GSa142_Mai 2018_Einzelseiten
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Praxis: Zur Diskussion Blindtext<br />
Frauke Hildebrandt / Caroline Wronski<br />
Alles eine Frage der Autonomie<br />
Was brauchen Kinder in der »digitalen Welt«?<br />
Schon die Grundfrage des vorliegenden Themenheftes »Wozu braucht die<br />
Grundschule digitale Medien?« zeigt, dass wir die Debatte um pädagogische<br />
Aufgaben im digitalen Zeitalter viel zu technikorientiert führen. Diese Art der<br />
Diskussion ist zwangsläufig reaktiv, denn sie hängt der technologischen Entwicklung<br />
hinterher.<br />
Die Halbwertzeit der Geräte wird<br />
fortwährend kürzer, die digitalen<br />
Medien von heute sind<br />
morgen schon Schrott. Vor allem aber<br />
ist es keine pädagogische Frage, welche<br />
Endgeräte und Programme wir mehr<br />
oder weniger sinnvoll in den Unterricht<br />
integrieren sollten. Im Zentrum unserer<br />
Aufmerksamkeit sollte vielmehr<br />
die Frage stehen, was digitale Mündigkeit<br />
für Grundschulkinder heißt, wie<br />
wir sie unterstützen können, entsprechende<br />
Kompetenzen zu erwerben, und<br />
worauf es dabei ankommt. Deshalb fragen<br />
wir nicht, wozu die Grundschule<br />
digitale Medien braucht, sondern, was<br />
Kinder brauchen, um sich in einer digitalen<br />
Welt gut orientieren zu können,<br />
die hierzulande inzwischen Realität<br />
ist. Mit dem Begriff »digitale Welt«<br />
bezeichnen wir im Folgenden alles, was<br />
im Zusammenhang mit digitalen Sachverhalten<br />
steht und alle Erscheinungen<br />
umfasst, die durch Digitalsignale verursacht<br />
werden (Micklitz 2006).<br />
Eine gedankliche und pädagogischpraktische<br />
Bewegung »zurück zu den<br />
Wurzeln« oder einem »natürlicheren«<br />
Zustand halten wir für ebenso wenig<br />
sinnvoll wie die Fortschrittseuphorie,<br />
die in der Diskussion um Bildungstechnologie<br />
und im Mythos einer neuen<br />
Generation von »Digital Natives«<br />
mitschwingt (Kirschner / De Bruyckere<br />
2017). Digitale Mündigkeit geht für<br />
uns über die Nutzungskompetenz (zumal<br />
bald obsoleter) Technologien weit<br />
hinaus. Sie beinhaltet auch die Ausbildung<br />
jener kognitiven Fähigkeiten<br />
und Werkzeuge, die für die erfolgreiche<br />
Navigation in digitalen Welten benötigt<br />
werden. Zwar denkt und lernt diese<br />
»digitale« Generation nicht anders,<br />
aber sie ist sehr wohl mit andersartigen<br />
und erhöhten Anforderungen an<br />
ihre Denkfähigkeiten konfrontiert. Diese<br />
Veränderungen zu beschreiben und<br />
pädagogische Antworten auf die neuen<br />
Herausforderungen zu finden, das ist<br />
die eigentliche Aufgabe pädagogischer<br />
Auseinandersetzung.<br />
Autonomie ist ein aus unserer Sicht<br />
zentrales Kompetenzfeld, in dem<br />
Potenziale in besonderer Weise ausgebildet<br />
werden müssen. Autonomie ist<br />
die Fähigkeit, in Distanz zu den eigenen<br />
Denkprozessen zu gehen und sie in<br />
Bezug auf selbst gesetzte Ziele zu steuern,<br />
zu regulieren und zu überwachen.<br />
Autonomie: Eine kognitive<br />
Fähigkeit für die digitale Welt<br />
Ein strukturgebender Aspekt der digitalen<br />
Welt ist, dass sie eine von Menschen<br />
intentional gestaltete, auf spezifische<br />
Reizsetzung hin ausgerichtete,<br />
nicht zufällige Welt ist: Die in ihr vorhandenen<br />
Gegenstände und Ereignisse<br />
sind in besonderer Weise darauf ausgerichtet,<br />
wahrgenommen, d. h. zum Ziel<br />
von Aufmerksamkeit und Handeln gemacht<br />
zu werden.<br />
Mit diesen intentional auf Aufmerksamkeitserzeugung<br />
ausgerichteten Impulsen<br />
sinnvoll umzugehen – nämlich<br />
sie zu nutzen und zu gestalten –,<br />
das erfordert die stärkere Entwicklung<br />
einer viel diskutierten Fähigkeit, ohne<br />
die schon in der »analogen« Welt kein<br />
sinnvolles Handeln möglich ist.<br />
Es handelt sich um die Fähigkeit, eigene<br />
Ziele auf der Basis dessen, was man<br />
begründet für gut, richtig und wichtig<br />
hält, zu bestimmen und auch unter herausfordernden<br />
Bedingungen an ihnen<br />
festzuhalten, eine Fähigkeit, die in der<br />
philosophischen Diskussion als Willensfreiheit<br />
oder Autonomie von Personen<br />
bezeichnet wird (Welzer / Pauen<br />
2015) und deren Entwicklung im frühen<br />
Kindesalter beginnt. Harald Welzer<br />
und Michael Pauen beschreiben diese<br />
Fähigkeit als eine natürliche Fähigkeit<br />
wie »Lesen, Sprechen, Rechnen und<br />
Schreiben«, für deren Erwerb kulturelle<br />
Prozesse eine wichtige Rolle spielen.<br />
Stark beeinflusst wird die Entwicklung<br />
dieser Fähigkeit davon, ob die (pädagogische)<br />
Umwelt autonomes Denken<br />
praktiziert (ebd., 175).<br />
Ernst Tugendhat beschreibt in einer<br />
Synthese von Autonomie-Konzepten<br />
»Spielräume«, in denen Personen prinzipiell<br />
stehen. Autonom handelt für ihn<br />
eine Person, die über Selbstkontrolle<br />
verfügt, es also schafft, das zu tun, was<br />
sie mit Gründen für sich für gut hält<br />
(Tugendhat 2003, 49). Demzufolge betrachtet<br />
er die Fähigkeit zum Nachdenken<br />
als grundlegend für Autonomie<br />
und betont er im Zusammenhang<br />
damit das Bewusstsein, »dass es an mir<br />
liegt« (Tugendhat 2009, 60).<br />
Metakognition<br />
Um autonom handeln zu können, muss<br />
eine Person also rational begründen, an<br />
ihrem Ziel festhalten und die widerstrebenden<br />
motivationalen Faktoren unter<br />
Kontrolle bringen können. Aus diesen<br />
Aspekten ergeben sich zwei Handlungs-<br />
und Entwicklungsspielräume:<br />
1. Personen befinden sich im Spielraum<br />
des Überlegens in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten:<br />
Was ist der beste<br />
Weg oder das beste Ziel für mich? Welche<br />
Schritte sind richtig? Und welche<br />
der potenziell richtigen Schritte sind<br />
besonders wichtig?<br />
2. Personen befinden sich im Spielraum<br />
von mehr oder weniger Anstrengung,<br />
Anspannung und selbstgesteuerter<br />
Aufmerksamkeit: »Es liegt an mir.«<br />
Genau diese Aspekte der Reflexion<br />
des eigenen Denkprozesses und<br />
der willentlichen Steuerung spiegeln<br />
sich wider im pädagogisch-psychologischen<br />
Konzept der Metakognition.<br />
Dieses Konzept umfasst insbesondere<br />
GS aktuell 142 • <strong>Mai</strong> <strong>2018</strong><br />
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