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LitArena VIII|Oktober 2017<br />

33<br />

Abar her übarn Schnea geaht a Schein bei dar Nåcht,<br />

Kindle klan, Kindle fein; is ka Herzel valåssn,<br />

dås se fürcht bei dar Nåcht,<br />

wert ålln a Wög ume sein.<br />

Immerhin hast du dich jetzt dazu durchgerungen, die Hefte<br />

wegzulegen, um dich auf den Schemel direkt neben sie<br />

zu setzen. Du solltest ihre Hand halten, ihr über die Wange<br />

streichen. Jedes Mal ist es eine Überwindung. Um den<br />

Moment hinauszuzögern, gibst du vor, ihr etwas Gutes tun<br />

zu wollen. Du liest ihr aus dem Sagenbuch für Kinder vor.<br />

Deine Stimme krächzt, weil du versuchst, lauter als sonst<br />

zu sprechen, nicht gedämpft, verstohlen, wie du es sonst<br />

tust. Du stolperst über die Wörter. Du schämst dich. Und<br />

dir hat man drei Abschlüsse gegeben. Dennoch scheint dir,<br />

sie habe den Kopf leicht bewegt, aufgehorcht vielleicht.<br />

Vielleicht ist es aber auch nur deine Interpretationsschleife,<br />

die sich schon wieder in Gang setzt, um eure Geschichte<br />

weiterzuspinnen. Meine Stimme kann dich nicht erreichen,<br />

aber wenigstens nehme ich dich mit in meinen Kopf.<br />

Wie Arachne nähe ich eine Decke aus Buchstaben für dich,<br />

um sie wärmend über uns beide zu legen. Wie schön, dieser<br />

Satz; wie tröstlich, diese Idee. Aber von außen seht<br />

ihr nur eine junge Frau neben einer sehr alten Frau. Die<br />

ältere erkennt die jüngere nicht mehr, mehr noch: Sie registriert<br />

ihre Anwesenheit nicht einmal. Die jüngere weiß<br />

nicht, wie zu ihr vorzudringen. Unbeholfen streicht sie über<br />

ihre papierne Hand. Sie kommt ihr wie zerbrechliches Pergament<br />

vor, verblichen, faltig, ein Gemisch aus Weiß, Gelb<br />

und Braun. Aber alte Schriften kann sie nicht lesen, und so<br />

auch diese nicht. Ihre Finger sind fein, lang und dünn. Wie<br />

und wo hält man eine Hand? Welche Finger umschließen<br />

welche? Wie fest drückt man? Wie lange darf man sie halten?<br />

Wann muss man loslassen, sodass nicht auffällt, dass<br />

man den Halt der anderen braucht? Du weißt es nicht.<br />

Du kennst es nicht. Aber du kannst beobachten. Du hast<br />

beobachtet, dass während Eltern die Hände ihrer Kinder<br />

eher lose ‚umschließen‘, die vier größeren Finger der einen<br />

Hand in einem unter die vier größeren Finger der anderen<br />

Hand fahren, Pärchen – wenn sie gerade erst zusammengekommen<br />

sind oder noch etwas ineinander verliebt sind<br />

– ihre Hände ineinander ‚verkreuzen‘, die einzelnen Finger<br />

der einen Hand sich in den einzelnen Fingern der anderen<br />

‚verzahnen‘, als wollten sie sich nie mehr loslassen.<br />

Aber eigentlich weißt du nicht genau, wie du diese Gesten<br />

beschreiben sollst. Vielleicht, weil sie nicht beschrieben<br />

werden, nur erfühlt, gefühlt. Und auch hier bleibst du<br />

stümperhaft. Um diese Hand, die so zerbrechlich aussieht,<br />

nicht zu verletzen, ‚umschließt‘ du sie leicht. Du streichelst<br />

sie ein bisschen. Du bist überrascht, dass du dich nicht<br />

mehr ekelst. Du erinnerst dich, dass du früher im Kunstunterricht<br />

mit 17 oder 18 wochenlang versucht hast, eine<br />

Hand detailgetreu zu zeichnen. Die Faszination für Hände,<br />

für die Berührung, die für andere so selbstverständlich, für<br />

dich aber so fremd ist, ist bis heute geblieben. Hättest du<br />

damals gedacht, dass es einmal deine stumme Großmutter<br />

sein wird, die sich nicht rühren kann, die dir Antworten<br />

auf deine Fragen geben wird? Und wieder geht es nur um<br />

dich.<br />

A Wög für mi ume, wånn de Gfrier aufesteaht,<br />

Kindle fein, Kindle klan; werst mi tröstn, werst mi trågn,<br />

werst mei Liacht ume sein,<br />

dei Liab weat ka Schnea nit varwahn.<br />

Während meine Hand versucht, diese andere Hand zu<br />

streicheln, denke ich an andere. Ich denke an die Finger<br />

meiner Tante, die nach einer schlimmen Gehirnentzündung<br />

und dem künstlichen Koma nun schon seit Wochen<br />

ebenso apathisch immerzu in ihrem Bett auf der Intensivstation<br />

liegt. Im Unterschied zu meiner Großmutter sind<br />

ihre Augen offen, finden uns aber nicht. Während die langen<br />

Klavierspielerfinger meiner Großmutter jenen meiner<br />

Mutter ähneln, ähneln die kurzen, dicklichen meiner Tante<br />

ihrem Bruder, meinem Vater. Es sind Finger, die anpacken<br />

und arbeiten, keine Finger, die schreiben und lehren.<br />

Ich denke auch an deine Hände, auch wenn ich sie und<br />

dich mit ihnen längst vergessen haben sollte. Ich denke an<br />

das, was sie mir geben hätten können. Ich schäme mich<br />

dafür, weil es mir vorkommt, als würde ich mich dir aufzwingen,<br />

wenn ich meine Gedanken weiterspinnen lasse,<br />

während du entschieden hast, den Faden, der eine Geschichte<br />

werden sollte, ‚unsere‘ Geschichte, gleich zu Beginn<br />

abzuschneiden.<br />

Andrea Krotthammer<br />

Geb. 1991 in Innsbruck. Studium Universität Innsbruck. 2010-<br />

2013 Bachelor Französisch, 2013-2015 Master Französisch, 2013-<br />

2017 Lehramt Französisch/Deutsch. Auslandssemester WiSe<br />

2014/2015 Université de Montréal (Quebec, Kanada). Mitarbeit im<br />

Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA, Institut für Germanistik) und im<br />

Zentrum für Kanadastudien Innsbruck (ZKS), Universität Innsbruck.<br />

Prosa

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