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30 LitArena VIII|Oktober 2017 LitArena Siegertext 3. Platz<br />

Anna Stern (Bischofberger)<br />

Karte und Gebiet<br />

Sie kartiert das Land ihrer Träume.<br />

Sie beginnt im Nordwesten, zeichnet die Küste, an der sie die<br />

– die vielleicht wichtigste Woche ihres Lebens verbringt, im<br />

Auto, auf Strassen, draussen, die Sonne scheint, es regnet.<br />

Sie denkt an die Feldstation, an Tapka und Mad Maddie.<br />

An das heilende Wasser von Loch Maree und an das Zittern<br />

nach den Schwimmzügen auf die Insel zu. Wenig Schlaf, dafür<br />

tentative steps.<br />

Ein ganzes Stück davon entfernt dann das schwarze Loch für<br />

die Wunden, die nur langsam heilen. If ever.<br />

Sie zeichnet Linien zwischen drei Punkten, zwischen V. und<br />

P. und B. Ein Dreieck, Descartes’ Dreieck. Und mittendrin ihr<br />

Zuhause.<br />

Ohne weiter darüber nachzudenken fügt sie den See hinzu.<br />

Weil er schon immer da war; weil er nicht verschwinden wird.<br />

Dann die Risse und Gräben, die Verwerfungen, die nach dem<br />

Erdbeben zurückbleiben. Teile der Küste plötzlich vom Festland<br />

abgetrennt, Flussläufe verändert, ein Stück Vergangenheit<br />

dem Erdboden gleichgemacht.<br />

Ihr Herz klopft schneller, als sie das nächste Zeichen einträgt:<br />

Für die Stadt, das Haus, den Raum, in dem ihr das Geheimnis<br />

der schwarzen Bücher geschenkt wird.<br />

Sie hört die Stimme, die sagt: I will give you a secret, I will give<br />

you the secret of the black books.<br />

Sie setzt den Punkt, an dem sie versteht, wie Verstehen funktioniert.<br />

Ein Ein □ als Symbol der Wahl für das Haus an der Nordsee.<br />

Das Haus auf den Stelzen, in Hörweite des Wellengangs.<br />

Schilfgras wiegt im kühlen Wind, auf den trockenen Lippen<br />

schmeckt die Zunge Salz. Ein niedriger Zaun aus Schwemmholz<br />

umgibt einen kleinen Garten. Die Weite des Himmels hier,<br />

die Möwen weiß gegen das Blau; sie singen. Und der Sand ist<br />

warm und weich.<br />

Sie zögert, macht dann aber doch ein Zeichen, um nicht zu<br />

vergessen, was in Bologna geschieht. Ihr ist zudem bewusst,<br />

dass sie die Avenue of Mysteries nicht weglassen darf. Für die<br />

verpasste Gelegenheit.<br />

Keine Straßen, keine Wege darüber hinaus. Sie will sich nicht<br />

vorschreiben lassen, wie sie sich zwischen ihren Träumen bewegt.<br />

Unverzichtbar aber Chaser Point und Nine Oat Wood. Weil …<br />

Schlicht weil.<br />

Sie zeichnet ein Kreuz: en mémoire de tous qui étaient et ne<br />

sont plus.<br />

Das in der Mathematik für den Kontravalentor stehende Symbol<br />

markiert die Stadt der Lichter und darin die Suche nach<br />

dem verlorenen Glück. Die Unsicherheit, das Schweigen. Und<br />

was ihnen abgesehen davon bleibt.<br />

Sie fügt die Grenzen hinzu, die längst überschritten sind.<br />

Etwas zaghaft geraten die Umrisse der Wüste der Anderen,<br />

fast als zitterte sie.<br />

Es ist ein Ort, den sie nicht kennt, von dem sie zwar gehört,<br />

den sie jedoch nie gesehen hat. Man erzählt sich Dinge, man<br />

macht sich Gedanken. Eine Vorstellung, nicht mehr als ein<br />

Schatten eigentlich. Ein Schatten von erstaunlichem Gewicht.<br />

Sie glaubt, dass das Gebiet irgendwo im Süden liegt, weiß es<br />

aber nicht mit Sicherheit.<br />

Unweit davon vermutet sie auch die Grube. Die Grube mit<br />

dem Blut und den Tränen.<br />

Ohne Mühe findet sie hingegen den Hügel, die Wiese, auf der<br />

das Zelt stand, damals. Das Zelt der vier. Eine alte Fotografie<br />

erinnert daran.<br />

A second □ stands for Franz Wright’s Progress.<br />

Kafka schrieb: „Stummheit gehört zu den Attributen der Vollkommenheit.“<br />

Und: „Von einem gewissen Punkt gibt es keine<br />

Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“ Sie fügt ein<br />

Symbol für Kafka in ihre Karte ein.<br />

Zuletzt markiert sie Darlace, wo nachts mehr Sterne sichtbar<br />

sind als überall sonst. Sie sieht den Ort klar vor sich, die zwei<br />

Gebäude in der zum Meer hin sanft abfallenden Wiese, das<br />

Gras trocken, strohig zum Sommerende, und die großen Fenster<br />

spiegeln das Licht der knapp über dem Horizont stehenden<br />

Sonne feuerrot.<br />

Einst ein Bauernhof, Wohnhaus plus Scheune aus grauem<br />

Stein. Niedrig, einstöckig ursprünglich nur und dunkel. Ein ungeschliffener<br />

Diamant, der nun ... Nachts ist Orion sichtbar,<br />

ein neues Leben.<br />

Éloigné, cet abri, dans la campagne; ihr persönliches Finistère.<br />

Sie weiß, es ist der Ort, auf den alles hinausläuft. An dem sein<br />

wird, was sie sich nicht vorstellen kann.<br />

Ein Ende.<br />

Ein Anfang.<br />

Anna Stern (Bischofberger)<br />

Geb. 1990 in Rorschach (CH), Abschluss: Umweltnaturwissenschaften<br />

MSc, ETH Zürich. Veröffentl. unter Anna Stern: 2014 'Schneestill', 2016<br />

'Der Gutachter', Roman, beide im Salis Verlag, Zürich. 2017 erschien<br />

'Beim Auftauchen der Himmel', Erzählungen, lectorbooks, Zürich.

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