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Autokorsos und Lesungen - Deniz Yücels Familie, Freunde und Fans sorgten dafür,<br />
dass Deniz im Gefängnis nicht in Vergessenheit gerät.<br />
bedeutete für mich auch, mich körperlich<br />
und mental gesund zu halten und<br />
Deniz in guter Verfassung zu besuchen.<br />
Ich habe ihm immer, bei jedem Besuch<br />
gesagt: „Das hier wird zu Ende gehen.<br />
Wir werden das zu Ende bringen.“ Es<br />
wird ein Leben danach geben. Aber ich<br />
wusste auch: Selbst nach der Freilassung<br />
wird nicht plötzlich alles aufhören. Was<br />
wir erlebt haben, wird uns noch eine<br />
ganze Weile lang beschäftigen.<br />
Was wünschst du dir für deine und eure<br />
Zukunft?<br />
DILEK MAYATÜRK YÜCEL: Dieses<br />
Jahr hat mir sehr viel Lebenserfahrung<br />
gebracht. Aber ich will wieder in meinem<br />
Beruf arbeiten. Ich bin Fernsehproduzentin<br />
und Dokumentarfilmerin. Und<br />
prinzipiell kann ich von jedem Punkt der<br />
Welt über einen anderen Punkt der Welt<br />
arbeiten. Ich wünsche mir ein Leben an<br />
einem schönen Flecken Erde mit Deniz<br />
an meiner Seite.<br />
DENIZ YÜCEL: Dilek schrieb mir ins<br />
Gefängnis, sie würde gern irgendwo<br />
leben, wo unsere Füße die Erde berühren.<br />
Darüber haben wir uns ein paarmal<br />
„Am Ende der offenen Gesellschaft,<br />
knietief in der Diktatur.“<br />
in Briefen ausgetauscht und uns überlegt,<br />
wo wir uns niederlassen können.<br />
Aber ich bin stets davon ausgegangen,<br />
dass wir erst mal in der Türkei bleiben<br />
würden, weil ich angenommen habe,<br />
dass sie den Schein wahren und wie bei<br />
den anderen freigelassenen Kollegen<br />
eine Ausreisesperre verfügen würden.<br />
DILEK MAYATÜRK YÜCEL: Wenn man<br />
versucht, ganz schnell Entscheidungen<br />
für die Zukunft zu treffen, funktioniert<br />
das nicht. Man braucht Zeit, um sich zu<br />
erholen. Vieles geht ja weiter.<br />
Was geht weiter?<br />
DILEK MAYATÜRK YÜCEL: Zum Beispiel,<br />
dass ich ausnahmslos jede Nacht davon<br />
träume, wie Deniz im Gefängnis ist und<br />
dann freigelassen wird. Also die Haft,<br />
die Vorbereitung der Freilassung - jede<br />
Nacht führe ich dieselben Gespräche<br />
mit anderen Beteiligten und kämpfe um<br />
seine Freilassung. Das hört nicht auf.<br />
Wovon träumst du, Deniz?<br />
Ich habe keine Traumgeschichte zu<br />
erzählen. Nur ein einziges Mal sah ich<br />
meinen Zellennachbarn Oguz, mit dem<br />
ich in kurzer Zeit Freundschaft geschlossen<br />
habe. Vielleicht würde der Fachmann<br />
sagen, ich verdränge etwas.<br />
Dilek, Deniz hat aus dem Gefängnis<br />
einige ziemlich meinungsstarke Texte<br />
veröffentlicht und recht pointierte schriftliche<br />
Interviews gegeben. Was hast du<br />
da durchgemacht, wenn das mal wieder<br />
bevorstand?<br />
DILEK MAYATÜRK YÜCEL: Herzrasen!<br />
In einem Land, in dem Menschen wegen<br />
Tweets verhaftet und Dinge in Texte<br />
reininterpretiert werden, kann alles<br />
passieren. Alles kann Eingang in eine<br />
Anklage finden. Wir haben schon bei<br />
der Verhaftung die Erfahrung gemacht,<br />
dass sie seine Worte böswillig auslegen<br />
und Sachen falsch übersetzen. In einer<br />
Situation, in der die Anklage noch nicht<br />
vorlag, bedeutete jede Wortmeldung ein<br />
Risiko. Aber ich wusste auch, warum das<br />
Deniz wichtig war. Und viele seiner Texte<br />
habe ich abgetippt.<br />
Das Verfahren gegen dich läuft weiter.<br />
Die nächste Sitzung steht im Juni an,<br />
die Staatsanwaltschaft fordert <strong>18</strong> Jahre<br />
Haft. Hast du schon entschieden, ob du<br />
noch mal zurück in die Türkei gehst?<br />
DENIZ YÜCEL: Nein, so weit bin ich, sind<br />
wir noch nicht. Ich habe die Türkei nicht<br />
mit dem Gefühl verlassen: Bloß weg aus<br />
dieser ganzen Scheiße hier, ich will nie<br />
wieder etwas damit zu tun haben. Ich<br />
wusste ja, worauf ich mich einließ, als<br />
ich im Frühjahr 2015 meinen Korrespondentenjob<br />
antrat. Zwar war die Situation<br />
damals weniger dramatisch. Aber ich<br />
wusste, wenn man als Journalist in diesem<br />
Land lebt und seine Sache halbwegs<br />
ordentlich macht, lebt man gefährlich.<br />
Dann können einem schlimmstenfalls<br />
noch ganz andere Sachen passieren, als<br />
dass man seiner Freiheit beraubt wird.<br />
Du hast von Anfang an damit gerechnet,<br />
dass du ins Gefängnis kommen könntest?<br />
DENIZ YÜCEL: Natürlich war das im<br />
Bereich des Denkbaren, aber es schien<br />
mir nicht sehr wahrscheinlich. Sonst hätte<br />
ich das nicht gemacht. Ich war nicht<br />
scharf darauf, ins Gefängnis zu kommen.<br />
Aber es ist was anderes, ob du als Korrespondent<br />
in die Türkei gehst oder nach<br />
Norwegen. Das war auch schon 2015<br />
oder 1995 so. Das weißt du erst recht,<br />
wenn du dieses Land und die Sprache<br />
kennst, auch die Chiffren und die Codes.<br />
Gibt es etwas, von dem du rückblickend<br />
Paul Zinken / dpa / picturedesk.com, Soeren Stache / dpa / picturedesk.com<br />
Als er inhaftiert wurde, war ihre Beziehung noch relativ frisch. Im Gefängnis heiraten Deniz Yücel und die TV-Produzentin<br />
Dilan Mayatürk. Durch die Heirat erhielt Mayatürk Besuchsrecht bei dem inhaftierten Journalisten.<br />
denkst, das hättest du anders machen<br />
sollen, um deine Festnahme zu verhindern?<br />
DENIZ YÜCEL: Nein.<br />
Hättest du etwas unterlassen können,<br />
was zu deiner Verhaftung geführt hat?<br />
DENIZ YÜCEL: Ich denke nicht. Ich wurde<br />
zum Beispiel nicht verhaftet, weil ich<br />
den stellvertretenden PKK-Chef interviewt<br />
habe. Das Interview habe ich im<br />
August 2015, anderthalb Jahre vor meiner<br />
Festnahme, geführt. Noch ein paar<br />
Wochen zuvor hatte auch die türkische<br />
Regierung mit ihm verhandelt. Das Fiese<br />
ist ja, dass sie die Spielregeln - oder besser:<br />
die Freund-Feind-Zuschreibungen<br />
- rückwirkend ändern.<br />
Warum wurdest du dann festgenommen?<br />
DENIZ YÜCEL: Der Anlass war meine<br />
Berichterstattung über die gehackten<br />
E-Mails des Energieministers, der<br />
Erdogans Schwiegersohn ist. Darüber<br />
hatte ich, wie einige andere auch,<br />
berichtet. Aber ab dem Moment, wo du<br />
durch irgendwas in deren Fänge gerätst,<br />
schauen sie: Was können wir dem<br />
andichten? Ich war durch meine gesamte<br />
Arbeit aufgefallen. Ich war einer von<br />
drei deutschen Journalisten, die keinen<br />
Presseausweis bekommen haben. Die<br />
wussten, mit wem sie es zu tun hatten.<br />
Muss man das Risiko, inhaftiert zu<br />
werden, grundsätzlich in Kauf nehmen,<br />
wenn man seinen Job als Journalist<br />
ordentlich macht unter einem Regime,<br />
dem die Meinungs- und Pressefreiheit<br />
egal ist?<br />
DENIZ YÜCEL: Ich glaube ja. Du kannst<br />
einzelne Fragen abwägen. Aber du<br />
kannst nicht deine komplette Arbeit<br />
danach gestalten. Gerade in Ländern, in<br />
denen Journalismus am meisten vonnöten<br />
ist, ist die Risikoabwägung besonders<br />
schwierig. Die Frage „Ist der slowakische<br />
Kollege Ján Kuciak ein Risiko eingegangen,<br />
indem er über Korruption berichtet<br />
hat?“ bedeutet in Wahrheit: War er<br />
selber schuld an seinem Tod? Aber nicht<br />
Ján Kuciak ist schuld an seiner Ermordung,<br />
sondern die Mörder und deren<br />
Auftraggeber. Man erfüllt als Journalist<br />
eine gesellschaftliche Aufgabe. Und der<br />
Mord in der Slowakei sowie kurz davor<br />
die Ermordung von Daphne Caruana<br />
Galizia in Malta und die Situation der<br />
Medien in Polen und Ungarn zeigen, dass<br />
auch in der EU die Rechte und Freiheiten<br />
in einer Weise gefährdet sind, wie wir es<br />
uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen<br />
können. Im schlimmsten Fall steht<br />
die Türkei heute schon dort, wo Europa<br />
in einigen Jahren ankommen könnte: am<br />
Ende der offenen Gesellschaft, knietief in<br />
der Diktatur.<br />
Ist dir die Türkei durch deine Inhaftierung<br />
fremder geworden?<br />
DENIZ YÜCEL: Ich bin gleichermaßen<br />
deutscher und türkischer geworden. Ich<br />
habe nie so oft Sätze formuliert, die mit<br />
„Bei uns in Deutschland ist das ja so ...“<br />
anfingen, wie im Gefängnis. Zugleich<br />
habe ich in meiner Zelle ständig mit<br />
einer Gebetskette herumgespielt, die<br />
mir Dilek geschenkt hatte. Mehr Traditionstürke<br />
geht nicht. Aber das Leben<br />
draußen ging ja weiter. Ich hatte mit<br />
dem Gezi-Aufstand von 2013 begonnen,<br />
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