motivationen wie<br />
Moral, Bedürfnisse und Interessen befinden. FREUD<br />
lässt grüßen. Immer mehr Menschen wollen nicht<br />
mehr „Recht“ haben, sondern ihre Konflikte entsprechend<br />
ihren Interessen ökonomisch, stimmig<br />
und kompetent lösen. Würde löst Ehre ab.<br />
Bieten wir Anwälte das an oder kennen die<br />
meisten von uns nur das Recht als Konfliktlösungsmittel?<br />
Finden gerade deshalb viele unserer<br />
potentiellen Kunden unser Angebot nicht mehr<br />
attraktiv?: „Die einzigen, die im Rechtsstreit wirklich<br />
gewinnen, seid Ihr Anwälte!“<br />
Was tun? Mein Vorschlag ist, dass wir, und damit<br />
meine ich die große Masse der freiberuflichen Anwälte<br />
in der Stadt und auf dem Land, unser<br />
Dienstleistungsangebot erweitern und uns im Interessenausgleich<br />
(Mediation und Coaching) und<br />
der kooperativen Konfliktberatung weiterbilden. So<br />
sind wir in der Lage, dem Mandanten eine Lösung<br />
seines Konflikts anzubieten, die er von uns schon<br />
heute und in Zukunft vermutlich immer mehr<br />
erwartet. Entweder mit Recht, aber vermutlich<br />
immer seltener, oder mit etwas Post-Juristischem.<br />
Dies entspricht immer mehr dem wachsenden Bedürfnis<br />
nach einer ökonomischen, stimmigen und<br />
kompetenten Konfliktlösung, denn nur „Recht haben“<br />
war früher. Das hat übrigens schon die<br />
Zukunftsstudie „Der Rechtsdienstleistungsmarkt<br />
2030“ des DAV vor fünf Jahren gefordert (S. 179):<br />
„Nicht nur Spezialisierung, sondern eine ganzheitliche<br />
Problemlösung: Das Selbstverständnis von<br />
Kanzleien sollte sich zukünftig neben der Gesetzesanwendung<br />
noch stärker auf eine Beratungs-,<br />
Problemlöser- und Dienstleistungsfunktion ausrichten.“<br />
Tun wir das nicht, ergeht es Vielen von uns<br />
vermutlich ähnlich, wie es vor 200 Jahren den<br />
Duellsekundanten ergangen ist: Ihre Dienstleistung<br />
wird mit der fortschreitenden Evolution der<br />
Gesellschaft obsolet.<br />
Rechtsanwalt und Wirtschaftsmediator<br />
ADRIAN SCHWEIZER, Gersau, Schweiz<br />
314 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Anwaltsmagazin<br />
Einreichung von Schutzschriften<br />
übergangsweise ohne beA<br />
Das besondere elektronische Anwaltspostfach<br />
(beA) ist bekanntlich derzeit offline (vgl. zuletzt<br />
<strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 6/<strong>2018</strong>, S. 267). Daher muss<br />
auch bei der Einreichung von Schutzschriften<br />
zum Schutzschriftenregister momentan auf das<br />
beA verzichtet werden. Die Bundesrechtsanwaltskammer<br />
(BRAK) hat deshalb darauf hingewiesen,<br />
dass die Einreichung derzeit auch noch über<br />
weitere EGVP-Clients sowie über ein Online-<br />
Formular möglich ist (die Onlineformulare sind<br />
über folgende Portale erreichbar: https://schutzschriftenregister.hessen.de/einreichung/onlineformular<br />
und http://www.justiz.de/onlinedienste/schutzschriftenregister/index.php).<br />
Hierfür ist jedoch eine Signaturkarte<br />
zur Erzeugung einer qualifizierten<br />
elektronischen Signatur erforderlich.<br />
Eine ausführliche Erläuterung der Einreichungsmöglichkeiten<br />
findet sich im Handbuch des Schutzschriftenregisters<br />
(online unter https://schutzschriftenregister.hessen.de/sites/schutzschriftenregister.hessen.de/files/handbuch_zssr_of.pdf).<br />
§ 2 Abs. 5 SRV<br />
enthält weitere Regelungen zu sicheren Übermittlungswegen,<br />
bei deren Verwendung auf eine qualifizierte<br />
elektronische Signatur verzichtet werden<br />
kann.<br />
[Quelle: BRAK]<br />
BVerwG sieht sich „erheblich<br />
überlastet“<br />
Das BVerwG in Leipzig sieht sich „erheblich überlastet“.<br />
So äußerte es der Präsident des Gerichts,<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. KLAUS RENNERT, auf der Jahrespressekonferenz<br />
Anfang März anlässlich der Vorstellung<br />
des Geschäftsberichts für 2017.<br />
Den Grund hierfür sieht der Präsident vor allem<br />
im erneut gestiegenen Umfang derjenigen Klageverfahren,<br />
für die das BVerwG in erster und<br />
letzter Instanz zuständig ist. Zu nennen sind hier<br />
zum einen Klagen gegen Vereinsverbote, die der<br />
Bundesinnenminister verhängt hat, zum zweiten<br />
Rechtsschutzersuchen von Ausländern, deren sofortige<br />
Abschiebung ein Landesinnenminister gem.<br />
§ 58a AufenthG angeordnet hat, weil er sie als<br />
Gefährder einstuft, und schließlich und vor allem<br />
Klagen von Betroffenen, aber auch von Umweltverbänden<br />
gegen Behördenentscheidungen, mit<br />
denen große Infrastrukturprojekte genehmigt<br />
werden. Insofern war das BVerwG im Jahr 2017<br />
mit Klagen gegen die Vertiefung der Elbe, gegen<br />
diverse Abschnitte von Hochspannungs-Fernleitungen,<br />
gegen etliche Vorhaben der Bahn zum<br />
Ausbau ihres Schienennetzes sowie gegen mehrere<br />
Autobahnabschnitte befasst. Wegen ihrer<br />
zunehmenden Komplexität bindet die Bearbeitung<br />
dieser Sachen einen ständig wachsenden<br />
Anteil – mittlerweile etwa ein Drittel – der gesamten<br />
richterlichen Arbeitskraft des Gerichts.<br />
Die Beanspruchung des Gerichts in seinem „Kerngeschäft“<br />
als Revisionsgericht ist 2017 im Vergleich<br />
zu den Vorjahren gleich geblieben; die<br />
Eingangszahlen von 2013, 2015 und 2017 waren<br />
praktisch identisch (rund 1.460 Verfahren), die<br />
Jahre dazwischen wiesen leichte Abweichungen<br />
infolge von Sondereffekten auf. Auch bei vielen<br />
Revisionen macht sich allerdings eine zunehmende<br />
Komplexität bemerkbar, für die nicht nur<br />
eine „Verdichtung der Lebensverhältnisse“ verantwortlich<br />
ist, sondern auch eine immer kompliziertere<br />
Gesetzgebung sowohl in Deutschland<br />
als auch in der EU.<br />
Das BVerwG hat diese gestiegenen Anforderungen<br />
auch 2017 mit demselben Personal im richterlichen<br />
wie im nichtrichterlichen Bereich meistern müssen.<br />
Angesichts dessen stellte es RENNERT zufolge<br />
eine besondere Herausforderung dar, die in den<br />
Vorjahren erzielten Erfolge in dem Bemühen, die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 315
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Verfahrenslaufzeiten weiter zu verkürzen, nicht<br />
wieder zu verspielen. Das sei gelungen; auch 2017<br />
habe ein Revisionsverfahren im Durchschnitt weniger<br />
als ein Jahr gedauert (genau: 11 Monate und<br />
7 Tage), und ein erstinstanzliches Klageverfahren<br />
habe noch weniger Zeit beansprucht (10 Monate<br />
und 26 Tage). Allerdings habe sich dieses Niveau<br />
nur halten lassen, weil die mit den Verfahren<br />
befassten Mitglieder des Gerichts oft einen deutlich<br />
über das Geschuldete hinausgehenden Einsatz<br />
gezeigt hätten.<br />
Für <strong>2018</strong> rechnet das BVerwG mit einer weiter<br />
zunehmenden Belastung. Im Bereich der großen<br />
Infrastrukturvorhaben stehen etliche bedeutsame<br />
und hochkomplexe Verfahren zur Entscheidung<br />
an, darunter der Betrieb des Hauptbahnhofs Stuttgart,<br />
eine weitere Hochspannungs-Freileitung, das<br />
Kohlekraftwerk Moorburg oder die Nord-West-<br />
Umfahrung Hamburg der Autobahn A 20. Die Revisionssenate<br />
werden sich mit zahlreichen weiteren<br />
Problemen zu befassen haben, etwa mit der<br />
Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen<br />
Flüchtlingen, mit der Klage des Betreibers<br />
eines Internet-Knotens gegen die Anordnung der<br />
strategischen Fernmeldeüberwachung oder mit<br />
dem neuen Haar- und Barterlass der Bundeswehr.<br />
Hinzu kommt, dass die Migrationswelle nunmehr<br />
auch das BVerwG erreicht hat. Die Belastung der<br />
Verwaltungsgerichte der ersten Instanz durch Klagen<br />
und Eilanträge von Asylsuchenden hat 2015<br />
und 2016 rasant zugenommen und 2017 mit annähernd<br />
400.000 Eingängen einen historischen<br />
Höchststand erreicht. Diese Welle wirkt sich mit<br />
zeitlicher Verzögerung auch auf die Revisionsinstanz<br />
aus. Dabei kommt dem BVerwG vor allem<br />
die Aufgabe zu, die Rechtsprechung der 51 Verwaltungsgerichte<br />
und 15 Oberverwaltungsgerichte<br />
zu vereinheitlichen. Darin sieht das Gericht eine<br />
der Hauptaufgaben für das Jahr <strong>2018</strong>.<br />
Präsident RENNERT wies darauf hin, dass es im<br />
dringenden öffentlichen Interesse liege, dass das<br />
BVerwG seine Verfahren möglichst zügig betreibt<br />
und die von ihm erwarteten Entscheidungen zeitnah<br />
trifft. Das solle dadurch gefördert werden,<br />
dass der Personalbestand des Gerichts von derzeit<br />
55 Richterinnen und Richtern aufgestockt werde.<br />
Wegen der außerordentlichen Belastung durch die<br />
Migrationswelle hätten die Länder praktisch durchweg<br />
die Personalkapazität ihrer Verwaltungsgerichte<br />
deutlich erhöht. Der Bund solle hier nachziehen.<br />
[Quelle: BVerwG]<br />
DAV fordert Änderungen<br />
im Asylprozessrecht<br />
Auf die Klage der deutschen Verwaltungsgerichte<br />
über die hohe Belastung infolge der Flüchtlingswelle<br />
ist kürzlich auch der Deutsche Anwaltverein<br />
(DAV) eingegangen. Er schlägt eine vollständige<br />
Angleichung des Asylprozessrechts an das allgemeine<br />
Verwaltungsprozessrecht vor.<br />
Die Verwaltungsgerichte seien mit der schieren<br />
Masse an aktuellen Asylverfahren überlastet. Deshalb<br />
sei es richtig, dass sich jetzt der Bundesrat<br />
auf Initiative von Berlin, Brandenburg, Bremen und<br />
Hamburg mit der Änderung des Asylprozessrechts<br />
befasse, erklärte kürzlich der Präsident des DAV,<br />
ULRICH SCHELLENBERG, in einem Statement. Das Ziel<br />
dieser Länderinitiative sei dabei, die Rechtsprechung<br />
im Asylrecht einheitlicher, effektiver und<br />
schneller zu gestalten. Dafür solle der Rechtsweg<br />
in Asylverfahren reformiert werden. Geplant sei,<br />
die Zulassung der Berufung und Beschwerde durch<br />
das Verwaltungsgericht zu ermöglichen. Diese<br />
Reform sei ein wichtiger Schritt in die richtige<br />
Richtung. Vorrangiges Ziel müsse es aber sein, in<br />
diesen Verfahren Rechtssicherheit zu schaffen,<br />
ohne die Rechte der Schutzsuchenden auf individuelle<br />
Prüfung ihres Falles zu schmälern, forderte<br />
SCHELLENBERG.<br />
Der DAV schlägt zu diesem Zweck eine vollständige<br />
Gleichstellung des Asylprozessrechts mit<br />
dem allgemeinen Verwaltungsprozessrecht vor.<br />
Berufungen und Beschwerden sollten nach geltendem<br />
Verwaltungsprozessrecht geregelt werden.<br />
Dann werde eine einheitliche, effektivere<br />
und schnellere Rechtsprechung möglich. Die damit<br />
verbundene vermehrte Möglichkeit der Beschwerde<br />
und Berufung führe zu mehr obergerichtlicher<br />
Rechtsprechung, dies beschleunige<br />
die Verfahren. In der Bundesratsinitiative sei dies<br />
leider nicht der Fall. Hier werde weiterhin der<br />
Sonderweg über das Asylgesetz beschritten, beklagte<br />
SCHELLENBERG.<br />
[Quelle: DAV]<br />
Mietpreisbremse „besser als ihr Ruf“<br />
Die Mietpreisbremse ist besser als ihr Ruf, kann<br />
das Wohnungsmarktproblem aber nicht allein<br />
lösen. Das ist das Fazit einer Untersuchung durch<br />
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung<br />
(DIW), deren Ergebnisse kürzlich vorgelegt wurden.<br />
Die Studie liefert neue Erkenntnisse zur<br />
316 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
Frage, wo die Mietpreisbremse wirkt und wo die<br />
Politik die Anreize für Wohnungsbau weiter<br />
erhöhen sollte.<br />
Nach den Ergebnissen der Forscher kann die Mietpreisbremse<br />
in ihrer bisherigen Form nur dann<br />
wirken, wenn die Neuvertragsmieten in einer Region<br />
in den vier Jahren vor der Einführung im<br />
Durchschnitt um mindestens 3,9 % pro Jahr gestiegen<br />
sind. Das zeigten aktuelle Berechnungen<br />
des DIW sowie auch der Friedrich-Alexander-<br />
Universität Erlangen-Nürnberg. Hintergrund sei<br />
die konkrete Ausgestaltung der Mietpreisbremse,<br />
die derzeit in 313 von rund 11.000 Städten und<br />
Gemeinden in Deutschland gilt, in denen etwa ein<br />
Viertel der Bevölkerung lebe. Der Maßstab für die<br />
maximal zulässige Neuvertragsmiete sei die ortsübliche<br />
Vergleichsmiete, die als Durchschnittswert<br />
auf Basis abgeschlossener Mietverträge aus den<br />
vorangegangenen vier Jahren berechnet werde,<br />
zuzüglich 10 %. Dieser Spielraum zur Mieterhöhung<br />
auf Seiten der Vermieter sorge dafür, dass die<br />
Regulierung rein rechnerisch erst ab der 3,9 %-<br />
Schwelle greifen könne, so die Studienautoren.<br />
„Die Mietpreisbremse greift nur in bestimmten Regionen<br />
mit besonders starken Mietanstiegen und<br />
erreicht damit nur kleine Teile der Bevölkerung. Das<br />
heißt jedoch nicht, dass die Mietpreisbremse grundsätzlich<br />
eine Fehlkonstruktion ist – dort wo sie wirken<br />
kann, tut sie es auch“, erläuterte DIW-Immobilienökonom<br />
CLAUS MICHELSEN, der die Studie gemeinsam<br />
mit KONSTANTIN KHOLODILIN vom DIW Berlin und<br />
ANDREAS MENSE von der Uni Erlangen-Nürnberg<br />
erstellt hat. Man müsse sich genau anschauen,<br />
wo überhaupt die Voraussetzungen erfüllt sind,<br />
damit die Regulierung greifen kann.<br />
In solchen Regionen wirke die Mietpreisbremse<br />
sehr wohl und dämpfe den Anstieg der Mieten<br />
dauerhaft. In Gegenden, in denen die Neuvertragsmieten<br />
für bestehende Wohnungen zuvor<br />
jährlich um mehr als 4,8 % kletterten, gingen die<br />
Mieten mit Einführung der Mietpreisbremse im<br />
Durchschnitt sogar einmalig um rund 3 % zurück<br />
– beispielsweise in Teilen von Berlin-Mitte und<br />
-Neukölln, München-Laim und -Schwabing, im<br />
Stuttgarter Heusteigviertel oder im Innenstadtbereich<br />
von Bielefeld. „Die Mietpreisbremse wirkt in<br />
Regionen, in denen die Mieten zuvor stark gestiegen<br />
sind, und ist unter dem Strich besser als ihr Ruf – die<br />
Erwartungen waren vielerorts schlicht zu hoch“, so<br />
ANDREAS MENSE.<br />
Bisherige Studien deuteten darauf hin, dass sich<br />
der Anstieg der Mieten seit Einführung der Mietpreisbremse<br />
im Juni 2015 insgesamt nicht spürbar<br />
verlangsamt habe, so die Autoren. Dieses Ergebnis<br />
sei weiterhin gültig. Die aktuelle Studie sei<br />
aufgrund ihres Untersuchungsdesigns jedoch<br />
weitaus differenzierter und könne erstmals jene<br />
Regionen, in denen die Mietpreisbremse gelte<br />
und tatsächlich auch wirke, von jenen Regionen<br />
trennen, in denen das nicht der Fall sei.<br />
Dafür haben die drei Studienautoren über 200.000<br />
Mietinserate von Online-Plattformen ausgewertet<br />
und auf der Ebene von Postleitzahlbezirken<br />
regulierte und unregulierte Wohnungen verglichen,<br />
die eine ähnliche Lage und Qualität haben.<br />
Dabei zeigte sich auch, dass die Mieten für neu<br />
gebaute Wohnungen, die nicht unter die Mietpreisbremse<br />
fallen, deutlich schneller steigen als<br />
früher. Nach Ansicht von MICHELSEN, MENSE und<br />
KHOLODILIN dürfte das – entgegen der Einschätzung<br />
vieler Kritiker der Mietpreisbremse – dazu führen,<br />
dass langfristig mehr neue Wohnungen gebaut<br />
werden.<br />
Die Autoren warnen jedoch davor, in der Mietpreisbremse<br />
die alleinige Lösung des Wohnungsmarktproblems<br />
zu sehen. Noch immer steige<br />
die Nachfrage nach Wohnraum in vielen Städten<br />
und Ballungszentren schneller, als neue Wohnungen<br />
gebaut würden. Eine Preisregulierung<br />
könne höchstens Zeit verschaffen und die Mieten<br />
so lange im Zaum halten, bis sich die Lage<br />
am Wohnungsmarkt entspannt habe. „Daran,<br />
dass die Politik noch mehr Anreize für den Neubau<br />
von Wohnungen setzen muss, führt jedoch kein<br />
Weg vorbei“, betont der DIW-Ökonom KONSTANTIN<br />
KHOLODILIN.<br />
So könnten die Kommunen etwa mehr Flächen<br />
für den Wohnungsbau aktivieren, auch mithilfe<br />
einer Reform der Grundsteuer, die Grundstücksbesitzer<br />
nicht länger stärker belaste, wenn sie<br />
neue Gebäude bauten oder bestehende aufstockten.<br />
Die sog. Nachverdichtung auf bereits erschlossenen<br />
Grundstücken böte die Möglichkeit,<br />
schnell und vergleichsweise günstig Wohnraum<br />
zu schaffen, da nicht erst teure Baugrundstücke<br />
erworben werden müssten. Zudem wären öffentliche<br />
Zuschüsse denkbar, um mögliche Eigenkapitalengpässe<br />
bei Investoren abzumildern.<br />
[Quelle: DIW]<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 317
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Strafverteidiger fordern Abschaffung<br />
der lebenslangen Freiheitsstrafe<br />
Die lebenslange Freiheitsstrafe solle abgeschafft<br />
werden. Zudem müsse der Gesetzgeber den Vollzug<br />
der Freiheitsstrafen auf ein Mindestmaß reduzieren.<br />
Dies sind zwei der Beschlüsse, die auf<br />
dem 42. Strafverteidigertag Anfang März in<br />
Münster gefasst wurden.<br />
Rund 800 Strafverteidiger waren zusammengekommen,<br />
um unter dem Motto „Räume der Unfreiheit“<br />
über den Reformbedarf im Straf-, Strafprozess-<br />
und Strafvollzugsrecht zu diskutieren. Das<br />
Motto der Veranstaltung bezog sich vordergründig<br />
auf den Strafvollzug in Vollzugsanstalten, spielte<br />
aber auch auf den Begriff des „Raums der Freiheit“<br />
an, der Ende der 90er Jahre in der politischen<br />
Debatte eine Rolle spielte.<br />
Der Freiheitsstrafe in ihrer heutigen Form und<br />
Ausgestaltung sei kein gutes Zeugnis auszustellen,<br />
stellten die Strafverteidiger auf ihrer diesjährigen<br />
Tagung fest. Sie mindere die soziale Anschlussfähigkeit<br />
und die Integrationschancen der Bestraften<br />
und eine Resozialisierung als eigentliches<br />
Vollzugsziel finde in der Praxis nur selten statt.<br />
Nach Verbüßung der Freiheitsstrafe würden rund<br />
50 % der Erwachsenen und 70 % der Jugendlichen<br />
und Heranwachsenden rückfällig. Unter den Gefangenen<br />
sei eine zunehmende Zahl psychischer<br />
Erkrankungen zu beobachten, die – unabhängig<br />
von der ohnehin schon schlechten medizinischen<br />
Versorgung – regelmäßig unbehandelt blieben.<br />
Gewalt unter Gefangenen sei Alltag, die Suizidrate<br />
sei ca. zwölfmal so hoch wie im Durchschnitt der<br />
Bevölkerung. Hinzu kämen soziale Verrohung und<br />
Vereinsamung. Eine der Arbeitsgruppen stand<br />
denn auch unter dem Thema „Die Haftanstalt als<br />
gefährlicher Ort“.<br />
Die Strafverteidiger fordern deshalb u.a. eine<br />
Reform, die eine Vermeidung der Vollstreckung<br />
kurzer Freiheitsstrafen, die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe<br />
sowie die Stärkung der Verwarnung<br />
mit Strafvorbehalt zum Ziel haben<br />
müsse. Bei Ersttätern solle generell eine Halbstrafentlassung<br />
stattfinden. Die lebenslange Freiheitsstrafe<br />
gehöre abgeschafft. Sie komme einer<br />
Vernichtungsstrafe gleich, die in ihrer Absolutheit<br />
einen Fremdkörper im System des Strafzumessungsrechts<br />
darstelle. Sie finde keine rechtspolitische<br />
oder kriminologische Rechtfertigung und<br />
zerstöre die Verurteilten eher, als auf ein Leben<br />
ohne Straftaten nach Verbüßung des Freiheitsentzugs<br />
vorzubereiten.<br />
Weitere Ergebnisse des 42. Strafverteidigertags<br />
sind auf der Webseite blog.burhoff.de (Schlagwort:<br />
42. StV-Tag – Ergebnisse) abrufbar. [Red.]<br />
Kindesentführungen ins Ausland<br />
Beim Bundesamt für Justiz (BfJ) sind derzeit 230<br />
Anträge auf Rückführung von ins Ausland entführten<br />
Kindern anhängig. Das teilte die Bundesregierung<br />
kürzlich in ihrer Antwort auf eine Kleine<br />
Anfrage im Bundestag mit (vgl. BT-Drucks 19/329).<br />
Das Bundesamt für Justiz ist die zentrale deutsche<br />
Behörde nach dem Haager Übereinkommen über<br />
die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung<br />
(HKÜ) von 1980, wie die Regierung<br />
dazu erläutert. Bisher gehören 98 Staaten weltweit<br />
dem HKÜ an.<br />
Bei Entführungen in Länder, die dem Haager<br />
Übereinkommen nicht angehören, unterstützten<br />
gegebenenfalls die deutschen Auslandsvertretungen<br />
die Bemühungen um Rückführung. Dies geschehe<br />
derzeit in fünf bis zehn Fällen. Die Bundesregierung<br />
weist darauf hin, dass es daneben eine<br />
ihr unbekannte Zahl von privat initiierten Rückführungsanträgen<br />
nach dem HKÜ unmittelbar vor<br />
den zuständigen Gerichten gebe, in die das Bundesamt<br />
nicht eingebunden sei.<br />
Wie aus der Antwort weiter hervorgeht, liegt die<br />
Zahl der bei diesem Amt jährlich eingehenden<br />
Rückführungsanträge seit Längerem konstant bei<br />
rund 170 bis 200. Zur Nationalität und zum Geschlecht<br />
der mutmaßlichen Entführer und Entführten<br />
macht die Bundesregierung keine Angabe,<br />
da dies nicht gesondert erfasst werde. Auch lägen<br />
keine Angaben über die Zahl der erfolgreichen<br />
Rückführungen beziehungsweise über die Gründe<br />
vor, die zu einem Scheitern einer Rückführung<br />
führen.<br />
Die Bundesregierung verweist darauf, dass sie mit<br />
der Übertragung der Aufgaben auf das Bundesamt<br />
als zentraler Behörde und der Konzentration der<br />
Zuständigkeiten bei spezialisierten Familiengerichten<br />
bereits vor Jahren wichtige Schritte unternommen<br />
habe, um eine effektive Durchsetzung<br />
des Haager Übereinkommens im Interesse der<br />
318 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Anwaltsmagazin<br />
betroffenen Kinder zu gewährleisten. Darüber<br />
hinaus setze sie sich aktiv für die Förderung von<br />
Mediationen in Fällen internationaler Kindesentführungen<br />
ein. Unterstützung für die betroffenen<br />
Eltern gebe es etwa durch den Verein „Internationales<br />
Mediationszentrum für Familienkonflikte<br />
und Kindesentführung (MiKK)“ sowie durch die von<br />
der Bundesregierung eingesetzte Zentrale Anlaufstelle<br />
für grenzüberschreitende Kindschaftskonflikte<br />
und Mediation beim Internationalen Sozialdienst<br />
(ISD).<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
Verlängerung von ALG I für<br />
den Kulturbereich<br />
Die Bundesregierung hat Anfang März beschlossen,<br />
Beschäftigte im Kulturbereich längerfristig<br />
sozial abzusichern.<br />
Derzeit gelten für überwiegend kurzfristig Beschäftigte<br />
Sonderregelungen. Diese ermöglichen<br />
einen erleichterten Zugang zu Arbeitslosengeld<br />
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die<br />
überwiegend nur kurz befristete Beschäftigungen<br />
ausüben. Der Kulturbereich ist davon intensiv<br />
betroffen. Das Bundeskabinett hat daher am<br />
7. März im Zuge eines neuen Gesetzentwurfs<br />
zur Verlängerung verschiedener befristeter Regelungen<br />
im Arbeitsförderungsrecht eine Verlängerung<br />
dieser Sonderregelung zum Arbeitslosengeld<br />
beschlossen. Insbesondere Künstler<br />
und Kreative sollen davon profitieren; ansonsten<br />
wäre die Vergünstigung Mitte <strong>2018</strong> ausgelaufen.<br />
Kulturstaatsministerin MONIKA GRÜTTERS betonte:<br />
„Mit der Verlängerung wird nun zunächst das Auslaufen<br />
der Vorschrift zum 31. Juli dieses Jahres verhindert.<br />
Damit ist ein wichtiger erster Schritt zur<br />
sozialen Absicherung vieler Kreativer getan. Bis zum<br />
Sommer 2021 haben wir jetzt die nötige Zeit, um unter<br />
intensiver Einbindung der Verbände eine gute dauerhafte<br />
Lösung zu erarbeiten. Die Verbesserung der sozialen<br />
Absicherung der Künstler und Kreativen bleibt<br />
damit auf der kulturpolitischen Agenda dieser Legislaturperiode.“<br />
In der neuen Koalitionsvereinbarung haben sich die<br />
Koalitionsparteien das Ziel gesetzt, eine sachgerechte<br />
Anschlussregelung zu schaffen, die den<br />
Besonderheiten der Erwerbsbiografien der in der<br />
Kultur Beschäftigten hinreichend Rechnung trägt.<br />
Die Verlängerung der bisherigen Regelung räumt<br />
der künftigen Bundesregierung nun die notwendige<br />
Zeit ein, eine solche noch zielgerichtetere<br />
Regelung für den Kulturbereich zu entwickeln.<br />
[Quelle: Bundesregierung]<br />
EU-Kommission kritisiert weiterhin<br />
deutschen Dienstleistungssektor<br />
Die EU-Kommission hat erneut die zögerliche Deregulierung<br />
des Dienstleistungssektors in Deutschland<br />
kritisiert. In ihrem Anfang März veröffentlichten<br />
Länderbericht bemängelte sie wie in den<br />
vergangenen Jahren, dass es in Deutschland an<br />
einer umfassenden Strategie zur Modernisierung<br />
der reglementierten Berufe und zur Steigerung<br />
des Wettbewerbs im Dienstleistungssektor fehle.<br />
So liege die Fluktuationsrate u.a. bei den rechtsberatenden<br />
Berufen unter dem EU-Durchschnitt.<br />
Die Bruttobetriebsraten lägen, so der Länderbericht,<br />
allerdings über dem EU-Schnitt, was auf<br />
einen geringen Wettbewerbsdruck hindeute. Insbesondere<br />
unternehmensorientierte Dienstleistungen<br />
und Verwaltungsformalitäten für die grenzüberschreitende<br />
Erbringung von Dienstleistungen<br />
seien nach wie vor in hohem Maße restriktiv reguliert.<br />
Abgesehen von der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie<br />
im Hinblick auf Patentanwälte<br />
und der Umsetzung eines Urteils des EuGH<br />
zur Steuerberatungsgesellschaft (C-342/14, s. <strong>ZAP</strong><br />
EN-Nr. 121/2016), das zur Änderung des deutschen<br />
Steuerberatungsgesetzes geführt habe, seien keine<br />
weitergehenden Reformmaßnahmen ergriffen<br />
worden. Die EU-Kommission hält zudem fest, dass<br />
sich Unternehmen in Deutschland nur langsam an<br />
die Digitalisierung anpassen.<br />
Deutschland hat nun bis Mitte April dieses Jahres<br />
Zeit, in Reaktion auf den Länderbericht entsprechende<br />
Reformschritte in Brüssel vorzulegen.<br />
[Quelle: EU-Kommission]<br />
Kampf gegen Geldwäsche stockt<br />
Nicht nur die Kommunikation der Rechtsanwälte<br />
wird zzt. von Softwareproblemen ausgebremst<br />
(s. beA), auch andere können ein Lied über EDV-<br />
Probleme anstimmen: In der neuen Zentralstelle<br />
für Finanztransaktionsuntersuchungen (FIU, vgl.<br />
dazu <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 6/2017, S. 271) stauen<br />
sich seit einiger Zeit die Geldwäscheverdachtsmeldungen,<br />
weil die vorgesehene Bearbeitungs-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 319
Anwaltsmagazin<br />
<strong>ZAP</strong><br />
software längere Zeit nicht eingesetzt werden<br />
konnte. Wie die Presse kürzlich berichtete, schickten<br />
die Banken und andere zur Verdachtsmeldung<br />
Verpflichtete stattdessen Telefaxe, die sich<br />
in der Behörde jetzt zu tausenden stapeln. Derzeit<br />
versucht man, mithilfe von studentischen Hilfskräften<br />
und Unterstützung aus anderen Behörden<br />
die Menge an Papier abzuarbeiten – mit offenbar<br />
mäßigem Erfolg.<br />
Die für Geldwäschebekämpfung zuständigen<br />
Staatsanwälte sowie die LKA-Mitarbeiter sollen<br />
berichtet haben, seit Monaten fast keine Verdachtsmeldungen<br />
von der Zentralstelle weitergeleitet<br />
bekommen zu haben. Es herrsche „blanke<br />
Verzweiflung“ in der Führung der FIU, hieß es in<br />
Pressemeldungen. Deren Leitung hat kürzlich zur<br />
Unterstützung Beamte aus dem gesamten Bundesgebiet<br />
angefordert. Bereits im Februar wurden<br />
u.a. 60 Zollfahnder aus den „Gemeinsamen<br />
Finanzermittlungsgruppen“ und anderen Zollbehörden<br />
zur FIU abgeordnet. Allerdings fehlen diese<br />
nun an anderen Stellen, etwa in denjenigen, in<br />
denen die weitergeleiteten Verdachtsmeldungen<br />
ausgewertet werden müssen.<br />
Die Parallelen der Geldwäsche-Software mit dem<br />
beA der Anwaltschaft sind verblüffend: Kurz<br />
bevor es richtig mit der Arbeit der FIU losgehen<br />
sollte, entdeckte das Bundesamt für Sicherheit in<br />
der Informationstechnik (BSI) gravierende Sicherheitslücken<br />
in der Software „goAML“, mit der die<br />
Geldwäscheverdachtsmeldungen weitergereicht<br />
werden sollten. Empfohlen wurde daraufhin, die<br />
Software nicht mehr zu nutzen, bis diese nachgebessert<br />
sei. Dies war dann Ende 2017 der Fall,<br />
allerdings steht wie beim beA derzeit eine abschließende<br />
Beurteilung zur Sicherheit immer<br />
noch aus. Vielleicht ist das bei der Rechtsanwaltschaft<br />
aufsichtführende Bundesjustizministerium<br />
auch deshalb so geduldig mit der Anwaltssoftware,<br />
weil es in den Behörden mit der EDV auch<br />
nicht viel reibungsloser läuft.<br />
[Red.]<br />
STANTINOS LYCOURGOS (CY), JIŘÍ MALENOVSKÝ (CZ) und<br />
ALEXANDRA PRECHAL (NL). Neu ernannt wurde die<br />
Richterin LUCIA SERENA ROSSI (IT).<br />
Bei den Generalanwälten wurden YVES BOT (FR)<br />
und MACIEJ SZPUNAR (PL) wieder- und GIOVANNI<br />
PITRUZZELLA (IT) neu ernannt. Die Amtszeit der<br />
vorgenannten Richter und Generalanwälte beginnt<br />
im Oktober und beträgt sechs Jahre.<br />
Anfang März ist der Richter am BSG Prof. Dr.<br />
NORBERT BERNSDORFF in den Ruhestand getreten.<br />
BERNSDORFF kam im Jahr 2004 an das BSG und<br />
gehörte seitdem dem für das Versicherungs- und<br />
Beitragsrecht zuständigen 12. Senat an. Neben<br />
seiner richterlichen Tätigkeit war und ist Prof.<br />
NORBERT BERNSDORFF in der juristischen Ausbildung<br />
engagiert, insbesondere durch Vorlesungen zum<br />
Sozialrecht an der Philipps-Universität Marburg,<br />
deren Honorarprofessor er seit Mai 2015 ist.<br />
Am 21. Februar feierte der ehemalige Bundesverfassungsrichter<br />
Prof. Dr. Dres. h.c. PAUL<br />
KIRCHHOF seinen 75. Geburtstag. KIRCHHOF gehörte<br />
dem BVerfG von November 1987 bis zum<br />
Dezember 1999 als Mitglied des Zweiten Senats<br />
an. Sein Dezernat umfasste u.a. das Finanzverfassungs-<br />
und Haushaltsrecht, das Abgaben- und<br />
Steuerrecht sowie die Verfahren, bei denen die<br />
Auslegung von Völker- und Europarecht von<br />
erheblicher Bedeutung ist. Als Berichterstatter<br />
wirkte er an zahlreichen Grundsatzentscheidungen<br />
des Zweiten Senats mit, u.a. zum Maastricht-Vertrag,<br />
zur Verfassungswidrigkeit der Vermögensteuer,<br />
an der Euro-Entscheidung sowie<br />
zum Länderfinanzausgleich. Prof. KIRCHHOF hat<br />
zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen empfangen,<br />
u.a. im Jahr 1999 vom Bundespräsidenten<br />
das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband.<br />
2006 verliehen ihm die Universität<br />
Osnabrück sowie 2008 die Ukrainische Freie<br />
Universität München die Ehrendoktorwürde.<br />
[Quellen: EuGH, BVerfG, BSG]<br />
Personalia<br />
Am EuGH in Luxemburg wurden neun Richter<br />
sowie drei Generalanwälte neu- oder wiederernannt.<br />
Für eine weitere Amtszeit wiederernannt<br />
wurden ALEXANDER ARABADIJEV (BG), JEAN-<br />
CLAUDE BONICHOT (FR), THOMAS VON DANWITZ (DE),<br />
CARL GUSTAV FERNLUND (SE), EGILS LEVITS (LV), CON-<br />
<strong>ZAP</strong> Verzeichnisse in Vorbereitung<br />
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versäumen Sie nicht, sich die neuen <strong>ZAP</strong> Verzeichnisse<br />
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auf der ersten Seite dieser <strong>ZAP</strong> Ausgabe<br />
(vor der <strong>ZAP</strong> Kolumne).<br />
[Red.]<br />
320 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Buchreport<br />
Berichte über juristische Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt aus der Sicht des anwaltlichen Praktikers.<br />
Lesen Sie hier, sortiert nach den einzelnen <strong>ZAP</strong> Fächern, welche Werke für die Mandatspraxis von<br />
Bedeutung sind.<br />
Allgemeines Zivilrecht<br />
RING/KLINGELHÖFER, AGB-Recht in der anwaltlichen Praxis, 4. Aufl. 2017, 432 S., Deutscher Anwaltverlag,<br />
49 €<br />
Das Handbuch ist als Nachschlagewerk für Praktiker konzipiert und liegt nun in vierter Auflage vor. Das<br />
Werk hat sich am Markt etabliert und deckt das breite Spektrum des AGB-Rechts ab. Nach der Einleitung<br />
und allgemeinen Dingen zum AGB-Recht befassen sich die Autoren zunächst mit dem Begriff der AGB<br />
(§ 305 Abs. 1 BGB), mit der Einbeziehung von AGB in einen Vertrag sowie mit der Auslegung von AGB – mit<br />
rund einem Drittel des Umfangs der Schwerpunkt des Werks. Abschließend wird der Anwendungsbereich<br />
des § 310 BGB besprochen. Die Darstellung ist übersichtlich und zeichnet sich durch ihren eingehenden<br />
Erläuterungsstil aus; hervorzuheben sind dabei die in der Beratung wichtigen Klauselverbote. In der Praxis<br />
bereitet immer wieder auch die Einbeziehung der AGB in einen Vertrag große Probleme. Das Buch ist hier<br />
ein wertvoller Begleiter bei der Lösung solcher Fälle. Mit aktuellen Fundstellen und zahlreichen Verweisen<br />
auf vertiefende Literatur ist das Buch gut ausgestattet. Es ist handlich und ermöglicht eine effiziente<br />
Einarbeitung in das AGB-Recht. Fazit: Das AGB-Recht von RING und KLINGELHÖFER ist ein verlässlicher<br />
Ratgeber und ist als Basiswerk für AGB-Fälle zu empfehlen.<br />
RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />
CHASKLOWICZ, SCHROEDER-PRINTZEN, SPYRA, WEBER, Ärztliche Schweigepflicht und Schutz der<br />
Patientendaten, 2017, 416 S., Verlag ecomed Medizin, 49,99 €<br />
Ausgangspunkt des Werkes ist zunächst die Frage, was die ärztliche Schweigepflicht umfasst, wie der Arzt<br />
mit medizinischen Daten umgehen muss und welche möglichen Konsequenzen bei einem Verstoß gegen<br />
die Verschwiegenheitspflicht drohen. Auch der Frage nach den Möglichkeiten Dritter mit berechtigtem<br />
Interesse, an Informationen und Daten zu gelangen, wird nachgegangen. Neben diesen Aspekten ist auch<br />
der Schutz der Daten vor dem Hintergrund des Umgangs mit IT und Datenverarbeitung – ein Bereich, in<br />
dem manches derzeit noch ungeklärt ist – umfangreicht erörtert. Ein Anhang mit relevanten Gesetzestexten,<br />
Auszügen aus Musterberufsordnungen für Ärzte sowie anderen Vereinbarungen runden das Werk<br />
ab. Obwohl sich der ecomed Medizin Verlag in erster Linie an Ärzte wendet, kommen auch Juristen mit<br />
diesem Werk schnell an ihr Ziel: Mit Hilfe des vorliegenden Titels findet der Anwalt die für sein Mandat<br />
relevante Fragestellung und kann sich effizient der Problemlösung stellen. Die Autoren sind übrigens keine<br />
Mediziner, sondern Rechtsanwälte, spezialisiert auf die Themen Strafrecht, Datenschutz und Medizinrecht.<br />
Fazit: Das Werk ist ein großer Wurf – für Ärzte wie Juristen eine Bereicherung.<br />
RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />
KREMER/WITTMANN, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, 3. Aufl. 2017, 632 S., C.F. Müller Verlag,<br />
69,99 €<br />
Das „Vertragsärztliche Zulassungsverfahren“ ist nunmehr in einer neu bearbeiteten dritten Auflage<br />
erschienen: Nach kurzer Einleitung, die die rechtlichen Grundlagen der Bildung der Ausschüsse und die<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 321
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Verfahrensgrundsätze darstellt, folgt der sehr übersichtlich gegliederte Hauptteil; hier wird von der<br />
einfachen Zulassung des Vertragszahnarztes bis zur „exotischen“ Konstellation der „Ermächtigung<br />
psychiatrischer Institutsambulanzen zur Teilnahme an der ambulanten, vertragsärztlichen Versorgung“<br />
nahezu jede denkbare Fallgestaltung detailliert dargestellt. Dies wird abgerundet von einer sonst selten<br />
im Gesamtkontext zu findenden Darstellung der im Verfahren entstehenden Kosten. Dagegen fällt<br />
die – allerdings der dem Titel zu entnehmenden Schwerpunktsetzung entsprechend – recht allgemein<br />
gehaltene Darstellung des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Entscheidungen der Berufungsausschüsse<br />
etwas ab. Für die Verwaltungsverfahren über die Zulassung zur vertrags(zahn)ärztlichen<br />
Versorgung ist aber dank umfangreicher Literatur- und Rechtsprechungsnachweise ein fast schon<br />
handbuchartiges Nachschlagewerk für den Praktiker entstanden. Fazit: Das Werk bleibt ein Muss für<br />
jeden Anwalt, der (auch) medizinrechtlich tätig ist.<br />
RA ANNO HAAK, LL.M. Medizinrecht, Bonn<br />
Miete/Nutzungen<br />
ANDERSCH, Streitwerte und Anwaltsgebühren im Mietrecht, 3. Aufl. 2017, 296 S., Deutscher Anwaltverlag,<br />
54 €<br />
Rechtsanwälte neigen dazu, sich in das Gebührenrecht nicht zu intensiv einzuarbeiten. Das vorliegende<br />
Werk gestattet es jedem Kollegen, seine eigenen Ansprüche rasch und gleichwohl sorgfältig festzustellen,<br />
zu überprüfen und durchzusetzen. Besonders wertvoll ist die umfangreiche Darstellung zur Gegenstandswertbestimmung<br />
mit zahlreichen Beispielen. Auch für den Anfänger leicht zu durchschauen sind die<br />
Grundzüge des Gebührenrechts anhand der zahlreichen Fallbeispiele. Fazit: Ein insgesamt für den mietrechtlich<br />
tätigen Anwalt sehr empfehlenswertes Werk!<br />
RAin, FAin für Miet- und Wohnungseigentumsrecht Dr. ANNEGRET HARZ, München<br />
Immobiliarsachenrecht/Wohnungseigentumsrecht<br />
W. SCHNEIDER, Wohnungseigentumsrecht für Anfänger, 2017, 520 S., C.H. Beck Verlag, 49 €<br />
Mit seinem Titel betreibt das Werk Understatement. Nicht nur der Anfänger wird hier wertvolle Hinweise<br />
finden, sondern auch der „alte Hase“. Muster und Übersichten erleichtern die Falllösung. Die den einzelnen<br />
Kapiteln jeweils vorangestellte Literaturauswahl, ist eine Fundgrube für jeden. Zur Überprüfung des<br />
erworbenen Wissens, sind zahlreiche Verständnisfragen mit Lösungen im Text enthalten. Auch zur Auffrischung<br />
wohnungseigentumsrechtlicher Kenntnisse ist dieses Werk bestens geeignet. Fazit: Als ausgewiesener<br />
Fachmann auf dem Gebiet des Wohnungseigentumsrechts, liefert W. SCHNEIDER mit dieser<br />
Neuerscheinung für die durchaus komplexe Materie einen verständniserleichternden Leitfaden, der uneingeschränkt<br />
empfohlen wird.<br />
RAin, FAin für Miet- und Wohnungseigentumsrecht Dr. ANNEGRET HARZ, München<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
BÖHME/BIELA/TOMSON, Kraftverkehrs-Haftpflicht-Schäden, 26. Aufl. <strong>2018</strong>, C.F. Müller Verlag, 109,99 €<br />
In diesem Handbuch werden tatsächlich sämtliche Themen der Kfz-Haftpflichtversicherung behandelt.<br />
Auch Auslandsschäden und versicherungsvertragliche Aspekte sind in der gebotenen Kürze erfasst.<br />
Die handliche Form und die übersichtliche Darstellung vermitteln ein rasches Problembewusstsein.<br />
Unterstützt wird dies mit nützlichen Tabellen zur Kapitalisierung, Zeitrente etc. sowie dem Abdruck der<br />
Allgemeinen Bedingungen für die Kfz-Versicherung. Fazit: Wenngleich die Vertiefung einzelner Probleme<br />
hinter der Bandbreite zurückstehen muss, ist das Buch durchaus praxistauglich. Denn auch hier<br />
gilt: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!<br />
RA, FA für Verkehrsrecht FILIP SIEGERT, Würzburg<br />
Versicherungsrecht<br />
HÖRA (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht, 4. Aufl. 2017, 2.142 S., C.H. Beck<br />
Verlag, 49,99 €<br />
Das Münchener Anwaltshandbuch Versicherungsrecht ist ein renommierter Bestandteil der versicherungsrechtlichen<br />
Literatur. In der 4. Auflage wurden einige Kapitel von anderen Bearbeitern übernommen.<br />
322 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Die Qualität und das Niveau der Erläuterungen konnten dabei beibehalten werden. Die Aktualisierung<br />
berücksichtigt den Rechtsstand Sommer 2017. Neu aufgenommen wurden Kapitel zur Technischen<br />
Versicherung und zu den Grundzügen des Versicherungsaufsichtsrechts. Das Kapitel zur Rechtsschutzversicherung<br />
wurde komplett überarbeitet. Zusammen mit anderen Ergänzungen wurde das Werk<br />
dadurch um rund 200 Seiten umfassender als die Vorauflage – der Druck erfolgte vermutlich deshalb auf<br />
dünnerem Papier. Das Werk wendet sich zuerst an Anwälte, ist aber auch für Richter und Versicherungsjuristen<br />
ein sehr guter Begleiter im Tagesgeschäft. Wie auch schon in den Vorauflagen ist das Buch mit<br />
seinen jetzt 37 Kapiteln als Nachschlagewerk, als Buch für eine systematische Einarbeitung in Themen<br />
oder auch für ein nochmaliges Auffrischen des eigenen Wissens hervorragend geeignet. Checklisten und<br />
Musterklagen sind als Verständnishilfe und vorbildhafte Beispiele ein großes Plus des Buchs, das sich vom<br />
Anfang bis zum Ende als Werk für die Praxis darstellt. Fazit: Ein Standardwerk, das auf keinem Schreibtisch<br />
eines Versicherungsrechtlers fehlen sollte.<br />
RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />
Familienrecht<br />
KOCH (Hrsg.), Handbuch Unterhaltsrecht, 13. Aufl. 2017, 686 S., C.H. Beck Verlag, 99 €<br />
Das von ELISABETH KOCH herausgegebene Werk stellt die systematischen Grundlagen und die praxisrelevanten<br />
Problemfragen des Unterhalts kompakt, aber dennoch umfassend, übersichtlich, klar gegliedert<br />
und verständlich dar. Dabei werden nicht nur die materiell-rechtlichen Gesichtspunkte des<br />
Unterhaltsrechts behandelt, wie die Ermittlung des unterhaltsrelevanten Einkommens, die Auskunftsansprüche,<br />
der Ehegattenunterhalt vor und nach der Trennung, der Kindesunterhalt und der Eltern- und<br />
Enkelunterhalt. Auch das im Unterhalt besonders wichtige Verfahrensrecht kommt nicht zu kurz. Hier<br />
werden das Hauptsacheverfahren – isoliert und im Scheidungsverbund –, der einstweilige Rechtsschutz,<br />
das Abänderungsverfahren und das vereinfachte Unterhaltsverfahren erörtert. Auf die Verfahrenskostenhilfe<br />
wird dabei sorgfältig und übersichtlich eingegangen, wobei auch die gerade im Familienrecht<br />
wichtige Vorschrift des § 117 Abs. 2 S. 2 ZPO genau erläutert wird. Weit verbreitet ist bei<br />
vielen Familienrechtlern eine gewisse Unsicherheit bei den sozialrechtlichen Aspekten. Hier schafft das<br />
Kapitel „Sozialleistungen und Unterhaltsrecht“ Abhilfe und erläutert die unterhaltsrechtlichen Aspekten<br />
einzelner Sozialleistungen (Unterhaltsvorschuss, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Grundsicherung<br />
im Alter und bei Erwerbsminderung, Sozialhilfe, gesetzlicher Forderungsübergang, Kosten der Kinderund<br />
Jugendhilfe, Abzweigung von Sozialleistungen nach § 48 SGB I). Das für die anwaltliche Praxis nicht<br />
zu unterschätzende Kapitel zum Unterhalt nicht verheirateter Paare sei besonders hervorgehoben. Die<br />
Kapitel „Unterhaltsfälle mit Auslandsbezug“ und „Unterhalt und Steuerrecht“ runden das Werk ab. Fazit:<br />
Das Buch ist ein ausgezeichnetes Hilfsmittel bei der Bearbeitung unterhaltsrechtlicher Auseinandersetzungen.<br />
Insgesamt kann das kompakte und übersichtlich gestaltete Werk für die anwaltliche Praxis<br />
uneingeschränkt empfohlen werden.<br />
RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />
MAURER, Der Ehevertrag in der anwaltlichen Praxis, 2. Aufl. <strong>2018</strong>, 432 S. (mit CD-ROM), Deutscher<br />
Anwaltverlag, 44 €<br />
Eheverträge werden in aller Regel notariell beurkundet, aber die wesentlichen Vorarbeiten leistet<br />
der anwaltliche Berater. Für diesen nicht immer sehr leichten Aufgabenbereich mit all seinen unterschiedlichen<br />
Facetten bietet das Buch von MAURER – Fachanwalt für Familienrecht und Kommentator<br />
im juris-Praxiskommentar – eine praxisgerechte Unterstützung. Es werden zuerst die Grundlagen<br />
des Ehevertrags, sodann speziell die güterrechtliche Vereinbarung erläutert. Im Kapitel „Vorbemerkungen“<br />
gibt der Verfasser praktische Hinweise mit Textbeispielen zu den im Vorspann einer Vereinbarung<br />
festzuhaltenden Sachverhaltsinformationen. Unterhaltsfragen werden anschließend in den Kapiteln<br />
Familienunterhalt, Trennungsunterhalt, Kindesunterhalt und nachehelicher Unterhalt in der nötigen<br />
Tiefe dargestellt. Vereinbarungen über den Versorgungsausgleich, Sorge und Umgangsrecht, Haushaltsgegenstände<br />
und die Ehewohnung schließen sich an. Ein besonderes Kapitel behandelt die Übertragung<br />
einer Immobilie im gerichtlichen Vergleich. Dabei vernachlässigt das Buch auch nicht – etwas außerhalb<br />
des normalen Blicks auf Eheverträge liegende – Fragen wie die Schlüsselgewalt und den Ehenamen.<br />
Abgerundet wird das Werk durch Kapitel zu steuerrechtlichen Fragen, zur Lebenspartnerschaft und<br />
der gleichgeschlechtlichen Ehe sowie den Kosten und Gebühren. Geboten werden zudem 90 Seiten<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 323
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
mit praxisrelevanten Gesetzestexten in Auszügen, z.B. aus dem AnfG, AO, EGBGB, ErbStG, EStG, der<br />
EU-GüterrechtsVO und der EU-UnterhaltsVO, dem FamFG, GVG, Haager Unterhaltsprotokoll, InsO,<br />
Lugano-Abkommen, SGB VIII sowie dem VersAusglG. Besonders hervorzuheben sind die im gesamten<br />
Text eingearbeiteten bezifferten Mustertexte und Formulierungsbeispiele, die eine erhebliche Arbeitserleichterung<br />
in der anwaltlichen Praxis darstellen, zumal jeweils auf die zum Buch gehörende CD-ROM<br />
verwiesen wird. Die auf dieser CD-ROM als Word-Dokument vorhandenen Texte lassen sich einfach<br />
und bequem in die eigenen Dokumente einfügen. Fazit: Das Buch mit einem angemessenen Preis von<br />
44 € ist eine Empfehlung wert! RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />
ROßMANN/VIEFHUES, Taktik im Unterhaltsrecht, 3. Aufl. 2017, 892 S., Luchterhand, 89 €<br />
Das unterhaltsrechtliche Mandat ist in der anwaltlichen Praxis ein Massenmandat. Darum ist das Buch<br />
nicht nach Anspruchsgrundlagen aufgebaut, unterschieden nach dem materiell-rechtlichen und dem<br />
formalrechtlichen Teil, sondern beginnt mit der Mandatsannahme in Unterhaltssachen. Zutreffend wird<br />
schon hier auf eine mögliche Interessenkollision bzw. das Verbot der widerstreitenden Interessen in<br />
einer Bürogemeinschaft und auch bei der Vertretung volljähriger Kinder hingewiesen. Wie sich hier die<br />
Voraussetzungen für eine zulässige Vertretung im gerichtlichen Verfahren ändern können, wird bei dem<br />
jeweiligen Bearbeitungsstand zutreffend angemerkt. Unabdingbare Voraussetzung für die sichere<br />
Behandlung des unterhaltsrechtlichen Mandats ist selbstverständlich – und gleichwohl oft vergessen –<br />
die ausführliche Erarbeitung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Schon hier kommt der<br />
Verfahrenskostenhilfe in der Darstellung die ihr zustehende, in der Praxis erhebliche Bedeutung zu. Die<br />
dann folgende Ausarbeitung über die materiellen Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs, aufgegliedert<br />
nach Trennungs-, Ehegatten- und Kindesunterhalt mit allen nur denkbaren Variationen,<br />
beantwortet alle Fragen, die in diesem Zusammenhang auftauchen können, und umfasst auch die<br />
aktuelle Rechtsprechung. Der zunehmenden Bedeutung der außergerichtlichen Beilegung in Unterhaltssachen<br />
wird durch ein umfangreiches Kapitel über die Vertragsgestaltung, gerade auch unter<br />
Berücksichtigung steuerrechtlicher Gesichtspunkte, Rechnung getragen. Zahlreiche Muster über die<br />
Durchsetzung der Unterhaltsansprüche im gerichtlichen Verfahren, gleich ob vor oder nach Geburt des<br />
Kindes, bei Minderjährigkeit oder Volljährigkeit des Kindes sowie für den Ehegattenunterhalt in sämtlichen<br />
Variationen einschließlich der Eilverfahren und der Abänderungsverfahren mitsamt der Vollstreckung<br />
schließen sich an. Die vielen Checklisten, Muster-Schriftsätze/-Anträge zu jedem Problem gewährleisten<br />
eine sichere und erfolgreiche Bearbeitung des unterhaltsrechtlichen Mandats gerade für<br />
den Berufsanfänger. „Gekrönt“ wird das Ganze dann noch durch die Online-Nutzung des Werks mit der<br />
Möglichkeit des Downloads der Formulare in das eigene Textprogramm. Fazit: Für die erfolgreiche<br />
Beratung und Vertretung im Unterhaltsrecht unbedingt empfehlenswert.<br />
RA, FA für Familienrecht JÖRG KLEINWEGENER, Detmold<br />
Zivilprozessrecht<br />
GEIPEL, Handbuch der Beweiswürdigung, 3. Aufl. 2017, 1.760 S., <strong>ZAP</strong> Verlag, 169 €<br />
In der forensischen Praxis ist Beweiswürdigung mindestens „die halbe Miete“. Trotzdem wird sie in der<br />
universitären Juristenausbildung überhaupt nicht und in der Referendarausbildung nur rudimentär gelehrt<br />
und gelernt. Die erforderliche Arbeitsmethode sollte im Zivil- und Strafprozess prinzipiell gleich sein,<br />
jedoch wird sie fast nur im Strafverfahren unter Zuhilfenahme aussagepsychologischer Erkenntnisse<br />
verfeinert, während im Zivilrechtsstreit weitgehend intuitiv und unsystematisch agiert wird. In beiden<br />
Bereichen sind aber Dissonanzreduktionen bei jedem Auftreten kognitiver Dissonanz zu verzeichnen,<br />
gegen die nur ein hypothesengeleitetes methodisches Vorgehen hilft. Der Autor unternimmt eine für<br />
beide Prozessrechtsbereiche bedeutsame Analyse – das ist eine Rarität. Zu Recht appelliert er an eine<br />
Objektivierung der Beweiswürdigung anstelle der vielfach anzutreffenden intuitiven Beweiswürdigung<br />
(Teil I). Seine Forderung ist begründet, weil eine Richtigkeitsgewähr für das Strafurteil aufgrund einer<br />
völlig „freien Beweiswürdigung“ scheitern muss, was darauf beruhende Gerichtsurteile delegitimiert. Nach<br />
Betrachtung der Defizite einer revisionsgerichtlichen Beweiskontrolle in Strafsachen erläutert der Autor<br />
die zahlreichen Fehlerquellen für ein sachlich richtiges Urteil und geht der Frage nach dem für eine Verurteilung<br />
erforderlichen Beweismaß nach (Teil II). Zutreffend lenkt er das Augenmerk auf gedächt-<br />
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<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
nispsychologische Phänomene, die insbesondere bei der Würdigung von Zeugenaussagen (Teil III)<br />
dringend zu berücksichtigen sind, aber selbst langjährig tätigen Praktikern oft unbewusst bleiben. Danach<br />
widmet sich der Autor den Eigenheiten bei der Beweiswürdigung im Zivilprozess sowie Spezialproblemen<br />
aus beiden Prozessrechtsbereichen (Teil IV). Der eilige Leser kann das aktuelle und gut fundierte<br />
Kompendium nach seinem individuellen Bedarf abschnittweise aufnehmen. Die gute Gliederung verschafft<br />
auch dazu den nötigen Überblick. Fazit: Die Lektüre des Buches ist allen forensisch tätigen Praktiker zu<br />
empfehlen, weil sie einen modifizierten Blick auf die zentrale Frage der Beweiswürdigung eröffnet und<br />
zahlreiche Anregungen für die tägliche Arbeit liefert. Dafür ist das Werk unverzichtbar.<br />
RiBGH Dr. RALF ESCHELBACH, Heidesheim<br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
FRIND, Praxishandbuch Privatinsolvenz, 2. Aufl. 2017, 606 S., C.H. Beck Verlag, 119 €<br />
Arbeitslosigkeit, Tod des Lebenspartners oder andere Lebenssituationen führen immer wieder zu<br />
Finanzschwierigkeiten, die eine Beratung zu insolvenzrechtlichen Fragen erfordert. Seit Einführung der<br />
Privatinsolvenz erreichen diese Themen letztlich jeden Mandantenstamm. Eine effiziente Einarbeitung<br />
in das Insolvenzrecht ist daher insbesondere für den Allgemeinanwalt wichtig. Das Praxishandbuch<br />
Privatinsolvenz führt den Leser durch den Ablauf eines Insolvenzverfahrens inklusive einer möglichen<br />
Restschuldbefreiung. Dabei wurde auch schon die Reform des Privatinsolvenzrechts berücksichtigt<br />
und ein Schwerpunkt auf das Insolvenzplanverfahren gelegt. Die wichtigen Bereiche Versagungs- und<br />
Eigenverwaltungsverfahren, Pfändungsschutz und Massegenerierung werden ebenfalls ausführlich<br />
besprochen. Die Darstellung ist sprachlich und thematisch sehr gut. Der Leser spürt deutlich die enorme<br />
praktische Erfahrung des Autors, z.B. in den Fallbeispielen, den Übersichten und den Checklisten. In der<br />
Praxis wertvoll sind die Hinweise zur Insolvenzantragsstellung; aber auch Informationen zur Vergütung<br />
des Insolvenzverwalters oder zur Zwangsvollstreckung im Insolvenzverfahren beschleunigen die Arbeit<br />
im Mandat. Besonders wichtig ist dem Autor das Thema Restschuldbefreiung, das realistisch behandelt<br />
und nicht schöngeredet wird. Das Buch bietet mehr als nur einen Ausschnitt oder die bloße Beschreibung<br />
eines Teilbereichs des Insolvenzrechts. Es schafft ein Verständnis für das gesamte Insolvenzverfahren<br />
und ist für die Einarbeitung auch des erstmals mit der Thematik befassten Lesers sehr gut<br />
geeignet. Fazit: Das Praxishandbuch ist die erste Wahl für die effiziente Arbeit im Bereich der Privatinsolvenz.<br />
RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />
HINTZEN, Forderungspfändung, 4. Aufl. 2017, 320 S., <strong>ZAP</strong> Verlag, 39 €<br />
Die neue Auflage enthält in bewährt übersichtlicher Form eine Vielzahl der denkbaren Möglichkeiten der<br />
Vollstreckung in Forderungsrechte des Schuldners. Zunächst erörtert der Autor detailliert das allgemeine<br />
Verfahren bei der Forderungspfändung. Es werden hilfreiche Hinweise und Erläuterungen zur Zuständigkeit<br />
des Gerichts, zum Formularzwang für Gläubigeranträge, zum Pfändungsbeschluss, zum Rechtsbehelf,<br />
zur Zustellung des Pfändungsbeschlusses, zur Wirkung der Pfändung, zur Erklärungspflicht des Drittschuldners<br />
und nicht zuletzt zu Vorpfändungen gegeben. Im zweiten Teil des Buches werden die Grundlagen<br />
der Lohn- und Gehaltspfändung mit Rechnungen, Hinweisen und Schaubildern ausführlich dargestellt.<br />
Es werden sowohl Beispiele für das pfändbare Einkommen als auch für bedingt pfändbare und<br />
gänzlich unpfändbare Bezüge erörtert. Neben den Sonderfällen (Pfändung von Sozialleistungsansprüchen<br />
sowie deren Zusammenrechnung mit Arbeitseinkommen) wird ausführlich erläutert, wie der Gläubiger<br />
den pfändbaren Betrag erhöhen kann. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Kontopfändung.<br />
Ausgehend von der Erläuterung der verschiedenen Kontenarten über Einzelfragen zum Pfändungsverfahren<br />
gelangt der Autor schließlich zum Kontopfändungsschutz. Einem kurzen Abriss der Reform<br />
des Kontopfändungsschutzes folgt u.a. die Besprechung des Pfändungsschutzkontos. In einem weiteren<br />
Kapitel werden einzelne, ausgewählte Forderungsrechte (Bausparguthaben, Genossenschaftsanteile,<br />
Lebensversicherungsansprüche, Sparguthaben u.a.m.) und deren Pfändbarkeit übersichtlich und leicht<br />
verständlich erörtert. Abgerundet wird das Buch mit den abgedruckten Anträgen auf Erlass eines Pfändungs-<br />
und Überweisungsbeschlusses sowohl für gewöhnliche Geldforderungen als auch für Unterhaltsforderungen.<br />
Fazit: Aufgrund der kompakten und übersichtlichen Darstellung der verschiedenen<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 325
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
Möglichkeiten der Forderungspfändung sowie der leicht verständlichen Erläuterungen können alle mit der<br />
Pfändung befassten Personen einfach, sicher und schnell das Notwendige veranlassen, um erfolgreich<br />
Pfändungsmaßnahmen in die Praxis umzusetzen. Insolvenzsachbearbeiter ANDREAS ZAMAITAT, Achern<br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
KAZEMI, Die EU-Datenschutz-Grundverordnung in der anwaltlichen Beratungspraxis, 2017, 568 S.,<br />
Deutscher Anwaltverlag, 139 €<br />
Die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) trat im Mai 2016 in Kraft und wird am 25. Mai <strong>2018</strong><br />
wirksam. Zeitgleich wird auch das daran angepasste Bundesdatenschutzgesetz (BDSG-Neu) in Kraft<br />
treten. Einige Grundsätze und Regelungsinstrumente des Datenschutzes werden sich grundlegend<br />
ändern, andere bleiben erhalten. Datenschutzrechtler werden damit sicherlich gut umgehen können, aber<br />
für alle anderen türmt sich ein Berg an Fragen auf, die in kürzester Zeit eingeordnet und beantwortet<br />
werden müssen. Für die Bewältigung dieser Aufgabe stellt Dr. ROBERT KAZEMI in elf Kapiteln für das deutsche<br />
und einem „Extra“-Kapitel für das österreichische Recht eingängige Erläuterungen bereit. Die durchgängig<br />
klare Gliederung führt den Leser direkt nach einer Beschreibung des Entstehungswegs der DSGVO zu den<br />
wichtigen Kapiteln: Zentrale Begriffe, Allgemeine Verarbeitungsgrundsätze und Rechtsgrundlagen der<br />
Verarbeitung, in denen das begriffliche und rechtliche Grundgerüst des neuen Datenschutzrechts beschrieben<br />
wird. In den nachfolgenden Kapiteln werden mit den Informations- und Mitteilungspflichten<br />
des Verantwortlichen, den Rechten des Betroffenen und den Sicherungsmechanismen zur Einhaltung der<br />
DSGVO die in der Praxis vermutlich problematischsten Themen aufgegriffen. Diese Themen wirken auch<br />
in andere Rechtskreise hinein, so dass hier Anknüpfungspunkte eingeflochten sind, z.B. zu Pflichten bei der<br />
Datenerhebung in Versicherungsanträgen. Die weiteren Kapitel betreffen konkrete Einzelthemen, die<br />
Auftragsverarbeitung, das Beschäftigungsdatenschutzrecht im BSDG-Neu, den Datenexport in Drittländer,<br />
die Rechtsbehelfe sowie Fragen zu Haftung, Geldbußen und Sanktionen. Fazit: Eingängig und<br />
umfassend: Ein „Must-Have“ für den Schreibtisch von Anwälten und Unternehmensjuristen.<br />
RA ANDRÉ NAUMANN, Bornheim<br />
Arbeitsrecht<br />
WEINMANN/GÖTZ, Das Arbeitnehmermandat, 2. Aufl. 2017, 367 S., Nomos Verlag, 68 €<br />
Auch in der zweiten Auflage bietet das Werk sowohl für erfahrene Arbeitsrechtler als auch für<br />
Allgemeinanwälte den richtigen Ansatz: einen Vollständigkeitscheck oder erst einmal einen gewünschten<br />
Überblick über alles, was zur Akte auf dem Tisch relevant sein kann. Große einführende Worte benötigen<br />
die Autoren nicht, um mit ansprechenden Formulierungen ohne Umschweife auf die Punkte zu kommen,<br />
die für die anwaltliche Bearbeitung benötigt werden. Im Buch findet sich in besonders sorgfältig<br />
zusammengetragener Struktur – von der ersten zusammenfassenden Information als Überblick bis hin zu<br />
umfassenden Tipps zur praktischen Anwendung – alles, was wir im arbeitsrechtlichen Anwaltsalltag nicht<br />
in unseren Köpfen finden oder was aufgefrischt werden muss. Die gut recherchierten und mit gut<br />
zitierfähigen Quellen aus Rechtsprechung und Literatur belegten Inhalte sind beste Anregungen für<br />
Schriftsätze jeder Art. Abgerundet werden die Kapitel mit wertvollen Hinweisen zur praktischen Bearbeitung,<br />
die bestens geeignet sind, eigene Überlegungen hier und da zu ergänzen. Es ist spürbar, dass die<br />
Autoren durchweg die Sicht ihrer Kollegen im Blick haben und diese auch hervorragend bedienen. Beim<br />
Lesen ist es fast so, als würde man sich mit den Autoren kurz über eine arbeitsrechtliche Frage beraten.<br />
Das ist der Stil, den wir im Alltag benötigen und schätzen. Und auch wenn der Schriftsatz schon fertig ist,<br />
lohnt sich der Blick ins Buch, denn oft wird sich eine interessante Ergänzung finden lassen, die unsere<br />
Arbeit noch verbessert. Das Werk ist ein thematischer Begleiter, der uns nicht im Stich lässt, falls wir eine<br />
Thematik ggf. lange nicht mehr bearbeitet haben oder die notwendige Sicherheit fehlt. Fazit: Das Buch<br />
verdient eine ausdrückliche Empfehlung. Es ist ein Schlüssel für jedes arbeitsrechtliche Thema und<br />
verschafft uns zuverlässig Einstieg und Zugang für die Mandatsbearbeitung im Arbeitsrecht.<br />
RAin ULRIKE WEWERS, Bonn<br />
326 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
<strong>ZAP</strong><br />
Buchreport<br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
HARTUNG/BUES/HALBLEIB (Hrsg.), Legal Tech, <strong>2018</strong>, 308 S., C.H. Beck Verlag, 89 €<br />
Wenig hat die Rechtsanwaltschaft in den vergangenen zwei Jahren so beschäftigt wie die Digitalisierung<br />
des Rechtsmarkts. Sei es wegen der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs oder aufgrund der<br />
drohenden Konkurrenz durch automatisierte Rechtsberatung. Fakt ist: An dem Thema kommt niemand<br />
mehr vorbei. Jeder Anwalt ist gut beraten, sich mit Legal Tech und den damit verbundenen Chancen und<br />
Risiken zu befassen, wenn er den Anschluss im Rechtsberatungsmarkt nicht verlieren möchte. Einen<br />
guten Einstieg bietet das erste umfassende Werk zum Thema: Die Autoren erklären die wichtigsten<br />
Begrifflichkeiten und wagen einen Blick in die nahe und ferne Zukunft der anwaltlichen Tätigkeit.<br />
Pioniere berichten vom Einsatz verschiedener Technologien in ihrer Praxis und geben Tipps, wie Legal<br />
Tech in den Kanzleialltag integriert werden kann – gleich, ob der Leser noch ganz am Anfang steht oder<br />
bereits erste Schritte in Richtung Digitalisierung gewagt hat. Etwas überraschend ist, dass einige Kapitel<br />
in englischer Sprache geschrieben sind – ob dies nun an fehlender Zeit zur Übersetzung oder an der<br />
zwanghaften Internationalität liegt, die dem Thema immanent ist, bleibt dahingestellt. Fazit: Wer<br />
verstehen möchte, was genau unter Legal Tech zu verstehen ist, ist mit diesem Werk ebenso gut bedient<br />
wie derjenige, der bereits erste Softwarelösungen implementiert hat und sich weitere Inspiration<br />
zur Steigerung seiner Effizienz erhofft.<br />
Ass. iur. MARIEKE STÖCKER-PRITZ, Köln<br />
Gebührenrecht<br />
GROß, Beratungshilfe – Prozesskostenhilfe – Verfahrenskostenhilfe, 14. Aufl. <strong>2018</strong>, 609 S.,<br />
C.F. Müller Verlag, 89,99 €<br />
Beratungshilfe, Prozesskostenhilfe, Verfahrenskostenhilfe sind lästige Begleitthemen, mit denen man<br />
sich in der anwaltlichen Praxis sehr häufig beschäftigen muss – zusätzlich zu der Arbeit in der Sache<br />
selbst. Umso wichtiger ist hier eine griffige Hilfestellung im arbeitsintensiven Kanzleialltag, und diese<br />
liefert das Buch von INGO MICHAEL GROß, der als Präsident des Amtsgerichts Braunschweig und Lehrbeauftragter<br />
an der TU Braunschweig sein profundes Fachwissen einbringen konnte. Übersichtlich erläutert<br />
werden in dem in Kommentarform aufgebauten und übersichtlich gestalteten Werk nicht nur die<br />
Vorschriften des BerHG, der ZPO zur Prozesskostenhilfe und des FamFG zur Verfahrenskostenhilfe,<br />
sondern auch die einschlägigen Regelungen der §§ 44 bis 59 RVG, der BRAO, des RPflG und die in der<br />
anwaltlichen Praxis kaum bekannten Durchführungsbestimmungen der Landesjustizverwaltungen zu<br />
Prozess- und Verfahrenskostenhilfe (DB-Prozesskostenhilfe), die Beratungshilfeformularverordnung,<br />
die Wohngeldverordnung sowie die Vorschrift des § 90 SGB XII nebst der Durchführungsverordnung zu<br />
§ 82 SGB XII. Sogar die europarechtliche RiLi 2003/8/EG zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei<br />
Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug wird behandelt. Neben dem amtlichen Prozesskostenhilfe-Formular<br />
wird auch der gesamte Text des dazugehörigen Hinweisblatts abgedruckt sowie die<br />
Verwaltungsvorschriften zur Vergütungsfestsetzung. Eher Lokalkolorit haben dagegen die Verfahrenskostenhilfe-Leitlinien<br />
des FamG Hannover. Fazit: Das Buch, das zu seinen verständlichen Erläuterungen<br />
auch regelmäßig umfassende Rechtssprechungsnachweise liefert, ist ein Hilfsmittel, das man sich<br />
zunutze machen sollte!<br />
RiAG a.D. Dr. WOLFRAM VIEFHUES, Gelsenkirchen<br />
PATZELT (Begr.), Schwarzwälder Gebührentabelle, 33. Aufl. 2017, 84 S., Deutscher Anwaltverlag,<br />
21,90 €<br />
Über diesen Klassiker der Gebührentabellen braucht man nicht mehr viele Worte zu verlieren – bereits in<br />
33. Auflage gibt der Deutsche Anwaltverlag dieses einzigartige Tabellenwerk heraus. Bis zu einem Wert<br />
von 1,3 Mio. Euro finden sich hier sämtliche gängigen Gebührensätze der anwaltlichen Wertgebühren, und<br />
zwar bereits ausgerechnet mit Zwischensumme (netto), Umsatzsteuer und Gesamtbetrag. Auch die<br />
übrigen Anwaltsgebühren in Strafsachen sowie Bußgeldsachen, Sozialsachen etc. werden übersichtlich<br />
dargestellt. Die Beratungshilfe fehlt ebenso wenig wie eine Übersicht zum einzusetzenden Einkommen in<br />
PKH- und VKH-Mandaten. Eingearbeitet sind außerdem eine Übersicht zu den wichtigsten Gebühren in<br />
familienrechtlichen Verfahren sowie die dortigen Gegenstandswerte. Auch weitere Tabellen, so z.B. zur<br />
Berechnung der Gebühren bei mehreren Auftraggebern, zu den wesentlichen Gebühren und Auslagentat-<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 327
Buchreport<br />
<strong>ZAP</strong><br />
beständen – insbesondere eine Tabelle zu den Dokumentenpauschalen bis 90 Seiten sowohl für Schwarz-<br />
Weiß- als auch für Farbkopien – sowie die Berechnung der Hebegebühr fehlen nicht. Neu aufgenommen<br />
worden ist die Gebührentabelle nach § 34 GNotKG. Fazit: Eine erhebliche Erleichterung der (Abrechnungs-)<br />
Praxis für jeden Anwalt – mit der 33. Auflage aktualisiert und im Anwendungsbereich noch erweitert.<br />
RA NORBERT SCHNEIDER, Neunkirchen<br />
Anwaltsformulare<br />
DOMBEK/KROIß (Hrsg.), FormularBibliothek Vertragsgestaltung, 3. Aufl. <strong>2018</strong>, 3.4<strong>07</strong> S. (mit Online-<br />
Nutzung), Nomos Verlag, 198 €<br />
Diese Formularbibliothek ist keine Unbekannte. In den bisherigen Auflagen gab es Einzelbände zu den<br />
verschiedenen Rechtsbereichen. Die jetzt erschienene 3. Auflage fasst diese Rechtsbereiche in einem<br />
(nicht mehr wirklich handlichen) Band zusammen. Zum Werk gehört ein Online-Zugang, der die<br />
elektronische Version mit allen Mustern und dem gesamten Volltext (unter Einschluss einer Verlinkung<br />
aller zitierten Gesetze und der Rechtsprechung) zur Verfügung stellt. Es handelt sich nicht nur um eine<br />
Aneinanderreihung von Formularen, die in einigen wenigen Fußnoten erläutert würden. Vielmehr sind<br />
(nach meinen Stichproben) in fundierter Weise jeweils materiell-rechtliche Erläuterungen vorangestellt.<br />
Behandelt werden Arbeitsrecht, Familienrecht, Erbrecht, Miete/Grundstück/WEG, Gesellschaftsrecht (mit<br />
GmbH, AG, Einzelkaufmann, GbR, oHG, KG, GmbH & Co. KG, Verein, Stiftung, Genossenschaft), privates<br />
Baurecht und Schuldrecht (mit Kauf, Darlehen, Bürgschaft und IT-Recht). Die Kombination von<br />
rechtlichen Erläuterungen und Formulierungsanregungen macht das Buch zu einer Fundgrube. Die<br />
Autorinnen und Autoren aus Anwaltschaft, Notariat und Justiz stellen den Praxisbezug in den Mittelpunkt.<br />
Besonders hervorheben möchte ich die von DOMBEK innerhalb der Rubrik Gesellschaftsrecht besorgte<br />
Behandlung der Verträge des Rechtsanwalts (Rechtsformen von Zusammenschlüssen, Kanzleikauf und<br />
Ausscheiden). Die Formulierungsvorschläge von DOMBEK enthalten bedenkenswerte und interessengerechte<br />
Anregungen zu den schwierigen Themen Abfindung und Mandatsschutz. Auch die von ihm<br />
angeregten Streitbeilegungsklauseln verdienen Verbreitung. Fazit: Insgesamt ist die Formularbibliothek in<br />
jeder Hinsicht zu empfehlen. Nicht zuletzt unter Berücksichtigung des Online-Zugangs ist der Preis<br />
durchaus günstig.<br />
RA Prof. Dr. BERND HIRTZ, Köln<br />
HEIDEL/PAULY/AMEND (Hrsg.), AnwaltFormulare. Schriftsätze – Verträge – Erläuterungen, 9. Aufl.<br />
<strong>2018</strong>, 3.060 S. (mit CD-ROM), Deutscher Anwaltverlag, 159 €/179 € (ab 1.5.<strong>2018</strong>)<br />
Die AnwaltFormulare haben seit 1997 nunmehr die 9. Auflage erreicht. Anders als bei der zuvor<br />
besprochenen Formularbibliothek von DOMBEK/KROIß liegt der Schwerpunkt dieses Werks nicht auf der<br />
Gestaltung von Verträgen und sonstigen Rechtsakten. Vielmehr werden in den angesprochenen Rechtsgebieten<br />
auch prozedurale Hinweise und Muster zur Verfügung gestellt, so dass auch das Verfahrensrecht<br />
abgedeckt ist. Während die Formularbibliothek einen Online-Zugang bereithält, arbeiten die Anwalt-<br />
Formulare (noch) mit einer CD-ROM, von der die Muster in die eigene Textverarbeitung übernommen<br />
werden können. Das Werk bietet fundierte Einführungen in die materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen<br />
Fragen. Die Themen sind hier breit gestreut und erfassen in 56 Kapiteln nicht nur die üblichen<br />
Bereiche, sondern auch Spezialfragen. Nur beispielhaft seien erwähnt: AGB, Anwaltshaftungsrecht,<br />
Arzthaftungsrecht, Öffentliches Baurecht, Europarecht, Informationstechnologierecht, Internationales<br />
Zivilprozessrecht, Menschenrechtsbeschwerde, Presserecht, Verfassungsbeschwerde, Vergaberecht und<br />
Zwangsvollstreckung. Auch für dieses Buch gilt: Es ist eine Fundgrube. Nahezu das gesamte Spektrum<br />
anwaltlicher Leistungen wird abgedeckt. Soweit Spezialfragen nur angesprochen, aber nicht erörtert<br />
werden können, finden sich weiterführende Literaturhinweise. Das Buch ist ideal für die Allgemeinanwältin<br />
oder den Generalisten. Es bietet aber auch zu Spezialfragen in konzentrierter Zusammenfassung<br />
die erforderlichen aktuellen Informationen. Fazit: Die AnwaltFormulare haben sich zu Recht am Markt<br />
durchgesetzt. Die neue Auflage wird die Wertschätzung bestätigen und vertiefen. Jede Rechtsanwältin<br />
und jeder Rechtsanwalt, die nicht nur auf einem engen Spezialgebiet tätig sind, werden dieses Buch mit<br />
großem Gewinn benutzen.<br />
RA Prof. Dr. BERND HIRTZ, Köln<br />
328 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 55<br />
Eilnachrichten<br />
Volltext-Service: Die Entscheidungsvolltexte zu den <strong>ZAP</strong> Eilnachrichten können Sie online kostenlos bei<br />
unserem Kooperationspartner juris abrufen, Anmeldung unter www.juris.de. Einzelheiten zum Anmeldevorgang<br />
finden Sie auf unserer Homepage www.zap-verlag.de/zap/service. Sie sind Neu-Abonnent? Dann<br />
schicken Sie bitte eine E-Mail mit dem Betreff „Neu-Abonnement“ an freischaltcode-zap@zap-verlag.de<br />
und erhalten so Ihre Zugangsdaten.<br />
Allgemeines Zivilrecht<br />
Schadensersatz: Berücksichtigung von Reserveursachen<br />
(OLG Hamm, Urt. v. 16.1.<strong>2018</strong> – 7 U 7/17) • Liegt eine Reserveursache vor, ist nur der Schaden zu ersetzen, der<br />
darin besteht, dass das Rechtsgut zeitlich früher als durch die Reserveursache verletzt worden ist. Es ist<br />
Aufgabe des Schadensersatzrechts, dem Geschädigten die durch das schädigende Ereignis zugefügten<br />
Nachteile abzunehmen. Deshalb ist der Geschädigte nur insoweit anspruchsberechtigt, als er durch das<br />
schädigende Ereignis tatsächlich eine Schlechterstellung erfahren hat. Daraus folgt, dass eine Reserveursache,<br />
die mit Sicherheit ebenfalls zu dem eingetretenen Schaden geführt hätte, zu berücksichtigen ist.<br />
Es muss nur der Schaden ersetzt werden, der darin besteht, dass das Rechtsgut zeitlich früher als durch<br />
die Reserveursache verletzt worden ist. Hinweis: Der Schädiger ist für den Umfang der Ersparnis beweispflichtig,<br />
wobei § 287 ZPO anwendbar ist. Den Geschädigten trifft ggf. eine sekundäre Darlegungslast.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 197/<strong>2018</strong><br />
Miete/Nutzungen<br />
Gewerberaummiete: Mietminderung bei eindringendem Niederschlagswasser<br />
(OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.10.2017 – 9 U 141/15) • Für eindringendes Niederschlagswasser, das in<br />
vermieteten Verkaufsräumen an der Innenseite von Wänden, Fenstern und Türen herunterläuft, ist in<br />
jedem Fall der Vermieter verantwortlich. Eine unzulängliche Gestaltung der Abwassersituation würde<br />
daran nichts ändern. Das Risiko weiterer Wassereintritte ist ein wesentlicher Mangel, der zur Minderung<br />
der Miete führen kann. Die Frage, inwieweit eine bestimmte Gefahr zu einer Gebrauchsbeeinträchtigung<br />
für den Mieter führt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 198/<strong>2018</strong><br />
Bauvertragsrecht<br />
Werkvertrag: Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte<br />
(BGH, Urt. v. 7.12.2017 – VII ZR 204/14) • Den Besteller einer Werkleistung trifft die vertragliche Pflicht, alles<br />
ihm Zumutbare zu tun, um seinen Vertragspartner bei der Ausführung der Arbeiten vor Schaden zu<br />
bewahren. Werden Arbeitnehmer des beauftragten Unternehmers bei Ausführung der Arbeiten<br />
geschädigt und ist dies dem Besteller zuzurechnen, hat er dafür die Verantwortung zu übernehmen.<br />
Die Schutzbedürftigkeit der bei dem Unternehmer beschäftigten Arbeitnehmer erfordert es regelmäßig<br />
nicht, dass neben dem Besteller noch ein weiterer Vertragsschuldner zur Verfügung steht, der nach den<br />
Grundsätzen eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter haftet. Hinweis: Der BGH stellt klar,<br />
dass Ansprüche aus einem sog. Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte das Vorliegen eines bestimmten<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 329
Fach 1, Seite 56 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
Haftungsbedürfnisses erfordern. Dies entfällt, wenn dem Dritten eigene vertragliche Ansprüche zustehen,<br />
die denselben oder zumindest einen gleichwertigen Inhalt haben wie diejenigen Ansprüche, die ihm über<br />
eine Einbeziehung in den Schutzbereich des Vertrags zukämen. Hiervon ist auszugehen, wenn Arbeitnehmer<br />
des beauftragten Unternehmers bei Ausführung der Arbeiten geschädigt werden und dies dem<br />
Besteller zuzurechnen ist. In diesem Fall erfordert es die Schutzbedürftigkeit der bei dem Unternehmer<br />
beschäftigten Arbeitnehmer regelmäßig nicht, dass neben dem Besteller noch ein weiterer Vertragsschuldner<br />
zur Verfügung steht. Der vertragliche Schadensersatzanspruch der Arbeitnehmer ist insoweit<br />
ausschließlich aus dem zwischen dem Besteller und dem Unternehmer bestehenden Werkvertrag, in<br />
dessen Schutzbereich die Arbeitnehmer aufgrund ihres arbeitsrechtlichen Verhältnisses einbezogen sind,<br />
herzuleiten. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 199/<strong>2018</strong><br />
Sonstiges Vertragsrecht<br />
Gerichtsstand: Fluggastentschädigung bei Umsteigeflügen<br />
(EuGH, Urt. v. 7.3.<strong>2018</strong> – C-274/16, C-447/16 u. C-448/16) • Die Fluggesellschaft, die in einem Mitgliedstaat<br />
nur den ersten Flug eines Umsteigeflugs durchgeführt hat, kann vor den Gerichten am Endziel<br />
in einem anderen Mitgliedstaat auf Verspätungsentschädigung verklagt werden. Dies gilt, wenn die<br />
verschiedenen Flüge Gegenstand einer einheitlichen Buchung für die gesamte Reise waren und die<br />
große Verspätung bei Ankunft am Endziel auf eine Störung zurückzuführen ist, die sich auf dem ersten<br />
Flug ereignet hat. Hinweis: Danach kann bei Verspätungen auf einem Flug nach Deutschland gegen<br />
eine ausländische Airline, die die erste Teilstrecke eines Umsteigeflugs durchgeführt hat, auch vor<br />
deutschen Gerichten geklagt werden. Dass diese gar nicht Vertragspartner war, ist laut EuGH unbeachtlich.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 200/<strong>2018</strong><br />
Immobiliarsachenrecht/WEG-Recht<br />
WEG-Beschluss: Anfechtbarkeit bei mangelnder Beschlussfähigkeit<br />
(OLG München, Beschl. v. 26.1.<strong>2018</strong> – 34 Wx 304/17) • Eine Erstversammlung ist nach § 25 Abs. 3 WEG<br />
nur beschlussfähig, wenn die erschienenen stimmberechtigten Wohnungseigentümer mehr als die<br />
Hälfte der Miteigentumsanteile vertreten. In der Regel ist ein trotz mangelnder Beschlussfähigkeit<br />
gefasster Beschluss allerdings nicht nichtig, sondern nur anfechtbar. Ausnahmen sind anerkannt, wenn<br />
bei der Einladung das Mitwirkungsrecht eines Wohnungseigentümers bewusst umgangen wird; in<br />
diesem Fall kann dies zur Nichtigkeit der daraufhin gefassten Beschlüsse führen. Auch wenn sich aus den<br />
vorgelegten Unterlagen ergibt, dass der Beschluss über die Bestellung des Verwalters anfechtbar ist,<br />
kann das Grundbuchamt regelmäßig vom Bestand der Verwalterbestellung ausgehen.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 201/<strong>2018</strong><br />
Bank- und Kreditwesen<br />
Darlehensvertrag: Wirksamkeit von Preisnebenabreden<br />
(BGH, Urt. v. 17.10.2017 – XI ZR 157/16) • Die formularmäßige Bestimmung einer laufzeitunabhängigen<br />
„Kostenbeteiligung“ in einem Darlehensvertrag bei Gewährung des Darlehens zu einem unter Marktpreisniveau<br />
liegenden Zins stellt eine kontrollfähige Preisnebenabrede dar. Eine solche Klausel weicht von<br />
wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung ab. Dadurch werden die Darlehensnehmer entgegen<br />
den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Hinweis: Der BGH weist darauf<br />
hin, dass Darlehensnehmer durch laufzeitunabhängige Bearbeitungsentgelte allerdings dann nicht unangemessen<br />
benachteiligt werden, wenn es sich um die zweckgebundene Gewährung besonders günstiger<br />
Mittel zur Förderung wirtschaftspolitischer Ziele handelt und das streitige Bearbeitungsentgelt dabei<br />
Teil vorgegebener Förderbedingungen ist (BGH, Urt. v. 16.2.2016 – XI ZR 454/14). Das treffe auf den<br />
vorliegenden Fall jedoch nicht zu. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 202/<strong>2018</strong><br />
330 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 57<br />
Straßenverkehrsrecht<br />
Kfz-Haftpflichtversicherung: Addition von Regressbeiträgen bei Obliegenheitsverletzungen<br />
(OLG Frankfurt, Beschl. v. 27.12.2017 – 10 U 218/16) • Bei der Verletzung von Obliegenheiten, die den Versicherten<br />
vor und nach dem Versicherungsfall treffen, sind die Beträge zu addieren, für die Leistungsfreiheit<br />
besteht. Rechtsgrundlage ist die Auslegung der Versicherungsbedingungen. Sie steht nicht in Widerspruch<br />
zu höherrangigem Recht wie der Kraftfahrzeug-Pflichtversicherungsverordnung (KfZPflVV). Hinweis: Es<br />
stellt eine besonders schwerwiegende, vorsätzlich begangene Verletzung der Aufklärungspflicht i.S.v. § 6<br />
Abs. 3 KfZPflVV dar, wenn der Versicherungsnehmer sich nicht nur unerlaubt vom Unfallort entfernt,<br />
sondern im Nachhinein bestreitet, das Unfallfahrzeug gefahren zu haben. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 203/<strong>2018</strong><br />
Versicherungsrecht<br />
Risikolebensversicherung: Auslegung Allgemeiner Versicherungsbedingungen<br />
(BGH, Urt. v. 7.2.<strong>2018</strong> – IV ZR 53/17) • Eine Klausel in Allgemeinen Versicherungsbedingungen einer<br />
Risikolebensversicherung, nach der ein Bezugsberechtigter nach dem Ableben des Versicherungsnehmers<br />
als bevollmächtigt zur Entgegennahme von Rücktritts- oder Anfechtungserklärungen gilt, kann nicht so<br />
ausgelegt werden, dass im Falle einer Sicherungszession Bezugsberechtigter nur noch der Sicherungszessionar<br />
ist. Der Versicherungsnehmer wird die Mitteilung einer Sicherungsabtretung an den Versicherer<br />
jedenfalls nicht so verstehen, dass er damit den Zessionar zugleich als alleinigen oder vorrangigen<br />
Empfangsbevollmächtigen für Rücktritts- oder Anfechtungserklärungen benennt. Dies entspricht auch<br />
dem einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbaren Zweck des § 7 Abs. 8 S. 1 AVB,<br />
hinsichtlich des richtigen Erklärungsadressaten für Klarheit zu sorgen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 204/<strong>2018</strong><br />
Familienrecht<br />
Betreuungsrecht: Anforderungen an die Bestellung eines Betreuers<br />
(BGH, Beschl. v. 31.1.<strong>2018</strong> – XII ZB 527/17) • Hat der Betroffene mehrere Personen in der Weise<br />
bevollmächtigt, dass sie ihn nur gemeinschaftlich vertreten können, können die Bevollmächtigten nur<br />
dann die Angelegenheiten des Betroffenen ebenso gut wie ein Betreuer besorgen, wenn davon<br />
auszugehen ist, dass sie zu einer gemeinschaftlichen Vertretung in der Lage sind. Dazu bedarf es einer<br />
Zusammenarbeit und Abstimmung der Bevollmächtigten und damit jedenfalls eines Mindestmaßes an<br />
Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit. Hinweis: Mit dieser Entscheidung bekräftigt der BGH seine<br />
Rechtsprechung zur Bestellung eines Betreuers. Danach steht eine Vorsorgevollmacht der Bestellung<br />
eines Betreuers grundsätzlich entgegen (vgl. BGH, Beschl. v. 17.2.2016 – XII ZB 498/15). Anders kann es<br />
liegen, wenn Zweifel an der Wirksamkeit der Vollmachterteilung oder am Fortbestand der Vollmacht<br />
bestehen, die geeignet sind, die Akzeptanz der Vollmacht im Rechtsverkehr und damit die Wahrnehmung<br />
von Rechten des Betroffenen durch den Bevollmächtigten zu beeinträchtigen (s. BGH, Beschl.<br />
v. 3.2.2016 – XII ZB 425/14). Eine Betreuung kann trotz Vorsorgevollmacht dann erforderlich sein, wenn<br />
der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen zu besorgen, insb. weil zu<br />
befürchten ist, dass die Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen durch jenen eine konkrete Gefahr<br />
für das Wohl des Betroffenen begründet. Letzteres ist der Fall, wenn der Bevollmächtigte wegen<br />
erheblicher Bedenken an seiner Geeignetheit oder Redlichkeit als ungeeignet erscheint (BGH, Beschl. v.<br />
26.2.2014 – XII ZB 301/13; v. 13.4.2011 – XII ZB 584/10). <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 205/<strong>2018</strong><br />
Nachlass/Erbrecht<br />
Testamentsvollstrecker: Aufwendungsersatz und Vergütung<br />
(OLG München, Urt. v. 15.11.2017 – 20 U 5006/16) • Eine objektive Pflichtverletzung des Testamentsvollstreckers<br />
ist nicht bereits deshalb zu bejahen, wenn der Testamentsvollstrecker Geldbeträge ohne<br />
entsprechende Anordnung des Erblassers oder eine mit der Erbengemeinschaft zuvor getroffene Vereinbarung<br />
zur Deckung seiner Auslagen und seiner Vergütung dem Nachlass entnimmt. Vielmehr<br />
besteht grds. ein Anspruch des Testamentsvollstreckers auf Aufwendungsersatz, der sofort fällig ist,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 331
Fach 1, Seite 58 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
sowie ein Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Zwar kann der Testamentsvollstrecker die Höhe<br />
dieser Vergütung nicht einseitig selbst bestimmen und obliegt die Bestimmung im Streitfall dem<br />
Prozessrichter. Jedoch kann der Testamentsvollstrecker die von ihm für angemessen erachtete Vergütung<br />
grds. dem Nachlass selbst entnehmen, wobei er allerdings das Risiko trägt, dass der entnommene<br />
Betrag nicht der tatsächlich geschuldete ist. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 206/<strong>2018</strong><br />
Zivilprozessrecht<br />
Unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand<br />
(BGH, Beschl. v. 24.1.<strong>2018</strong> – XII ZB 534/17) • Zwar darf auch ein Rechtsanwalt grds. auf die Richtigkeit einer<br />
durch das Gericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen. Gleichwohl muss von ihm erwartet<br />
werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen<br />
Verfahrensart kennt. Das Vertrauen in die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung kann er deshalb nicht<br />
uneingeschränkt, sondern nur in solchen Fällen in Anspruch nehmen, in denen die inhaltlich fehlerhafte<br />
Rechtsbehelfsbelehrung zu einem unvermeidbaren, zumindest aber zu einem nachvollziehbaren und<br />
daher verständlichen Rechtsirrtum des Rechtsanwalts geführt hat. Die Fristversäumung ist mithin auch in<br />
den Fällen einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht unverschuldet, wenn diese offenkundig falsch<br />
gewesen ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand<br />
– nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 2<strong>07</strong>/<strong>2018</strong><br />
Zwangsvollstreckung/Insolvenz<br />
Restschuldbefreiung: Antrag auf Versagung<br />
(LG Bad Kreuznach, Urt. v. 29.12.2017 – 1 T 125/17) • Das Gericht darf erst nach dem Schlusstermin über den<br />
vom Gläubiger gestellten Antrag auf Versagung der Restschuldbefreiung entscheiden. Dies folgt aus der<br />
eindeutigen Fassung und Begründung des § 290 Abs. 2 InsO n.F. Der Schuldner ist verpflichtet, sich aktiv<br />
und ernsthaft um eine wie auch immer geartete Arbeitsstelle zu bemühen, mit der er Einkommen hätte<br />
erwirtschaften können, das über der Pfändungsfreigrenze liegt. Als ungefähre Richtgröße können insoweit<br />
zwei bis drei Bewerbungen in der Woche gelten. Gelingt es dem Schuldner nicht, eine seiner Ausbildung<br />
entsprechende Arbeitsstelle zu finden, muss er ggf. auch eine berufsfremde oder auswärtige Tätigkeit<br />
annehmen. Dabei sind an die Zumutbarkeit strenge Anforderungen zu stellen. Hinweis: Das LG weist in<br />
dieser Entscheidung darauf hin, dass bei einer Verletzung der Erwerbsobliegenheit das Verschulden des<br />
Schuldners vermutet wird. Es liegt am Schuldner, sich zu exkulpieren. Das LG erläutert, dass die<br />
Erwerbsobliegenheit des § 290 Abs. 1 Nr. 7 InsO mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnt,<br />
gleichzeitig mit der Abtretungsfrist läuft und mit deren Ablauf endet. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 208/<strong>2018</strong><br />
Handelsrecht/Gesellschaftsrecht<br />
Investitionsschutzabkommen: Wirksamkeit von Schiedsklauseln<br />
(EuGH, Urt. v. 6.3.<strong>2018</strong> – C-284/16) • Die Slowakei und die Niederlande haben mit dem Abschluss des<br />
Abkommens zur Förderung und zum Schutz von Investitionen (Bilateral Investment Treaty – BIT) einen<br />
Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten geschaffen, der nicht sicherzustellen vermag, dass über<br />
diese Streitigkeiten ein zum Gerichtssystem der Union gehörendes Gericht befindet. Nur ein solches<br />
Gericht ist aber in der Lage, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Unter diesen<br />
Umständen beeinträchtigt die im BIT enthaltene Schiedsklausel die Autonomie des Unionsrechts und<br />
verstößt daher gegen Art. 18, 267 und 344 AEUV. Hinweis: Angerufen wurde der EuGH vom BGH, weil nach<br />
dem BIT Frankfurt/M. der festgelegte Schiedsort ist, mithin die deutschen Gerichte für die Überprüfung<br />
der Rechtmäßigkeit von Schiedssprüchen nach dem BIT zuständig sind. Das Verdikt des EuGH zu den<br />
Schiedsklauseln hat erhebliche Bedeutung in der EU, weil es derzeit 196 gleichlautende oder ähnliche<br />
Investitionsschutzabkommen zwischen den Staaten der EU gibt, die nach dieser Entscheidung faktisch<br />
„gekippt“ sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 209/<strong>2018</strong><br />
332 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Eilnachrichten <strong>2018</strong> Fach 1, Seite 59<br />
Wirtschafts-/Urheber-/Medien-/Marken-/Wettbewerbsrecht<br />
Unlauterer Wettbewerb: Verschweigen von Tatsachen<br />
(BGH, Urt. v. 16.11.2017 – I ZR 160/16) • Auch das Verschweigen einer Tatsache kann irreführend sein.<br />
Hiervon ist auszugehen, wenn der verschwiegenen Tatsache nach der Auffassung des Verkehrs eine<br />
besondere Bedeutung zukommt, so dass das Verschweigen geeignet ist, das Publikum in relevanter<br />
Weise irrezuführen, also seine Entschließung zu beeinflussen. Den Unternehmer trifft allerdings keine<br />
allgemeine Aufklärungspflicht über Tatsachen, die für die geschäftliche Entscheidung des angesprochenen<br />
Verkehrs möglicherweise von Bedeutung sind. Er ist nicht generell verpflichtet, auch auf<br />
weniger vorteilhafte oder gar negative Eigenschaften des eigenen Angebots hinzuweisen. Bewirbt der<br />
Anbieter ein neues Produkt unter Hinweis auf die in der Vergangenheit mit einem anderen Produkt<br />
erworbene Marktführerschaft, ist das Verschweigen dieses Umstands deshalb im Regelfall geeignet,<br />
eine unrichtige Vorstellung über die Leistungsfähigkeit des Anbieters hervorzurufen und damit die<br />
Entschließung des Publikums über den Erwerb des beworbenen Nachfolgeprodukts i.S.v. § 5a Abs. 1<br />
UWG in unlauterer Weise zu beeinflussen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 210/<strong>2018</strong><br />
Verfassungsrecht/Verwaltungsrecht<br />
Chancengleichheit der Parteien: Pressemitteilung eines Bundesministeriums<br />
(BVerfG, Urt. v. 27.2.<strong>2018</strong> – 2 BvE 1/16) • Die negative Bewertung einer politischen Veranstaltung einer<br />
Partei durch staatliche Organe, die geeignet ist, abschreckende Wirkung zu entfalten und dadurch das<br />
Verhalten potentieller Veranstaltungsteilnehmer zu beeinflussen, greift in das Recht der betroffenen<br />
Partei auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG ein. Dies gilt auch außerhalb von Wahlkampfzeiten.<br />
Dabei schließt die Befugnis der Bundesregierung zur Erläuterung ihrer Maßnahmen und Vorhaben zwar<br />
das Recht ein, sich mit darauf bezogenen kritischen Einwänden sachlich auseinanderzusetzen. Ein „Recht<br />
auf Gegenschlag“ dergestalt, dass staatliche Organe auf unsachliche oder diffamierende Angriffe in<br />
gleicher Weise reagieren dürfen, besteht jedoch nicht. Hinweis: Damit stellten die Richter fest, dass die<br />
Bundesministerin für Bildung und Forschung im Jahr 2015 durch die Veröffentlichung einer Pressemitteilung<br />
auf der Homepage des Ministeriums, in der das Motto einer geplanten Demonstration der AfD<br />
kritisiert wurde, diese Partei in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 211/<strong>2018</strong><br />
Steuerrecht<br />
Werbungskosten: Abzug von Schuldzinsen bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung<br />
(BFH, Urt. v. 6.12.2017 – IX R 4/17) • Werbungskosten sind nach § 9 Abs. 1 S. 1 EStG Aufwendungen zur<br />
Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Hierzu zählen auch Schuldzinsen, soweit diese mit<br />
einer Einkunftsart (hier: den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung i.S.d. § 21 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG)<br />
im wirtschaftlichen Zusammenhang stehen. Für die Berücksichtigung nachträglicher Schuldzinsen bei<br />
den Einkünften i.S.d. § 21 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG ist maßgeblich, was mit dem Erlös aus der Veräußerung des<br />
mit einem Darlehen fremdfinanzierten Vermietungsobjekts geschieht. Die nicht durch eine tatsächliche<br />
Verwendung begründete (angebliche) Reinvestitionsabsicht des Veräußerungserlöses in ein noch zu<br />
erwerbendes Vermietungsobjekt reicht nicht aus, um der Surrogationsbetrachtung zu genügen und den<br />
notwendigen wirtschaftlichen Zusammenhang der Schuldzinsen mit der Einkunftsart Vermietung und<br />
Verpachtung zu begründen. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 212/<strong>2018</strong><br />
Strafsachen/Ordnungswidrigkeiten<br />
Mitsichführen einer Schusswaffe: Verstoß gegen das BtMG<br />
(BGH, Beschl. v. 13.12.2017 – 5 StR 108/17) • Ein Mitsichführen einer Schusswaffe i.S.v. § 30a Abs. 2 Nr. 2<br />
BtMG ist gegeben, wenn der Täter diese in irgendeinem Stadium des Tathergangs bewusst gebrauchsbereit<br />
so in seiner Nähe hat, dass er sich ihrer jederzeit ohne nennenswerten Zeitaufwand und ohne<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 333
Fach 1, Seite 60 Eilnachrichten <strong>2018</strong><br />
besondere Schwierigkeiten bedienen kann. Das Merkmal ist dementsprechend gegeben, wenn sich die<br />
Waffe in Griffweite des Täters befindet. Dazu müssen tatsächliche Feststellungen getroffen werden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 213/<strong>2018</strong><br />
Strafverfahren/Strafvollstreckung/Strafvollzug<br />
Anklage: Notwendiger Inhalt<br />
(BGH, Urt. v. 9.1.<strong>2018</strong> – 1 StR 370/17) • Die Anklageschrift hat die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat<br />
sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen<br />
Vorgangs dargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Dabei muss die Schilderung<br />
umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere<br />
Straftaten gleicher Art verübt hat. Ein wesentlicher Mangel der Anklageschrift, der als Verfahrenshindernis<br />
wirken kann, ist daher nur anzunehmen, wenn die angeklagten Taten anhand der Anklageschrift<br />
nicht genügend konkretisierbar sind, so dass unklar bleibt, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die<br />
Anklage bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils haben würde. In<br />
Bezug auf das Vorenthalten oder Veruntreuen von Arbeitsentgelt wird die Umgrenzungsfunktion der<br />
Anklage gewahrt, wenn die Anklage Angaben zur Arbeitgeberstellung des Angeklagten und damit zur<br />
Zahlungspflicht enthält und darüber hinaus für den konkret bezeichneten Tatzeitraum die jeweiligen<br />
Beitrags- und Beschäftigungsmonate einschließlich der zuständigen Einzugsstellen konkret benannt werden,<br />
an die trotz bestehender Pflicht Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt wurden.<br />
<strong>ZAP</strong> EN-Nr. 214/<strong>2018</strong><br />
Anwaltsrecht/Anwaltsbüro<br />
Anwaltshaftung: Tätigkeit als Erfüllungsgehilfe<br />
(BGH, Urt. v. 7.12.2017 – IX ZR 45/16) • Wird der Anwalt als Erfüllungsgehilfe eines Beraters tätig, haftet er<br />
dem Vertragspartner des Geschäftsherrn i.d.R. nicht. Gemäß § 278 S. 1 BGB hat der Geschäftsherr ein<br />
Verschulden der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit bedient, in gleichem Umfang<br />
zu vertreten wie ein eigenes Verschulden. Nach allgemeinen Grundsätzen haftet der Erfüllungsgehilfe dem<br />
Vertragspartner seines Geschäftsherrn nicht unmittelbar. Das gilt auch dann, wenn der Vertragspartner<br />
den Erfüllungsgehilfen mit ausgewählt hat oder sich ausdrücklich mit dem Einsatz eines bestimmten<br />
Erfüllungsgehilfen einverstanden erklärt hat. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 215/<strong>2018</strong><br />
Gebührenrecht<br />
Auslagenerstattung: Erledigterklärung im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />
(BVerfG, Beschl. v. 21.2.<strong>2018</strong> – 2 BvR 2628/17) • Eine Erstattung der Auslagen des Beschwerdeführers<br />
kann aus Billigkeitsgesichtspunkten dann vom Gericht angeordnet werden, wenn die Verfassungsbeschwerde<br />
bei überschlägiger Beurteilung offensichtlich Aussicht auf Erfolg gehabt hätte und im<br />
Rahmen der lediglich kursorischen Prüfung zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen nicht Stellung<br />
genommen zu werden braucht. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, wenn die Verfassungsbeschwerde<br />
ohne die Erledigung als unzulässig verworfen worden wäre, weil die gesetzlichen<br />
Begründungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 216/<strong>2018</strong><br />
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334 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2203<br />
Mediationsverfahren<br />
Besondere Verfahrensarten<br />
Die Mediation und die rechtsberatenden Berufe<br />
Von Professor Dr. Dr. h.c. HANNS PRÜTTING, Universität zu Köln<br />
Inhalt<br />
I. Einführung<br />
II. Gründe für die Entwicklung einer konsensualen<br />
Streitbeilegung<br />
III. Vorteile von Mediation und außergerichtlicher<br />
Streitbeilegung<br />
IV. Deutsches Mediationsgesetz<br />
V. Mediation zwischen Richterschaft und<br />
Anwaltschaft<br />
VI. Güterichter, Streitmittler und Mediator<br />
VII. Zertifizierter Mediator<br />
VIII. Haftung des Mediators<br />
I. Einführung<br />
Schon seit ca. 35 Jahren hat sich im Bereich der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft ein erhebliches<br />
Bemühen um eine außergerichtliche und konsensuale Streitbeilegung entwickelt (grundlegend im<br />
Verhältnis zum staatlichen Prozess PRÜTTING JZ 1985, 261). Zunächst standen dabei Schlichtungs- und<br />
Gütestellen im Mittelpunkt der Entwicklungen. Ab 1995 hat sich der Gedanke der Mediation ausgebreitet<br />
und eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen, seit dieser Name – als Eindeutschung des englischen<br />
Begriffs „mediation“–Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus den USA zu uns kam. Vor<br />
allem der Habilitationsschrift von STEPHAN BREIDENBACH (Mediation, 1995, S. 1 ff., 114 ff.) ist es sehr wesentlich<br />
zu verdanken, dass die Ideen der Mediation im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst haben. Eine weitere<br />
Initialzündung war der erste große Kongress zum Thema „Mediation für Juristen – Konfliktbeilegung ohne<br />
gerichtliche Entscheidung“, den das Kölner Institut für Anwaltsrecht unter der Federführung von MARTIN<br />
HENSSLER in Zusammenarbeit mit STEPHAN BREIDENBACH im Jahre 1996 veranstaltet hat (vgl. BREIDENBACH/<br />
HENSSLER, Mediation für Juristen, 1997). Die damalige Teilnehmerzahl von weit über 300 Personen aus allen<br />
Bereichen von Praxis und Theorie ließ erstmals erkennen, dass die Idee der Mediation einen Nerv der Zeit<br />
getroffen hatte. Allerdings war auch damals schon versucht worden, Zusammenhänge und Problempunkte<br />
zwischen „Staatlichem Verfahrensrecht und Mediation“ näher darzulegen und kritisch zu<br />
beleuchten (PRÜTTING, in: BREIDENBACH/HENSSLER, a.a.O., S. 57; PRÜTTING ZKM 2006, 100).<br />
Seither hat es eine stürmische Entwicklung des Mediationsgedankens gegeben: So ist in allen<br />
Rechtsbereichen die Anwendung mediativer Elemente und Techniken erprobt und diskutiert worden. Es<br />
haben sich unter dem Dach des Deutschen Forums für Mediation (DFfM) verschiedene Verbände,<br />
Arbeitsgemeinschaften und sonstige Zusammenschlüsse organisiert, darunter die Bundes-Arbeitsgemeinschaft<br />
für Familienmediation (BAFM), der Bundesverband Mediation (BM) und der Bundesverband<br />
Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt (BMWA), ferner die Arbeitsgemeinschaft Mediation im<br />
DAV und die Centrale für Mediation. Auf dem Juristentag in Erfurt war im September 2008 Mediation<br />
ein zentrales Thema. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat das<br />
Hamburger Max-Planck-Institut mit einem groß angelegten rechtsvergleichenden Gutachten zur Mediation<br />
beauftragt, das im Jahre 2008 vorgelegt wurde (HOPT/STEFFEK, Mediation, 2008).<br />
Mit der Richtlinie 2008/52/EG haben Parlament und Rat der EU bestimmte Aspekte der Mediation in<br />
Zivil- und Handelssachen beschlossen; die Richtlinie ist am 13.6.2008 in Kraft getreten. Mit ihr wurde<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 335
Fach 13, Seite 2204<br />
Mediationsverfahren<br />
Zivilprozessrecht<br />
erstmals grenzüberschreitend den Mitgliedstaaten aufgegeben, Teilbereiche der Mediation an einigen<br />
zentralen Schnittstellen zwischen Gerichtsbarkeit und Mediationsverfahren zu regeln. In Umsetzung<br />
dieser Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber am 21.7.2012 das Gesetz zur Förderung der Mediation und<br />
anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung (BGBl I, S. 1577) erlassen, das am 26.7.2012 in<br />
Kraft getreten ist, und dessen Art. 1 das neue Mediationsgesetz ist. Ferner enthält das Gesetz in Art. 2–8<br />
Regelungen zu den einzelnen Verfahrensgesetzen, insbesondere zur ZPO.<br />
Hinweis:<br />
Die bisherigen Entwicklungen und die vielfältigen aktuellen Diskussionen haben gezeigt, dass die Mediation<br />
in der deutschen Rechtspraxis und der Rechtskultur angekommen ist. Heute sind Mediation und viele andere<br />
Formen konsensualer Streitbeilegung feste Bestandteile der mitteleuropäischen Rechtskultur.<br />
Die Einsicht hat sich durchgesetzt, dass eine wirksame Streiterledigung nicht nur durch autoritative<br />
Streitentscheidung erfolgen muss, sondern dass eine autonom verhandelte Lösung der Parteien, die<br />
mit Unterstützung eines Dritten erzielt wird, ebenso effektiv und zukunftsweisend sein kann. Selbst<br />
das BVerfG hat im Jahre 20<strong>07</strong> die Feststellung getroffen, ein zunächst streitiges Problem durch eine<br />
einverständliche Lösung zu bewältigen, sei auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig<br />
gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung (BVerfG, Beschl. v. 14.2.20<strong>07</strong>, ZKM 20<strong>07</strong>, 128).<br />
II. Gründe für die Entwicklung einer konsensualen Streitbeilegung<br />
Wie konnte es zu einem solchen Siegeszug der Idee von konsensualer Streitbeilegung in ihren vielfältigen<br />
Spielarten kommen? Eine – schon seit 35 Jahren – immer wieder gegebene Antwort darauf<br />
lautet: Staatliche Justizgewährung ist ein knappes Gut. Auch hierbei gilt der Grundsatz der Ressourcensparsamkeit.<br />
Außergerichtliche Streitbeilegung und Mediation sind deshalb förderungswürdige<br />
Ansatzpunkte für eine durchgreifende Entlastung der Justiz.<br />
Zu dieser These seien einige Zahlen genannt. Es ist bekannt, dass über durchgeführte Mediationen in<br />
Deutschland keine Statistiken geführt werden. Wir wissen aber, dass der generelle Zwang gem. § 15a<br />
EGZPO, vor Anrufung des Amtsgerichts in Zivilsachen den Versuch einer außergerichtlichen gütlichen<br />
Streitbeilegung zu machen, keinen zahlenmäßigen Erfolg gebracht hat. In einer Studie zur Evaluation<br />
der ZPO, die HOMMERICH und PRÜTTING für das BMJV angefertigt haben, ergab sich folgender Befund (vgl.<br />
HOMMERICH/PRÜTTING/EBERS/LANG/TRAUT, Rechtstatsächliche Untersuchung zu den Auswirkungen der<br />
Reform des Zivilprozessrechts auf die gerichtliche Praxis – Evaluation der ZPO-Reform, 2006, S. 41 ff.):<br />
Im Jahre 2004 betrug die Anzahl erstinstanzlicher Verfahren vor den Amtsgerichten in Zivilsachen<br />
2,1 Mio. Die seit dem Jahre 2002 eingeführte obligatorische Güteverhandlung gem. § 278 Abs. 2 ZPO<br />
wurde tatsächlich in 58 % der amtsgerichtlichen Verfahren durchgeführt, also in 1,2 Mio. Verfahren. Bei<br />
diesen Güteverfahren wurde in 1 % der Fälle von der Möglichkeit des § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO, also dem<br />
Vorschlag einer außergerichtlichen Streitschlichtung durch den Richter, Gebrauch gemacht. Dies ergibt<br />
eine Größenordnung von 12.000 Fällen. Hinzu kommt bei den Amtsgerichten alternativ zu § 278 Abs. 2<br />
ZPO die Möglichkeit einer vor Verfahrensbeginn durchgeführten obligatorischen Streitschlichtung<br />
gem. § 15a EGZPO. Diese wurde in ca. 0,1–0,2 % aller Fälle von den Amtsgerichten durchgeführt, also in<br />
weniger als 5.000 Verfahren. Diese Zahl ist auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass § 15a EGZPO<br />
nur von 8 der 16 Bundesländer umgesetzt wurde und dass die Norm auf Streitigkeiten bis 750 €<br />
beschränkt ist, eine klägliche Zahl. Vor allem gilt es zu bedenken, dass die genannten Zahlen<br />
Schlichtungsversuche beinhalten, also nicht erfolgreiche Schlichtungen!<br />
Hinweis:<br />
Das Mediationsgesetz hat in seinem § 8 eine Evaluation bis Juli 2017 zwingend vorgeschrieben. Deren Ergebnisse<br />
liegen vor, sind aber sehr ernüchternd (KAISER ZKM <strong>2018</strong>, 25; GLÄßER ZKM <strong>2018</strong>, 4; STEFFEK ZKM 2017,<br />
183). Die Zahl der in Deutschland durchgeführten Mediationen schwankt nach der Schätzung dieser Studie<br />
zwischen 7.000–8.500 Verfahren pro Jahr, hat sich aber seit Inkrafttreten des Mediationsgesetzes nicht<br />
erhöht. Das Mediationsgesetz hat also sein zentrales Ziel, den Mediationsgedanken weiter zu stärken, nicht<br />
erreicht.<br />
336 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 2205<br />
Mediationsverfahren<br />
Was immer man im Einzelnen von den genannten Zahlen halten mag oder wie sie zu erklären und zu<br />
interpretieren sind, das Gesamtergebnis ist nach der Größenordnung jedenfalls klar und nicht überraschend:<br />
Mediation und andere Formen außergerichtlicher Streitbeilegung führen nicht zu einer<br />
durchgreifenden Entlastung der Justiz. Der Aspekt der Einsparung von Ressourcen und Justizentlastung<br />
darf daher getrost beiseitegelassen werden.<br />
III. Vorteile von Mediation und außergerichtlicher Streitbeilegung<br />
Worin liegen nun die wirklichen Vorteile von Mediation und außergerichtlicher Streitbeilegung? Der<br />
Hauptvorteil einer erfolgreichen Mediation dürfte in der Chance liegen, ohne Rücksicht auf Ansprüche<br />
des Einzelnen, auf Positionen und Rechtslagen und ohne Rechtsanwendung den Konflikt in einer<br />
möglicherweise umfassenden Form sowie zukunftsorientiert beizulegen und dabei für beide Seiten ein<br />
positives Ergebnis zu erzielen (die berühmte win-win-Situation).<br />
Hinweis:<br />
Dafür sind familienrechtliche Konflikte ein gutes Beispiel. Die stark personale Prägung solcher Konflikte<br />
lässt sich wohl kaum durch eine auf Ansprüche gestützte Individualklage ausräumen. Wesentlich besser<br />
dürfte hier ein Konfliktmanagement sein, das in mediativer Form nach den eigentlichen Ursachen und<br />
Gründen sucht, die tiefer liegenden Interessen der Beteiligten herausarbeitet und letztlich zu echten<br />
Wegen aus der Beziehungskrise führen kann (s. auch KLOSTER-HARZ <strong>ZAP</strong> Kolumne 3/2017, S. 105 ff.).<br />
Neben diesem Hauptvorteil von Mediation werden als weitere Vorteile gerne genannt: günstigere Verfahrenskosten,<br />
erhebliche Verfahrensbeschleunigung sowie Nichtöffentlichkeit aller außergerichtlichen<br />
Streitbeilegungen. Geringere Verfahrenskosten und Verfahrensbeschleunigung dürften in der Zivilgerichtsbarkeit<br />
zweifellos von Gewicht sein (vor allem wenn man den Instanzenzug einrechnet). Positiv<br />
kann sich weiterhin im Rahmen jeder Konfliktbereinigung die Nichtöffentlichkeit auswirken. Freilich muss<br />
man erkennen, dass das weite Feld der nicht öffentlichen Mediation, Schlichtung und Schiedsgerichtsbarkeit<br />
seinen Preis fordert: Die allgemeine Bewährung und Durchsetzung der objektiven Rechtsordnung<br />
sowie die Rechtsentwicklung und Rechtsfortbildung können auf diesem Wege nicht geleistet werden.<br />
Allein durch veröffentlichte Gerichtsentscheidungen kann Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Rechtsfortschritt<br />
erzielt werden.<br />
Hinweis:<br />
Außergerichtliche Streitbeilegungsformen aller Art ermöglichen auch nicht die Gewährung von Prozesskostenhilfe<br />
und fördern nicht den viel beschworenen freien Zugang zu Gericht (Access to Justice). Gerade<br />
auch Mediation spricht eher den mündigen, aufgeklärten und selbstbewussten Bürger an.<br />
IV. Deutsches Mediationsgesetz<br />
Das deutsche Mediationsgesetz (v. 21.7.2012, BGBl I, S. 1577) enthält zunächst eine Begriffsbestimmung der<br />
Mediation und der Person des Mediators (§ 1 MediationsG), sodann werden Fragen des Verfahrens und der<br />
Aufgabe des Mediators einschließlich von Offenbarungspflichten, Tätigkeitsbeschränkungen und einer<br />
Verschwiegenheitspflicht geregelt (§§ 2–4 MediationsG). Schließlich enthält das Gesetz eine nähere<br />
Regelung der Aus- und Fortbildung des Mediators sowie die Einführung des zertifizierten Mediators (§§ 5,<br />
6 MediationsG). Den Abschluss des Gesetzes bilden Regelungen über wissenschaftliche Forschungsvorhaben<br />
zur Mediation, über die Evaluierung des neuen Gesetzes sowie Übergangsbestimmungen (§§ 7–<br />
9 MediationsG). Im Kern ist das neue Mediationsgesetz also ein Berufsgesetz für den Mediator. Durch die<br />
Regelung von Grundpflichten wird im Ansatz ein einheitliches Berufsrecht für Mediatoren geschaffen, die<br />
früher auf die berufsspezifischen Regelungen ihrer Ausgangsberufe zurückgreifen mussten.<br />
Im Rahmen des Verfahrensablaufs wird vom Gesetzgeber der Grundsatz der Freiwilligkeit hervorgehoben.<br />
So ist der Mediator verpflichtet, sich zu vergewissern, dass jede Partei freiwillig an der Mediation teilnimmt,<br />
und es ist gewährleistet, dass die Parteien die Mediation jederzeit beenden können. Festgeschrieben ist<br />
weiterhin die Unabhängigkeit und Neutralität des Mediators. Zusätzlich sind Einschränkungen der<br />
Tätigkeit als Mediator geregelt, soweit dieser vor der Mediation in derselben Sache für eine Partei tätig<br />
gewesen ist. Das gleiche gilt, wenn eine mit dem Mediator in derselben Berufsausübungsgemeinschaft<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 337
Fach 13, Seite 2206<br />
Mediationsverfahren<br />
Zivilprozessrecht<br />
verbundene Person vor der Mediation in derselben Sache für eine Partei tätig gewesen ist. Als zusätzliche<br />
Offenbarungspflicht enthält § 3 Abs. 5 MediationsG noch die Möglichkeit, dass die Parteien Informationen<br />
über den fachlichen Hintergrund, die Ausbildung und die Erfahrung des Mediators auf dem Gebiet der<br />
Mediation verlangen können.<br />
Eine generelle Verschwiegenheitspflicht des Mediators und der Mediationsparteien enthält § 4 MediationsG.<br />
Damit ist ein schwieriges Problem gesetzlich gelöst. Denn die Vertraulichkeit einer Mediation ist für<br />
deren Erfolg von besonderer Bedeutung. Mediationen sind nicht öffentlich und ihre Verhandlungsergebnisse<br />
werden nicht publiziert. Mediation beruht darauf, dass die Beteiligten eine offene Kommunikation<br />
über ihre Interessenlage führen. Wird im Rahmen einer Mediation über vertrauliche Informationen<br />
gesprochen, so könnte ein Beteiligter geneigt sein, die gewonnenen Informationen nach dem Scheitern der<br />
Mediation in einen staatlichen Prozess einzuführen. Schon bisher war im Grundsatz unstreitig, dass ein<br />
solcher Bruch der Vertraulichkeit das Scheitern jeder Mediation herbeiführen würde. Art. 7 der europäischen<br />
Richtlinie (RiLi 2008/52/EG) hatte deshalb die Sicherstellung der Vertraulichkeit verlangt. Die Umsetzung in<br />
das deutsche Recht durch § 4 MediationsG stellt daher einen wesentlichen Regelungspunkt dar.<br />
V. Mediation zwischen Richterschaft und Anwaltschaft<br />
Ursprünglich wurde Mediation als ein strikt außergerichtliches Verfahren der konsensualen Streitbeilegung<br />
verstanden. Es war daher ein echter Paradigmenwechsel, als sich ab 2002 als ein deutscher<br />
Sonderweg ein Wandel hin zu einer gerichtsinternen Mediation entwickelte. In allen Bundesländern<br />
und allen Gerichtsbarkeiten wurden Modellversuche unternommen, Mediation trotz Rechtshängigkeit<br />
von Verfahren durch Richter durchzuführen (grundlegend VON BARGEN, Gerichtsinterne Mediation, 2008).<br />
Diese Modellversuche waren durchaus erfolgreich. Dennoch standen und stehen ihnen gewichtige<br />
Bedenken entgegen. Kernaufgabe des Richters ist trotz des gesetzlichen Auftrags zur gütlichen<br />
Streitbeilegung (§ 278 Abs. 1 ZPO) die Streitentscheidung und damit die strikte Anwendung des Gesetzes<br />
auf den konkreten Streitfall. Der Richter ist schon nach der Verfassung an Gesetz und Recht gebunden<br />
(Art. 20 Abs. 3 GG). Echte Mediation unterscheidet sich davon in grundlegender Weise. Der<br />
Grundgedanke von Mediation, Hilfestellung zu einer privatautonomen Lösung zu geben, auch wenn<br />
diese sich von der Gesetzesanwendung weit entfernt, entspricht nicht dem Richterbild.<br />
Gegen richterliche Mediation sprechen auch die verfassungsrechtlich garantierte Rechtsschutzgarantie<br />
und der primäre Zweck des Zivilprozesses, also die Durchsetzung subjektiver Rechte. Wert und Bedeutung<br />
staatlicher Rechtsprechung bestehen in der Garantie einer Streitentscheidung als Ablösung des<br />
Selbsthilfegedankens. Dementsprechend ist es ein Kernelement richterlich vermittelter Streitkultur, dass<br />
die Wesensmerkmale der Wahrung der Öffentlichkeit und der Mündlichkeit sowie die Veröffentlichung<br />
der jeweiligen Endentscheidungen gewährleistet sind. Gerade die Transparenz richterlicher Tätigkeit und<br />
richterlicher Entscheidung sowie die Veröffentlichung der Gerichtsentscheidungen und deren wissenschaftliche<br />
Diskussion garantieren auf Dauer Rechtsbewährung und Rechtsfortbildung. Zugleich kann<br />
durch öffentliche Gerichtsverfahren Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zur Orientierung der Bürger<br />
erzielt werden. Eine lebende Rechtsordnung erfordert zwingend den offenen Umgang mit dem<br />
Rechtsstoff durch staatliche Gerichte, sie verlangt öffentliche Streitverfahren und Zugänglichkeit der<br />
Ergebnisse. Vor diesem generellen Hintergrund und den eigentlichen Aufgaben der Justiz wird deutlich,<br />
dass Gerichtsmediation, so erfolgreich sie in der Vergangenheit gewesen sein mag, einen Irrweg darstellt<br />
(im Einzelnen s. PRÜTTING ZZP 124, 163 [2011]).<br />
Hinweis:<br />
Der Gesetzgeber hat in § 1 MediationsG die gerichtsinterne Mediation ausdrücklich gestrichen und in § 9<br />
MediationsG ab August 2013 die Bezeichnung als gerichtlicher Mediator ausdrücklich untersagt.<br />
Stattdessen hat der Gesetzgeber den Güterichter geschaffen (vgl. § 278 Abs. 5 ZPO). Auch § 278a ZPO<br />
schafft mit der sog. gerichtsnahen Mediation keine Legitimation für einen gerichtlichen Mediator,<br />
sondern verweist die Parteien an eine außergerichtliche Mediation.<br />
Mit der bewussten Aufgabe der Gerichtsmediation hat der Gesetzgeber aber nicht den Güte- und<br />
Schlichtungsgedanken gering geschätzt:<br />
338 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Zivilprozessrecht Fach 13, Seite 22<strong>07</strong><br />
Mediationsverfahren<br />
• Es gilt für den Richter weiterhin gem. § 278 Abs. 1 ZPO die Verpflichtung, in jeder Lage des Verfahrens<br />
auf eine gütliche Beilegung des Rechtstreits bedacht zu sein.<br />
• Es gilt auch weiterhin die Verpflichtung des Gerichts, gem. § 278 Abs. 2 ZPO der mündlichen<br />
Verhandlung obligatorisch eine Güteverhandlung vorzuschalten.<br />
Praxishinweis:<br />
Wichtig ist die Ergänzung des § 159 Abs. 2 ZPO, wonach über die Güteverhandlung ein Protokoll nicht geführt<br />
werden muss. Geklärt ist damit, dass der Güterichter ohne zeitliche Beschränkungen mit den Parteien<br />
in jeder Hinsicht die gütliche und vergleichsweise Einigung erstreben kann. Durch einen Vergleich vor dem<br />
Güterichter kann schließlich auch ein Vollstreckungstitel geschaffen werden (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).<br />
Dem Güterichter ist es nicht verwehrt, alle ihm zu Gebote stehenden mediativen Mittel einzusetzen. Er<br />
ist allerdings nicht als echter Mediator auf die strikte Zurückhaltung des Mediators verpflichtet.<br />
Vielmehr kann der Güterichter mit den Parteien die Erfolgsaussichten diskutieren. Er kann jegliche Art<br />
von vergleichsweiser Regelung des Streits vorschlagen. Er kann und darf dabei auch seine richterliche<br />
Autorität einsetzen.<br />
VI. Güterichter, Streitmittler und Mediator<br />
Durch das Mediationsgesetz 2012 ist die Person des Mediators auf eine außergerichtliche, unabhängige<br />
und neutrale Person festgelegt (§§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 3 MediationsG). Demgegenüber hat § 278 Abs. 5 ZPO<br />
den einer konsensualen Streitbeilegung verpflichteten Richter als „Güterichter“ normiert. Schließlich hat<br />
der deutsche Gesetzgeber mit der Umsetzung der ADR-Richtlinie über die alternative Streitbeilegung in<br />
verbraucherrechtlichen Streitigkeiten ein Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) vom 19.2.2016<br />
(BGBl I, S. 254) geschaffen und in diesem Gesetz die Person des „Streitmittlers“ kreiert (§§ 6–8 VSBG).<br />
Diese drei Personen gilt es strikt zu trennen.<br />
1. Güterichter<br />
Der in § 278 Abs. 5 ZPO geregelte Güterichter kann nur dann tätig werden, wenn die Rechtshängigkeit einer<br />
Streitsache gegeben ist und der zur Entscheidung berufene Spruchkörper seiner gesetzlich vorgesehenen<br />
Aufgabe, vor Beginn der mündlichen Verhandlung eine Güteverhandlung durchzuführen, in der Weise<br />
nachkommt, dass der Spruchkörper die Sache an den Güterichter verweist. Der Güterichter kann also<br />
ausschließlich innerhalb eines laufenden staatlichen Gerichtsverfahrens tätig werden. Nach dem Wortlaut<br />
des § 278 Abs. 5 S. 1 ZPO ist er hierfür von der Geschäftsverteilung bestimmt und tritt an die Stelle des zur<br />
Entscheidung berufenen Spruchkörpers, so dass er notwendigerweise hoheitlich und als Richter tätig wird.<br />
Die Freiheit der Methodenwahl ist dem Güterichter nach § 278 Abs. 5 S. 2 ZPO ausdrücklich zugesichert.<br />
Daraus ergibt sich zwingend, dass er die Freiheit besitzt, den Parteien Lösungsvorschläge zu unterbreiten<br />
und damit die Funktion eines Schlichters einzunehmen. Als Richter ist er allerdings an Gesetz und Recht i.S.v.<br />
Art. 20 Abs. 3 GG gebunden. Er muss rechtliches Gehör gewähren sowie die verfassungsrechtlichen<br />
Grundlagen des Rechtsstaatsprinzips beachten, er muss den Parteien gegenüber Unabhängigkeit und<br />
Neutralität wahren, er darf keine gesetzeswidrigen oder unfairen Lösungsvorschläge unterbreiten oder<br />
solche Ergebnisse unterstützen. Für den Güterichter gilt das Mediationsgesetz nicht (s. oben V.).<br />
2. Streitmittler<br />
Der Begriff des Streitmittlers ist neu im deutschen Recht. Er wird als Person charakterisiert, die für eine<br />
Verbraucherschlichtungsstelle tätig ist. Nach § 1 Abs. 1 VSBG werden solche Stellen ausschließlich im<br />
Bereich der außergerichtlichen Streitbeilegung tätig. Gemäß § 1 Abs. 1 VSBG ist die Tätigkeit von<br />
Schlichtungsstellen unabhängig vom angewendeten Konfliktbeilegungsverfahren. Daher kann ein Streitmittler<br />
theoretisch je nach dem Angebot der Schlichtungsstelle als Mediator, Schlichter oder Schiedsrichter<br />
fungieren. Der Begriff des Streitmittlers legt also die Rolle der handelnden Person nicht fest. Dies<br />
geschieht vielmehr durch die Verfahrensordnung der jeweiligen Verbraucherschlichtungsstelle. Allerdings<br />
schließt es § 5 Abs. 2 VSBG aus, ein Verfahren zu wählen, das zu einer für den Verbraucher verbindlichen<br />
Lösung führt. Dies schließt ein echtes schiedsgerichtliches Verfahren nach den §§ 1025 ff. ZPO aus.<br />
Streitmittler kann daher je nach der Verfahrensordnung stets nur ein Mediator oder ein Schlichter sein.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 339
Fach 13, Seite 2208<br />
Mediationsverfahren<br />
Zivilprozessrecht<br />
3. Mediator<br />
Mediator im Sinne des Mediationsgesetzes ist eine Person, die ausschließlich außerhalb staatlicher Gerichtsverfahren<br />
tätig wird. Dies ergibt sich neben der allgemeinen Gesetzesüberschrift im Rückschluss aus<br />
§ 278a ZPO sowie aus § 9 MediationsG. Der Gesetzgeber hat eine klare Trennung zwischen Güterichter im<br />
staatlichen Verfahren und Mediator außerhalb dieses Verfahrens vorgenommen. Daraus ergibt sich<br />
zugleich, dass Mediator im Sinne des Mediationsgesetzes stets ein privatrechtlich organisierter Dienstleister<br />
ist. Sein Tätigwerden beruht auf einem privatrechtlichen Vertrag. Gemäß § 1 Abs. 2 MediationsG<br />
unterbreitet der Mediator keine Lösungsvorschläge, sondern er führt die Parteien in einem vertraulichen<br />
und strukturierten Verfahren durch die Mediation. Er ist also nicht frei in der Wahl seines Vorgehens, er<br />
muss vielmehr ein strukturiertes Verfahren anwenden. Allerdings sagt der Gesetzgeber nichts über den<br />
Inhalt eines solchen strukturierten Verfahrens. Die Praxis füllt diese Lücke durch die Bildung verschiedener<br />
Phasen. Die Bindung des Mediators an ein strukturiertes Verfahren lässt also weite Spielräume. Schließlich<br />
ist der Mediator nicht an gesetzliche Vorgaben gebunden. Er unterliegt nur dem Grundsatz der<br />
Allparteilichkeit. Er kann aber mit den Parteien getrennte Gespräche führen, was einem Richter im Lichte<br />
von Art. 103 Abs. 1 GG untersagt ist.<br />
VII. Zertifizierter Mediator<br />
Gemäß § 6 MediationsG kann das BMJV durch Rechtsverordnung die Ausbildung und die Fortbildung des<br />
zertifizierten Mediators festlegen. Dies ist durch die „Verordnung über die Aus- und Fortbildung von<br />
zertifizierten Mediatoren“ vom 21.8.2016 geschehen (ZMediatAusbV – BGBl I, S. 1994). Diese Verordnung<br />
ist am 1.9.2017 in Kraft getreten. Danach wird ein Ausbildungslehrgang von mindestens 120 Präsenzzeitstunden<br />
verlangt. Zusätzlich bedarf es einer Einzelsupervision im Anschluss an eine als Mediator oder<br />
Co-Mediator durchgeführte Mediation. Der Ausbildungslehrgang muss die in der Anlage zur Verordnung<br />
aufgeführten Inhalte vermitteln und auch praktische Übungen und Rollenspiele enthalten.<br />
VIII. Haftung des Mediators<br />
Zwischen dem Mediator und den Parteien der Mediation besteht ein zivilrechtliches Vertragsverhältnis<br />
(sog. Mediatorvertrag). In der Regel handelt es sich um einen Geschäftsbesorgungsvertrag nach den<br />
Regeln des Dienstvertrags (§§ 675, 611 BGB). Damit haftet der Mediator für eine schuldhafte Verletzung<br />
seiner Vertragspflichten gem. § 280 BGB. Die Vertragspflichten des Mediators lassen sich durch<br />
Auslegung des Vertrags sowie durch die § 2 Abs. 2, 3, 6, §§ 3, 4 MediationsG näher konkretisieren. Im<br />
Einzelnen muss der Mediator<br />
• die Parteien über das Verfahren und die jeweiligen Verfahrensrollen aufklären,<br />
• die Mediationstauglichkeit des Verfahrens prüfen und die Parteien vor Gefahren warnen,<br />
• über den Sachverhalt aufklären und<br />
• die Parteien durch die verschiedenen Phasen einer Mediation führen.<br />
Dabei hat der Mediator Allparteilichkeit sowie strikte Unabhängigkeit und Neutralität zu wahren und<br />
ist zur Verschwiegenheit verpflichtet.<br />
Hinweis:<br />
Nunmehr hat der IX. Zivilsenat des BGH die Haftung eines anwaltlichen Mediators konkretisiert (BGH, Urt.<br />
v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, <strong>ZAP</strong> EN-Nr. 687/2017 = NJW 2017, 3442 = AnwBl. 2017, 1231 = BRAK-Mitt. 2017, 289<br />
m. Anm. GREGER). Der BGH unterwirft den anwaltlichen Mediator der strikten Anwaltshaftung, soweit eine<br />
Rechtsdienstleistung vorliegt, die darin liegen kann, dass der Mediator sich bereit erklärt, einvernehmliche<br />
rechtliche Lösungsvorschläge zu entwickeln. Im konkreten Fall hatte eine Rechtsanwältin Eheleute im<br />
Rahmen einer einvernehmlichen Scheidung betreut und eine einvernehmliche Scheidungsfolgenvereinbarung<br />
über den Versorgungsausgleich erarbeitet. Dabei hat sie es versäumt, die maßgeblichen Tatsachen<br />
festzustellen. Die vom BGH bejahte Haftung auf Schadensersatz für den Fehler mag im konkreten Ergebnis<br />
zweifellos richtig sein. Sie ist aber deshalb höchst problematisch, weil der Vertragsgegenstand (Entwicklung<br />
eines rechtlichen Lösungsvorschlags) und die konkrete Vertragsverletzung (Nichtermitteln der maßgeblichen<br />
Tatsachen) nichts mit der Tätigkeit als Mediator zu tun haben.<br />
340 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1291<br />
Betriebsratswahlen<br />
Kollektivarbeitsrecht<br />
Grundzüge der Betriebsratswahl<br />
Von Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht Dr. KIRSTIN MAAß, Köln<br />
Inhalt<br />
I. Vorbemerkung<br />
II. Bestimmung des Betriebs<br />
1. Gemeinsamer Betrieb<br />
2. Eigenständiger Betriebsteil<br />
III. Bedeutung der Arbeitnehmereigenschaft –<br />
aktives und passives Wahlrecht<br />
1. Aktives Wahlrecht<br />
2. Passives Wahlrecht<br />
IV. Größe des zu wählenden Betriebsrats<br />
V. Betriebsratswahl<br />
1. Bestellung des Wahlvorstands<br />
2. Vorbereitung der Wahl<br />
3. Durchführung der Wahl<br />
VI. Checkliste: Ablauf der Betriebsratswahl<br />
VII. Fazit<br />
I. Vorbemerkung<br />
Betriebsräte werden regelmäßig alle vier Jahre im gleichen Zeitraum – von März bis Mai – gewählt. Vom<br />
1.3. bis 31.5.<strong>2018</strong> läuft daher zzt. die Betriebsratswahl in <strong>2018</strong>. Die Wahlen finden während der Arbeitszeit<br />
statt.<br />
Hinweis:<br />
Wenn im Betrieb noch keine Interessenvertretung besteht, kann jederzeit eine Wahl durchgeführt werden.<br />
Das Wahlverfahren ist komplex und insbesondere die gesetzlichen Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes<br />
(BetrVG) und der Wahlordnung (kurz: WO) sind unübersichtlich, so dass dieser<br />
Beitrag eine Übersicht zu den Grundzügen einer Betriebsratswahl gibt.<br />
Hinsichtlich der Beratung von Betriebsräten bzw. Wahlvorständen ist zu beachten, dass vielfältige<br />
Fehler im Rahmen eines Wahlverfahrens möglich sind, die zur Anfechtbarkeit der Wahl führen können.<br />
Aufgrund der Vielzahl der Fehlerquellen ist eine abschließende Aufzählung kaum möglich und für den<br />
Rechtsanwalt hinsichtlich des Umfangs sowie des Schwerpunkts des Mandats von vorneherein kaum<br />
absehbar.<br />
Im Rahmen der Beratung ist allerdings insbesondere auf sog. Grundsatzfehler zu achten: So dürfen die<br />
Grenzen des Betriebs nicht falsch gezogen werden, z.B.<br />
• durch die Ausklammerung von Arbeitnehmern, die dem Betrieb angehören, oder<br />
• indem mehrere Niederlassungen zu einem Betrieb zusammengezogen werden, die eigenständige<br />
Betriebsräte wählen sollten, oder<br />
• durch die Verkennung des Vorliegens eines gemeinsamen Betriebs.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 341
Fach 17, Seite 1292<br />
Betriebsratswahlen<br />
Arbeitsrecht<br />
Überdies kann das aktive und passive Wahlrecht falsch beurteilt oder die Größe des Betriebsrats<br />
fehlerhaft berechnet werden. Auch die Nichteinhaltung von Fristen, z.B. zur Einreichung von Wahlausschreiben,<br />
bietet Potenzial für Fehler. Schließlich ist auch darauf zu achten, dass die Briefwahlunterlagen<br />
nicht unvollständig übersandt werden. Die Liste möglicher Fehlerquellen ist nicht abschließend<br />
und soll lediglich einen Eindruck möglicher Beratungsfälle geben.<br />
II. Bestimmung des Betriebs<br />
Der Betriebsrat wird für einen Betrieb gewählt. Ein Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes<br />
ist die organisatorische Einheit, innerhalb derer ein Arbeitgeber mit Hilfe von technischen oder<br />
immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, wobei die in der<br />
Betriebsstätte vorhandenen personellen, materiellen und immateriellen Mittel durch ein einheitliches<br />
Management gesteuert werden, sog. Leitungsapparat (BAG, Beschl. v. 9.12.2009 – 7 ABR 38/08, NZA<br />
2010, 906). Von dieser Stelle aus werden alle wesentlichen personellen und sozialen Angelegenheiten<br />
entschieden. Es sind nicht die Arbeitnehmer, Wahlvorstände oder noch amtierenden Betriebsräte, die<br />
über die Betriebsstruktur im Unternehmen entscheiden können. Vielmehr legt der Arbeitgeber durch die<br />
Gestaltung der Leitungskompetenzen den Betrieb fest.<br />
Achtung:<br />
Gerade moderne Formen der Unternehmensorganisation und die dadurch bedingten verschiedenen<br />
Fallkonstellationen machen es jedoch oft schwer, Betriebe in der Praxis klar voneinander abzugrenzen.<br />
1. Gemeinsamer Betrieb<br />
In einem gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen (sog. Gemeinschaftsbetrieb) ist nur ein<br />
Betriebsrat zu wählen, § 1 Abs. 1 S. 2 BetrVG. Von einem gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen<br />
ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG (Beschl. v. 13.2.2013 – 7 ABR 36/11, NZA-RR 2013, 521;<br />
Beschl. v. 18.1.2012 – 7 ABR 72/10, NZA-RR 2013, 133) auszugehen, wenn die in einer Betriebsstätte<br />
vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen<br />
Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen<br />
Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird. Die beteiligten Unternehmen<br />
müssen sich zumindest stillschweigend zu einer gemeinsamen Führung rechtlich verbunden haben. Die<br />
Existenz einer solchen Vereinbarung kann aus den tatsächlichen Umständen resultieren. Ergeben die<br />
Umstände des Einzelfalls, dass der Kern der Arbeitgeberfunktionen im sozialen personellen Bereich von<br />
derselben institutionellen Leitung ausgeübt wird, so deutet dies regelmäßig darauf hin, dass eine Führungsvereinbarung<br />
vorliegt. Die einheitliche Leitung muss sich auf die wesentlichen Funktionen des<br />
Arbeitgebers in personellen und sozialen Angelegenheiten erstrecken. Eine lediglich unternehmerische<br />
Zusammenarbeit genügt nicht. Vielmehr müssen die Funktionen des Arbeitgebers institutionell einheitlich<br />
für die beteiligten Unternehmen wahrgenommen werden (BAG, Beschl. v. 13.2.2013 – 7 ABR<br />
36/11, NZA-RR 2013, 521; BAG, Beschl. v. 22.6.2005 – 7 ABR 57/04, NZA 2005, 1248; BAG, Beschl. v.<br />
11.2.2004 – 7 ABR 27/03, NZA 2004, 618).<br />
Hinweis:<br />
Für die Frage, ob der Kern der Arbeitgeberfunktionen in sozialen und personellen Angelegenheiten von<br />
derselben institutionalisierten Leitung ausgeübt wird, ist vor allem entscheidend, ob ein arbeitgeberübergreifender<br />
Personaleinsatz praktiziert wird, der charakteristisch für den normalen Betriebsablauf ist<br />
(BAG, Beschl. v. 22.6.2005 – 7 ABR 57/04, NZA 2005, 1248).<br />
§ 1 Abs. 2 BetrVG enthält unter den genannten Voraussetzungen die – widerlegbare – Vermutung für<br />
einen gemeinsamen Betrieb mehrerer Unternehmen. Die Vermutungstatbestände dienen dem Zweck,<br />
Betriebsräten und Wahlvorständen den in der Praxis oft schwer zu erbringenden Nachweis einer<br />
Führungsvereinbarung zu ersparen (vgl. BT-Drucks 14/5741, S. 33). Greifen die Vermutungstatbestände<br />
nicht ein, besteht dennoch ein gemeinsamer Betrieb, wenn sich mehrere Unternehmen – ausdrücklich<br />
342 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1293<br />
Betriebsratswahlen<br />
oder konkludent – zur Führung eines gemeinsamen Betriebs rechtlich verbunden haben (vgl. BAG,<br />
Beschl. v. 13.2.2013 – 7 ABR 36/11, NZA-RR 2013, 521).<br />
Von Bedeutung ist folglich vor allem die einheitliche Leitung des Betriebs. Kriterien, die vermuten<br />
lassen, dass es sich um einen Gemeinschaftsbetrieb handelt, sind z.B.<br />
• gemeinsame räumliche Unterbringung,<br />
• personelle, technische und organisatorische Verknüpfung der Arbeitsabläufe,<br />
• arbeitgeberübergreifender Einsatz des Personals,<br />
• gemeinsame Urlaubsplanungen,<br />
• Personenidentität der Geschäftsführung, des Vorstands, der Gesellschafter sowie auf der Leitungsebene<br />
unterhalb der Geschäftsführung/des Vorstands,<br />
• gemeinsame Nutzung zentraler Betriebseinrichtungen (Personalabteilung, Buchhaltung, Sekretariat,<br />
Kantine, betriebliche Altersversorgung).<br />
2. Eigenständiger Betriebsteil<br />
Liegt hingegen ein eigenständiger Betriebsteil vor, ist für diesen ein Betriebsrat gesondert zu wählen. Ein<br />
Betriebsteil ist auf den Zweck des Hauptbetriebs ausgerichtet und in dessen Organisation eingegliedert.<br />
Erfüllt ein Betriebsteil die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BetrVG (mindestens fünf ständig wahlberechtigte<br />
Arbeitnehmer, von denen drei wählbar sind), so fingiert § 4 BetrVG unabhängig von der Frage,<br />
ob der Betriebsteil derselben einheitlichen Leitung unterliegt, einen selbstständigen Betrieb, wenn er<br />
räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt ist (vgl. hierzu BAG, Beschl. v. 17.5.2017 – 7 ABR 21/15, NZA 2017,<br />
1282 [1284]) oder wenn er gegenüber dem Hauptbetrieb eine organisatorische Selbstständigkeit aufweist,<br />
d.h. eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende und Weisungsrechte ausübende Leitung vorhanden<br />
ist. Folge ist dann, dass in dem Betriebsteil ein eigener Betriebsrat zu wählen ist, soweit die Arbeitnehmer<br />
nicht mit Stimmenmehrheit formlos beschließen, an der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb teilzunehmen<br />
(§ 4 Abs. 1 S. 2 BetrVG).<br />
Hinweis:<br />
Daneben besteht die Möglichkeit, Spartenbetriebsräte jeweils für produkt- oder projektbezogene Geschäftsbereiche<br />
von Unternehmen und Konzernen zu gründen, soweit dies der sachgerechten Wahrnehmung<br />
der Aufgaben des Betriebsrats dient. Die Ermächtigung dazu erfolgt durch Tarifvertrag oder<br />
durch Betriebsvereinbarung, wenn keine Tarifbindung vorliegt.<br />
III. Bedeutung der Arbeitnehmereigenschaft – aktives und passives Wahlrecht<br />
Von erheblicher praktischer Bedeutung ist zudem die Frage, wer bei der Betriebsratswahl seine Stimme<br />
abgegeben darf und wer als Betriebsrat gewählt werden kann. Im Mittelpunkt dieser Fragen nach dem<br />
aktiven und passiven Wahlrecht steht der Arbeitnehmerbegriff nach § 5 Abs. 1 S. 1 BetrVG, der letztlich<br />
auch die Größe des Betriebsrats bestimmt.<br />
Wer Arbeitnehmer ist, bestimmt § 5 BetrVG: Wahlberechtigt sind Arbeiter und Angestellte einschließlich<br />
der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Auch Arbeiter und Angestellte, die Heimarbeit<br />
verrichten, gehören zur Gruppe der Arbeitnehmer, sofern sie hauptsächlich für den Betrieb arbeiten.<br />
Eine eigenständige Definition des Arbeitnehmerbegriffs enthält § 5 BetrVG hingegen nicht. Insoweit<br />
kann auf den neu eingefügten § 611a BGB zurückgegriffen werden, wonach die Ausübung weisungsgebundener<br />
Tätigkeiten und die damit verbundene Eingliederung in die Betriebsorganisation des<br />
Arbeitgebers maßgebend ist.<br />
1. Aktives Wahlrecht<br />
Das aktive Wahlrecht, also die Regelung, wer im Sinne des Gesetzes als wahlberechtigter Arbeitnehmer<br />
zählt, ergibt sich aus § 7 BetrVG. Das aktive Wahlrecht haben alle Arbeitnehmer, die am Wahltag das<br />
18. Lebensjahr vollendet haben, und zwar unabhängig von der Dauer der Betriebszugehörigkeit.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 343
Fach 17, Seite 1294<br />
Betriebsratswahlen<br />
Arbeitsrecht<br />
Zu den wahlberechtigten Arbeitnehmern gehören auch Praktikanten, Heimarbeiter, die in der Hauptsache<br />
für den Betrieb tätig sind, Außendienstmitarbeiter und in Telearbeit beschäftigte Arbeitnehmer.<br />
Hinweis:<br />
Auch Beamte, Soldaten sowie Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes einschließlich der zu ihrer Berufsausbildung<br />
Beschäftigten, die in Betrieben privatrechtlich organisierter Unternehmen tätig sind, sind<br />
nach § 5 Abs. 1 S. 3 BetrVG wahlberechtigt.<br />
Leiharbeitnehmer, die länger als drei Monate im Entleiherbetrieb eingesetzt werden, sind ebenfalls (im<br />
Entleiherbetrieb) wahlberechtigt (vgl. § 7 S. 2 BetrVG). Auch Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte sind<br />
wahlberechtigt.<br />
Aushilfskräfte sind wahlberechtigt, wenn sie am Wahltag in einem Arbeitsverhältnis zum Betrieb stehen<br />
(FITTING, in: FITTING/ENGELS/SCHMIDT/TREBINGER/LINSENMAIER, BetrVG, 29. Aufl., § 7 BetrVG Rn 26; RICHARDI/THÜSING,<br />
BetrVG, 16. Aufl., § 7 BetrVG Rn 32). Dasselbe gilt für befristet beschäftigte Arbeitnehmer.<br />
Ebenso sind arbeitsunfähig erkrankte, auch ausgesteuerte, beurlaubte oder Beschäftigungsverboten<br />
unterliegende Arbeitnehmer wahlberechtigt (vgl. FITTING, a.a.O., § 7 BetrVG Rn 29 ff.). Ausländische<br />
Staatsangehörige sind gleichermaßen wahlberechtigt.<br />
Auch Auszubildende sind wahlberechtigte Arbeitnehmer des Betriebs, sofern sie am Wahltag das 18.<br />
Lebensjahr vollendet haben (vgl. FITTING, a.a.O., § 7 BetrVG Rn 8). Auszubildende in reinen Ausbildungsbetrieben<br />
gelten allerdings nicht als Arbeitnehmer i.S.d. § 5 BetrVG und sind deshalb gem. § 7 BetrVG<br />
nicht wahlberechtigt, da sie nicht in den Betrieb eingegliedert sind (BAG, Beschl. v. 16.11.2011 – 7 ABR 48/<br />
10, AP BetrVG 1972 § 5 Ausbildung Nr. 14).<br />
Nicht aktiv wahlberechtigt sind im Besonderen arbeitnehmerähnliche Personen und freie Mitarbeiter<br />
sowie Altersteilzeitmitarbeiter, die sich in der verblockten Freistellungsphase befinden (FITTING, a.a.O.,<br />
BetrVG § 7 Rn 32; RICHARDI/THÜSING, a.a.O., § 7 BetrVG Rn 50), da es insoweit an einer tatsächlichen<br />
Eingliederung in den Betrieb fehlt (BAG, Beschl. v. 16.4.2003 – 7 ABR 53/02, NZA 2003, 1345).<br />
Einem ordentlich gekündigten Arbeitnehmer verbleibt das aktive Wahlrecht bis zum Ablauf der<br />
Kündigungsfrist (FITTING, a.a.O., § 7 BetrVG Rn 33; RICHARDI/THÜSING, a.a.O., § 7 BetrVG Rn 23). Sofern der<br />
gekündigte Arbeitnehmer nicht über den Beendigungstermin hinaus weiterbeschäftigt wird, entfällt<br />
zugleich seine Eingliederung in den Betrieb, so dass er ab diesem Zeitpunkt das aktive Wahlrecht zum<br />
Betriebsrat verliert. Das Wahlrecht besteht im Falle der Kündigung des Arbeitnehmers nur, wenn eine<br />
tatsächliche Weiterbeschäftigung erfolgt oder die Kündigungsfrist am Wahltag noch nicht abgelaufen<br />
ist (BAG, Beschl. v. 14.5.1997 – 7 ABR 26/96, NZA 1997, 1245). Ob es ausreicht, dass der gekündigte<br />
Arbeitnehmer, ohne tatsächlich beschäftigt zu werden, erstinstanzlich einen Beschäftigungstitel gegen<br />
den Arbeitgeber erstritten hat (so LAG München, Beschl. v. 12.6.20<strong>07</strong> – 6 TaBV 58/<strong>07</strong>), musste das BAG<br />
bisher nicht entscheiden. Nicht ausreichend ist allerdings die bloße Erhebung einer Kündigungsschutzklage<br />
(BAG, Beschl. v. 14.5.1997 – 7 ABR 26/96, NZA 1997, 1245). Ist ein Arbeitnehmer außerordentlich<br />
gekündigt worden, endet das aktive Wahlrecht mit dem Zugang der Kündigungserklärung.<br />
2. Passives Wahlrecht<br />
Das Recht, Mitglied des Betriebsrats zu werden, sog. passives Wahlrecht, steht allen Arbeitnehmern des<br />
Betriebs zu, die bereits das 18. Lebensjahr vollendet haben und die dem Betrieb am Wahltag sechs<br />
Monate angehören, vgl. § 8 BetrVG.<br />
Zur Arbeitsleistung überlassene Arbeitnehmer sind nicht wählbar, eine § 7 S. 2 BetrVG vergleichbare<br />
Regelung hat der Gesetzgeber für die Wählbarkeit nicht geschaffen. Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis<br />
ruht, d.h. Arbeitnehmer in Elternzeit, Zivildienstleistende bzw. Wehrpflichtige, sind passiv<br />
344 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1295<br />
Betriebsratswahlen<br />
wahlberechtigt, da sie nur vorübergehend nicht in den Betrieb eingegliedert sind. Im Fall ihrer Wahl sind<br />
sie allerdings vorübergehend an der Amtsausübung verhindert.<br />
Gekündigte Arbeitnehmer sind nicht wahlberechtigt, wenn sie zum Zeitpunkt der Wahl nach Ablauf<br />
der ordentlichen Kündigungsfrist bzw. Zugang der außerordentlichen Kündigung bereits aus dem<br />
Betrieb tatsächlich ausgeschieden sind und nicht nach § 102 Abs. 5 BetrVG bzw. dem allgemeinen<br />
Weiterbeschäftigungsanspruch (weiter-)beschäftigt werden.<br />
Hinweis:<br />
Sie sind aber nach der Rechtsprechung des BAG (Beschl. v. 10.11.2004 – 7 ABR 12/04, NZA 2005, 7<strong>07</strong>) auch<br />
nach ihrem tatsächlichen Ausscheiden trotz des Wortlauts des § 8 BetrVG während der Dauer eines<br />
Kündigungsschutzverfahrens wählbar.<br />
Der Arbeitgeber soll durch den Kündigungsausspruch keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des<br />
zukünftigen Betriebsrats haben. Wird der Kündigungsschutzklage später stattgegeben und das Arbeitsverhältnis<br />
fortgesetzt, war der Gewählte nur vorübergehend nicht in den Betrieb eingegliedert und<br />
daher wählbar. Bis zur Rechtskraft der Entscheidung ist der Gewählte an der Amtsausübung gehindert<br />
und wird dann durch ein Ersatzmitglied vertreten.<br />
IV. Größe des zu wählenden Betriebsrats<br />
§ 9 BetrVG regelt, wie viele Arbeitnehmer in den Betriebsrat gewählt werden. Maßgebend ist die Zahl<br />
der bei Erlass des Wahlausschreibens (BAG, Beschl. v. 15.3.2006 – 7 ABR 39/05) für die bevorstehende<br />
Betriebsratswahl i.d.R. tätigen Arbeitnehmer. § 9 BetrVG sieht folgende Staffelung für die Zahl der<br />
Betriebsräte vor:<br />
Anzahl der<br />
wahlberechtigten Arbeitnehmer<br />
im Betrieb<br />
Betriebsratsmitglieder<br />
wahlberechtigten Arbeitnehmer<br />
im Betrieb<br />
Betriebsratsmitglieder<br />
5–20 1 2.001–2.500 19<br />
21–50 3 2.501–3.000 21<br />
51–100 5 3.001–3.500 23<br />
101–200 7 3.501–4.000 25<br />
201–400 9 4.001–4.500 27<br />
401–700 11 4.501–5.000 29<br />
701–1.000 13 5.001–6.000 31<br />
1.001–1.500 15 6.001–7.000 33<br />
1.501–2.000 17 7.001–9.000 35<br />
Hinweis:<br />
In Betrieben mit mehr als 9.000 Arbeitnehmern erhöht sich die Zahl der Mitglieder des Betriebsrats für je<br />
angefangene weitere 3.000 Arbeitnehmer um zwei Mitglieder.<br />
Für die Ermittlung der richtigen Größe der Betriebsratswahl sind die Worte „in der Regel“, d.h.:<br />
normalerweise, zu beachten. Der Wahlvorstand muss zum Zeitpunkt des Erlasses des Wahlausschreibens<br />
einen Rückblick auf die Vergangenheit vornehmen und dann in die Zukunft blicken, um die<br />
„in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer zu ermitteln und die zukünftige, aufgrund konkreter Entscheidungen<br />
des Arbeitgebers zu erwartende Entwicklung des Beschäftigungsstands berücksichtigen. Je<br />
nach Anzahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer im Betrieb steigt die Zahl der Betriebsratsmitglieder<br />
an. Dabei zählt jeder „Kopf“: Auch Teilzeitbeschäftigte und Minijobber werden voll berücksichtigt.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 345
Fach 17, Seite 1296<br />
Betriebsratswahlen<br />
Arbeitsrecht<br />
Achtung:<br />
Nicht berücksichtigt werden leitende Angestellte, da sie keine Arbeitnehmer im Sinne des Gesetzes sind.<br />
Befristet Beschäftigte werden zudem nur dann gezählt, wenn mit ihnen ein dauerhafter Beschäftigungsbedarf<br />
gedeckt wird und sie über mehr als die Hälfte des Jahres im Betrieb sind.<br />
Leiharbeitnehmer werden – trotz der Neuregelung in § 14 Abs. 2 S. 4 AÜG – nur bei regelmäßigem<br />
Einsatz während der längeren Zeit des Jahres mitgezählt (vgl. BAG, Beschl. v. 13.3.2013 – 7 ABR 69/11,<br />
NZA 2013, 789). Schließlich prägen sie die Personalstärke des Betriebs nur dann, wenn sie nicht nur<br />
kurzfristig (z.B. zur Abfederung von Auftragsspitzen über wenige Wochen) eingesetzt werden.<br />
Ausscheidende Arbeitnehmer (gekündigte oder solche, die einen Aufhebungsvertrag unterzeichnet<br />
haben) werden nicht mitgezählt, wenn eine Nachbesetzung der Stelle nicht geplant ist.<br />
Hinweis:<br />
Anlass für Streit gibt häufig die Feststellung der korrekten Arbeitnehmerzahl bei Schwankungen während<br />
des Jahres, z.B. in Saisonbetrieben oder bei Auftragsspitzen, und bei absehbaren Änderungen der<br />
Belegschaftsgröße, etwa durch eine Restrukturierung. Die Rechtsprechung nimmt an, dass dabei nicht die<br />
durchschnittliche Anzahl der Beschäftigten eines bestimmten Zeitraums entscheidend ist, sondern die<br />
Zahl, die für den Betrieb kennzeichnend ist (BAG, Beschl. v. 7.5.2008 – 7 ABR 17/<strong>07</strong>, NZA 2008, 1142).<br />
Veränderungen bis zum Tag der Betriebsratswahl sind zumindest dann zu berücksichtigen, wenn sie<br />
feststehen oder sich konkret abzeichnen.<br />
Welche Arbeitnehmer regelmäßig im Betrieb beschäftigt sind, entscheidet der Wahlvorstand in<br />
Grenzfällen nach pflichtgemäßem Ermessen innerhalb eines Beurteilungsspielraums (BAG, Beschl. v.<br />
12.10.1976 – 1 ABR 1/76, AP BetrVG 1972 § 8 Nr. 1).<br />
Eine Neuwahl des Betriebsrats bei späteren Änderungen der Zahl der regelmäßig beschäftigten<br />
Arbeitnehmer gibt es gem. § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG nur dann, wenn zwei Jahre nach der Betriebsratswahl<br />
die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer um die Hälfte, mindestens aber um 50 Arbeitnehmer,<br />
gestiegen oder gesunken ist.<br />
Achtung:<br />
Ein Verstoß gegen § 9 BetrVG führt zur Unwirksamkeit der Betriebsratswahl. Wird hierauf erfolgreich eine<br />
Anfechtung nach § 19 BetrVG gestützt, ist der Betriebsrat mit Rechtskraft des entsprechenden arbeitsgerichtlichen<br />
Beschlusses aufgelöst. Neuwahlen sind erforderlich.<br />
V. Betriebsratswahl<br />
1. Bestellung des Wahlvorstands<br />
Die Einleitung der Betriebsratswahl beginnt mit der Bestellung des Wahlvorstands (§§ 16, 17 BetrVG). In<br />
Betrieben ohne Betriebsrat kann die Initiative zur Wahl einer Interessenvertretung von einer im Betrieb<br />
vertretenen Gewerkschaft – d.h. mindestens ein Beschäftigter ist Mitglied der Gewerkschaft – ausgehen.<br />
Oder mindestens drei wahlberechtigte Beschäftigten laden zu einer ersten Wahlversammlung ein<br />
(§ 17 BetrVG). Zudem kann in bislang betriebsratslosen Betrieben die Bestellung des Wahlvorstands<br />
erfolgen durch einen bestehenden Gesamtbetriebsrat, und wenn es diesen nicht gibt, durch einen<br />
bestehenden Konzernbetriebsrat.<br />
Besteht bereits ein Betriebsrat, erfolgt die Bestellung des Wahlvorstands durch den amtierenden<br />
Betriebsrat, und zwar spätestens zehn Wochen vor Ende der laufenden Amtszeit (§ 16 Abs. 1 BetrVG).<br />
346 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1297<br />
Betriebsratswahlen<br />
Ist acht Wochen vor Ablauf der Amtszeit noch kein Wahlvorstand bestellt, kann dies auf Antrag durch<br />
das Arbeitsgericht erfolgen (§ 16 Abs. 2 BetrVG). Im vereinfachten Wahlverfahren gilt § 17a BetrVG.<br />
Der Wahlvorstand besteht i.d.R. aus drei wahlberechtigten Arbeitnehmern des Betriebs (§ 16 Abs. 1 S. 1<br />
BetrVG). Der Betriebsrat kann die Zahl der Wahlvorstandsmitglieder erhöhen, wenn dies zur ordnungsgemäßen<br />
Durchführung der Wahl notwendig ist (§ 16 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Für jedes Mitglied kann ein<br />
Ersatzmitglied bestellt werden (§ 16 Abs. 1 S. 4 BetrVG).<br />
Dem Wahlvorstand obliegen folgende Aufgaben, die nachfolgend näher dargelegt werden:<br />
• Erstellung der Wählerliste, d.h. einer Liste aller wahlberechtigten Arbeitnehmer,<br />
• Erstellung des Wahlausschreibens, d.h. Ausschreiben der Wahl mit Angabe von Ort und Zeitpunkt<br />
der Wahl und der Ausschreibung,<br />
• Bekanntgabe der Wahlvorschläge sowie der Zahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder,<br />
• Information aller Wahlberechtigten über die Wahl,<br />
• Prüfung der Einsprüche gegen die Wählerliste und gegen Wahlvorschläge,<br />
• Beaufsichtigung der Wahl und Auszählung der Stimmen,<br />
• Bekanntmachung des Wahlergebnisses.<br />
2. Vorbereitung der Wahl<br />
Die Vorbereitung und Durchführung der Wahl obliegt dem Wahlvorstand. Der Wahlvorstand muss die<br />
Wahl unverzüglich einleiten, durchführen und dann das Wahlergebnis feststellen (§ 18 BetrVG).<br />
„Unverzügliche“ Einleitung bedeutet, dass der Wahlvorstand „ohne schuldhaftes Zögern“, d.h. alsbald<br />
nach seiner Bestellung, tätig werden muss.<br />
a) Art des Wahlverfahrens<br />
Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens hängt, wie unter IV. dargelegt, entscheidend von der Größe des<br />
Betriebs ab. Sind hier i.d.R. maximal 50 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt, muss nach § 14a<br />
Abs. 1 BetrVG das sog. vereinfachte Wahlverfahren durchgeführt werden. Dieses zeichnet sich durch<br />
seine Kürze aus.<br />
Bei mehr als 50 wahlberechtigten Arbeitnehmern findet hingegen das normale Wahlverfahren statt,<br />
das sich über mindestens sechs Wochen erstreckt. Eine Abweichung hiervon ist nur für Betriebe mit<br />
i.d.R. 51–100 wahlberechtigten Arbeitnehmern möglich. Hier können Wahlvorstand und Arbeitgeber<br />
nach § 14a Abs. 5 BetrVG die Durchführung des vereinfachten Wahlverfahrens vereinbaren.<br />
Belegschaftsgröße<br />
zutreffendes Wahlverfahren<br />
5–50 wahlberechtigte Arbeitnehmer vereinfachtes Wahlverfahren<br />
51–100 wahlberechtigte Arbeitnehmer normales Wahlverfahren, aber Vereinbarung des vereinfachten<br />
Wahlverfahrens möglich<br />
101 und mehr wahlberechtigte Arbeitnehmer normales Wahlverfahren<br />
b) Wählerliste<br />
Der Wahlvorstand muss eine Wählerliste (Liste der Wahlberechtigten) aufstellen (§ 2 Abs. 1 WO). Diese<br />
ist für die Durchführung der Wahl von erheblicher Bedeutung: Nur diejenigen Beschäftigten sind<br />
wahlberechtigt und wählbar, die in die Wählerliste eingetragen sind. Der Arbeitgeber hat dem<br />
Wahlvorstand alle erforderlichen Auskünfte für die Erstellung der Wählerliste zu geben und die<br />
erforderlichen Unterlagen hierfür zur Verfügung zu stellen (§ 2 Abs. 2 WO).<br />
Hinweis:<br />
Der Arbeitgeber kann die Auskünfte nur verweigern, wenn die beabsichtigte Betriebsratswahl voraussichtlich<br />
nichtig ist (LAG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2014 – 3 TaBVGa 2/14).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 347
Fach 17, Seite 1298<br />
Betriebsratswahlen<br />
Arbeitsrecht<br />
Die Liste muss eine Aufstellung getrennt nach den Geschlechtern aufweisen (§ 2 Abs. 1, 3 WO). Sie ist in<br />
alphabetischer Reihenfolge nach Familienname, Vorname und Geburtsdatum aufzustellen. Ein<br />
Abdruck der Wählerliste und ein Abdruck der Wahlordnung sind vom Tag der Einleitung der Wahl<br />
(= Erlass des Wahlausschreibens) bis zum Abschluss der Stimmabgabe an einer geeigneten Stelle im<br />
Betrieb zur Einsichtnahme auszulegen. Neben dieser herkömmlichen Form der Bekanntmachung kann<br />
diese auch mittels der im Betrieb vorhandenen Informations- und Kommunikationstechnik erfolgen.<br />
Der Arbeitgeber, aber auch im Betrieb vertretene Gewerkschaften und Arbeitnehmer, haben ein Recht<br />
zur Einsichtnahme.<br />
Hinweis:<br />
Die ordnungsgemäße Wählerliste ist wesentliche Wahlvoraussetzung, bei Fehlern ist die Wahl anfechtbar.<br />
Nur innerhalb von zwei Wochen nach Erlass des Wahlausschreibens können Arbeitnehmer Einspruch<br />
gegen die Wählerliste schriftlich einlegen (§ 4 Abs. 1 WO). Der Wahlvorstand muss unverzüglich über<br />
den Einspruch entscheiden.<br />
Achtung:<br />
Bei Änderungen der Wählerliste ist § 4 Abs. 3 WO zu beachten: Nach Ablauf der Einspruchsfrist können<br />
(nur) noch Schreibfehler und offensichtliche Unrichtigkeiten berichtigt werden, allerdings muss die<br />
Wählerliste laufend auf ihre Vollständigkeit überprüft und ggf. neu eintretende Arbeitnehmer müssen<br />
aufgenommen bzw. ausscheidende Arbeitnehmer gestrichen werden.<br />
c) Wahlausschreiben<br />
Spätestens sechs Wochen vor dem ersten Tag der Stimmabgabe muss der Wahlvorstand das<br />
Wahlausschreiben erlassen (§ 3 WO). Das Wahlausschreiben muss insbesondere (im Einzelnen vgl. § 3<br />
Abs. 2 WO) enthalten:<br />
• Datum seines Erlasses,<br />
• Anteil der Geschlechter,<br />
• Hinweis auf Minderheitengeschlecht und dessen Mandatszahlen,<br />
• Zahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder,<br />
• Angaben zu den Wahlvorschlägen,<br />
• Tag und Ort der Wahl.<br />
Das Geschlecht, das in der Belegschaft in der Minderheit ist (sog. Minderheitengeschlecht), muss<br />
mindestens entsprechend seinem zahlenmäßigen Verhältnis im Betriebsrat vertreten sein. Der Wahlvorstand<br />
muss errechnen, wie viele Sitze im Betriebsrat auf das Minderheitengeschlecht entfallen.<br />
Hierzu wird das d’Hondtsche Höchstzahlenverfahren angewendet.<br />
Beispiel:<br />
Ein Betrieb hat insgesamt 40 wahlberechtigte Beschäftigte, davon 38 Frauen und 2 Männer. Es sind nach<br />
§ 9 BetrVG insgesamt 3 Betriebsratssitze zu vergeben. Die Sitze für das Minderheitengeschlecht werden<br />
nach dem d’Hondtschen Höchstzahlenverfahren wie folgt ermittelt:<br />
Anzahl Frauen/Betriebsratssitz<br />
Anzahl Männer/Betriebsratssitz<br />
38 : 1 = 38 2:1=2<br />
38 : 2 = 19 2:1=1<br />
38 : 3 = 12,67 2 : 3 = 0,67<br />
Es können drei Frauen die Betriebsratssitze einnehmen, da auf die Anzahl der Frauen die höchste Anzahl<br />
der Betriebsratssitze entfallen. In diesem Beispielsfall spielt das Minderheitengeschlecht daher keine<br />
Rolle.<br />
348 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1299<br />
Betriebsratswahlen<br />
Anders wäre es, wenn 28 Frauen und 12 Männer wahlberechtigt sind. Hier wäre nach<br />
Ermittlung des Minderheitengeschlechts mind. 1 Betriebsratssitz mit einem Mann zu besetzen.<br />
Anzahl Frauen/Betriebsratssitz<br />
Anzahl Männer/Betriebsratssitz<br />
28 : 1 = 28 12 : 1 = 12<br />
28 : 2 = 14 12 : 2 = 6<br />
28 : 3 = 9,33 12 : 3 = 4<br />
Ob eine Personenwahl (Mehrheitswahl) oder eine Listenwahl durchgeführt wird, entscheidet nicht der<br />
Wahlvorstand, sondern die Zahl der eingereichten Wahlvorschläge (Listen).<br />
Im vereinfachten Wahlverfahren (bis 50 Mitarbeiter, bzw. bis 100 Mitarbeiter bei besonderer<br />
Vereinbarung, s. oben V. 2. a) ist zwingend die Personenwahl vorgeschrieben.<br />
Im normalen Wahlverfahren kommt es darauf an, wie viele Vorschlagslisten eingereicht werden: Bei<br />
mehreren gültigen Wahlvorschlägen ist zwingend die Listenwahl vorgeschrieben. Liegt dagegen nur<br />
eine einzige gültige Vorschlagsliste vor, dann ist zwingend die Personenwahl vorgeschrieben.<br />
Bei der Personenwahl werden einzelne Kandidaten gewählt; jeder Wähler hat so viele Stimmen, wie<br />
Sitze zu verteilen sind. Bei einer Listenwahl werden nicht einzelne Kandidaten gewählt, sondern jeweils<br />
eine Liste; jeder Wähler hat eine Stimme (für die gewünschte Liste).<br />
Bezüglich der Wahlvorschläge/Listen ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen Wahlbewerber in<br />
erkennbarer Reihenfolge im Vorschlag aufgeführt sein müssen. Denn falls auch nur eine einzige weitere<br />
Liste eingereicht wird (was zum Zeitpunkt der Listenerstellung noch niemand sicher wissen kann),<br />
kommt es zur Listenwahl. In diesem Fall ist die Reihenfolge der Kandidaten pro Liste entscheidend für<br />
die Chancen jedes Bewerbers, in den Betriebsrat gewählt zu werden oder nicht. Bleibt es bis zum Ende<br />
der Frist zur Einreichung von Vorschlägen tatsächlich bei nur einer Vorschlagsliste, findet zwar eine<br />
Personenwahl statt. Die Kandidaten werden dann aber in genau der gleichen Reihenfolge auf den<br />
Stimmzettel zur Wahl gesetzt, wie sie auch auf der Vorschlagsliste aufgeführt waren.<br />
Achtung:<br />
Der Wahlvorstand darf hier auf keinen Fall umsortieren! Eine andere Reihenfolge kann zu einer Verletzung<br />
der Chancengleichheit der Bewerber im Rahmen der Betriebsratswahl und damit zu einer unzulässigen<br />
Wahlbeeinflussung führen (vgl. § 20 Abs. 2 BetrVG). Eine Wahlanfechtung gem. § 19 BetrVG ist in diesem<br />
Fall möglich. Besonders grobe Verstöße könnten zudem sogar zur Nichtigkeit der Wahl führen.<br />
Im vereinfachten Wahlverfahren spielt es dagegen keine Rolle, ob eine oder mehrere Vorschlagslisten<br />
eingereicht werden. Alle Kandidaten von sämtlichen Vorschlagslisten werden vom Wahlvorstand<br />
alphabetisch sortiert auf den Stimmzettel gesetzt.<br />
Hinweis:<br />
Jede Vorschlagsliste soll mindestens doppelt so viele Bewerber enthalten, wie Betriebsratsmitglieder zu<br />
wählen sind; es genügt aber für die Wirksamkeit bereits ein Wahlbewerber auf der Liste.<br />
Der Wahlvorschlag muss von mindestens 1 / 20<br />
der wahlberechtigten Arbeitnehmer, mindestens jedoch<br />
von drei Wahlberechtigten, unterzeichnet sein, sog. Stützunterschriften. Ergibt die Berechnung keine<br />
volle Zahl, ist auf die nächste volle Zahl aufzurunden. Die nötige Anzahl an Stützunterschriften ergibt<br />
sich aus § 14 Abs. 4 BetrVG, bzw. aus dieser Übersicht:<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 349
Fach 17, Seite 1300<br />
Betriebsratswahlen<br />
Arbeitsrecht<br />
Anzahl der Wahlberechtigten<br />
bis 20<br />
bis 60<br />
bis 1.000<br />
ab 1.001<br />
Mindestzahl der Stützunterschriften<br />
2 Wahlberechtigte<br />
3 Wahlberechtigte<br />
5 % der Wahlberechtigten (immer aufrunden!)<br />
50 Wahlberechtigte<br />
Hinweis:<br />
Die konkret erforderliche Anzahl muss der Wahlvorstand im Wahlausschreiben berechnen und bekannt<br />
geben.<br />
Gewerkschaftslisten müssen von zwei Beauftragten unterzeichnet sein (§ 14 Abs. 5 BetrVG). Auch im<br />
Wahlvorschlag aufgeführte Bewerber können den Wahlvorschlag unterzeichnen, ebenso sind Mitglieder<br />
des Wahlvorstands unterzeichnungsberechtigt. Die Unterzeichnung muss persönlich erfolgen.<br />
Hinweis:<br />
Jeder Arbeitnehmer muss genau einschätzen können, wozu er seine Unterstützung gibt. Daher muss die<br />
Kandidatenliste vollständig und abgeschlossen sein, bevor mit dem Sammeln von Stützunterschriften<br />
begonnen wird. Wird an der Kandidatenzusammensetzung noch etwas verändert, nachdem bereits erste<br />
Stützunterschriften geleistet worden sind, so wird dadurch der Wahlvorschlag insgesamt ungültig.<br />
3. Durchführung der Wahl<br />
Für die eigentliche Wahlhandlung gelten § 14 Abs. 1 BetrVG, §§ 11 ff. WO: Der Wähler muss persönlich<br />
wählen. Der Wahlvorstand muss Vorkehrungen für eine geheime Wahl schaffen. Ein Verstoß gegen den<br />
Grundsatz der geheimen Wahl liegt nicht erst dann vor, wenn der Wähler tatsächlich beobachtet<br />
worden ist. Vielmehr setzt die Einhaltung des Grundsatzes der geheimen Wahl voraus, dass der Wähler<br />
subjektiv die Überzeugung haben konnte, unbeobachtet zu sein (LAG Düsseldorf, Beschl. v. 13.12.2016 –<br />
9 TaBV 85/16). Die Stimmabgabe erfolgt durch Abgabe des Stimmzettels im Wahlumschlag. Stimmzettel<br />
und Wahlumschläge müssen für alle Wähler genau gleich sein. Die Wahlurne muss verschließbar und<br />
aus Holz, Kunststoff oder anderem festen Material sein sowie über einen Schlitz verfügen. Während der<br />
Stimmabgabe müssen ständig zwei stimmberechtigte Mitglieder des Wahlvorstands anwesend sein<br />
(§ 12 Abs. 2 WO). Erst ist der Name des Wählers zu vermerken, dann kann der Wähler den Umschlag in<br />
die Urne einwerfen.<br />
Der am Wahltag nicht im Betrieb anwesende Wähler soll die Möglichkeit haben, seine Stimme<br />
abzugeben, sog. Briefwahl (vgl. §§ 24–16 WO). Ist der Arbeitnehmer an der persönlichen Stimmabgabe<br />
wegen Abwesenheit vom Betrieb (Geschäftsreise, Urlaub, Krankheit etc.) verhindert und hat er ein<br />
mündliches oder schriftliches Verlangen an den Wahlvorstand gerichtet, Briefwahl machen zu wollen,<br />
sind ihm die Wahlunterlagen spätestens im Laufe des Tages der Bekanntgabe der Vorschlagslisten<br />
auszuhändigen bzw. zu übersenden. Ist der Antrag erst später gestellt, müssen die Unterlagen<br />
unverzüglich ausgehändigt/übersandt werden. Ohne ausdrückliches Verlangen des Arbeitnehmers, an<br />
einer Briefwahl teilnehmen zu wollen, darf der Wahlvorstand die Briefwahlunterlagen nur übermitteln,<br />
wenn ihm bekannt ist, dass der Arbeitnehmer wegen der Eigenart seines Beschäftigungsverhältnisses<br />
voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein wird (bei Arbeitsleistungen, die gewöhnlich außerhalb<br />
des Betriebs erbracht werden, sollte der Wahlvorstand den Arbeitgeber hiernach fragen).<br />
Der Wahlvorstand hat die Freiumschläge der Briefwähler ungeöffnet bis zum Wahltag unter Verschluss<br />
zu halten, er muss die Freiumschläge unmittelbar vor Abschluss der Stimmabgabe in öffentlicher<br />
Sitzung öffnen, die Wahlumschläge sowie die vorgedruckten Erklärungen entnehmen und die<br />
verschlossenen Wahlumschläge, nachdem die Stimmabgaben in der Wählerliste vermerkt sind, in die<br />
Wahlurne werfen.<br />
350 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Arbeitsrecht Fach 17, Seite 1301<br />
Betriebsratswahlen<br />
Hinweis:<br />
Der Wahlvorstand darf, auch wenn er dies für sinnvoller oder interessengerechter hält, weder eine allgemeine<br />
Briefwahl festlegen (Verstoß gegen § 24 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 WO) noch zu einer (vollständig) digitalen<br />
Betriebsratswahl aufrufen (vgl. zur „Online-Wahl“ ArbG Hamburg, Beschl. v. 7.6.2017 – 13 BV 13/16). Beide<br />
Vorgehensweisen sind nach der geltenden Wahlordnung unzulässig.<br />
Die Stimmauszählung erfolgt öffentlich und unverzüglich nach Abschluss der Wahl durch den Wahlvorstand.<br />
Öffentlich heißt, dass die Arbeitnehmer des Betriebs, aber auch Vertreter der im Betrieb<br />
vertretenen Gewerkschaften, anwesend sein dürfen. Schon die Öffnung der Wahlurne muss öffentlich<br />
sein. Die Stimmauszählung darf nicht vorverlegt oder nach hinten geschoben werden. Die Auszählung<br />
erfolgt durch den gesamten Wahlvorstand.<br />
Stimmzettel sind ungültig, wenn:<br />
• sie nicht im Wahlumschlag abgegeben wurden,<br />
• sie mehr als die erforderlichen Kreuze beinhalten,<br />
• sie vom Wähler unterschrieben wurden,<br />
• sich auf ihnen Hinweise befinden, die Rückschlüsse auf den Wählenden zulassen,<br />
• das Kreuz für die Stimmabgabe nicht eindeutig auf Höhe einer Liste bzw. Person gesetzt wurde,<br />
• sie Vermerke oder Ergänzungen des Wählenden beinhalten, wie z.B. weitere Namen von Personen,<br />
die gar nicht für das Betriebsratsamt kandidieren.<br />
Hinweis:<br />
Der Wahlvorstand darf ungültige Stimmzettel bei der Auszählung nicht berücksichtigen, aber sie auch<br />
nicht vernichten. Sie sind – wie alle übrigen Wahlunterlagen – aufzuheben, zweckmäßigerweise werden<br />
sie zuvor durchnummeriert.<br />
Beschlüsse über die Gültigkeit/Ungültigkeit von Stimmen dürfen nur vom Wahlvorstand gefasst werden.<br />
Durch Beschluss für ungültig erklärte Stimmen sind gesondert von den übrigen Stimmzetteln aufzubewahren.<br />
Bei Feststellung des Wahlergebnisses ist zum einen zu differenzieren, ob eine Personen- oder Listenwahl<br />
durchgeführt wurde, zum anderen ist das Minderheitengeschlecht zu berücksichtigen.<br />
Bei Personenwahl werden erst die Minderheitensitze vergeben, indem sie mit den dem Minderheitengeschlecht<br />
zugehörigen Bewerbern in der Reihenfolge der jeweils höchsten auf sie entfallenden Stimmen<br />
besetzt werden (vgl. § 22 Abs. 1 WO). Nun werden die weiteren Sitze unabhängig vom Geschlecht<br />
auf die Bewerber in Reihenfolge der jeweils höchsten Stimmen vergeben (§ 22 Abs. 2 WO).<br />
Bei Listenwahl werden die Sitze nach dem d’Hondtschen Höchstzahlenverfahren auf die einzelnen<br />
Listen verteilt (§ 15 Abs. 1–4 WO), sodann folgt der Blick auf das Minderheitengeschlecht: Ist nach den<br />
sich aus dem Höchstzahlenverfahren errechnenden Listenplätzen das Minderheitengeschlecht nicht<br />
ausreichend vertreten, gilt § 15 Abs. 5 WO. Ein Bewerber, der mit der niedrigsten Höchstzahl einen Platz<br />
im Gremium erhalten hätte, muss zugunsten des nächstnachfolgenden Bewerbers des Minderheitengeschlechts<br />
derselben Liste weichen. Hat die betreffende Liste keinen weiteren Bewerber des Minderheitengeschlechts,<br />
verliert sie den Sitz – der Sitz geht zu derjenigen Vorschlagsliste mit der bislang nicht<br />
berücksichtigten Höchstzahl mit Angehörigen des Minderheitengeschlechts über.<br />
Im Anschluss an die Stimmauszählung und -ermittlung muss der Wahlvorstand die Wahlniederschrift<br />
(§ 16 WO, bei nur einer Liste § 23 WO) fertigen. In der Wahlniederschrift sind folgende Informationen<br />
festzuhalten (vgl. § 16 Abs. 1 WO):<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 351
Fach 17, Seite 1302<br />
Betriebsratswahlen<br />
Arbeitsrecht<br />
• die Gesamtanzahl der abgegebenen Wahlumschläge,<br />
• die Gesamtanzahl der abgegebenen ungültigen Stimmen,<br />
• die jeder Liste zugefallene Stimmenanzahl,<br />
• die berechneten Höchstzahlen,<br />
• die Verteilung der berechneten Höchstzahlen auf die Listen,<br />
• die Namen der in den Betriebsrat gewählten Kandidaten,<br />
• besondere Vorkommnisse/Zwischenfälle oder sonstige Ereignisse während der Betriebsratswahl.<br />
Die Wahlniederschrift ist vom Vorsitzenden und einem weiteren Mitglied (vgl. auch § 23 Abs. 1 WO) zu<br />
unterschreiben. Zudem sind die Gewählten zu benachrichtigen (§§ 17, 23 WO) und bekanntzumachen<br />
(§§ 18, 23 WO). Die Wahlakten sind aufzubewahren (§ 19 WO).<br />
VI. Checkliste: Ablauf der Betriebsratswahl<br />
Bezüglich der Vorbereitung bzw. Durchführung der Betriebsratswahl sind zahlreiche Punkte zu<br />
berücksichtigen. Die nachfolgenden Fragen sollen Ihnen zur Übersicht dienen:<br />
• Wann sollen die Betriebsratswahlen abgeschlossen sein?<br />
• Wie viele betriebszugehörige Mitarbeiter sind wahlberechtigt? Wie groß wird der zu wählende<br />
Betriebsrat?<br />
• Wie viele Frauen und Männer müssen dem neuen Betriebsrat angehören, damit das Minderheitengeschlecht<br />
ausreichend vertreten ist?<br />
• Ist das vereinfachte oder das normale Wahlverfahren anzuwenden?<br />
• Ist der Wahlvorstand bestellt?<br />
• Ist das Wahlausschreiben korrekt?<br />
• Existieren ausreichend viele Wahlvorschläge?<br />
• Wurde die Wählbarkeit der vorgeschlagenen Wahlbewerber überprüft?<br />
• Haben die Wahlvorschläge die erforderliche Anzahl an Stützunterschriften?<br />
• Ist die Bekanntgabe der Wahlvorschläge rechtzeitig erfolgt?<br />
• Gibt es eine Listenwahl oder eine Personenwahl?<br />
• Sind die Stimmzettel vorbereitet bzw. beteiligten sich Mitarbeiter per Briefwahl? Sind die Briefwahlunterlagen<br />
ordnungsgemäß zusammengestellt worden?<br />
• Wurden die Stimmzettel korrekt ausgezählt?<br />
• Sind die Gewählten über ihre Wahl informiert worden? Haben Sie die Wahl angenommen?<br />
• Wurde das Wahlergebnis veröffentlicht?<br />
VII. Fazit<br />
Der Beitrag vermittelt einen Eindruck der Komplexität des Themas „Betriebsratswahl“, das alle vier Jahre<br />
zu umfassenden Beratungsmandaten führen kann, denn die Fehlerquellen sind mannigfaltig. Aufgrund<br />
der unübersichtlichen Regelungen im Gesetz empfiehlt es sich, bei den Beratungen immer den einschlägigen<br />
Gesetzes-/Verordnungstext im Zugriff zu haben. An mancher Stelle überrascht das Wahlverfahren<br />
– hier sollte man sich nicht zu einer vorschnellen Antwort verleiten lassen, zumal die arbeitsgerichtliche<br />
Rechtsprechung zum Thema Betriebsratswahl stets in Bewegung ist und bleiben wird. Auch<br />
steht in zahlreichen Detailfragen eine abschließende Klärung noch aus. Es bleibt abzuwarten, ob die<br />
kommenden Betriebsratswahlen diesbezüglich Antworten liefern oder welche neuen Probleme sich<br />
stellen werden.<br />
352 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1585<br />
Neuerungen 2017/<strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
Neuerungen im Sozialrecht 2017/<strong>2018</strong><br />
Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht Dr. ULRICH SARTORIUS, Breisach<br />
Inhalt<br />
I. Existenzsichernde Leistungen<br />
1. Regelbedarfe/Regelsätze in SGB II/SGB XII<br />
2. Anrechnung von Einkommen aus einer<br />
zusätzlichen Altersvorsorge<br />
II. Krankenversicherung<br />
1. Erleichterter Zugang für ältere Menschen<br />
2. Versicherungsschutz von Arbeitslosengeldbeziehern<br />
bei Ruhen des Anspruchs<br />
III. Rentenversicherung/Erwerbsminderungsrente<br />
IV. Mutterschutzgesetz<br />
V. Kindergelderhöhung/Kürzere Antragsfristen<br />
VI. Bundesteilhabegesetz/Schwerbehindertenrecht<br />
1. Änderungen im SGB IX<br />
2. Neuer Behindertenbegriff<br />
3. Selbstbeschaffte Rehabilitationsleistungen/Genehmigungsfiktion<br />
4. Teilhabe an Bildung und soziale Teilhabe<br />
Der nachfolgende Beitrag gibt einen Überblick zu den in der 2. Jahreshälfte 2017 und zum 1.1.<strong>2018</strong> eingetretenen<br />
Änderungen zu ausgewählten Bereichen des Sozialrechts.<br />
I. Existenzsichernde Leistungen<br />
1. Regelbedarfe/Regelsätze in SGB II/SGB XII<br />
Die Bezieher von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten ab dem 1.1.<strong>2018</strong> (etwas) mehr Geld. Der<br />
Regelbedarf in der Regelbedarfsstufe 1 (Personen, die alleinstehend oder alleinerziehend sind oder deren<br />
Partnerin oder Partner minderjährig ist) erhöht sich um 7 € auf 416 € monatlich (hinsichtlich der<br />
Anpassung bei den weiteren Regelbedarfsstufen s. <strong>ZAP</strong> Anwaltsmagazin 2/<strong>2018</strong>, S. 55), was auch zu<br />
einer Erhöhung der Mehrbedarfsbeträge (§ 21 SGB II, § 30 SGB XII) führt. Die Höhe des Regelsatzes/<br />
Regelbedarfs ist u.a. maßgeblich im Rahmen der Festlegung der Einkommensgrenze für die Leistungen<br />
nach dem 5. bis 9. Kapitel des SGB XII (§ 85 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII, ferner bei der neuen Vorschrift des § 82<br />
Abs. 4 SGB XII, s. hierzu nachfolgend 2.).<br />
Hinweis:<br />
Der durch Regelbedarfe/Regelsätze festgesetzte Bedarf in SGB II/SGB XII hat als das zum Erhalt eines für<br />
eine menschenwürdige Lebensführung benötigte Minimums auch Bedeutung für weitere Rechtsgebiete,<br />
wie folgende Beispiele zeigen:<br />
• bei der Festsetzung des Mindestunterhalts minderjähriger Kinder nach § 1612a BGB,<br />
• bei der Aufrechnung (§ 51 SGB I), Verrechnung (§ 52 SGB I) Übertragung – d.h. Abtretung – und<br />
Verpfändung (§ 53 SGB I),<br />
• bei Anträgen auf Erlass nach § 44 SGB II, § 46 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV oder nach anderen Normen,<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 353
Fach 18, Seite 1586<br />
Neuerungen 2017/<strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
• bei den Einkommens- bzw. Unterhalts-Freibeträgen im Rahmen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe<br />
(§ 115 ZPO) – laufende PKH-Monatsraten können im Rahmen von § 120a Abs. 1 S. 1 und 2 ZPO auf<br />
Anpassungsmöglichkeiten hin überprüft werden – und<br />
• bei der Beratungshilfe (§ 1 Abs. 2 BerHG).<br />
2. Anrechnung von Einkommen aus einer zusätzlichen Altersvorsorge<br />
Das Gesetz zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung und zur Änderung anderer Gesetze (Betriebsrentenstärkungsgesetz)<br />
vom 17.8.2017 (BGBl I, S. 3214) beschreitet zum einen neue Wege zur Verbreitung<br />
der betrieblichen Altersversorgung insbesondere durch Schaffung neuer Anreize. So bewirkt die neu<br />
eingeräumte Möglichkeit, die „Riester-Förderung“ in Anspruch zu nehmen, nunmehr für auf diese Weise<br />
geförderte Renten Beitragsfreiheit in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, § 229 Abs. 1 Nr. 5<br />
Hs. 2 SGB V und § 57 Abs. 1 S. 1 SGB XI, (zum Ganzen s. LANGOHR-PLATO <strong>ZAP</strong> F. 17, S. 1267 und ROLFS NZA 2017,<br />
1225). Das Gesetz bringt zum anderen auch Vorteile für die Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 ff.<br />
SGB XII) und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff. SGB XII) in der Sozialhilfe.<br />
§ 82 Abs. 4 SGB XII n.F. sieht bei diesen Hilfen das Absetzen eines Betrags von 100 € monatlich aus einer<br />
zusätzlichen Altersvorsorge der Leistungsberechtigten zzgl. 30 % des diesen Betrag übersteigenden<br />
Einkommens aus einer zusätzlichen Altersvorsorge, höchstens jedoch 50 % der Regelbedarfsstufe 1 nach<br />
der Anlage zu § 28 SGB XII (derzeit also höchstens 208 € monatlich) vor. § 82 Abs. 5 SGB XII n.F. definiert<br />
als Einkommen aus einer zusätzlichen Altersvorsorge im vorgenannten Sinne jedes monatlich bis zum<br />
Lebensende ausgezahlte Einkommen, auf das Leistungsberechtigte vor Erreichen der Regelaltersgrenze<br />
auf freiwilliger Grundlage Ansprüche erworben haben, und das dazu bestimmt und geeignet ist, deren<br />
Einkommenssituation gegenüber möglichen Ansprüchen aus Zeiten einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen<br />
Rentenversicherung, nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte, aus beamtenrechtlichen<br />
Versorgungsansprüchen und aus Ansprüchen aus Zeiten einer Versicherungspflicht in einer<br />
Versicherungs- und Versorgungseinrichtung, die für Angehörige bestimmter Berufe errichtet ist, zu<br />
verbessern. Zu solchem Einkommen zählen ferner Zahlungen aus einer betrieblichen Altersversorgung im<br />
Sinne des Betriebsrentengesetzes, einem nach § 5 des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes<br />
zertifizierten Altersvorsorgevertrag und einem nach diesem Gesetz zertifizierten Basisrentenvertrag.<br />
Beispiel:<br />
Eine zusätzliche Altersversorgung gem. § 82 Abs. 5 SGB XII beträgt 300 €. Hiervon sind bei der Einkommensanrechnung<br />
nach § 82 Abs. 4 SGB XII zunächst 100 € abzusetzen, von dem restlichen Betrag<br />
(200 €) 30 %, also 60 €, insgesamt 160 €. Der höchstmögliche Abzugsbetrag (1/2 der Regelbedarfsstufe 1<br />
nach § 28 SGB XII) von derzeit 208 € wird nicht erreicht.<br />
Bei den Ausnahmen von der Verpflichtung zum Vermögenseinsatz nach § 90 SGB XII ist dessen Absatz 2<br />
Nr. 2 dahin ergänzt, dass nunmehr auch das in der Auszahlungsphase insgesamt zur Verfügung stehende<br />
Kapital nicht vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe einzusetzen bzw. zu verwerten ist, soweit die<br />
Auszahlung als monatliche oder als sonstige regelmäßige Leistung i.S.v. § 82 Abs. 5 S. 3 SGB XII erfolgt.<br />
Bei der ergänzenden Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Kriegsopferfürsorge für Beschädigte<br />
und Hinterbliebene nach § 27a Bundesversorgungsgesetz (BVG) finden sich in § 25d Abs. 3 Nr. 3a u. 3b<br />
BVG entsprechende Regelungen zur Einkommensschonung wie in § 82 Abs. 4 u. 5 SGB XII.<br />
Praxishinweis:<br />
Für Menschen, bei denen aufgrund ihrer Erwerbsbiografie und der Höhe der prognostizierten Altersrente<br />
zu erwarten war, dass zur Sicherung des Lebensunterhalts im Alter ergänzend Grundsicherungsleistungen<br />
nach §§ 41 ff. SGB XII erforderlich werden würden, machte bisher eine zusätzliche private Altersvorsorge<br />
keinen Sinn, weil die hieraus resultierenden Einnahmen vor Inanspruchnahme der Grundsicherungsleistungen<br />
in vollem Umfang angerechnet wurden. Die Situation hat sich jetzt in dem oben genannten<br />
Umfang geändert.<br />
354 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1587<br />
Neuerungen 2017/<strong>2018</strong><br />
II.<br />
Krankenversicherung<br />
1. Erleichterter Zugang für ältere Menschen<br />
Bis zum 1.1.2017 stand die gesetzliche Krankenversicherung der Rentner gem. § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V nur<br />
solchen Personen offen, die den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung<br />
erfüllen und diese Rente beantragt haben, wenn sie (als Erfordernis einer Vorversicherungszeit) seit der<br />
erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zur Stellung des Rentenantrags mindestens 9/10 der<br />
zweiten Hälfte des Zeitraums Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung oder nach § 10 SGB V<br />
(Familienversicherung) versichert waren.<br />
Seit dem 1.1.2017 sind bereits nach dem neu eingefügten § 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V auch Bezieher einer<br />
Waisenrente (§ 48 SGB VI) oder einer dieser Waisenrente entsprechenden Leistung einer berufsständischen<br />
Versorgungseinrichtung – unter den weiteren Voraussetzungen dieser Vorschrift – gesetzlich<br />
krankenversichert und auch nach § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 11 SGB XI pflegeversichert. Für diesen<br />
Personenkreis entsteht Versicherungspflicht allein aufgrund des Anspruchs auf Rentenzahlung, eine<br />
Vorversicherungszeit ist nicht erforderlich.<br />
Hinweis:<br />
Die Voraussetzungen für die Vorversicherungszeit in § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V wurde mit Wirkung zum<br />
1.8.2017 insofern geändert, als seither § 5 Abs. 2 SGB V folgenden neuen Satz 3 enthält: „Auf die nach § 5<br />
Abs. 1 Nr. 11 SGB V erforderliche Mitgliedszeit wird für jedes Kind, Stiefkind oder Pflegekind (§ 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I)<br />
eine Zeit von 3 Jahren angerechnet.“<br />
Die Gesetzesänderung beruht auf der Erkenntnis, dass die bisherigen Vorschriften zur Vorversicherungszeit<br />
zur Folge haben können, dass wegen Kinderbetreuung ein Elternteil in dieser Zeit nicht<br />
gesetzlich krankenversichert war und deshalb die erforderliche Mitgliedschaftszeit nicht erfüllen<br />
konnte. Die Anrechnung von drei Jahren auf die Vorversicherungszeit pro Kind erfolgt pauschal, auch<br />
dann, wenn sich die ersten drei Lebensjahre der Kinder ganz oder teilweise überschneiden.<br />
Rentnerinnen und Rentner, die wegen der bis zum 31.7.2017 geltenden Rechtslage eine freiwillige<br />
Versicherung abgeschlossen oder sich privatversichert hatten, können durch einen Überprüfungsantrag<br />
(§ 44 SGB X) rückwirkend die Versicherungspflicht ab dem 1.8.2017 bewirken. Ein privater Krankenversicherungsvertrag<br />
kann binnen drei Monaten nach Eintritt der Versicherungspflicht rückwirkend<br />
gekündigt werden (§ 205 Abs. 2 S.1 VVG; zu weiteren Einzelheiten s. EILTS NWB Nr. 41 v. 9.10.2017, S. 3156).<br />
2. Versicherungsschutz von Arbeitslosengeldbeziehern bei Ruhen des Anspruchs<br />
Mit Wirkung ab 1.8.2017 haben Personen in der (gesamten) Zeit, für die sie Arbeitslosengeld nach dem<br />
SGB III beziehen oder nur deshalb nicht beziehen, weil der Anspruch wegen einer Sperrzeit (§ 159<br />
SGB III) oder einer Urlaubsabgeltung (§ 157 Abs. 2 SGB III) ruht, nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V<br />
Krankenversicherungsschutz. Dieser umfasst grundsätzlich auch den Anspruch auf Krankengeld. Der<br />
Anspruch hierauf ruht jedoch, solange der Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen einer Sperrzeit ruht,<br />
§ 49 Abs. 1 Nr. 3a SGB V.<br />
Hinweis:<br />
Die Vorteile der Neuregelung erschließen sich durch den Vergleich mit dem früheren Rechtszustand: Bis<br />
zum 31.7.2017 begann der Krankenversicherungsschutz in den o.g. Fällen des Ruhens erst nach Ablauf eines<br />
Monats. Für den ersten Monat des Ruhens bestand Krankenversicherungsschutz für alle unmittelbar vorher<br />
pflichtversicherten Arbeitnehmerinnen nach § 19 Abs. 2 SGB V (nachgehender Versicherungsschutz), aber<br />
nicht für die zuvor freiwillig oder privat Versicherten. Der zuletzt genannte Personenkreis musste während<br />
dieses Monats den Versicherungsschutz anderweitig sicherstellen. Hinsichtlich des Krankengeldanspruchs<br />
gilt das oben Ausgeführte, wobei allerdings ein Anspruch auf nachgehenden Versicherungsschutz nicht<br />
bestand, wenn zugleich die Voraussetzungen für die Familienversicherung gem. § 10 SGB V vorlagen (§ 19<br />
Abs. 2 S. 2 SGB V). Die Familienversicherten haben jedoch nach § 44 Abs. 1 S. 2 SGB V keinen Anspruch auf<br />
Krankengeld.<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 355
Fach 18, Seite 1588<br />
Neuerungen 2017/<strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
III. Rentenversicherung/Erwerbsminderungsrente<br />
Das Gesetz zur Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und zur<br />
Änderung anderer Gesetze (EM-Leistungsverbesserungsgesetz) vom 17.7.2017 (BGBl I, S. 2509) bringt vor<br />
allem Verbesserungen für Bezieher von Erwerbsminderungsrenten. Jährlich nehmen über 170.000 Menschen<br />
eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Anspruch, weil sie es aus gesundheitlichen<br />
Gründen nicht schaffen, bis zur Regelaltersgrenze weiterzuarbeiten, selbst wenn sie es wollten. Erwerbsminderungsrenten<br />
werden durch §§ 77 Abs. 4, 264d S. 2 SGB VI mit Abschlägen von 0,3 % pro Monat belegt,<br />
wenn sie vor dem 63. Lebensjahr in Anspruch genommen werden. Die für diese Regelung genannte<br />
Begründung, keinen Anreiz zur Umgehung von Altersgrenzen zu schaffen, erscheint zweifelhaft, weil der<br />
Eintritt der Erwerbsminderung nicht im Belieben der Versicherten steht, sondern auf die Unfähigkeit<br />
zurückgeht, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch nachgehen zu können. Im Gesetzgebungsverfahren<br />
des EM-Leistungsverbesserungsgesetzes hatte der Bundesrat – allerdings erfolglos –<br />
darum gebeten, die Abschaffung der Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente zu prüfen.<br />
§ 59 SGB VI sieht bei Erwerbsminderungsrenten Zurechnungszeiten vor. Diese Zeiten gehören zu den<br />
beitragsfreien Zeiten (§ 54 Abs. 4 SGB VI), die zur Anrechnung von Entgeltpunkten führen (§ 63 Abs. 3<br />
SGB VI), die wiederum in die Rentengesamtbewertung nach §§ 71 ff. SGB VI rentenerhöhend einfließen. Als<br />
Zurechnungszeit wird bei der Erwerbsminderungsrente die Zeit hinzugerechnet, die mit dem Eintritt der<br />
maßgebenden Erwerbsminderung beginnt. Bis zum Jahre 2014 endete die Zurechnungszeit mit Vollendung<br />
des 60. Lebensjahres und wurde zum 1.7.2014 bereits auf 62 Jahre erhöht, was zu einer Erhöhung um rund<br />
45 € monatlich führte. Das EM-Leistungsverbesserungsgesetz verlängert nunmehr die Zurechnungszeit ab<br />
1.1.<strong>2018</strong> schrittweise vom 62. auf das vollendete 65. Lebensjahr und zwar nach § 253a SGB VI in der Weise,<br />
dass die Erhöhung der Zurechnungszeit in den Jahren <strong>2018</strong> und 2019 jeweils 3 Monate beträgt, in den<br />
darauffolgenden Kalenderjahren jeweils 6 Monate. Bei einem Rentenbeginn nach dem Jahre 2023 endet die<br />
Zurechnungszeit mit der Vollendung des 65. Lebensjahres. Volle Erwerbsminderungsrenten, die <strong>2018</strong><br />
beginnen, werden sich nach heutigen Werten durchschnittlich um 5,40 € monatlich erhöhen, bei Renten,<br />
die ab 2024 beginnen, wird sich ein Erhöhungsbetrag von 50 € monatlich ergeben (s. ausführlich zu Fragen<br />
der Reform der Renten wegen Erwerbsminderung JABBEN/KOLAKOWSKI/KREIKEBOHM NZS 2017, 481, 487).<br />
IV. Mutterschutzgesetz<br />
Das Mutterschutzgesetz ist zuletzt durch das Gesetz vom 23.5.2017 (BGBl I, S. 1228) geändert worden.<br />
Die wesentlichen Neuerungen sind zum 1.1.<strong>2018</strong> in Kraft getreten, mit Ausnahme der Regelungen zur<br />
verlängerten Schutzfrist nach der Geburt eines behinderten Kindes (§ 6 Abs. 1 MuSchG) und des Kündigungsschutzes<br />
nach einer Fehlgeburt (§ 9 Abs. 1 MuSchG), die bereits nach Verkündung des Gesetzes<br />
am 30.5.2017 in Kraft getreten sind. Überblickshaft werden nachfolgend einige wichtige, nunmehr<br />
geltende Änderungen aufgezeigt (s. näher auch BAYREUTHER NZA 2017, 1145):<br />
• Die neugefasste Vorschrift des § 1 Abs. 2 MuSchG weitet den bisherigen Anwendungsbereich (Frauen,<br />
die in einem Arbeitsverhältnis stehen oder in Heimarbeit beschäftigt sind) auf einen größeren<br />
Personenkreis aus: so für Auszubildende – insofern erfolgte eine Einbeziehung bisher schon über § 10<br />
Abs. 2 BBiG – (§ 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 MuSchG), Schülerinnen und Studentinnen, die ein Pflichtpraktikum<br />
absolvieren (§ 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 8 MuSchG) und arbeitnehmerähnliche Personen (§ 1 Abs. 2 S. 2 Nr. 7<br />
MuSchG).<br />
• Der Sonderkündigungsschutz für Mütter findet sich in § 17 MuSchG. Das Kündigungsverbot gilt nach<br />
§ 17 Abs. 1 S. 3 MuSchG entsprechend für Vorbereitungsmaßnahmen des Arbeitgebers, die er im Hinblick<br />
auf eine Kündigung der Frau trifft. Werden solche Vorbereitungsmaßnahmen gleichwohl vom Arbeitgeber<br />
eingeleitet, obwohl die Arbeitnehmerin sich noch im Kündigungsschutz befindet, ist die nach<br />
Ablauf der Schutzfristen ausgesprochene Kündigung nichtig, was demnach eine Verlängerung des<br />
Sonderkündigungsschutzes darstellt. Von der Änderung erfasst werden gesetzliche Mitwirkungsrechte<br />
wie die Anhörung des Betriebsrats (§§ 102, 103 BetrVG), die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung<br />
(§ 95 Abs. 2 S. 1, 3 SGB IX), eine erforderliche Zustimmung des Integrationsamts (§§ 85 ff.<br />
SGB IX) und evtl. weitere Arbeitgebermaßnahmen wie Suche und Planung eines endgültigen Ersatzes<br />
für die Arbeitnehmerin (s. BAYREUTHER NZA 2017, 1145).<br />
356 <strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong>
Sozialrecht Fach 18, Seite 1589<br />
Neuerungen 2017/<strong>2018</strong><br />
• Abgesehen von der Wirkung des Verbots von Vorbereitungshandlungen bleibt die gesetzlich<br />
angeordnete Dauer des Kündigungsverbots in § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MuSchG im Vergleich zum<br />
bisherigen Recht unverändert. § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 MuSchG statuiert nunmehr für Arbeitnehmerinnen,<br />
die nach der 12. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erleiden (und sich dadurch regelmäßig einer<br />
besonderen Belastungssituation ausgesetzt sehen), einen viermonatigen Sonderkündigungsschutz.<br />
• Die allgemeinen Beschäftigungsverbote sind im neuen Recht in § 3 MuSchG zusammengefasst. Der<br />
Gesetzgeber wollte erzwungene Beschäftigungsverbote einschränken und hat Arbeitnehmerinnen<br />
mehr Mitsprache und Eigenverantwortung eingeräumt. Die sechswöchige Schutzfrist vor dem<br />
Geburtstermin bleibt unverändert, die Arbeitnehmerin kann sich jedoch in dieser Zeit zur Arbeit bereit<br />
erklären, darf diese Erklärung aber jederzeit widerrufen (§ 3 Abs. 1 MuSchG). Die Beschäftigung bedarf<br />
einer behördlichen Erlaubnis (§ 28 MuSchG). Nach § 5 Abs. 1 MuSchG dürfen Schwangere oder stillende<br />
Frauen künftig bis 22 Uhr beschäftigt werden, wenn die Arbeitnehmerin einwilligt und aus ärztlicher<br />
Sicht nichts dagegen spricht sowie ausgeschlossen ist, dass eine unverantwortliche Gefährdung der<br />
Frau oder ihres Kindes durch die nächtliche Alleinarbeit eintritt. In besonders begründeten Einzelfällen<br />
ist darüber hinaus auch eine Arbeit zwischen 22 und 6 Uhr zulässig, jedoch nur bei einer entsprechenden<br />
behördlichen Erlaubnis (§ 25 Abs. 3 MuSchG). Entsprechende Lockerungen gibt es<br />
hinsichtlich des Verbots von Sonn- und Feiertagsarbeit (§ 6 Abs. 1 MuSchG). Der Schutz von Schwangeren<br />
und stillenden Arbeitnehmerinnen vor Gefährdungen am Arbeitsplatz ist nunmehr in den §§ 9 ff.<br />
MuSchG geregelt, statt wie bisher in der Generalklausel des § 2 MuSchG a.F. und der MuSchArbV (die<br />
zum 1.1.<strong>2018</strong> außer Kraft getreten ist).<br />
V. Kindergelderhöhung/Kürzere Antragsfristen<br />
Das gesetzliche Kindergeld wurde zum 1.1.<strong>2018</strong> erhöht und beträgt seitdem für das erste und zweite<br />
Kind jeweils 194 €, für dritte Kinder 200 € und für das vierte und jedes weitere Kind jeweils 225 € (§ 66<br />
Abs. 1 EStG).<br />
Bis Ende 2017 konnte das Kindergeld noch innerhalb der allgemeinen Verjährung, der Festsetzungsfrist<br />
von vier Jahren nach § 169 AO rückwirkend beantragt werden. Bei einem Antragseingang bis zum<br />
31.12.2017 war demnach Kindergeld, soweit die Anspruchsvoraussetzungen gegeben waren, bis<br />
einschließlich Januar 2013 rückwirkend zu beziehen. Durch die zum 1.1.<strong>2018</strong> in Kraft getretene neue<br />
Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG kann Kindergeld rückwirkend nur noch für sechs Monate erhalten<br />
werden, also bei einem Antrag im Januar <strong>2018</strong> höchstens bis Juli 2017.<br />
Hinweis:<br />
Der Gesetzgeber wollte mit dieser Änderung Betrugs- und Missbrauchsfälle eindämmen, benachteiligt<br />
aber gleichzeitig viele Eltern, die aus Unkenntnis eine rechtzeitige Antragstellung versäumt haben. Nach<br />
der Vorschrift des § 52 Abs. 49a EStG S. 7 ist § 66 Abs. 3 EStG auf Anträge anzuwenden, die nach dem<br />
31.12.2017 eingehen.<br />
VI. Bundesteilhabegesetz/Schwerbehindertenrecht<br />
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 20.12.2016 (BGBl I, S. 3234) gestaltet in umfangreicher Weise (106<br />
Seiten und 26 Artikel) das Recht der Teilhabe, die Eingliederungshilfe, das Recht der Leistungserbringer<br />
und den Begriff der Behinderung neu. Die zahlreichen Änderungen treten gestaffelt in dem Zeitraum vom<br />
30.12.2016 bis zum 1.1.2023 in Kraft. Von den vielen Veröffentlichungen seien etwa erwähnt die Beiträge<br />
von SIEFERT (jurisPR-SozR 6/2017 Anm. 1, 7/2017 Anm. 1 und 8/2017 Anm. 1), ferner KAITZ (NZS 2017, 649).<br />
Bereits seit dem 30.12.2016 gelten bedeutsame Änderungen zugunsten schwerbehinderter Arbeitnehmer<br />
(s. SARTORIUS, <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1519 und ausführlich SIEFERT, <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1549). Seit dem 1.1.2017<br />
bestehen höhere Vermögens- und Einkommensfreibeträge für Personen, die Leistungen der Eingliederungshilfe<br />
für behinderte Menschen erhalten bzw. Leistungen der Hilfe zur Pflege, §§ 60a SGB XII, § 82<br />
Abs.3a SGB XII, § 88 Abs. 2 SGB XII (zu den Neuerungen ab 1.1.<strong>2018</strong> sowie weiterer Änderungen näher<br />
SIEFERT <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1571 ff.).<br />
<strong>ZAP</strong> Nr. 7 28.3.<strong>2018</strong> 357
Fach 18, Seite 1590<br />
Neuerungen 2017/<strong>2018</strong><br />
Sozialrecht<br />
1. Änderungen im SGB IX<br />
Teil 1 des SGB IX enthält Regelungen für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte<br />
Menschen. Ferner wurden die Bestimmungen des Teils 2 (§§ 68–159 SGB IX) in einen Teil 3 (§§ 151–241<br />
SGB IX) verschoben (eine synoptische Übersicht bei SIEFERT <strong>ZAP</strong> F. 18 S. 1571, 1572–1574).<br />
2. Neuer Behindertenbegriff<br />
Nach der Neufassung des Behindertenbegriffs, mit der Ziele der Übereinkommen der Vereinten Nationen<br />
vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Gesetz v. 21.12.2008 [BGBl II, S. 1419] in<br />
Deutschland in Kraft seit dem 20.3.2009 [BGBl II 2009, S. 812] – UN-BRK) umgesetzt werden sollten, sind<br />
gem. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX Menschen dann behindert, wenn sie körperliche, seelische, geistige oder<br />
Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit Einstellungs- und umweltbedingten<br />
Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als<br />
sechs Monate hindern können (zum Behindertenbegriff SIEFERT <strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1580 f.). Zu umweltbedingten<br />
Barrieren gehören etwa fehlende barrierefreie Zugänge zu Gebäuden oder dem öffentlichen Personennahverkehr<br />
oder fehlende Informationen in leichter Sprache für Menschen mit einer Lernschwierigkeit.<br />
3. Selbstbeschaffte Rehabilitationsleistungen/Genehmigungsfiktion<br />
Die Zuständigkeitsklärung des leistungspflichtigen Rehabilitationsträgers ergibt sich weiterhin aus § 14<br />
SGB IX, wobei allerdings nach dessen neuen Absatz 3 der zweitangegangene Rehabilitationsträger, wenn<br />
er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für die Leistung insgesamt nicht zuständig ist, den Antrag<br />
im Einvernehmen mit dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten, damit<br />
von diesen als leistenden Rehabilitationsträger über den Antrag innerhalb der nach § 14 Abs. 2 S. 4 SGB IX<br />
laufenden Frist entschieden wird.<br />
Die Erstattung selbstbeschaffter Leistungen regelt nunmehr § 18 SGB IX. Kann über den Antrag auf<br />
Leistungen zur Teilhabe nicht innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Antragseingang bei dem<br />
leistenden Rehabilitationsträger entschieden werden, teilt er den Leistungsberechtigten vor Ablauf der<br />
Frist die Gründe hierfür schriftlich mit (begründete Mitteilung), § 18 Abs. 1 SGB IX. Vorgaben für diese<br />
begründete Mitteilung regelt Absatz 2 der Vorschrift.<br />
Nach § 18 Abs. 3 SGB IX gilt die beantragte Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt, wenn keine<br />
begründete Mitteilung erfolgt. Die beantragte Leistung gilt auch dann als genehmigt, wenn der in der<br />
Mitteilung bestimmte Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag ohne weitere begründete Mitteilung<br />
des Rehabilitationsträgers abgelaufen ist. Ferner müssen die Leistungsberechtigten im Hinblick auf das<br />
Bestehen eines Anspruchs „gutgläubig“ sein, § 18 Abs. 5 SGB IX. Diese Genehmigungsfiktion gilt nicht für<br />
Träger der Eingliederungshilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der Kriegsopferfürsorge, § 18 Abs. 7 SGB IX.<br />
Hinweis:<br />
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung mit<br />
Wirkung zum 26.2.2013 eingefügte Vorschrift des § 13 Abs. 3a SGB V, die ebenfalls eine Regelung für den Fall,<br />
dass Leistungsanträge von den Krankenkassen nur verzögert bearbeitet werden, enthält. Auch dort sind<br />
Rechtsfolge eine fiktive Genehmigung und ein Selbstbeschaffungsrecht (zur Auslegung dieser Vorschrift<br />
durch die Rechtsprechung – auch im Hinblick auf eine Rücknahme der fiktiven Genehmigung durch die<br />
Krankenkasse nach § 45 SGB X – s. bereits BSG, Urt. v. 8.3.2016 – B 1 KR 25/15 R, ferner Urt. v. 11.5.2017 –<br />
B 3 KR/ 15 R, hierzu HARICH jurisPR-SozR 2/<strong>2018</strong> Anm. 3 und Urt. v. 7.11.2017 – B 1 KR 2/17 R u.a., ferner<br />
ULMER SGb 2017, 567).<br />
4. Teilhabe an Bildung und soziale Teilhabe<br />
In den Katalog der Leistungsgruppen in § 5 SGB IX wurden Leistungen der „Teilhabe an Bildung“ neu<br />
aufgenommen (§ 5 Nr. 4 SGB IX i.V.m. §§ 75 ff. SGB IX). Im Wesentlichen wird hiermit der Inhalt des § 54<br />
Abs. 1 S.1 Nr. 1 SGB XII sowie der §§ 12 u. 9 Eingliederungshilfe-VO erfasst. § 5 Nr. 4 SGB IX erwähnt<br />
Leistungen der sozialen Teilhabe, die beispielhaft in § 113 Abs. 2 SGB IX aufgeführt werden (s. auch SIEFERT<br />
<strong>ZAP</strong> F. 18, S. 1581 f.).<br />
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