Dietrich Klinge – Das Lächeln der Daphne

Torso im Belvedere des Vatikan,
Apollonius aus Athen, 1. Jahrhundert
v.Chr., Rom
Aus Griechische Bildwerke,
Königstein 1942
Tursus, das Wort der Römer, Thyrsos gleich
klingend, das der Griechen. Wir Heutigen sagen
Torso, italienisch, zu dem Stumpf, Rumpf,
Strunk eines Körpers der seine körperliche
Integrität, seine Ganzheit eingebüßt hat, sei
es nach Pharaonenwechseln in ägyptischer,
alter Zeit, nach der französischen Revolution,
gewaltsam vollzogen etwa an Statuen von konkurrierenden
Weltanschauungen der Vorherigen
6 als "damnatio memoriae" 7 , sei es durch
Zeitläufte, dramatische oder undramatische,
sei es durch Künstler.
Eine Wiedergeburt, genau das meint ja Renaissance,
erlebten die zu Grabe getragenen, in der
Erde Verborgenen und kamen an im Himmel
Tursus, the word used by the Romans; the
similar-sounding thyrsos was used by Greeks.
Today we use the Italian torso to describe the
stump, the rump of a body that has lost its
physical integrity, i.e. its completeness, be it
after a change of Pharaohs in ancient Egyptian
times, after the French Revolution, in an act of
violence upon statues of competing world views
of the predecessors 6 as “damnatio memoriae” 7 ,
be it with the passage of time, dramatic or undramatic,
be it by the agency of artists.
A rebirth, which is of course what is meant by
renaissance, is what was experienced by those
who were taken to their graves, buried in the
earth and went to Heaven in the art of the
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der Kunst des Quattrocento und all der folgenden
Jahrhunderte. Die Wiederauferstehung war
ausgelöst worden durch den "Torso vom Belvedere"
des attischen Bildhauers Apollonius
in den vatikanischen Museen 8 , bis eben Augus
Quattrocento and all the centuries that followed.
The Renaissance was set in train by the
Belvedere Torso by the Athenian sculptor Apollonius
which stands in the Vatican Museums 8 ,
while, as already mentioned, Auguste Rodin
6
Werner Schnell aaO, S. 9 und insbesondere S. 162
(dort FN 8 mit weiteren Nachweisen).
7
Hans Bonnet, Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte,
Berlin 1952, S. 120.
8
Wobei dieser Torso wohl eine Besonderheit darstellte
und darstellt, denn im Allgemeinen wurden die
antiken Torsi ergänzt, "ganz" gemacht also, Dieses
"Wunder der Kunst", der nie genug zu preisende
berühmte Torso, wie Johann Wolfgang von Goethe
in seiner italienischen Reise (S. 147) schrieb, war zu
einem "jederzeit zitierbaren Verabredungszeichen"
(Werner Schnell, aaO, S. 17) geworden.
9
vgl. Auguste Rodin, Torso der Adele 1882, Torso einer
jungen Frau 1909 uvam.
10
Susanne Foellmer, Am Rand der Körper: Inventur des
Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, S 169.
te Rodin den Torso gar zu einer bewussten und
gewollten Schöpfung eines Künstlers machte 9 ,
zu einem autonomen Prinzip in der Kunst 10
erhob.
Die Abbildfunktion der Skulptur wurde nicht
mehr zentrales Anliegen, sondern eine Möglichkeit,
wie der Torso auch, der so als Teilstück,
als Rumpf in der abzubildenden Natur
eben nicht vorhanden war. Damit aber wurden
althergebrachte Kategorien der Ästhetik dramatisch
verändert. Das Kunstwerk war nicht
nur das, was man sehen konnte, sondern auch
zu einem wichtigen Teil das, was hinzugedacht
raised the torso to the status of a conscious and
intentional creation of the artist 9 and an autonomous
principle in art 10 .
The function of the sculpture as a likeness was
no longer the central intention, but a possibility,
like the torso too, which, as a part, or rump,
did not after all exist as a model in nature.
Thus, however, established categories in aesthetics
were dramatically changed. The work of
art was not only what could be seen, but also to
a great extent what had to be added in terms
of thoughts or feelings, and thus it demanded
a strong imagination on the part of the viewer.