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UNIversalis-Zeitung Sommersemester 2018

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SPEZIAL<br />

<strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong><br />

Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />

ArtMedia Verlag Freiburg Sommer <strong>2018</strong> 25. Ausgabe / 14. Jahrgang<br />

Kein toter Hund, ein lebendiger Geist<br />

Ein Gespräch mit den Organisatoren der Ringvorlesung zu Marx‘ 200. Geburtstag<br />

Zu Karl Marx‘ 200. Geburtstag<br />

findet an der Universität<br />

Freiburg vom 25. April bis<br />

18. Juli eine Ringvorlesung statt.<br />

Vorträge von unterschiedlichen<br />

Fachreferenten belegen Marx‘-<br />

Facettenreichtum und auch seine<br />

Aktualität. Dr. Christian Dries,<br />

Soziologe, und PD Dr. Sebastian<br />

Schwenzfeuer, Philosoph, organisieren<br />

die Großveranstaltung. Fabian<br />

Lutz hat sie zum Interview<br />

getroffen und mit ihnen über den<br />

Hund und Geist Karl Marx gesprochen,<br />

über Vulgärmarxismus<br />

und Ideologien sowie den wahren<br />

Marx und darüber, ob man von<br />

dem einen Marx überhaupt sprechen<br />

kann.<br />

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Aus dem Inhalt:<br />

Im Gespräch: Dr. Alexandra<br />

Klotz, Epilepsiezentrum der<br />

Universitätsklinik3<br />

Neue Recherche:<br />

„Monsieur Göthé...“ 4<br />

Annette Kolb:<br />

Femme de lettres<br />

5<br />

„Die Tyrannei des<br />

Wachstums“: Jason Hickel 7<br />

Mit den Waffen der Kunst9<br />

Zumbiegel erlernt<br />

das Alphabet10<br />

Vom Kooperationsnetzwerk<br />

zur School of Education13<br />

Von der Muse geküsst 14<br />

Jacob Taubes‘ zweiter<br />

Sammel-Band –<br />

Apokalypse und Politik 17<br />

Großer Denker in massiver Bronze. Die Marx-Statue des chinesischen<br />

Bildhauers Wu Weishan wurde am 5. Mai in Trier enthüllt. Proteste<br />

blieben nicht aus (siehe Seite 2)<br />

Foto: Daniel John<br />

<strong>UNIversalis</strong>: In ihrer eröffnenden<br />

Podiumsdiskussion vom 25. April<br />

war von Marx als „totem Hund“<br />

die Rede. Marx ist biologisch nur<br />

einmal gestorben, wurde aber immer<br />

wieder ausgegraben,<br />

dann wieder für<br />

tot erklärt. Was ist jetzt<br />

eigentlich mit ihm?<br />

Christian Dries: Wolfgang<br />

Eßbach hat bei<br />

dieser Podiumsdiskussion<br />

gesagt, dass man<br />

bei toten Hunden nie so<br />

ganz weiß, ob sie nicht<br />

doch nur schlafen. So<br />

gesehen ist Marx oft<br />

für tot erklärt worden,<br />

aber er war wohl nie<br />

wirklich tot.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Sie nennen<br />

Marx auch einen<br />

„lebendigen Geist“.<br />

Dries: Zum einen ist<br />

Marx natürlich ein<br />

großer Geist, ein großer<br />

Denker, ein großer<br />

Philosoph. Das war er,<br />

neben seinen anderen<br />

Eigenschaften als Politiker,<br />

Revolutionär,<br />

Journalist, Soziologe.<br />

Und zum anderen ist<br />

er, und das spielt auf<br />

Jacques Derrida an, ein<br />

Gespenst, das uns immer<br />

wieder heimsucht.<br />

Auch wenn es für tot<br />

erklärt wird. Marx steht<br />

immer wieder im Subtext,<br />

taucht immer wieder<br />

auf, spielt sich aus<br />

dem Hintergrund wieder<br />

in den Vordergrund.<br />

So kommt man um ihn<br />

auch nicht herum.<br />

Sebastian Schwenzfeuer:<br />

Marx schreibt<br />

selbst im Kommunistischen<br />

Manifest, dass<br />

der Kommunismus wie<br />

ein Gespenst durch Europa<br />

geht. In gewisser<br />

Weise geht heute Marx<br />

als Gespenst durch unsere<br />

Zeit. Nur ist dieses<br />

Gespenst Marx, nicht<br />

das Gespenst des Kommunismus<br />

im 19. Jahrhundert.<br />

Auf eine gewisse<br />

Weise ist er heute<br />

lebendiger denn je.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Warum<br />

ist Marx gerade heute<br />

so lebendig?<br />

Dries: Daniel Loick<br />

hat in seinem Vortrag<br />

zu Marx‘ (und Engels‘)<br />

Politik der Lebensformen<br />

(09.05.) gesagt,<br />

dass man über Marx<br />

eigentlich immer reden<br />

kann und sollte.<br />

Sicher haben ihm die Finanzkrise<br />

ab 2007, und ebenso die negativen<br />

Folgen der Globalisierung zu einer<br />

Renaissance verholfen, nicht nur in<br />

Europa, sondern weltweit. Selbst<br />

in den USA, wo man seit einigen<br />

Jahren wieder Marx liest und neue<br />

linke Zeitschriften gegründet hat.<br />

Schwenzfeuer: Angesichts der veränderten<br />

weltpolitischen Lage, dem<br />

Zusammenbruch des Ostblocks<br />

1989/90, glaube ich auch, dass der<br />

Blick auf Marx viel freier geworden<br />

ist und auch noch werden kann. Die<br />

Person Marx ist heute an keine bestimmte<br />

Partei oder ein bestimmtes<br />

Programm mehr gebunden. Für die<br />

Zeit vor 1989 würde ich hingegen<br />

von einer „hermeneutischen Blockade“<br />

gegenüber Marx sprechen,<br />

da war auch die Unbefangenheit<br />

noch nicht da. Das macht schon<br />

einen großen Unterschied für das,<br />

was man an Marx sieht und was<br />

man aus ihm machen will und kann.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Damit sprechen Sie<br />

ja auch das Problem der Ideologisierung<br />

Marx‘ an, das auch noch<br />

heute, lange nach dem Zusammenbruch<br />

des Ostblocks besteht.<br />

Gerade in Trier sorgte die Enthüllung<br />

der von China geschenkten<br />

Marx-Statue an dessen Geburtstag<br />

am 5. Mai für breite Empörung.<br />

Weil Marx als Statue glorifiziert<br />

erscheint, aber auch, weil ein Geschenk<br />

von der Autokratie China<br />

angenommen wurde. Wovor haben<br />

die Menschen mehr Angst: Vor<br />

Marx oder den diktatorischen Erben<br />

seiner Theorie?<br />

Dries: Diese Diskussionen sind ein<br />

Ausdruck der „hermeneutischen<br />

Blockade“, die Sebastian erwähnt<br />

hatte – beziehungsweise ihrer Folgen.<br />

Es gibt viele Marx-Bilder, die<br />

herumgeistern, und eines ist eben<br />

das von Marx als Begründer des<br />

Kommunismus und, wenn man so<br />

will, Stalinismus, des „real existierenden<br />

Sozialismus“. Das Bild ist<br />

in den Köpfen drin und wird bei so<br />

einem konkreten Anlass auch wieder<br />

aktualisiert. Ich denke, das sind<br />

Diskussionen, die durchaus geführt<br />

werden müssen. Marx ist von vielen<br />

Leuten in Beschlag genommen<br />

worden, im sogenannten Marxismus,<br />

oder dem Vulgärmarxismus.<br />

Sebastian hat aber zu Recht gesagt,<br />

dass wir jetzt einen unverstellteren<br />

Blick auf Marx haben können.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Was meinen Sie mit<br />

„Vulgärmarxismus“?<br />

Dries: Eine ideologisch verkürzte<br />

und auf „Lehrformeln“ zurechtgestutzte<br />

Version Marx’scher Überlegungen.<br />

Das fängt schon mit<br />

Friedrich Engels an, dem viele<br />

vorgeworfen haben, Marx in einer<br />

„vulgarisierten Fassung“ auf<br />

den Markt gebracht und so für die<br />

politischen Bewegungen der Zeit,<br />

Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie<br />

etc., handhabbar gemacht zu<br />

haben. Es gab immer wieder recht<br />

primitive, dogmatische Marx-<br />

Verständnisse, etwa in bestimmten<br />

politischen Gruppierungen wie<br />

den sogenannten K-Gruppen in der<br />

Nachfolge der Proteste von 1968,<br />

natürlich auch im Ostblock, in den<br />

Parteischriften, etwa der SED. Nur<br />

spielt dieser Vulgärmarxismus heute<br />

eigentlich keine Rolle mehr (außer<br />

vielleicht in China). Jedenfalls<br />

gibt es keine ernsthaften Marx-LeserInnen,<br />

die damit etwas anfangen<br />

könnten.<br />

Schwenzfeuer: Diese verkürzten<br />

Lesarten halten den Texten auch<br />

nicht Stand. Durch die kritische Gesamtausgabe<br />

sind die Texte ja noch<br />

besser erschlossen. Auch das ist übrigens<br />

ein hermeneutischer Vorteil,<br />

den wir heute haben und der nicht<br />

zu unterschätzen ist. Der Vulgärmarxismus<br />

reicht gar nicht an die<br />

Komplexität, die Gebrochenheit,<br />

die Vielfältigkeit der Marx’schen<br />

Überlegungen heran, die nie nur<br />

in eine Richtung zielten. Was man<br />

am Vulgärmarxismus positiv sehen<br />

könnte, wäre der Versuch, etwas,<br />

das schwierig ist, zugänglicher zu<br />

machen. Damit stellt sich ja auch<br />

die wichtige Frage, wie man die<br />

komplizierten Analysen, etwa im<br />

Kapital, breitenwirksam verständlich<br />

machen kann.<br />

Dries: Wobei schon Marx selbst zu<br />

Auslagern<br />

Aufbewahren<br />

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hat, etwa Lohn, Preis und<br />

Profit. Da hat er selbst versucht,<br />

seine Theorie etwas eingängiger<br />

darzustellen. In seiner Kritik des<br />

Gothaer Programms versucht er der<br />

Sozialdemokratie seiner Zeit zu erklären,<br />

was sein Standpunkt ist und<br />

warum es der bessere Standpunkt<br />

ist. Sein Werk als geschlossene<br />

Weltanschauung zu präsentieren,


2 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

wie es der Vulgärmarxismus in Folge<br />

von Lenin ja getan hat, war aber<br />

nie Marx‘ Intention.<br />

Schwenzfeuer: Gerade Lenin hat<br />

Marx nicht einfach nur verständlich<br />

gemacht, sondern immens<br />

umgedeutet und zahlreiche eigene<br />

Thesen eingebracht. Der Vulgärmarxismus<br />

ist ein Konglomerat aus<br />

einem vulgär gelesenen Marx, und<br />

Lenin, angereichert vielleicht mitTrotzki,<br />

Mao und anderen.<br />

Dries: Im Laufe seines Lebens wurde<br />

es Marx immer wichtiger, seine<br />

Theorie in eine wissenschaftliche<br />

Form zu bringen und auch als solche<br />

zu vermitteln. Die marxistischleninistische<br />

Weltanschauung<br />

war hingegen der Versuch, Marx‘<br />

Theorie ins Politische zu wenden.<br />

Marx wurde zum Kampfinstrument.<br />

Lenin war ja kein Idiot, der Marx<br />

nicht verstanden hat, sondern er hat<br />

ihn politisch wirkmächtig umfrisiert.<br />

Durch die unterschiedlichen<br />

Umgestaltungen entstanden ja auch<br />

die vielen unterschiedlichen Marx-<br />

Bilder.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Warum hat man Marx<br />

immer aufbereiten müssen? Lag es<br />

auch an seiner Komplexität, seiner<br />

Widersprüchlichkeit, die Sie bereits<br />

erwähnten?<br />

Schwenzfeuer: Marx ist ein ambitionierter<br />

Theoretiker. Er ist Philosoph,<br />

Historiker, Wirtschaftswissenschaftler<br />

und auch Soziologe,<br />

auch wenn es die beiden letzteren<br />

Disziplinen damals noch nicht gab.<br />

Und er verbindet diese, für uns<br />

heute getrennten Perspektiven auf<br />

eine ganz originäre, hochreflektierte<br />

Weise. Das bedingt schon<br />

von der Sache her, dass er gar nicht<br />

einfach zugänglich sein kann. Als<br />

Philosoph kann ich sagen, dass alle<br />

großen Theoretiker schwierig sind,<br />

da darf man gar nichts Einfaches<br />

erwarten.<br />

Dries: Marx‘ Denken ist durch<br />

mehrere große Umbrüche und permanente<br />

Neuanläufe gekennzeichnet.<br />

Er arbeitet seine eigene Theorie<br />

immer wieder um, nimmt Impulse<br />

auf, ist ein großer Eklektiker. Das<br />

sind Einflüsse aus der Philosophie,<br />

der Wissenschaft, der Ökonomie,<br />

aber auch zeitgenössische Begebenheiten.<br />

Er arbeitete auch immer<br />

wieder journalistisch und war so<br />

nahe am Tagesgeschehen. Diese<br />

Umbrüche und Umarbeitungen,<br />

die von einem lebendigen Geist<br />

zeugen, sprechen auch dafür, dass<br />

man es nicht mit einem kompakten<br />

Werk, sondern eher mit einem Torso<br />

zu tun hat, oder gleich mehreren<br />

davon! Aber das macht gerade den<br />

Reiz dieses Marx’schen „Werks“<br />

aus.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Können Sie eine spezielle<br />

Phase in Marx‘ Leben benennen?<br />

Dries: Oliver Marchart schließt am<br />

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25.06. mit dem Vortrag Marx als<br />

Demokrat. Das Marx’sche Frühwerk<br />

im Licht radikaler Demokratietheorie<br />

an den frühen Marx an.<br />

Da war Marx noch ein stark von<br />

der Aufklärung geprägter Radikaldemokrat.<br />

Manche knüpfen heute<br />

wieder an diesen Marx an, und das<br />

kann man an ganz unterschiedlichen<br />

Teilen seines Werkes tun<br />

und ganz unterschiedliche Aspekte<br />

weiterdenken. Aber egal wo man<br />

ansetzt, es ist eben anstrengend.<br />

Wie Marx im Kapital selbst sagt:<br />

Ich setze Leser voraus, die selber<br />

denken wollen. Das ist die Minimalvoraussetzung.<br />

Andererseits ist<br />

Marx auch ein großartiger Stilist.<br />

Einer der größten deutscher Zunge,<br />

würde ich sagen. Deswegen ist es<br />

immer ein ganz großes Vergnügen,<br />

ihn zu lesen. Das betrifft seine klassischen<br />

Texte wie das Kapital, aber<br />

auch seine Polemiken, die großartig<br />

und durchaus auch unterhaltsam<br />

sind.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: In Ihrer Ringvorlesung<br />

sind dem vielfältigen Programm<br />

Marx‘ vielfältige wissenschaftliche<br />

Zugänge gegenübergestellt,<br />

mit Referenten aus verschiedenen<br />

Disziplinen. Nicht zuletzt<br />

sind Sie beide als Organisatoren ja<br />

in zwei unterschiedlichen Disziplinen<br />

beheimatet. Wie sehen Sie Ihre<br />

Disziplinen, die Philosophie und<br />

die Soziologie, speziell mit Marx<br />

verbunden?<br />

Schwenzfeuer: Für mich als Philosophen<br />

ist Marx als Erbe Hegels<br />

interessant. Marx bietet eine ingeniöse<br />

Ausgestaltung der Hegel’schen<br />

Methode. Das ist auch für heutige<br />

philosophische Diskurse äußerst<br />

interessant. Natürlich werden das<br />

Marxisten nicht gerne hören, denn<br />

Hegel ist ja bürgerliche Philosophie.<br />

Dries: Ungeachtet der Zäsur von<br />

1989 und der hermeneutischen<br />

Blockade hatte Marx immer einen<br />

Platz in der Soziologie. Das war in<br />

der Philosophie nicht immer so. In<br />

der Soziologie sind die Kontinuitäten<br />

doch etwas stärker. Bei uns<br />

ist Marx fester Teil des Lehrplans.<br />

Im Bachelor-Studium werden alle<br />

Dr. Christian Dries, Soziologe, und PD Dr. Sebastian Schwenzfeuer, Philosoph<br />

mindestens einmal mit Marx konfrontiert.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Haben Sie noch mehr<br />

mit Marx vor?<br />

Schwenzfeuer: Ich lasse die Flut der<br />

Publikationen, die uns zum Jubiläum<br />

überrollt, erst einmal kommen und<br />

schaue dann, wo ich meinen Fokus<br />

setze. Ich habe mir Marx als Autoren<br />

nicht wegen des Jubiläums ausgesucht.<br />

Als ich vor einigen Semestern<br />

begann, mich intensiver mit Marx<br />

auseinanderzusetzen, hatte ich das gar<br />

nicht im Blick. Auf den Umstand des<br />

Jubiläums wurde ich von dritter Seite<br />

hingewiesen. Natürlich ist es eine<br />

glückliche Fügung, dass das Jubiläum<br />

so eine große öffentliche Aufmerksamkeit<br />

für Marx erregt. Aber damit<br />

ist die Sache für mich noch nicht abgeschlossen.<br />

Dries: Ein konkretes Projekt habe ich<br />

nicht, aber ich stelle in meinen eigenen<br />

Arbeiten immer wieder fest, dass<br />

es zu Marx viele Berührungspunkte<br />

gibt. Und da sind wir auch wieder<br />

beim Gespenst: Marx taucht immer<br />

wieder auf. Gerade in vielen modernen<br />

Texten des 20. Jahrhunderts mit<br />

denen ich arbeite. Marx ist ein ganz<br />

starker Referenzpunkt – ob sich Autoren<br />

direkt oder indirekt auf ihn beziehen<br />

oder sich von ihm abstoßen.<br />

Darüber hinaus finde ich es schwierig,<br />

noch etwas Neues, Interessantes<br />

zu jemandem zu sagen und vor allem<br />

zu schreiben, über den schon so unfassbar<br />

viel gesagt und geschrieben<br />

wurde. Das sieht man ja auch bei vielen<br />

aktuellen Publikationen, die oft<br />

wenig Neues bringen. Also, da man<br />

muss nicht unbedingt noch etwas<br />

hinzufügen, sondern darf sich auch<br />

einfach seine persönlichen Lieblingsautoren<br />

für die Lektüre reservieren,<br />

als andauernde Anregung und „Fundgrube“,<br />

und das einfach genießen.<br />

Eine Übersicht der noch folgenden<br />

Vorträge der Vorlesungsreihe findet<br />

sich unter www.studiumgenerale.uni-freiburg.de<br />

und unter dem<br />

Menüpunkt Colloquium politicum/<br />

Vortragsreihen.<br />

Zündstoff und differenzierte Debatten<br />

Zu den Feierlichkeiten des Karl-Marx-Jahrs <strong>2018</strong> rüttelt eine Kontroverse den Kulturbetrieb auf. Es geht um<br />

eine stolze Statue, Chinas Einfluss und falsche Heldenverehrung. Vielleicht ja perfekter Zündstoff, um eine lebhafte<br />

Debatte zu starten<br />

An seinem 200. Geburtstag<br />

erscheint Karl Marx überlebensgroß<br />

auf dem Simeonstiftplatz in<br />

Trier. Das rote Tuch fällt und enthüllt<br />

eine erhaben stolze Statue aus<br />

Bronze. Trier ist Marx‘ Geburtsort,<br />

aber nicht alle Trierer wollen<br />

Geburtstag feiern. Zur Enthüllung<br />

gab es nicht nur Feierlichkeiten,<br />

sondern auch Demonstrationen<br />

verschiedener Prägung, nur geeint<br />

durch den Wunsch, Marx wieder<br />

vom 5,50 Meter hohen Sockel zu<br />

holen. Der Protest entzündet sich<br />

nicht nur am bekanntermaßen umstrittenen<br />

Ruf des Vaters des Kommunismus,<br />

sondern auch an den<br />

politischen Hintergründen der Statue,<br />

die eben ein Geschenk Chinas<br />

an die Geburtsstadt darstellt. Sind<br />

die diplomatischen Beziehungen<br />

Deutschlands zu China schon an<br />

sich ein kontroverses Politikum,<br />

konkretisiert sich die Problematik<br />

angesichts des Urvaters des Kommunismus<br />

noch. So gilt das autoritär<br />

geführte China doch gerade<br />

als ein Negativbeispiel, ein Beleg<br />

für das Scheitern des Kommunismus.<br />

Marx wiederum wird dann als<br />

Ideengeber für solche Autokratien<br />

problematisiert. Aus den harten und<br />

stolzen Zügen der massiven Skulptur<br />

scheint für viele eine klare Huldigung<br />

des Kommunismus hervorzutreten<br />

– ein schaler ideologischer<br />

Beigeschmack und eine Erinnerung<br />

an Zeiten von Kulturverherrlichung<br />

durch die Kunst des Sozialistischen<br />

Realismus. Ein empfindliches Thema,<br />

gerade in einem Land, das<br />

durch den Sozialismus schon einmal<br />

entzwei gerissen wurde. Neben<br />

Demonstrationen von der AfD, einer<br />

Gegendemonstration und einer<br />

Demonstration von Befürwortern<br />

gab es auch allgemeinen Protest,<br />

längst schon im Trierer Stadtrat, der<br />

die Schenkung im März 2017<br />

genehmigte, aber auch von<br />

der Schriftstellervereinigung<br />

PEN-Zentrum Deutschland,<br />

dem tschechischen Staatspräsidenten<br />

Vaclav Klaus und<br />

Verbänden wie der Union der<br />

Opferverbände Kommunistischer<br />

Gewaltherrschaft.<br />

Dabei sind die Trierer<br />

Feierlichkeiten im 200. Geburtsjahr<br />

von Karl Marx<br />

eigentlich eben nicht als<br />

forcierte Kontroverse angelegt,<br />

sondern sollen differenzierte<br />

Einblicke in ein<br />

kontroverses Werk bieten.<br />

Auf diese Weise ließe sich<br />

die Statue als ausgestelltes<br />

Untersuchungsobjekt begreifen,<br />

dessen kritische Kontextualisierung<br />

über die Veranstaltungen<br />

<strong>2018</strong> ja erfolgt.<br />

Zunächst ist da vor allem die<br />

große Ausstellung im Rheinischen<br />

Landesmuseum Trier<br />

vom 5. Mai bis 21. Oktober<br />

<strong>2018</strong>, die auf 1000 m² Ausstellungsfläche<br />

Person und<br />

Wirken Marx‘ umfassend in<br />

den Blick nimmt. „Stationen eines<br />

Lebens“ ist wiederum das Motto<br />

der Ausstellung im Stadtmuseum<br />

Simeonstift Trier. Ebenfalls vom<br />

5. Mai bis 21. Oktober <strong>2018</strong> wird<br />

über einen Rundgang der Lebensweg<br />

Marx‘ anschaulich. Und nicht<br />

zuletzt wartet auch das Museum<br />

Karl-Marx-Haus seit dem 5. Mai<br />

mit einer neuen Dauerausstellung<br />

auf. Daneben beweisen weitere<br />

Veranstaltungen, ob aus dem Bereich<br />

Theater, Bildung oder Film<br />

einen enormen Facettenreichtum im<br />

Umgang mit Marx. Steht hinter der<br />

Aufstellung der Statue, deren Kontroverse<br />

immerhin absehbar war,<br />

also ein effektiver Mediencoup?<br />

Die Ausstellung „Leben. Werk. Zeit“ im Rheinischen Landesmuseum Trier<br />

Vielleicht heiligt der Zweck ja die<br />

Mittel, denn die Aufmerksamkeit<br />

die Trier und damit Marx erhalten,<br />

sind seiner historischen Bedeutung<br />

ja angemessen, und einem so großen<br />

Festival sicherlich auch. Eine<br />

akademisch ruhige Debatte wird es<br />

aber nicht werden, dafür polarisiert<br />

Marx doch zu sehr, bis heute und<br />

Foto: Karl-Marx-Ausstellung Trier<br />

vermutlich noch für lange Zeit.<br />

Zu diskutieren ist aber, und das<br />

gilt allgemein, wie man mit kontroversen<br />

historischen Gegenständen<br />

und Personen umzugehen hat.<br />

Gerade wenn es sich um eine lange,<br />

längst verknöcherte Debatte<br />

handelt, kann etwas Sprengstoff<br />

durchaus die nötige Aufmerksamkeit<br />

und Bewegung bringen, die<br />

Debatte selbst aber auch unmöglich<br />

machen. Gegenüber der Causa Trier<br />

bleibt vor allem Erstaunen darüber,<br />

dass ein so großes Land wie China<br />

auf eine kleine Stadt wie Trier<br />

blickt und ihr eine Statue kreiert. Im<br />

Übrigen vielleicht auch ein Grund,<br />

warum es sinnvoll ist, eine so große<br />

Ausstellung zu veranstalten: Man<br />

nimmt die Resonanz des Medienereignisses<br />

und formt sie zu lebhaften,<br />

neuen Debatten, und genießt<br />

noch dazu höhere Besucherzahlen.<br />

Und so blickt auch Deutschland auf<br />

Trier. Was immerhin deutlich wird:<br />

Aus kleinen Verhältnissen können<br />

weltbewegende Menschen treten.<br />

Was auch deutlich wird: China hält<br />

sich nicht zurück. Und so kann man<br />

neben der Bedeutung eines Karl<br />

Marx, auch ganz realpolitisch und<br />

sogar anschaulich die Mächteverhältnisse<br />

der Welt an einer kleinen<br />

Stadt in Rheinland-Pfalz demonstrieren.<br />

Die Diskussion um Marx<br />

und den Kommunismus ist längst<br />

nicht zu Ende.<br />

Fabian Lutz


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 3<br />

„Noch steckt die Forschung in den<br />

Kinderschuhen“<br />

Dr. Alexandra Klotz ist Oberärztin am Epilepsiezentrum der Universitätsklinik Freiburg. Für<br />

die Therapie von Epilepsiekranken setzt sie den Cannabiswirkstoff Cannabidiol (CBD) ein, der<br />

seit einer Gesetzesänderung im März 2017 zur umfassenderen medizinischen Anwendung in<br />

Deutschland zugelassen ist. Langzeiterfahrungen mit dem Medikament stehen jedoch noch aus.<br />

Fabian Lutz hat die Ärztin getroffen. Ein Gespräch über Wirkung, Chancen und Wahrnehmung<br />

eines umstrittenen Wirkstoffs<br />

Historische Verwendung von<br />

Cannabis als Medizin. Ein<br />

Cannabisextrakt zu Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts<br />

Dr. Andrea Klotz, Epilepsiezentrum Universitätsklinik Freiburg<br />

Foto: Universitätsklinikum Freiburg<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Cannabis als Medikament,<br />

Cannabis in der Therapie.<br />

Das löst auch Befremden aus, vielleicht<br />

weil viele Menschen dabei<br />

an THC und illegale Rauschmittel<br />

denken.<br />

Dr. Alexandra Klotz: Cannabis<br />

wird als Medikament schon<br />

ebenso lange eingesetzt wie auch<br />

als Rauschmittel, bereits im alten<br />

Ägypten oder China. Die Hanfpflanze<br />

enthält sehr viele aktive<br />

Wirkstoffe, Cannabinoide genannt,<br />

die potentiell als Medikament dienen<br />

können. Der Wirkstoff, der<br />

gerade intensiver erforscht wird,<br />

das Cannabidiol (CBD), ist ein Teil<br />

der Pflanze, der im Gegensatz zum<br />

THC keine berauschende Wirkung<br />

hat. Von den über 100 aktiven Pflanzenstoffen<br />

der Hanfpflanze sind<br />

Cannabidiol und THC übrigens nur<br />

zwei, wir wissen nicht, ob die 98<br />

anderen nicht auch potentiell gute<br />

Medikamente sein können.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Wie gut ist die medizinische<br />

Wirkung von Cannabis<br />

erforscht?<br />

Dr. Klotz: Hierzu muss man sich<br />

zunächst überlegen, welche Forschungsergebnisse<br />

gefragt sind.<br />

Wenn man sich das Beispiel Cannabidiol<br />

anschaut: Da gibt es<br />

Grundlagendaten zur Wirkung von<br />

Cannabidiol in der Zelle, dann<br />

Daten aus Tierversuchen zur Wirkung<br />

von Cannabidiol bei einem<br />

bestimmten Epilepsiemodell und<br />

Beobachtungen zur Wirkung beim<br />

Menschen selbst. In dieser Reihenfolge<br />

nimmt auch die Datendichte<br />

ab. Die Grundlagendaten und die<br />

aus Tierversuchen sind qualitativ<br />

und quantitativ besser als jene,<br />

die man durch die Anwendung am<br />

Menschen erhält. Das hat auch<br />

forschungsgeschichtliche Gründe.<br />

In den 60ern gab es Forschergruppen,<br />

die sich intensiv mit der medizinischen<br />

Wirkung von Cannabis<br />

beschäftigt haben, unter anderem<br />

jene um den israelischen Forscher<br />

Raphael Mechoulam, der auch den<br />

Wirkstoff THC entschlüsselt hat.<br />

Durch die Nähe zum kontroversen<br />

Drogenthema ist das aber nicht<br />

weiter verfolgt worden. Erst in den<br />

letzten fünf Jahren hat sich die medizinische<br />

Cannabisforschung wieder<br />

intensiviert.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Welche Ergebnisse<br />

zur medizinischen Wirkung zeigen<br />

die unterschiedlichen Datenerhebungen?<br />

Dr. Klotz: Bei der Grundlagenund<br />

Tierforschung zeigt sich, dass<br />

das Cannabidiol enorm viele, verschiedene<br />

Wirkungen hat. Es wirkt<br />

gegen Entzündungen, Übelkeit,<br />

Krampfanfälle, wirkt antioxidativ<br />

und hat noch viele weitere Effekte.<br />

Die entscheidende Frage ist aber,<br />

ob diese Wirkungen auch beim<br />

Menschen eintreten und mit welchen<br />

Nebnwirkungen. Die besten<br />

Daten dazu liegen tatsächlich in<br />

der Epileptologie vor, gerade im<br />

Kinderbereich. Cannabidiol wirkt<br />

definitiv gegen epileptische Anfälle.<br />

Wir wissen aber noch nicht, ob<br />

es bei allen Arten von Anfällen und<br />

allen Formen von Epilepsie wirkt.<br />

Die Verträglichkeit scheint recht<br />

gut zu sein, außerdem scheint das<br />

Cannabidiol nach den Daten, die<br />

wir bis jetzt zur Verfügung haben<br />

auch kein Abhängigkeitspotential<br />

zu besitzen. Für ein Medikament ist<br />

das natürlich sehr vorteilhaft. Insgesamt<br />

steckt die Forschung, gerade<br />

was die Langzeitwirkung anbetrifft<br />

aber noch in den Kinderschuhen.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Aber es gibt einen<br />

Forschungstrend.<br />

Dr. Klotz: Cannabis ist erst mit der<br />

Gesetzesänderung im März 2017<br />

zur medizinischen Verwendung<br />

richtig freigegeben worden. Vorher<br />

war die medizinische Verwendung<br />

von Cannabis in Deutschland<br />

auf sehr wenige Anwendungen im<br />

Bereich der Behandlung von Erwachsenen<br />

beschränkt, auch gab<br />

es nur ganz wenige Präparate. Die<br />

Freigabe 2017 bringt aber auch<br />

gesetzliche Vorgaben. So muss die<br />

vorliegende Erkrankung schwer<br />

sein, ebenso müssen andere, gute<br />

Alternativen ausgeschöpft sein oder<br />

gar nicht erst zur Verfügung stehen.<br />

Die Kostenübernahme ist noch ein<br />

anderes Thema, denn Cannabismedikamente<br />

sind teuer. Das muss individuell<br />

über einen Antrag an die<br />

Krankenkasse geklärt werden.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Warum haben Sie sich<br />

für eine Therapie mit Cannabidiol<br />

entschieden?<br />

Dr. Klotz: Wir haben uns in der<br />

Freiburger Epileptologie dafür entschieden,<br />

die Therapie mit Cannabidiol<br />

zu versuchen, weil es in der<br />

Epileptologieforschung die besten<br />

Daten zur Wirkung gibt. Wir wissen<br />

aber auch, dass Cannabidiol<br />

ein Medikament ist, zu dem noch<br />

keine Langzeiterfahrungen vorliegen.<br />

Daher wollen wir das ganz<br />

standardisiert machen. Das heißt,<br />

dass alle unsere Patienten ganz bestimmte<br />

Vorsorge- und Begleituntersuchungen<br />

erhalten. Die Therapie<br />

wird von einem erfahrenen Epileptologen<br />

geleitet, der Beginn der<br />

Therapie erfolgt immer stationär.<br />

Bei einem Medikament, das keine<br />

offizielle Zulassung hat, keine randomisiert-kontrolliert-verblindeten<br />

Studien, also nicht den klassischen<br />

Weg für eine Medikamentzulassung<br />

durchlaufen hat, trägt der durchführende<br />

Arzt die Verantwortung. Die<br />

Therapie ist immer zunächst für<br />

drei Monate angesetzt, weil wir beobachten<br />

wollen, wie das Medikament<br />

vertragen wird, aber auch weil<br />

wir eine gewisse Rechtfertigungspflicht<br />

gegenüber den Krankenkassen<br />

haben, die den Patienten diese<br />

teure Therapie ermöglichen. Wenn<br />

man gar keinen Effekt bemerkt,<br />

würde man die Therapie nach drei<br />

Monaten auch beenden, ansonsten<br />

fährt man mit der Therapie fort.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Erforschen Sie zusätzlich<br />

die Wirkung des Cannabidiol<br />

auf Ihre Patienten?<br />

Dr. Klotz: Wir evaluieren unsere<br />

Daten. Wir bitten Eltern und erwachsene<br />

Patienten um eine Einverständniserklärung,<br />

dass wir die<br />

Daten, die wir während dem Therapieversuch<br />

gewinnen, auswerten<br />

dürfen. So können wir herausfinden,<br />

wer von den Medikamenten wirklich<br />

profitiert, welche Patientengruppe<br />

besser, welche schlechter<br />

darauf anspricht, welche Nebenwirkungen<br />

wirklich alltagsrelevant sind<br />

und welche vielleicht weniger.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Haben Sie schon viele<br />

Erfolge evaluieren können?<br />

Dr. Klotz: Die Patientendaten, die<br />

wir aktuell überblicken, wurden<br />

noch nicht formell ausgewertet, daher<br />

kann ich keine Statistik präsentieren.<br />

Es gibt aber Patienten, die an<br />

schweren Epilepsien leiden und sehr<br />

von der Therapie profitieren. Etwa<br />

ein kleiner Junge, der extrem empfindlich<br />

auf Sonnenlicht reagiert und<br />

davon Anfälle bekommt. Dieses Jahr<br />

war er zum ersten Mal in seinem Leben<br />

Skifahren, weil er dank der Therapie<br />

zum ersten Mal ins helle Licht<br />

auf der Piste konnte. Solche Fälle<br />

sind natürlich Vorzeigefälle. Wir<br />

haben aber auch eine ganze Reihe<br />

Patienten, die nicht auf die Therapie<br />

angesprochen haben. Mein Gefühl<br />

ist also, dass es Patienten gibt, denen<br />

die Therapie hilft, aber ein Wundermittel<br />

ist Cannabidiol nicht.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Dabei glauben manche,<br />

dass die Legalisierung von<br />

Cannabidiol ein vollständig neues<br />

Kapitel moderner Medizingeschichte<br />

aufschlagen wird.<br />

Dr. Klotz: Das sehe ich nicht kommen.<br />

Überhaupt bezweifle ich, dass<br />

es ein Medikament geben wird, das<br />

jetzt und plötzlich zum Wundermittel<br />

gegen alle Epilepsien wird. Patienten<br />

sprechen wohl darauf an und<br />

es ist einen Versuch wert, aber es ist<br />

eben kein Wundermittel.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Begegnen Sie als Ärztin<br />

noch anderen, übereilten Hoffnungen<br />

gegenüber dem Cannabidiol?<br />

Dr. Klotz: Patienten oder deren Eltern<br />

haben oft die Vorstellung, dass<br />

das Medikament etwas Pflanzliches<br />

ist. Das stimmt aber nicht. Es ist<br />

zwar ein Medikament, das aus einer<br />

Pflanze gewonnen wird, aber das ist<br />

bei anderen Medikamenten ebenso.<br />

Es ist auch definitiv ein Medikament<br />

und daher kein Wohlfühl- oder Nahrungsergänzungsmittel.<br />

Es ist ein<br />

Medikament und sollte als solches<br />

auch verwendet werden.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Können Sie anhand<br />

eines Einzelfalls schildern, wie Cannabidiol<br />

auf bestimmte Epilepsiesymptomatiken<br />

wirkt?<br />

Dr. Klotz: Epilepsie ist wie ein<br />

Kurzschluss im Gehirn. Unser Gehirn<br />

arbeitet mit elektrischer Aktivität,<br />

so kommunizieren unsere<br />

Nervenzellen unter anderem auch<br />

miteinander. Wenn plötzlich mehrere<br />

Nervenzellen damit anfangen,<br />

überschüssige elektrische Energie zu<br />

produzieren, kann man einen epileptischen<br />

Anfall beobachten. Das kann<br />

sich zum Beispiel in Zuckungen oder<br />

Bewusstseinsstörungen ausdrücken.<br />

Das Cannabidiol scheint die Wahrscheinlichkeit<br />

für einen Anfall bei<br />

erhöhter elektrischer Aktivität zu<br />

senken. Soweit zumindest die Theorie.<br />

Im Tierversuch mit Mäusen, die<br />

an Epilepsie erkrankt waren, konnte<br />

man die Anzahl der Anfälle senken,<br />

wenn Cannabidiol gegeben wurde.<br />

Man konnte auch zeigen, dass das<br />

Potential für eine Epilepsie weniger<br />

wurde. Was für konkrete Auswirkungen<br />

Cannabidiol nun hat,<br />

etwa auf die epileptische Aktivität<br />

die man im EEG (Anm. Messung<br />

der Hirnströme) messen kann oder<br />

beim Schlaf – denn zwischen Epilepsie<br />

und Schlaf gibt es einige Verbindungen<br />

–, kann man noch nicht<br />

sagen.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Wie haben Patienten<br />

auf die Therapie reagiert? Haben<br />

Sie einen richtigen Cannabidiol-<br />

Boom mit großen Patientenzahlen<br />

erlebt?<br />

Dr. Klotz: Nach der Gesetzesänderung<br />

hat die Anzahl der Anfragen<br />

zugenommen, die Anfragen haben<br />

aber auch nicht überhandgenommen.<br />

Ich glaube, die Leute setzen<br />

sich schon sehr differenziert mit<br />

einer Cannabidioltherapie auseinander.<br />

Gerade im Kinderbereich<br />

fragen sich Eltern, ob das wirklich<br />

die richtige Therapie für ihr Kind ist.<br />

Ich habe jedenfalls wenige Patienten<br />

ablehnen müssen, weil sich andere,<br />

besser etablierte Therapieformen<br />

eher bewähren würden. In der Regel<br />

sind das schon wohlüberlegte,<br />

differenzierte Anfragen.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Die medizinische Erforschung<br />

von Cannabis ist Pioniersarbeit.<br />

Hat die Epileptologie<br />

in Freiburg eine Vorreiterrolle in<br />

diesem Bereich?<br />

Dr. Klotz: Wir sind deutschlandweit<br />

das einzige universitäre Epilepsiezentrum,<br />

das einer Cannabidioltherapie<br />

so einen standardisierten Plan<br />

zugrundelegt. Ich kenne Kollegen,<br />

die auch Cannabidiol einsetzen,<br />

allerdings bei geringeren Patientenzahlen.<br />

Vor kurzem haben wir<br />

eine Untersuchung durchgeführt,<br />

bei der wir europaweit Epileptologen<br />

gefragt haben, wie sie zu einer<br />

Cannabidioltherapie stehen. Da war<br />

durchaus Offenheit und auch ein<br />

recht großer Anteil hat Cannabidiol<br />

bereits eingesetzt, aber eher bei<br />

zwei, drei, vier Patienten, nicht bei<br />

größeren Patientenzahlen.<br />

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4 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

Meisterhafter Schneider mit<br />

glücklicher Hand<br />

Neue Recherche: „Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater“<br />

„Im Auslegen seid nur frisch und<br />

munter,<br />

legt ihr nichts aus, dann legt was<br />

unter.“<br />

Johann Wolfgang v. Goethe<br />

Johann W. Goethe hat seinem<br />

Großvater väterlicherseits, Friedrich<br />

Georg Göthé (1657-1730),<br />

anscheinend wenig Bedeutung<br />

eingeräumt, obwohl er diesem Wesentliches<br />

verdankt, nämlich Weltläufigkeit<br />

und ein beträchtliches<br />

Vermögen. Die Forschung hat diesbezüglich<br />

wenig herausgefunden,<br />

seit der Archivar und Historiker<br />

Rudolf Jung im Goethe-Jahr 1899<br />

einen Aufsatz veröffentlicht hat, der<br />

nachfolgenden Wissenschaftlern<br />

immerhin Grundlageninformation<br />

lieferte. Nun hat ein dreiköpfiges<br />

Autorenteam mit dem Buch „Monsieur<br />

Göthé. Goethes unbekannter<br />

Großvater“ eine umfassende Studie<br />

vorgelegt (erschienen 2017 in<br />

der Edition Die Andere Bibliothek);<br />

anhand von Dokumenten sowie<br />

kulturgeschichtlichen und soziologischen<br />

Ausführungen geht die<br />

Recherche der Lebensgeschichte<br />

des Schneidermeisters und späteren<br />

Gastwirts Friedrich Georg<br />

Göthé nach und zeichnet ein deutliches<br />

Bild dieses bemerkenswerten<br />

Mannes: 1674 hatte er als Schneidergeselle<br />

das Dorf seiner Herkunft<br />

in Thüringen verlassen, war zwölf<br />

Jahre lang in Deutschland und<br />

Frankreich auf Wanderschaft und<br />

lebte zuletzt einige Jahre in Lyon,<br />

damals eine Hochburg der Mode<br />

und Seidenindustrie. In dieser Zeit<br />

versah er den letzten Buchstaben<br />

seines Namens mit einem Akzent,<br />

um Göthé der französischen Aussprache<br />

anzupassen. Doch er verließ<br />

Frankreich, als Ludwig XIV<br />

1685 („Edikt von Fontainebleau“)<br />

den Protestanten die Ausübung<br />

ihrer Religion verbot, beantragte<br />

das Bürgerrecht in Frankfurt<br />

am Main, das er 1686 erhielt, und<br />

heiratete. Mit seiner in Frankreich<br />

erworbenen Kunstfertigkeit konnte<br />

Göthé hier zum erfolgreichen Damenschneider<br />

avancieren, der sogar<br />

bei Prinzessinnen gefragt war.<br />

Einzelheiten dieser Biographie<br />

müssen spekulativ bleiben, klar ist<br />

jedoch u.a., dass das Geburtshaus<br />

von Friedrich Georg Göthe in der<br />

thüringischen Ortschaft Kannawurf<br />

bei Artern steht und der Vater Hans<br />

Christian Göthe dort Hufschmied<br />

war. Die Autoren von „Monsieur<br />

Göthé“, Heiner Boehncke, Hans<br />

Sarkowicz und Joachim Seng, haben<br />

Berge von Literatur gesichtet,<br />

Archive besucht und Kirchenbücher<br />

gewälzt, um dem Mann<br />

Kontur zu verleihen. Nachdem er<br />

Artern 1674 verließ, was aus seinem<br />

„Lebens-Lauff“ (dies wichtige<br />

Dokument befindet sich heute im<br />

Goethe-Schiller-Archiv in Weimar)<br />

hervorgeht, auf Wanderschaft war,<br />

sich 1686 in Frankfurt ansiedelte,<br />

heiratete er im Jahr 1705 in zweiter<br />

Friedrich Georg Göthé<br />

Ehe (seine erste Frau war im Kindbett<br />

verstorben) die Witwe des Weidenhof-Wirts,<br />

Cornelia Schellhorn<br />

(1668-1754), womit sein Vermögen<br />

durch ein Hotel-Gasthof und einen<br />

Weinhandel erweitert wurden. Als<br />

er 1730 verstarb, zählten zu seinem<br />

Nachlass u.a. 34.000 Liter Wein.<br />

Johann Caspar, Goethes Vater<br />

Friedrich Georg Göthé war sehr<br />

um die Bildung seiner Söhne bemüht,<br />

auch seinem Sohn Johann<br />

Caspar Goethe (1710-1782) hatte er<br />

eine ausgezeichnete Ausbildung zukommen<br />

lassen, dieser promovierte,<br />

wurde Kaiserlicher Rat und konnte<br />

von seinem ererbten Vermögen leben;<br />

aus seiner Ehe mit Catharina<br />

Elisabeth Textor (1731-1808) ging<br />

schließlich Johann Wolfgang Goethe<br />

(1749-1832) hervor, knapp 19<br />

Jahre nach dem Tod des Großvaters<br />

väterlicherseits, von dem das<br />

Fundament für ein sorgloses Leben<br />

der Familie in Frankfurt am Großen<br />

Hirschgraben stammte,<br />

dem heutigen Goethe-Haus<br />

(www.goethehaus-frankfurt.<br />

de).<br />

Für den Umstand, dass<br />

Göthé von seinen Nachkommen<br />

stark ausgeblendet<br />

wurde, haben die Autoren<br />

des Buches vor allem psychologische<br />

Erklärungen.<br />

Zunächst scheint sich Johann<br />

Caspar, Goethes Vater,<br />

der in Frankfurt zum<br />

Kaiserlichen Rat aufstieg,<br />

mit einem gewissen Dünkel<br />

über seine „bescheidene“<br />

Herkunft hinwegzusetzen.<br />

Einen renommierteren<br />

Stammbaum bot vielmehr<br />

die Familie seiner Frau, die<br />

des einflussreichen Schultheiß<br />

Johann Wolfgang Textor<br />

(immerhin wurde der Vorname<br />

der Großmutter väterlicherseits tradiert,<br />

bis zur Enkelin Cornelia Goethe).<br />

Auch Johann Wolfgang Goethe<br />

verwies gerne auf seine Abkunft<br />

von Johann Wolfgang Textor und<br />

maß dem anderen Großvater wenig<br />

Bedeutung bei; dieser war zudem<br />

bereits 19 Jahre vor seiner Geburt<br />

gestorben, während er mit dem Textor-Großvater<br />

fast zwei Jahrzehnte<br />

Umgang hatte. Der Germanist Heiner<br />

Boehncke bemerkt dazu, dass<br />

es in der damals hierarchisch stark<br />

Cornelia Göthé<br />

gegliederten Gesellschaft nur wenige<br />

Möglichkeiten gab, einen neuen<br />

Platz zu erobern, weshalb sich Goethe<br />

lieber dem höheren Stand eines<br />

alten Patriziergeschlechts zugeordnet<br />

habe, als einem Schneider und<br />

Gastwirt.<br />

Als er jedoch in Weimar seine<br />

Amtsgeschäfte aufnahm, da ließ er<br />

sich in Lyon einen blauen Seidenfrack<br />

schneidern, als mache sich<br />

der großväterliche Schneider wieder<br />

bemerkbar.<br />

Erste Begegnung der<br />

Familien Göthé und<br />

Textor<br />

Zwischen den Familien<br />

Göthé und Textor<br />

gab es eventuell eine<br />

unbewusste Distanz,<br />

sie waren nämlich 1693<br />

erstmals aufeinandergetroffen,<br />

und zwar juristisch.<br />

Denn Friedrich<br />

Georg Göthé hatte den<br />

Stadtsyndikus Dr. jur.<br />

Johann Wolfgang Textor,<br />

Urgroßvater mütterlicherseits,<br />

zusammen<br />

mit einem Dutzend anderer<br />

Frankfurter Geschäftsleute,<br />

verklagt,<br />

weil dieser Rechnungen<br />

seiner Frau, nämlich der<br />

achtzehnjährigen Patriziertochter<br />

Maria Sibylla Fleischbein, nicht bezahlen<br />

wollte, die er 1693 in zweiter<br />

Ehe geheiratet hatte; diese hatte sich,<br />

bevor die Ehe geschieden wurde, teuer<br />

einkleiden lassen und bei Göthé<br />

z.B. eine mit grünem Samt bezogene<br />

Schnürbrust in Auftrag gegeben sowie<br />

ein Manteau aus gelb gestreifter<br />

Seide, verziert mit silbernen Borten.<br />

Der Rechtshistoriker Prof. Dr. Michael<br />

Stolleis ist der kuriosen Prozessakte<br />

(sie liegt im Frankfurter<br />

Institut für Stadtgeschichte) historisch-juristisch<br />

nachgegangen und<br />

hat daraus das Theaterstück „Textor<br />

versus Göthé“ gemacht.<br />

„Allem Leben, allem Tun, aller<br />

Kunst muss das Handwerk vorausgehen,<br />

welches nur in der<br />

Beschränkung erworbe n wird.<br />

Eines recht wissen und ausüben<br />

gibt höhere Bildung als Halbheit<br />

im Hundertfältigen.“<br />

Wilhelm Meisters Wanderjahre I, 12<br />

Als Johann Wolfgang v. Goethe<br />

an seiner Autobiographie „Dichtung<br />

und Wahrheit“ schrieb, so Joachim<br />

Seng, einer der Ko-Autoren des<br />

Buches, „hatte er sich - seine Mutter<br />

war 1808 in Frankfurt gestorben -<br />

Unterlagen, unter anderem auch die<br />

Erbteilung von seinem Großvater<br />

und auch andere Dokumente, zum<br />

Beispiel die Leichenrede, die damals<br />

gehalten wurde, ein mehrseitiges<br />

Dokument, das den Lebenslauf des<br />

Großvaters nochmal Revue passieren<br />

lässt, nach Weimar kommen lassen<br />

(…) Also, er hat sich sehr wohl<br />

dafür interessiert und wusste auch<br />

etwas darüber, aber offensichtlich<br />

wollte er es dann doch nicht erzählen.<br />

Der Großvater wird ja erwähnt,<br />

allerdings ohne Namen.“ Dass dieser<br />

nur an einer einzigen Stelle gestreift<br />

wird, hält Heiner Boehnke für „Verdrängungsprosa“;<br />

es sei sonderbar,<br />

dass Goethe sich für Handwerker<br />

interessierte, aber den eigenen Vorfahr<br />

in diesem Zusammenhang kaum<br />

beachtet. In der spannenden Recherche<br />

„Monsieur Göthé. Goethes unbekannter<br />

Großvater“ lässt sich all<br />

dies genauer erfahren, und noch viel<br />

mehr, z.B. inwiefern Goethe einen<br />

ausgeprägten Bezug zum Märchen<br />

„Das tapfere Schneiderlein“ hatte. Im<br />

Buch finden sich auch Informationen<br />

zum Schicksal verschiedener Bilder<br />

aus dem Familienbesitz, darunter die<br />

Porträts der Großeltern väterlicherseits<br />

(s. Abb.); obwohl sie mehrfach<br />

schriftlich vermerkt sind und vieles<br />

dafür spricht, lässt sich nicht mit Sicherheit<br />

sagen, ob die beiden Menschen<br />

auf den Abbildungen Goethes<br />

Großeltern sind. Die erste Auflage<br />

des Buches ist bereits vergriffen, erschienen<br />

ist nun eine Neuauflage als<br />

Extradruck.<br />

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz,<br />

Joachim Seng. Monsieur Göthé.<br />

Goethes unbekannter Großvater. Die<br />

Andere Bibliothek, 420 S., zahlr. Abbildungen.<br />

Berlin <strong>2018</strong>. 24,00 €<br />

Cornelia Frenkel


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 5<br />

Femme de lettres, Humanistin und<br />

deutsch-französische Mittlerin<br />

Vierbändige Werkausgabe Annette Kolb erschienen<br />

ihrem Mitstreiter René Schickele,<br />

der sich ebenfalls zwei verfeindeten<br />

Staaten zugehörig fühlte.<br />

„die wohltemperierte Stimmung<br />

einer Anzahl von Saiten, die uns<br />

von dem ersten bis zum letzten<br />

Wort festhält, bezaubert und beglückt.“<br />

Ernst Weiß über Annette Kolbs<br />

Roman „Daphne Herbst“<br />

Zwischen den Kriegen –<br />

Atempause in der Wahlheimat<br />

Badenweiler<br />

Zwischen 1919 und 1923 war<br />

Annette Kolb viel umhergereist,<br />

in Deutschland, Frankreich, Italien<br />

und der Schweiz, um durch Vorträge<br />

und Lesungen für Völkerverständigung<br />

zu werben. Sorgenvoll<br />

sieht sie sich mit einer zunehmend<br />

geistigen und materiellen Verelen-<br />

„Ob sie euch noch etwas zu sagen<br />

haben wird, und ob etwas von<br />

ihren Büchern noch bleiben wird,<br />

wenn sie tot ist, das sind Fragen,<br />

die nur ihr werdet beantworten<br />

können“.<br />

Annette Kolb. Befohlenes<br />

Selbstporträt für Quartaner, 1932<br />

Die<br />

Texte von Annette Kolb<br />

(1870 – 1967) sind für die Literaturgeschichte<br />

wertbeständig, sie ermöglichen<br />

dem Leser an mehreren<br />

Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts<br />

in Europa teilzunehmen, die<br />

von barbarischen Kriegen geprägt<br />

waren, aber auch von der Sehnsucht<br />

nach Kultur, Verständigung<br />

und Freundschaft. Die Sprache unserer<br />

Vorfahren, der Geist und die<br />

Gefühle, die ihren Büchern innewohnen,<br />

können uns daran erinnern<br />

– ohne sie würde uns Wesentliches<br />

fehlen.<br />

Um uns davor zu bewahren, hat<br />

die Deutsche Akademie für Sprache<br />

und Dichtung zum 50. Todestag<br />

von Annette Kolb eine vierbändige<br />

Werkausgabe ediert, die deren<br />

Textproduktion erstmals in vollem<br />

Umfang sichtbar und zugänglich<br />

macht. Sorgfältige Kommentare<br />

der Herausgeber Hiltrud und Günter<br />

Häntzschel erleichtern den Zugang<br />

zu den Romanen, Erzählungen, Essays,<br />

Reisebeschreibungen, Übersetzungen,<br />

Feuilletontexten und<br />

„Briefen einer Deutsch-Französin“<br />

(1916) ebenso wie ein einführender<br />

Essay des Literaturkritikers Albert<br />

von Schirnding. Annette Kolbs vielschichtiges<br />

Werk ist nicht nur Geschichte,<br />

sondern enthält durchaus<br />

aktuelle Perspektiven auf intellektuelle<br />

und politische Fragen; beispielhaft<br />

bleibt zudem der Wagemut dieser<br />

femme de lettres. Rainer Maria<br />

Rilke wollte Annette Kolb für ihren<br />

Roman „Das Exemplar“ (1913), in<br />

dem es um eine Reise nach England<br />

geht, mit der die Protagonistin ein<br />

abgebrochenes Gespräch wiederaufnehmen<br />

will, „mit Blumen überschütten“.<br />

Für Thomas Mann war<br />

die grazile Lady ebenfalls eine singuläre<br />

Figur, er hat sie als „Annette<br />

Scheurl“ im „Doktor Faustus“<br />

porträtiert. Nicht zuletzt setzte ihr<br />

Franz Blei in seinem „Großen Bestiarium<br />

der modernen Literatur“<br />

(1922) ein Denkmal; er bezeichnet<br />

sie als „Edelziege von vornehmem<br />

Pedigree“ und charakterisiert sie<br />

ferner durchaus schmeichelhaft als<br />

Frau, die den Umbruch im Verhältnis<br />

der Geschlechter sehr avantgardistisch<br />

gestaltet habe. Kolbs bekannteste<br />

Werke sind vielleicht der<br />

autobiographisch grundierte Roman<br />

„Die Schaukel“ (1934) sowie die<br />

„Briefe einer Deutsch-Französin“<br />

(1916).<br />

Zwischen zwei Nationen<br />

Annette Kolb war Tochter einer<br />

Französin und eines Deutschen, sie<br />

hatte fünf Geschwister; der Vater<br />

wirkte meisterhaft als Gartenbau-<br />

Architekt im Botanischen Garten<br />

München; die Mutter Sophie Danvin<br />

entstammte einer französischen<br />

Künstlerfamilie, war Pianistin und<br />

führte in München einen Salon,<br />

dem Franz Liszt und Richard Wagner<br />

nicht fern blieben. Für Annette<br />

Kolb war ihre Herkunft äußerst<br />

prägend, die Konsequenzen der<br />

deutsch-französischen Kriege seit<br />

1870/71 gingen ihr durch Mark und<br />

Bein; von Kind an gehörten Familie<br />

und Völkerverständigung für sie<br />

zusammen, was sich von ihren ersten<br />

Prosaskizzen (1899) bis hin zu<br />

ihrem letzten „Selbstporträt“ zeigt.<br />

Die Zugehörigkeit zu zwei Ländern<br />

erlebte sie als Bereicherung, doch<br />

ebenso als Zwiespalt, wie sich in ihren<br />

teils sarkastischen Artikeln über<br />

die politische Situation in Europa<br />

erweist sowie anhand biographischer<br />

Porträts von Romain Rolland,<br />

Gustav Stresemann, Aristide Briand<br />

und anderen Personen, die sich<br />

um Völkerverständigung und einen<br />

„Kriegsächtungspakt“ bemühten.<br />

Kolb hatte zunächst eine Klosterschule<br />

besucht, in der sie unter<br />

der Frömmelei und emotionalen<br />

Abgestumpftheit der Nonnen leidet;<br />

daraus entwickelte sie eine<br />

antiklerikale Haltung, obwohl sie<br />

sich gleichzeitig als Katholikin<br />

verstand und den Protestantismus<br />

bespöttelte – vieles dazu findet sich<br />

in ihrer autobiographischen Erzählung<br />

„Torso“ (1905). Schließlich<br />

durfte sie zwar ein Lehrinstitut in<br />

München besuchen, bedauerte aber<br />

später eine mangelnde Ausbildung.<br />

Nichtsdestoweniger ist die brillante<br />

Autodidaktin von Jugend an sehr<br />

selbständig und lernt im Salon ihrer<br />

Mutter Kunst und Künstler kennen;<br />

zu ihren Büchern zählen auch eine<br />

Mozart- und eine Schubert-Biographie.<br />

Der Durchbruch als Schriftstellerin<br />

gelang ihr mit dem Roman<br />

„Das Exemplar“.<br />

„Mein Leben wird letzten Endes<br />

vor allem die Geschichte eines Gedankens<br />

gewesen sein, der einer<br />

deutsch-französischen Verbrüderung,<br />

deren Zusammenbruch ich<br />

erfahren musste“.<br />

Annette Kolb 1920<br />

Erster Weltkrieg<br />

Als Annette Kolb vom Ausbruch<br />

des Ersten Weltkriegs erfährt, will<br />

sie Europas Denker und Schriftsteller<br />

dagegen entflammen, stößt<br />

aber insbesondere in Deutschland<br />

auf Granit. Bei ihrer ersten pazifistischen<br />

Rede 1915 in Dresden wird<br />

sie niedergeschrien und wegen ihrer<br />

„Briefe einer Deutsch-Französin“<br />

(1916), in denen sie mit den<br />

Regierenden beider Länder scharf<br />

ins Gericht geht, gilt sie rechts und<br />

links des Rheins als Vaterlandsverräterin;<br />

ihre Post wird überwacht<br />

und das Kriegsministerium untersagt<br />

ihr Kontakte ins Ausland. 1916<br />

emigriert sie, mit Hilfe Walther Rathenaus,<br />

in die Schweiz, wird aber<br />

weiterhin beschattet. In materieller<br />

und moralischer Hinsicht erhält sie<br />

Unterstützung von René Schickele,<br />

Romain Rolland und Harry Graf<br />

Kessler. Von ihrer Emigration in<br />

die Schweiz (1917-1919) handelt<br />

das Tagebuch „Zarastro“. Nach dem<br />

Krieg fühlte sich die Tochter zweier<br />

Nationen, die für eine Verständigung<br />

der Feinde eintrat, ihrer Heimatstadt<br />

München entfremdet; zunächst<br />

lebt sie unstet, lässt sich aber<br />

1923 in Badenweiler nieder, neben<br />

dung konfrontiert, mit Antisemitismus<br />

und Hass auf den „Erbfeind“<br />

Frankreich. Zwischen den Kriegen,<br />

von ihrer Wahlheimat Badenweiler


6 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

aus, spielt Kolb eine wichtige Rolle<br />

im deutschen Literaturbetrieb,<br />

genießt Anerkennung und ist sehr<br />

produktiv; ihre Romane, etwa die<br />

Familiensaga „Daphne Herbst“<br />

(1928) sowie „Die Schaukel“, ein<br />

Sittengemälde des Münchner Großbürgertums,<br />

spielen zwar vor 1914,<br />

sind aber teils erst später geschrieben<br />

worden.<br />

NS-Zeit, Zweiter Weltkrieg und<br />

wieder Exil<br />

Die „Vogesen vor Augen,<br />

Deutschland im Rücken“, lebte sie<br />

in guter Nachbarschaft zur Familie<br />

ihres Schicksalsgenossen René<br />

Schickele, der bereits Ende 1932<br />

Zuflucht in Südfrankreich suchte<br />

und 1940 verstarb. 1932 veröffentlicht<br />

Annette Kolb ihr sogenanntes<br />

„Beschwerdebuch“, das knapp skizzierte<br />

Beobachtungen aus den vergangenen<br />

Jahren zusammenstellt;<br />

sie handeln von Schönheitsfehlern<br />

des Rundfunks, von bedenklichen<br />

Entwicklungen in Literatur und<br />

Musik und den neuesten Irrwegen<br />

des militarisierten Nationalismus.<br />

Kolb beklagt hier den Übelstand<br />

der Welt, aber nicht im Ton einer<br />

pathetisch Entrüsteten, aber sie<br />

fühlt sich verletzt. Doch selbst bei<br />

bitterstem Sarkasmus dürfen Anmut<br />

und Grazie in ihrer Diktion nicht<br />

fehlen, wenn sie die Aktionen beschreibt,<br />

mit denen der Faschismus<br />

„sein Kommen bereitet“, indem er<br />

die Gemüter vernebelt. Für sie, die<br />

Einzelgängerin, die sich intellektuell<br />

nicht verwursten ließ und gerade<br />

deshalb viel Selbstkritik benötigte,<br />

steht die verantwortungsbewusste<br />

Persönlichkeit über allem.<br />

In ihrem 1960 veröffentlichten<br />

Text „Memento“ beschreibt sie<br />

unter der Überschrift „1933“ den<br />

Abschied von ihrem geliebten Badenweiler,<br />

bevor sie sich erneut ins<br />

Exil gezwungen sieht, zunächst in<br />

die Schweiz, dann nach Paris und<br />

nach dem Einmarsch deutscher<br />

Truppen 1940 auf abenteuerlichen<br />

Wegen nach Lissabon und 1941<br />

nach New York − da ist sie über<br />

70 Jahre alt. In New York bleibt<br />

sie auf Almosen angewiesen. Als<br />

sie 1945 in den „tiefdurchfurchten<br />

europäischen Alltag“ zurückkehrt,<br />

waren nicht nur Städte und Häuser<br />

zerstört, sondern Freunde und Kollegen<br />

verstorben, verschollen oder<br />

deportiert. Bereits in „Vernichtete<br />

Existenzen“ (1939) hatte sie dies<br />

thematisiert, in vielen späteren Artikeln<br />

blickt sie einfühlend auf einstige<br />

Weggenossen zurück, etwa auf<br />

Reinhold Schneider, Klaus Mann<br />

und Jean Giraudoux.<br />

Nach 1945 – Lichtgestalt der<br />

deutsch-französischen Beziehungen<br />

Zunächst 1945 in Paris und ab<br />

1961 in München fühlt sie sich erneut<br />

aus der Zeit gefallen und stellte<br />

als Emigrantin unbequeme Fragen,<br />

die zunächst niemand hören wollte.<br />

Doch ihr Engagement für die<br />

deutsch-französische Aussöhnung<br />

wird diesmal fruchtbar – in beiden<br />

Ländern wird sie Zug um Zug mit<br />

Ehrungen bedacht, vom Großen<br />

Verdienstkreuz der Bundesrepublik<br />

Deutschland bis zum französischen<br />

Pour le mérite. Sie avanciert zur<br />

Lichtgestalt der Verständigung,<br />

zum „Gewissen Europas“, und ihr<br />

Werk wird als „Roman europäischer<br />

Erziehung“ bezeichnet. Die<br />

„citoyenne de deux patries“ sieht<br />

sich mit dem Goethepreis der Stadt<br />

Frankfurt bedacht und erhält im<br />

Jahr 1955 das Ehrenbürgerrecht<br />

Badenweilers, im dortigen Kurhaus<br />

ist heute ein Saal nach ihr benannt.<br />

Das „Fräulein Kolb“, das lebenslang<br />

keinem Disput aus dem Weg<br />

gegangen und vielen Schriftstellern<br />

und Politikern Europas eine<br />

Freundin war, hatte schon 1920 den<br />

Herausgeber des „Literarischen<br />

Echos“ gebeten, er möge, statt einer<br />

biographischen Skizze, vermerken:<br />

„Mein Leben wird letzten Endes<br />

vor allem die Geschichte eines Gedankens<br />

gewesen sein, der einer<br />

deutsch-französischen Verbrüderung,<br />

deren Zusammenbruch ich<br />

erfahren musste“.<br />

Ein Markenzeichen von Annette<br />

Kolb waren bizarre Hüte sowie ein<br />

leise naives Auftreten, womit sie<br />

vermutlich ihren unbeirrbaren Blick<br />

kaschieren wollte, mit dem sie das<br />

Zeitgeschehen immer scharfzüngig<br />

beobachtet hat; eine Qualität ihrer<br />

Literatur ist das unerschrockene<br />

Wort. Bevor sie 97jährig in München<br />

verstarb, hatte sie eine letzte<br />

Flugreise nach Israel geführt. Es<br />

ist ein wichtiges Signal, dass die<br />

Deutsche Akademie für Sprache<br />

und Dichtung sich derzeit engagiert,<br />

zentrale Werke deutschsprachiger<br />

Autorinnen des 20. Jahrhunderts<br />

besser zugänglich zu machen, zu<br />

denen etwa Irmgard Keun, Hermynia<br />

Zur Mühlen und Annette Kolb<br />

gehören. Wie sehr letztere das Ge-<br />

Annette Kolb auf der Terasse © Münchner Stadtbibliothek, Monacensia F.46<br />

sicht der jungen Bundesrepublik<br />

mitprägte, zeigen die Bilder des<br />

Fotografen Stefan Moses, der seine<br />

Aufgabe darin sah, Menschen<br />

zu fotografieren, „bevor sie verlorengehen“;<br />

er porträtierte u.a.<br />

Heinrich Böll, Willy Brandt, Meret<br />

Oppenheim und eben die hochbetagte<br />

Annette Kolb. Die Münchner<br />

Stadtbibliothek verwahrt<br />

übrigens deren Nachlass (www.<br />

muenchner-stadtbibliothek.de/<br />

monacensia) und trägt maßgeblich<br />

dazu bei, Kolbs Werk immer wieder<br />

ins öffentliche Bewusstsein zu<br />

bringen. Das Literarische Museum<br />

Tschechow-Salon in Badenweiler<br />

(www.badenweiler.de) leistet<br />

dazu ebenfalls einen essentiellen<br />

Beitrag. Doch mit den nun erstmals<br />

greifbaren „Werken“ kann<br />

die Gedankenwelt von Annette<br />

Kolb endlich „neue Freunde gewinnen“,<br />

wie es sich der Romanist<br />

Ernst Robert Curtius schon 1955<br />

gewünscht hat.<br />

Annette Kolb. Werke. Hg. i. A. der<br />

Deutschen Akademie für Sprache<br />

und Dichtung und der Wüstenrot<br />

Annette Kolb beim <strong>Zeitung</strong>slesen<br />

© Münchner Stadtbibliothek, Monacensia (Signatur AK F 46)<br />

Stiftung von Hiltrud und Günter<br />

Häntzschel. Mit einem Essay von<br />

Albert von Schirnding. Bibliothek<br />

Wüstenrot Stiftung. Autorinnen des<br />

20. Jahrhunderts. 4 Bde., 2.260 S.,<br />

39 Abb., im Schuber. 49 €<br />

Stefan Moses. Deutschlands Emigranten.<br />

Nimbus Verlag 2013<br />

Cornelia Frenkel


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 7<br />

Stich ins Auge des Kapitalismus<br />

Jason Hickels Sachbuch „Die Tyrannei des Wachstums“ stellt das globale Wachstum in Frage<br />

Jason Hickel steht dem Kapitalismus<br />

und seinen Wachstumsversprechen<br />

kritisch gegenüber.<br />

Vielleicht sogar feindselig, denn<br />

seine Kritik an der wie selbstverständlichen<br />

Spaltung der Welt in<br />

Arm und Reich kommt hart und<br />

umfassend. Auch wenn die große<br />

Hoffnung ausbleibt, bleibt ein beeindruckend<br />

facettenreiches Buch<br />

über eine große, fatale Lüge.<br />

Wir sehen eine Welt und die ist<br />

entzweigerissen. Eine ganz gängige<br />

Phrase und auch das Covermotiv<br />

von Jason Hickels Sachbuch Die<br />

Tyrannei des Wachstums. Die große<br />

Nordkugel ragt dabei gefräßig über<br />

der Südhalbkugel. Was für die Fressenden<br />

Wachstum ist, ist für die Gefressenen<br />

Tyrannei. Und denen will<br />

Hickel seine Stimme leihen. Eine<br />

Kampfschrift also? Gerechtigkeitssuche<br />

mindestens.<br />

Die Dringlichkeit seines Anliegens,<br />

die strukturellen und historisch<br />

vertieften Ungerechtigkeiten des<br />

Globalen Nordens gegenüber dem<br />

Globalen Süden herauszuarbeiten,<br />

lässt Hickel nie vergessen. Seine<br />

Abrechnung geht in die Breite, stützt<br />

sich auf Daten, hinterfragt aber auch<br />

deren Quellen. Sein Zugang bleibt<br />

hart, schnell, aber auch von Akribie<br />

geprägt. Auf gut 400 Seiten erwartet<br />

man schließlich einiges und obwohl<br />

Hickel mit seiner breiten Perspektive<br />

an vielen Punkten kürzen<br />

muss, erhalten LeserInnen massig<br />

Informationen und Denkansätze.<br />

Schließlich gilt es, große Zusammenhänge<br />

zu verstehen. Hickel als<br />

Anthropologe und Lehrer an der<br />

London School of Economics verbindet<br />

dabei Handfestes mit Philosophischem.<br />

Handfestes bereits<br />

beim Titel des ersten Kapitels: „Der<br />

Entwicklungswahn“. Um die Kluft<br />

zu beschreiben, die Nord und Süd,<br />

Jason Hickel, Anthropologe und Lehrer an der London School of Economics<br />

Reich und Arm trennt, gilt es ein<br />

Paradigma zu erfassen, das Vielen<br />

noch unhinterfragt scheint: Jenes<br />

der guten Entwicklungshilfe wie<br />

man sie durch Spendenaufrufe und<br />

Werbung nur allzu gut kennt.<br />

Die Leistung Hickels ist, dass er<br />

nicht nur Fakten beschreibt, sondern<br />

auch jene Ideologien und Denkmuster,<br />

die erst „Fakten“ schaffen.<br />

Bewusstseinsbildung transparent<br />

gemacht also. Im Falle der Entwicklungshilfe<br />

zeigt Hickel auf, dass<br />

man nicht von gutem Willen sprechen<br />

kann, vielmehr von Abschätzigkeit<br />

und Manipulation. Dem Entwicklungsparadigma<br />

liegt nämlich<br />

die Annahme zugrunde, dass Europa<br />

und die Länder Nordamerikas<br />

entwickelter seien als jene des Globalen<br />

Südens, der dem gegenüber<br />

als zurückgeblieben verbleibt, mit<br />

seinen falschen Werten und politischen<br />

Vorstellungen. Darauf gründet<br />

ein Wohlbefinden, das vielleicht so<br />

manchem besser bekannt sein dürfte,<br />

als er zugeben mag. Denn durch<br />

die Entwicklungshilfe erhalten die<br />

reichen Länder eine erhabene, quasi<br />

religiöse Position. „Diese neue Perspektive<br />

eröffnete ihnen den Zugang<br />

zu einer höheren, beinahe kosmologischen<br />

Mission. Die entwickelten<br />

Länder konnten sich als Leuchtfeuer<br />

der Hoffnung zeigen, als Retter<br />

der Bedürftigen. Sie würden ihnen<br />

die helfende Hand reichen, sie großzügig<br />

an ihren Reichtümern teilhaben<br />

lassen und so den ‚primitiven‘<br />

Ländern des Globalen Südens dazu<br />

verhelfen, ihnen auf dem Weg zum<br />

Erfolg zu folgen.“ Der giftige Tonfall<br />

Hickels, der sich gegenüber jener<br />

Gönnerhaltung entlädt, entbehrt<br />

natürlich selbst nicht den Stolz des<br />

Kritikers.<br />

Aber er hat Gründe. Denn während<br />

der Hunger weltweit immer<br />

weiter zunimmt, wirkt die Idee<br />

dieses Paradigmas immer weniger<br />

überzeugend. Und fundamental<br />

anders gefragt: Vielleicht rührt die<br />

Armut ja auch gar nicht von natürlichen,<br />

strukturellen Gegebenheiten<br />

in den armen Ländern. Man ahnt es<br />

schon: Die Entwicklungshilfe soll<br />

von etwas ablenken, genauer einer<br />

Schuld, die den „entwickelten<br />

Ländern“ eher anzulasten ist als jenen<br />

armen auf der Welt. Statistisch<br />

kehrt Hickel heraus, dass das Geld,<br />

das die betroffenen Länder an Entwicklungshilfe<br />

erhalten weit unter<br />

dem liegt, was diese an finanziellen<br />

Verlusten erleiden. Jene, die Entwicklungsgelder<br />

bewilligen, sind<br />

dabei ironischerweise oft jene, die<br />

Foto: Guddi Singh<br />

Schulden eintreiben oder aggressiv<br />

Patentrechte einfordern, kurz:<br />

jene Länder, die das Beste aus dem<br />

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Ungleichgewicht der Welt machen.<br />

Große Gönner wie die Gates Foundation<br />

schließen lebensrettende<br />

Medikamente über Patente weg,<br />

ein Global Player wie die Weltbank<br />

profitiert von der enormen Staatsverschuldung<br />

des Globalen Südens<br />

und Charity-Idol Bono genießt all<br />

das Geld, das er den armen Ländern<br />

über ein parasitäres Steueroasensystem<br />

nimmt. Das sind für sich<br />

genommen natürlich keine neuen<br />

Fakten. Hickel versteht es aber<br />

dennoch, diese auf schlüssige Weise<br />

einem Denkansatz gegenüberzustellen,<br />

der effektiv vor diesen Fakten<br />

schützt. So banal es also auch<br />

klingt, so sehr existiert es weiter<br />

in den Köpfen: Wer gibt, der kann<br />

ZGH 0147/09 · 05/18 · Foto: peterheck.de


8 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

JASON HICKEL<br />

DIE<br />

TYRANNEI DES<br />

WACHSTUMS<br />

doch gleichzeitig nicht nehmen!<br />

Eben doch. „Wie schon zu Trumans<br />

Zeiten dient Entwicklungshilfe als<br />

eine Art Propaganda, die die Nehmer<br />

als Geber darstellt und verschleiert,<br />

wie die globale Wirtschaft wirklich<br />

funktioniert.“ Wer damit aufräumen<br />

will, muss aus diesem Denken raus.<br />

Hickel praktiziert das mit seinem<br />

Buch auf vorbildliche Weise.<br />

Hickels Vorgehen ist durch und<br />

durch investigativ geprägt. Zunächst<br />

einmal nimmt er dezidiert die „Erfolge“<br />

des Entwicklungsparadigmas<br />

auseinander. Präzise und mit<br />

kritischem Blick beweist Hickel,<br />

wie einfach man Statistiken manipulieren<br />

kann. Eben kein Problem,<br />

wenn man als stolzer Geber Armutsgrenzen<br />

sehr niedrig ansetzt oder<br />

Armutbekämpfungserfolge sanft in<br />

Zeiträume verschiebt, für die man<br />

eigentlich gar keine Verantwortung<br />

trägt. So weist man Erfolge vor, die<br />

dann rechtfertigen, dass ein kapitalistisches<br />

Wachstumssystem mit<br />

seiner Gewinnmaximierung auch<br />

für die armen Länder immer etwas<br />

bieten kann. Oder: Gebe den Reichen<br />

und auch für die Ärmsten sickert<br />

noch genug durch. Die Trickle-down-Theorie,<br />

die man vor allem<br />

noch aus Thatchers Zeiten kennt,<br />

bester Neoliberalismus.<br />

Die wirklichen Gründe für die<br />

globale Ungerechtigkeit, die wirkliche<br />

Tyrannei sucht Hickel im Mittelteil<br />

seines Buches historisch auf,<br />

abseits all der Blendwerke einer<br />

modernen Entwicklungswirtschaft.<br />

Schließlich: „Die Entwicklungshilfeindustrie<br />

hat uns darauf gedrillt, in<br />

kurzen Zeiträumen zu denken.“ Dabei<br />

war Armut nicht immer mit dem<br />

Süden assoziiert. Um 1500 noch<br />

gab es nur wenige Unterschiede<br />

zwischen Europa und dem Rest der<br />

Welt, teils lag das Lebensniveau<br />

in Ländern wie Lateinamerika, Indien<br />

oder Asien sogar über dem<br />

von Europa. Aber das änderte sich,<br />

denn bekanntermaßen gab es da den<br />

Kolonialismus, den Hickel als eine<br />

Begründung des heute vorherrschenden<br />

Armutsspiegels der Welt erklärt.<br />

Gerade die große industrielle Revolution<br />

war als kolonialistisch organisiertes<br />

„Outsourcing“ landintensiver<br />

Produktionen ein echter Erfolg und<br />

trieb die Länder des Südens einem<br />

beispiellosen Verfall durch Ausbeutung<br />

entgegen. Durch die Sklaverei<br />

wiederum erhielten die Vereinigten<br />

Staaten zwischen 1619 und 1865 222<br />

Milliarden Stunden erzwungener<br />

Arbeit. Stoff auf dem Weltreiche<br />

ruhen. Der Raub von Ressourcen,<br />

Land und Arbeitskräften ließ das<br />

große Wirtschaftswachstum Europas<br />

erst möglich werden. Aber auch<br />

domani<br />

möbel<br />

innerhalb Europas fanden entsprechende<br />

Enteignungen statt. Im England<br />

des 18. und 19. Jahrhunderts<br />

wurde gemeinschaftlich genutztes<br />

Land im großen Stil von Kleinbauern<br />

genommen und in die industrielle<br />

Massenproduktion eingebunden.<br />

Diese „Enclosure“-Bewegung, die<br />

schon im Mittelalter begann, kannte<br />

viele Aufstände, schließlich aber<br />

auch viele Tote, Flüchtlinge und wie<br />

man weiß, verarmte Landarbeiter in<br />

den großen Fabrik- und Industriemetropolen.<br />

Das Wachstumsrezept<br />

Großbritanniens: „Es waren diese<br />

drei Kräfte – Akkumulation von<br />

Wohlstand, massenhafte Vertreibung<br />

von Kleinbauern und die Schaffung<br />

Wie globale Ungleichheit<br />

die Welt spaltet und was dagegen<br />

zu tun ist<br />

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eines Verbrauchermarktes –, welche<br />

die internen Voraussetzungen für die<br />

industrielle Revolution schufen. Die<br />

externen Voraussetzungen hatten [...]<br />

mit der Kolonisierung von Amerika<br />

und dem Sklavenhandel zu tun.“ Es<br />

ist schwer, den bissigen Zynismus<br />

Hickels angesichts der Reihung<br />

perverser Ungerechtigkeiten nicht<br />

mitzudenken. Guter Empath, der er<br />

ist, weiß Hickel genau, wann die<br />

Faktenlage schwerwiegend genug<br />

ist, um die Wut auf wenigen Worten<br />

zu ballen. Entsprechend lautet eine<br />

Kapitelüberschrift: „Wie Großbritannien<br />

die Länder Asiens unterentwickelte“.<br />

Schließlich war für eine schrankenlose,<br />

rücksichtslose Wirtschaft<br />

die Öffnung aller Länder notwendig.<br />

Ein Land wie China, das sich wohlweißlich<br />

dem Weltmarkt verweigerte,<br />

wurde mit den Opiumkriegen<br />

schließlich dazu gezwungen und<br />

wirtschaftlich niedergerungen. Die<br />

Kolonialzeit Indiens bietet einen<br />

weiteren Beleg für die erzwungene,<br />

neue „freie“ Marktwirtschaft und<br />

ein gutes Beispiel für das, was Globalisierung<br />

schon früh bedeutete. Als<br />

diese Zeit wiederum eine Kehrtwende<br />

erfahren sollte, mit progressiven<br />

Denkern wie Mahatma Gandhi,<br />

Marcus Garvey sowie einem neuen<br />

Entwurf für eigene, selbststärkende<br />

Volkswirtschaften in den ehemals<br />

armen Ländern des Globalen Südens,<br />

wussten die reichen Länder<br />

richtig zu intervenieren. Putsche<br />

und Militärdiktaturen legen davon<br />

ein erschreckendes Zeugnis ab, das<br />

Hickel im Kontrastverfahren nur<br />

zu gerne demonstriert. Das erfolgreiche<br />

Wirtschaftswachstum durch<br />

die Etablierung einer gerechten inländischen<br />

Wirtschaftspolitik in den<br />

Ländern des Globalen Südens steht<br />

totaler Verarmung, Mord und Korruption<br />

gegenüber – Dinge, die den<br />

Staatsstreichen in Ländern wie Kongo,<br />

Chile, Ghana, Iran oder Brasilien<br />

unverzüglich folgten. Wohlstand<br />

auf Kosten ausgebeuteter Länder<br />

auch in der zweiten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts und ein wesentlicher<br />

Grundstein für die bestehende Armut.<br />

„Die westlichen Mächte haben<br />

unzählige Versuche, echte Unabhängigkeit<br />

zu erreichen, vereitelt, was<br />

ein ziemlich ironisches Licht auf<br />

das historische Image des Westens<br />

als leuchtendes Vorbild für Demo<br />

kratie und Volkssouveränität wirft.“<br />

Als auch diese Phase ein Ende fand,<br />

sahen sich die gebeutelten Länder<br />

als arm und nahmen gerne oder mit<br />

Zwang Kredite auf, um in der entfesselten<br />

Weltwirtschaft Stand halten<br />

zu können. Strukturanpassungsprogramme<br />

durch den Internationalen<br />

Währungsfond (IWF) sollten ihnen<br />

schließlich dabei helfen, die Schulden<br />

auch wieder zurückzuzahlen. Massiver<br />

Sozialabbau, wie man ihn vor<br />

wenigen Jahren auch in Griechenland<br />

beobachten konnte. So gelang es den<br />

Geldgebern, erneut Kontrolle über die<br />

Wirtschaftspolitik der nunmehr längst<br />

wieder armen Länder zu verschaffen<br />

und diese dem neoliberalen Credo der<br />

Gewinnmaximierung zu unterwerfen.<br />

„Es wurde ihnen eine ‚Rück-Entwicklung‘<br />

im Namen der Entwicklung<br />

aufgezwungen.“ Wer sich geweigert<br />

hätte, hätte sich der Gefahr eines Militärputsches,<br />

etwa durch die USA,<br />

ausgesetzt, der natürlich auch eine<br />

wirtschaftliche Öffnung des Landes<br />

erzwungen hätte.<br />

Die Laune der LeserInnen dürfte<br />

sich während der Lektüre kaum<br />

bessern, schließlich führt Hickel die<br />

Ausbeutung der Länder des Globalen<br />

Südens in allen Phasen und bis heute<br />

vor. Schließlich besteht der Neoliberalismus<br />

noch immer und buhlt um<br />

ein Bruttoinlandprodukt, das kaum<br />

im Interesse bedürftiger Menschen<br />

sein kann. Dumpingpreise für Landwirtschaft,<br />

Sexarbeit oder die Verweigerung<br />

von Patentmedizin für AIDS-<br />

Kranke in Afrika sind harsche Folgen<br />

einer gewinnorientierten Politik. Steuerhinterzieher,<br />

Landräuber, Klimaverächter<br />

verstärken die grässlichen Folgen<br />

bis heute und vermutlich bis weit<br />

in die Zukunft. Die mächtigen Konzerne<br />

wie IWF und Weltbank bleiben<br />

indes immun, die gebeutelten Länder<br />

sind in Gremien und Räten unterrepräsentiert,<br />

Absprachen der echten Player<br />

finden in Nebenzimmern statt. Die<br />

Kluft zwischen Arm und Reich zieht<br />

sich überall hindurch und berührt alle<br />

Ebenen. Man ist ja auch erstaunt, wie<br />

gut alles aufeinander abgestimmt ist,<br />

wie absolut die Verweigerung eines<br />

gerechten Lebensstils. Man kann den<br />

Zorn Hickels ja auch nur verstehen.<br />

Nur will man auch verstehen, was<br />

Hickel für Lösungen hat. Angesichts<br />

der vernichtenden, historisch fundierten<br />

Ungerechtigkeiten können seine<br />

Hypothesen aber nur enttäuschen.<br />

Auf lediglich 70 Seiten sucht Hickel<br />

nach neuen Möglichkeiten, die Kluft<br />

durch Gerechtigkeit zu schließen,<br />

falsche Wohltätigkeit soll dabei bloß<br />

vergessen werden. Aber auch hier<br />

rutscht er immer wieder unstet in ein<br />

Konstatieren weiterer negativer Entwicklungen<br />

ab, als wäre sein eigener<br />

Glaube doch etwas unsicher, als wären<br />

seine Lösungen freundliches Schulterklopfen<br />

für einen geschändeten Leichnam.<br />

Vor allem bleibt Wut: „Würde<br />

die US-Regierung die globale Armut<br />

wirklich ausmerzen wollen, sollte sie<br />

vielleicht, statt Entwicklungshilfe zu<br />

zahlen, die Strukturanpassungsprogramme<br />

beenden, gegen die weit verbreitete<br />

Steuervermeidung vorgehen<br />

und unfaire Handelsgesetze abschaffen<br />

– drei der führenden Ursachen für<br />

Armut überhaupt.“ Immerhin begeht<br />

Hickel den Fehler nicht, seinen Untersuchungsgegenstand<br />

vorher nicht<br />

ausreichend konturiert zu haben, nur<br />

bleiben seine konstruktiven Änderungsvorschläge<br />

eher Appell, Ideenwerkstatt,<br />

Diskursgrundlage als<br />

durchdachtes Gegenmodell: „Die unerlässliche<br />

Verrücktheit der Fantasie“.<br />

Aber vielleicht auch nur der Durst der<br />

LeserInnen nach mehr Hoffnung bei<br />

all der beeindruckend niederschlagenden,<br />

scharfen Betrachtung. Der<br />

Riss bleibt erst einmal bestehen.<br />

Jason Hickel, Die Tyrannei des<br />

Wachstums, dtv München <strong>2018</strong>.<br />

Fabian Lutz


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 9<br />

Mit den Waffen der Kunst<br />

Es geht nicht etwa um den Streit,<br />

welche Kunst nun die richtige sei.<br />

Auch nicht darum, welche Mittel der<br />

Kunst am meisten zuträglich seien.<br />

Ein Hund, der sein Geschäft verrichtet,<br />

ist vielmehr die entsprechende Metapher.<br />

Die Coverabbildung des neuesten<br />

Kunstbandes – Doris H. Lehmann<br />

(Hg.): „Vom Streit zum Bild. Bildpolemik<br />

und andere Waffen der Künstler“<br />

– vom wissenschaftlichen Kunstbuchverlag<br />

ad picturam in Merzhausen bei<br />

Freiburg wurde einmal mehr zielsicher<br />

ausgewählt und lässt an der thematischen<br />

Originalität seines Inhalts keine<br />

Zweifel.<br />

Völlig klar, hier kommt keine Langeweile<br />

auf. Wenn Künstler streiten, ist<br />

die Phalanx ihrer Kriegsmittel überaus<br />

imposant. Nur dass es sich um keine<br />

Farbpalette handelt, derer sie sich bedienen.<br />

Ihre bildnerischen Kämpfe sind<br />

eher thematischer Art – meist geführt<br />

mit spitzem Bleistift – und zuweilen<br />

an Frivolität kaum zu überbieten. Insofern<br />

verspricht dieser Band eingangs<br />

Einiges an Unterhaltung.<br />

Dennoch wäre dies zu kurz gegriffen.<br />

Erneut gelang der Verlegerin Carmen<br />

Flum nach ihrer letzten Publikation<br />

„Künstlerhelden“ die Verquickung<br />

eines exotischen Themas mit dem Anspruch<br />

hehrer Wissenschaft. Erschienen<br />

ist der aktuelle Band im Rahmen<br />

des DFG-Projekts „Streitstrategien<br />

bildender Künstler in der Neuzeit“<br />

mit Beiträgen von Helen Barr, Giuseppe<br />

Capriotti, Cristina Fontcuberta<br />

Originelle Neuerscheinung des Freiburger Kunstbuchverlags ad picturam<br />

i Famadas, Ekatarina Kepetzis, Petra<br />

Kunzelmann, Doris H. Kunzelmann<br />

und Charlotte Mende, welche indes<br />

nicht immer so flüssig und leicht daherkommen,<br />

wie es die Titelabbildung<br />

vielleicht zunächst suggeriert.<br />

Interessant sind die verschiedenen<br />

Ausführungen allemal und ausnahmslos.<br />

So entstammt der geschäftige<br />

Hund der Feder keines Geringeren<br />

als Rembrandt van Rijn, findet sich<br />

dort aber nur am Rande – wiewohl<br />

im Vordergrund – seiner Radierung<br />

„Der barmherzige Samariter“ (1633).<br />

Ein Bilddetail und Rätsel, das bereits<br />

Kunsthistoriker wie Heinrich Wölfflin<br />

irritierte, ist ein defäkierender Köter<br />

doch in der biblischen Vorlage gar nicht<br />

vorgesehen. Dennoch ist es gerade der<br />

Hund, der die Blicke des Betrachters<br />

auf sich zieht. Was steckt dahinter?<br />

Ein humoristischer Ausrutscher des<br />

Künstlers? Sozialkritik? Oder fußt des<br />

Rätsels Lösung doch wesentlich tiefer?<br />

Doris H. Lehmanns Ausführungen<br />

– von ihr, die zugleich Herausgeberin<br />

dieses Bandes ist, stammt dieser<br />

interessante Beitrag – zeigen auf, wie<br />

intermediale Untersuchungen zu ganz<br />

neuen Ergebnissen führen können, wo<br />

vormals auf rein bildnerische Vorlagen<br />

beschränkte Forschungsmethoden versagten.<br />

Zum Beispiel ergibt die Einbeziehung<br />

der Sprichwort-Forschung<br />

unter Berücksichtigung eines für den<br />

Künstler (historisch belegten) relevanten<br />

Streits eine plausible Lesart für<br />

dieses Werk.<br />

Gerade die Unmittelbarkeit des Sehens<br />

in einer mit den visuellen Mitteln<br />

der Kunst geführten Auseinandersetzung<br />

vermag eine wesentlich deutlichere<br />

Direktheit als sie etwa mit abstrakten<br />

Worten zu erzielen wäre. Dies<br />

zeigt sich nicht nur an Rembrandts<br />

Beispiel, sondern wird besonders augenscheinlich,<br />

wenn Künstler wie Kurt<br />

Schwitters oder Neo Rauch ihre Kunstkritiker<br />

mittels Karikaturen verhöhnen.<br />

In deren Offenheit zeigt sich auch die<br />

Emanzipation der Gegenwartskunst, die<br />

grundsätzlich keine Kritik (vielmehr<br />

keine Kriterien) mehr zulässt.<br />

Subtil historisierend, gewürzt mit raffinierten<br />

Bildzitaten, weist Neo Rauch<br />

seine Kunstkritiker in ihre Grenzen.<br />

Allerdings nur, sofern diese „eliminatorische<br />

Zielsetzungen“ verfolgen. Dann<br />

aber gerät ihm der Pinsel zur Waffe,<br />

obwohl er den destruktiven Schwätzern<br />

„am liebsten eins auf die Nase geben“<br />

würde. Da das aber nicht erlaubt ist,<br />

greift er zu den legitimen Mitteln der<br />

Kunst, die sich, heute mehr denn je,<br />

durch nichts und niemanden einschränken<br />

lassen.<br />

Die Instrumentalisierung von Kunstwerken<br />

als Waffen bildender Künstler<br />

reicht indes gar bis ins Mittelalter oder<br />

weiter in der Kunstgeschichte zurück<br />

und richtete sich mitnichten nur gegen<br />

Kunstverächter. Manch einem dienten<br />

sie als Motor schöpferischer Kreativität.<br />

Darüber hinaus lassen sich jedoch auch<br />

regelrechte Fehden konkurrierender<br />

und sich gegenseitig bekämpfender<br />

Künstler bezeugen. Sie nutzten ihre<br />

Bilder als Bühnen, auf denen sie ihre<br />

Kämpfe öffentlich austrugen. Dass der<br />

Kreativität hierbei keinerlei Grenzen<br />

gesetzt waren, versteht sich von selbst.<br />

„Künstlerstreit wurde und wird im Bild<br />

verhandelt, indem auf einer von in der<br />

Regel mehreren Leseebenen kritische<br />

Inhalte adressenorientiert kommuniziert<br />

wurden“, so die Herausgeberin.<br />

Dass diese Art der Auseinandersetzung<br />

nicht zu verwechseln ist mit dem<br />

sogenannten „Künstlerstreit“ (auch genannt<br />

„Paragone“ oder „Wettstreit der<br />

Künste“), muss an sich nicht eigens<br />

betont werden, gestaltete sich dieser<br />

doch auf eher hehre Weise. Diesem gegenüber<br />

kannten die Waffen der Künstler<br />

kein Pardon, waren sie erst einmal<br />

gezückt. Welch unterschiedliche Strategien<br />

sich hieraus entwickeln konnten,<br />

zeigen die einzelnen Beiträge in diesem<br />

Band auf.<br />

Eine Konstante lässt sich mit dem<br />

motivischen Einsatz von Hunden dennoch<br />

ausmachen, der immerhin auf<br />

eines der ältesten und international am<br />

weitesten verbreiteten Schimpfworte<br />

zurückgeht. Hierin unterscheidet sich<br />

auch die Gegenwart nicht von der<br />

Tradition. Noch heute werden Kontrahenten<br />

im Bild verhöhnt, beleidigt und<br />

gedemütigt – entmannt, enthauptet und<br />

vernichtet. Ein Fass ohne Boden, möchte<br />

man meinen. Dessen Inhalt hätte sich<br />

hie und da in den Texten vielleicht etwas<br />

lockerer aufbereiten lassen, wurde<br />

dafür aber umso ansprechender inszeniert.<br />

Letzteres ist allein der Verlegerin<br />

zu verdanken, die es mit Pfiff versteht,<br />

die zuweilen graue Eminenz der Wissenschaft<br />

geistreich zu verjüngen.<br />

Das E-Book ist auf arthistoricum.net<br />

dauerhaft frei verfügbar, die Printausgabe<br />

ist im Buchhandel oder über den<br />

Verlag erhältlich (ISBN 978-3-942919-<br />

04-3; 44,00 € [D]). Weitere Informationen<br />

unter http://ad-picturam.de.<br />

Friederike Zimmermann


10 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

Zumbiegel erlernt das Alphabet<br />

Satire aus dem akademischen Milieu von Dirk Schindelbeck<br />

DAS KLEINE SCHAUSPIELHAUS IN FREIBURG<br />

MUSICAL<br />

VON<br />

WILLIAM S.<br />

BURROUGHS<br />

ROBERT<br />

WILSON<br />

RATHAUSHOFSPIELE43<br />

UND<br />

TOM<br />

WAITS<br />

Rathausgasse 5a • 79098 Freiburg • 07 61/2 56 56<br />

Welch schöne Jahre, Jahre des<br />

Aufbruchs, der neuen Ideen! Drei<br />

Freunde waren sie, angetreten, die<br />

wissenschaftliche Welt aus den<br />

Angeln zu heben. Heinrich Zumbiegel<br />

war einer von ihnen – gewesen.<br />

Denn mit den Jahren war<br />

tiefe Entfremdung eingetreten,<br />

und schuld daran war allein das<br />

Alphabet. Niemand hatte seinerzeit<br />

mit der Arbeitsgemeinschaft<br />

Bütefisch, Schnarrhäuser-Knotenberger<br />

und Zumbiegel gerechnet.<br />

Auf einmal waren sie da, erregten<br />

Aufmerksamkeit in Wissenschaftskreisen.<br />

Und nach drei, vier Jahren<br />

hatten sie sich einen guten Namen<br />

erschrieben.<br />

Von da an aber wirkte, unmerklich<br />

erst, dann immer machtvoller,<br />

das gnadenlose Gesetz des Alphabets.<br />

Seit jeher gibt dieses ja die<br />

Reihenfolge der Autorennamen auf<br />

dem Buchdeckel vor. Dass unter<br />

solchen Voraussetzungen Zumbiegel<br />

niemals würde über einen Nebeneintrag<br />

in den Bibliotheks-Katalogen<br />

hinauskommen, war ihm<br />

von Anfang an bewusst gewesen.<br />

Mit der Souveränität des Intellektuellen<br />

hatte er dem Umstand aber<br />

nur wenig Bedeutung geschenkt.<br />

Was waren Bibliotheken, staubige<br />

Listen? Die Öffentlichkeit wertete<br />

mit Sicherheit anders und würde<br />

Verdienst und Ruhm schon gerecht<br />

allen am Werk beteiligten Köpfen<br />

zugestehen.<br />

Zumbiegel sollte sich täuschen.<br />

Als er anfing, den Tatbestand in<br />

seiner Tragweite zu erfassen, waren<br />

aus Monaten Jahre geworden.<br />

Von da an verdüsterte sich sein Gemütszustand<br />

ebenso schleichend<br />

wie das Buch breitere Anerkennung<br />

erfuhr. Nach den ersten Rezensionen,<br />

in denen von der epochalen<br />

Leistung eines Bütefisch<br />

die Rede war, hatte sich Zumbiegel<br />

noch in Selbstironie geflüchtet.<br />

Es gab ja immer wieder auch<br />

seriöse Besprechungen, in welchen<br />

das Werk bei voller Nennung aller<br />

Autoren gepriesen wurde. Dann<br />

folgten wieder Dutzende von Rezensionen<br />

über Bütefisch oder,<br />

wenn es hochkam, Bütefisch et<br />

al. Und ihrer wurden immer mehr<br />

– und ein entsprechend falscher<br />

Eindruck verfestigte sich in der<br />

Öffentlichkeit. Natürlich hatte<br />

Zumbiegel diesen Mechanismus<br />

The<br />

Black<br />

Rider<br />

08.08.<br />

BIS<br />

02.09.<br />

<strong>2018</strong><br />

wallgraben-theater.com<br />

durchschaut: Weil Bütefisch vorn<br />

stand, galt er vielen unfähigen <strong>Zeitung</strong>sschreibern<br />

automatisch als<br />

Leiter der Arbeitsgruppe – womit<br />

sich für sie die Nennung der anderen<br />

Autoren erübrigte.<br />

Es kam der Tag, an dem Zumbiegel<br />

dies nicht länger hinnehmen<br />

wollte. Eine dümmliche, wieder<br />

nur Bütefisch lobende Sudelbesprechung<br />

nahm er zum Anlass,<br />

den verantwortlichen Redakteur<br />

zur Rede zu stellen. Was bekam<br />

er zur Antwort? Platznot habe die<br />

Nennung aller Namen verhindert.<br />

Bütefisch, Schnarrhäuser-Knotenberger<br />

und Zumbiegel passten<br />

eben nicht in die <strong>Zeitung</strong>sspalte<br />

mit 37 Anschlägen. Zumbiegel<br />

nahm den Bescheid entgegen – die<br />

Zahl der Anschläge war korrekt<br />

angegeben – und blieb zerknirscht.<br />

Seine Gedanken begannen um<br />

Schnarrhäuser-Knotenberger zu<br />

kreisen. Wenn er den Kollegen<br />

überzeugen könnte, auf einen<br />

Teil seines Namens zu verzichten,<br />

dann passten sie doch alle drei in<br />

die Spalte...? Zumbiegel organisierte<br />

ein Treffen und trug ihm<br />

den Plan einer Namensverkürzung<br />

vor. Etwa Schnarrhäuser-K. oder<br />

– kühner – Schnarrberger, eventuell<br />

auch Schnarrknoter. Doch<br />

der Kollege schüttelte den Kopf.<br />

Und eröffnete Zumbiegel, dass<br />

sein Name bereits eine Konzession<br />

darstelle. Vor seiner Verehelichung<br />

mit ihm habe seine Frau<br />

Knotenberger-Kopetzky geheißen.<br />

In langen Diskussionen sei es ihm<br />

gelungen, wenigstens im wissenschaftlichen<br />

Verkehr den Kopetzky<br />

unterdrücken zu dürfen. Dafür<br />

müsse Knotenberger immer gedruckt<br />

werden. Diese Lösung, als<br />

sozusagen äußerste Kompressionsstufe,<br />

enthalte keine weiteren Reduktionsmöglichkeiten.<br />

Zumbiegel<br />

nahm den Bescheid entgegen und<br />

blieb zerknirscht.<br />

Währenddessen mehrte das<br />

Werk seinen Ruhm. Anfragen kamen,<br />

selbstverständlich immer an<br />

Bütefisch, zu wissenschaftlichen<br />

Tagungen und Kongressen. Bütefisch<br />

– das muss der Gerechtigkeit<br />

halber gesagt werden – war fair<br />

genug, die Einladungen auch an<br />

seine Mitstreiter weiterzugeben.<br />

Eines Tages vertrat Zumbiegel<br />

die Arbeit der Gruppe auf einem<br />

wissenschaftlichen Symposium.<br />

Schon als er den Saal betrat, hörte<br />

er Tuscheln: „Ist das nicht einer<br />

von der Bütefisch-Truppe.“ Es<br />

La Qualitá ha un Nome<br />

dauerte nicht lange, bis man ihn<br />

offen ansprach: „Haben Sie nicht<br />

auch an dem großen Bütefisch-<br />

Buch mitgeschrieben?“ Zumbiegel<br />

nickte wie geistesabwesend...<br />

Noch im Abgang von der Tagung<br />

hörte er hinter sich: „Das war doch<br />

ein Bütefischer, nicht?“<br />

Der vernichtendste Schlag aber<br />

kam erst auf der Buchmesse. Angereist,<br />

im Namen des Teams das<br />

Spitzenprodukt des Hauses zu<br />

vertreten, strebte er selbstbewusst<br />

hinter den Stand. Eine Verlags-<br />

Repräsentantin, die in ihm nicht<br />

den Autor erkannte, sondern einen<br />

dreisten Messebesucher, trat<br />

ihm in den Weg. Bedeutungsvoll<br />

wies Zumbiegel auf das kunstvoll<br />

zu einem Buchturm aufgeschichtete<br />

Werk der Arbeitsgruppe und<br />

erklärte, er sei Autor. Süffisant<br />

gab die Dame zurück: „Sie sind<br />

Beiträger“. Wieder das Alphabet!<br />

Zumbiegel blieb zerknirscht.<br />

In seiner Depression vergrub er<br />

sich in Lektüre. Vom berühmten<br />

Institut für Sozialforschung hatte<br />

er zwar häufig gehört, aber bis<br />

dato nur Bruchstückhaftes gewusst.<br />

Jetzt las er sich ein, vertiefte<br />

sein Wissen. Unweigerlich<br />

stieß er auf die Namen Adorno,<br />

Benjamin, Horkheimer, Marcuse.<br />

Als er die Studien zum autoritären<br />

Charakter in die Hand nahm,<br />

das Werk, welches Adorno in den<br />

Staaten erst bekannt gemacht hatte,<br />

fuhr er wie elektrisiert hoch.<br />

Nach seiner Emigration in die<br />

USA 1938 hatte es Wiesengrund-<br />

Adorno vorgezogen, sich in The-<br />

Ihr Partner für die<br />

feine italienische Küche<br />

Inh. Edmund Huber e.K.<br />

Robert-Bunsen-Str. 6 · 79108 Freiburg<br />

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Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 11<br />

fuhr wie benommen hoch: Richtig,<br />

er war diesen Namen schon<br />

im realen Leben begegnet. Doch<br />

Zumbiegel blieb klug und verschwiegen.<br />

In ihm arbeitete ein<br />

teuflischer Plan. Hatte er nicht,<br />

mithilfe von Zwick und Zytkow,<br />

die Chance seines Lebens, aus<br />

Leidensgenossen die idealen Mitarbeiter<br />

zu rekrutieren, um das<br />

Herkuleswerk „Ruhmgerechtigkeit“<br />

mit verdreifachter Energie<br />

zu vollenden?<br />

Der Start der wissenschaftlichen<br />

Arbeitsgemeinschaft Zumbiegel,<br />

Zwick und Zytkow begann verheißungsvoll.<br />

Geschickt versuchte<br />

Zumbiegel, seine Mitstreiter zu<br />

höherer Produktivität anzuregen.<br />

Doch so gut ihre Namen mit dem<br />

seinen harmonierten, ihr Talent<br />

und ihr Fleiß waren beschränkt.<br />

Immer wieder blieb ihm selbst<br />

die meiste Arbeit zu tun übrig.<br />

Die heimliche Rechnung, sich mit<br />

ihrer Hilfe jenen Ruhm zurückzuholen,<br />

der ihm einst als Bütefisch<br />

et al vorenthalten worden war, sie<br />

schien nicht aufzugehen.<br />

Trotz aller Widerstände schritt<br />

das Werk voran. Es gelang, einen<br />

Verleger zu finden, der die auf 26<br />

Bände angelegte Gesamtausgabe<br />

engagiert betreuen wollte. Schon<br />

nach vier Jahren lag das Manuskript<br />

des ersten Teilbandes „Bedeutungsgerechtigkeit,<br />

Band 1,<br />

Aaa - Aru“ beim Verlag. Zumbiegel,<br />

voller Vorfreude, lud Zwick<br />

und Zytkow zu sich nach Hause<br />

ein. Man trank Tee, unterhielt sich<br />

freundschaftlich, scherzte. Dann,<br />

wie auf ein Zeichen, zogen beide<br />

Dokumente aus ihren Taschen.<br />

Zwick hatte am Tag zuvor geheiratet<br />

und den Namen seiner Frau<br />

angenommen: er nannte sich nun<br />

Adelung-Zwick. Zytkow hingegen<br />

hatte vor kurzem und unerwartet<br />

aus einem polnischen Archiv Unterlagen<br />

zugesandt bekommen. Er<br />

sei, was er zuvor nicht gewusst<br />

habe, aus einem alten Adelsgeschlecht<br />

und heiße von Zytkow.<br />

Für die Deckel der 26 Bände ergebe<br />

sich die neue Autoren-Reihenfolge:<br />

Adelung-Zwick, von<br />

Zytkow, Zumbiegel...<br />

In dieser Nacht verlief Zumbiegels<br />

Lieblingstraum ungewohnt.<br />

Er betrat seine Bibliothek. Der<br />

Buchbinder war soeben damit<br />

beschäftigt, die „Studien zum<br />

autoritären Charakter“ neu aufzubereiten,<br />

jenes epochale Werk<br />

von Robert Newitt Sanford und<br />

anderen. Zumbiegel schaute ihm<br />

interessiert über die Schulter. Auf<br />

dem Deckel waren die platzfressenden<br />

Namen der Mitautoren<br />

bereits getilgt. Eben sollte auch<br />

der Schmutztitel neu gesetzt werden.<br />

Plötzlich geriet Zumbiegel in<br />

Wallung. Das konnte er, aus der<br />

Kenntnis des Werkes, auf keinen<br />

Fall hinnehmen. Wenigstens musste<br />

doch, der Fairness halber, eingefügt<br />

werden: Unter Mitarbeit von<br />

Theodor Adorno.<br />

Lust auf was Neues?<br />

Orbis Pictus als Werbezugabe der Firma Erdal Rex von<br />

ca. 1912.<br />

Diese Reklamemarkenserie umfasste ein ganzes Alphabet<br />

mit entsprechenden, auf das Produkt bezogenen Zweizeilern<br />

mit „pädagogischem Mehrwert“.<br />

Hier werden die akademischen Titel Dr. und Prof abgebildet<br />

(waagerecht und senkrecht)<br />

aus Privatarchiv<br />

odor W. Adorno umzubenennen,<br />

aus ästhetischen Gründen, wie es<br />

hieß. Zumbiegel durchschaute den<br />

Fall sofort. Schließlich sprach das<br />

Ergebnis für sich: Von vier Autoren,<br />

welche die Studie gemeinsam<br />

verfasst hatten – die Namen von<br />

Else Frenkel-Brunswik, Daniel J.<br />

Levinson, Robert Nevitt Sanford<br />

passten doch in keine <strong>Zeitung</strong>sspalte!<br />

– blieb am Ende auf dem<br />

Buchdeckel stehen: Adorno et<br />

al. Was für ein Coup! Den Nachnamen<br />

so zu verkürzen, dass er,<br />

amerikanischem Geschmack entsprechend<br />

wie ein abgekürzter<br />

Vorname daherkam und locker an<br />

den andern vorbeizog!<br />

Mit was für Spätfolgen für die<br />

Wissenschaft! Marketing-Adorno,<br />

in die Welt hinausposaunt, um<br />

ein Forschungsgebiet mit seinem<br />

Namen zu bekleben und in jedem<br />

Arbeitszusammenhang, vor allem<br />

im Hinblick auf den genialen Benjamin,<br />

diesen stets hinter sich zu<br />

lassen. Beim Börsenverein des<br />

Buchhandels, den Grossisten, den<br />

Buchhändlern, den Bibliotheken,<br />

den Redakteuren, in den Seminarankündigen,<br />

den Literaturlisten,<br />

Glossaren und Apparaten, Marketing-Adorno<br />

stand vorn, vorn,<br />

vorn. Was war er, Zumbiegel, doch<br />

für ein Dilettant! Hatte er, in vorgerücktem<br />

Alter, überhaupt noch<br />

Möglichkeiten, verlorenen Boden<br />

gut zu machen? Wenn er sich etwa<br />

zum Biegel nannte, am besten in<br />

der abgekürzten Version z. Biegel.<br />

Es mochte Bibliotheken geben, die<br />

ihn dann unter B und nicht unter<br />

z einordneten. Aber wenn er sich<br />

ehrlich befragte, musste er einräumen,<br />

dass diese Strategie nicht<br />

trug.<br />

Dafür war sein Forschungsinteresse<br />

entflammt. Zumbiegel<br />

machte sich an das Projekt „Bedeutungsgerechtigkeit“.<br />

Bis jetzt<br />

hatte noch niemand den empirisch<br />

gesicherten Nachweis erbracht, in<br />

welchem Ausmaß bei gleichrangigen<br />

Autoren die vom Alphabet<br />

Begünstigten automatisch profitierten,<br />

die hinten Stehenden unverschuldet<br />

Benachteiligungen erlitten<br />

bis hin zu lebenslänglichen<br />

Karriereblockaden. Vor diesem<br />

Herkuleswerk war noch jeder andere<br />

zurückgeschreckt. Zumbiegel<br />

nicht. Ihn trieb es, erstmals handfestes<br />

Zahlenmaterial vorzulegen.<br />

Ihm schwebte so etwas vor wie<br />

ein Ruhm-Indikator in Form einer<br />

hochgestellten Ziffer hinter jeden<br />

Autorennamen – als Koeffizient<br />

und Kennzahl für zuviel bzw. zuwenig<br />

in der Öffentlichkeit zugestandener<br />

Bedeutung.<br />

In dieser Lebensphase angestrengten<br />

wissenschaftlichen<br />

Arbeitens überkam Zumbiegel ein<br />

wiederkehrender Traum. Er betrat<br />

den Büchersaal einer einzigartigen<br />

Bibliothek: die Bibliothek der reziproken<br />

Registrierungen. Hier<br />

wurde jedes neu eintreffende, von<br />

Autorenkollektiven verfasste Buch<br />

aufmerksam begutachtet, geprüft<br />

und – sofern die schreiberischen<br />

Anteile als gleichwertig befunden<br />

wurden – der vom Alphabet<br />

diktierten Autoren-Reihenfolge<br />

entkleidet. In der eigenen Buchbinderei<br />

wurden neue Buchdeckel<br />

angefertigt, ebenso die Schmutztitel<br />

und die Literaturangaben in den<br />

Apparaten und Anhängen: alles in<br />

liebevoller Handarbeit neu gesetzt.<br />

Das Endergebnis waren sauber gebundene<br />

Gemeinschaftswerke in<br />

umgekehrter Reihenfolge der Autoren-Nennungen.<br />

Immer wieder<br />

stöhnte Zumbiegel während seines<br />

Lieblingstraums lustvoll auf.<br />

Eines nachts wurde sein Traum<br />

empfindlich gestört. Zwei rüde<br />

Personen drängten sich vor –<br />

Zwick und Zytkow. Zumbiegel<br />

> in der Physiotherapie<br />

> auf den Pflegestationen<br />

> in der Haustechnik<br />

> im Speisesaal*<br />

* als FSJ oder als Nebenjob auf 450-Euro-Basis<br />

Fachkliniken für Medizinische Rehabilitation<br />

in Kooperation mit dem Deutschen Roten Kreuz<br />

✓ Sozial engagieren<br />

✓ anpacken und etwas bewegen<br />

✓ Pluspunkte fürs Studium sammeln<br />

✓ Erfahrung sammeln<br />

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12 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

Vom Sprachunterricht zum sprachsensiblen<br />

Fachunterricht<br />

Das Promotionskolleg Deutsch als Fremd- und Zweitsprache<br />

„Ohne Deutsch kann man hier<br />

nichts machen ...“*– so der Kommentar<br />

eines zugewanderten<br />

Schülers in einer nordrhein-westfälischen<br />

Vorbereitungsklasse. In<br />

der Tat sind Bildungserfolg und<br />

Sprachkompetenzen eng miteinander<br />

verzahnt, wie zahlreiche Studien<br />

belegen. Neu zugewanderte<br />

Schülerinnen und Schüler stehen<br />

dabei vor besonderen Herausforderungen:<br />

Die Sprache, die sie erwerben,<br />

ist zugleich Medium des Unterrichts.<br />

Dabei sind sie gefordert,<br />

sich innerhalb vergleichsweise kurzer<br />

Zeit bildungs- und fachsprachliche<br />

Varietäten des Deutschen<br />

anzueignen. Überdies gilt es, sich<br />

mit den Regeln und Regularitäten<br />

des deutschen Schulsystems, mit<br />

Arbeits- und Sozialformen etc. vertraut<br />

zu machen. Dieser Prozess der<br />

schulischen Erstintegration wird –<br />

deutschlandweit – über unterschiedliche<br />

schulorganisatorische Modelle<br />

realisiert: Das Spektrum reicht von<br />

speziellen Vorbereitungsklassen<br />

(Paralleles Modell) über integrative<br />

und teilintegrative Modelle bis zur<br />

Submersion, wo neu zugewanderte<br />

Kinder und Jugendliche unmittelbar<br />

in eine Regelklasse eingegliedert<br />

werden und an allgemeinen Sprachfördermaßnahmen<br />

teilnehmen. Das<br />

Ziel all dieser Modelle ist es, den<br />

Schülerinnen und Schülern einen<br />

erfolgreichen Übergang in das<br />

Regelsystem zu ermöglichen und<br />

die Weichen für eine gelingende<br />

Bildungsbeteiligung zu schaffen.<br />

Bislang ist über die Wirksamkeit<br />

dieser Modelle wenig bekannt und<br />

Unterricht in einer Vorbereitungsklasse<br />

hinsichtlich der curricularen Inhalte<br />

und den Möglichkeiten zielführender<br />

Unterrichtskonzeptionen<br />

besteht noch Forschungsbedarf. In<br />

diesem Kontext ist das im August<br />

2017 gestartete Promotionskolleg<br />

Deutsch als Fremd- und Zweitsprache<br />

„Vom Sprachunterricht zum<br />

sprachsensiblen Fachunterricht“<br />

angesiedelt.<br />

denen sich das Promotionskolleg<br />

widmet.<br />

Das Promotionskolleg DaF/DaZ<br />

ist ein gemeinsames Projekt der<br />

sechs Pädagogischen Hochschulen<br />

in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe,<br />

Ludwigsburg, Schwäbisch Gmünd<br />

und Weingarten und wird vom Ministerium<br />

für Wissenschaft, Forschung<br />

und Kunst Baden-Württem-<br />

schulischen Handlungsfelder, die<br />

Lehrkräfte in den Vorbereitungsklassen<br />

darin unterstützen, die neuen<br />

Schülerinnen und Schüler auf<br />

die sprachlichen Anforderungen im<br />

Fachunterricht gezielt vorzubereiten<br />

(Irene Bundschuh, PH Freiburg).<br />

In einem weiteren Promotionsvorhaben<br />

werden lehrerseitige interaktive<br />

Praktiken im fachsensiblen<br />

Die Mitglieder des Promotionskollegs DaF/DaZ: „Vom fachsensiblen Sprachunterricht zum<br />

sprachsensiblen Fachunterricht“<br />

rende und Lernende in der Vorbereitungsklasse<br />

und später im Fachunterricht<br />

gestellt werden, betreffen<br />

jedoch nicht alleine das Erlernen<br />

bildungssprachlicher Varietäten für<br />

eine erfolgreiche Partizipation am<br />

Regelunterricht. Im Unterricht mit<br />

neu zugewanderten Schülerinnen<br />

und Schülern ist von verschiedenen<br />

Dimensionen der Heterogenität auszugehen,<br />

die alle gleichermaßen berücksichtigt<br />

werden müssen. Dazu<br />

gehören unterschiedliche Schulerfahrungen,<br />

das Aufwachsen in unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen<br />

und kulturellen Systemen, unterschiedliche<br />

Sprachlernerfahrungen<br />

bzw. unterschiedliche Sprachbiographien.<br />

Diese heterogenen Voraussetzungen<br />

sind allerdings nicht<br />

allein unter dem Blickwinkel der<br />

Herausforderung zu sehen, eröffnen<br />

sie doch zugleich Möglichkeiten,<br />

unter Kooperation verschiedener<br />

Fachdisziplinen, (sprach-)pädagogische<br />

Antworten auf eine erfolgreiche<br />

Teilhabe am Bildungsprozess<br />

zu finden.<br />

So birgt die sprachliche Heterogenität<br />

enorme Potenziale, die<br />

lernförderlich genutzt werden<br />

können und sollten. In Vorbereitungsklassen<br />

findet sich eine große<br />

Sprachenvielfalt: Die Lerngruppen<br />

setzen sich aus verschiedenen Herkunftsländern<br />

zusammen und viele<br />

Lernende sind mehrsprachig. Das<br />

heißt, dass die meisten bereits Erfahrungen<br />

mit Sprachen und Sprachenlernen<br />

gemacht haben. Hier<br />

ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten,<br />

das Sprachbewusstsein der<br />

Lernenden über Sprachvergleich<br />

und Reflexion über Sprachen heranzuziehen<br />

und so den Erwerbsprozess<br />

im Deutschen zu unterstützen.<br />

Mit der Frage, ob und inwiefern<br />

Mehrsprachigkeit im Klassenraum<br />

berücksichtigt wird, befasst sich<br />

u.a. das Promotionsprojekt von Saskia<br />

Alber-Mack (PH Schwäbisch<br />

Gmünd). Erfahrungsorientiertes lexikalisches<br />

Lernen an literarischen<br />

Texten in einer mehrsprachigen<br />

Lerngruppe steht im Fokus des Teilprojekts<br />

an der PH Karlsruhe (Ute<br />

Filsinger).<br />

Die einzelnen Forschungsvorhaben<br />

im Promotionskolleg sind komplementär<br />

und einander ergänzend<br />

zu verstehen. Am Ende der dreijährigen<br />

Förderphase sollen Angebote<br />

zur Professionalisierung von Lehrerinnen<br />

und Lehrern entwickelt und<br />

evaluiert werden.<br />

Mehr Informationen unter:<br />

https://www.ph-freiburg.de/deutsch/<br />

forschung/promotionskolleg-dafdaz.html<br />

Prof. Dr. Gabriele Kniffka (Leitung)<br />

Jun.-Prof. Dr. Nadja Wulff (Koordination)<br />

Institut für Deutsche Sprache und<br />

Literatur<br />

Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

*Ohne Deutsch kann man hier<br />

nichts machen. Film (2007) von<br />

Paul Schwarz im Auftrag der Stiftung<br />

Mercator, Essen<br />

Es nimmt sich der Herausforderung<br />

an, in Vorbereitungs- und Regelklassen<br />

Sprachkompetenzen in<br />

enger Verzahnung mit Fachinhalten,<br />

die für die spätere erfolgreiche<br />

Integration in den Fachunterricht<br />

notwendig sind, aufzubauen. Wie<br />

können neu zugewanderte Kinder<br />

und Jugendliche, die möglicherweise<br />

durch Migration bzw. Flucht<br />

wertvolle Schulzeit verloren haben,<br />

sprachlich auf den Fachunterricht<br />

vorbereitet werden? Welches<br />

Sprachwissen und welche Sprachhandlungen<br />

sind für die Vermittlung<br />

von Fachinhalten relevant? Und wie<br />

können angehende und bereits praktizierende<br />

Lehrkräfte in Sprachlernklassen<br />

und im Fachunterricht unterstützt<br />

werden? Dies sind Fragen,<br />

berg mit insgesamt 1,65 Mio. Euro<br />

gefördert. Das Promotionskolleg ist<br />

als Netzwerk aller Pädagogischen<br />

Hochschulen des Landes angelegt.<br />

In den sieben Teilprojekten, die jeweils<br />

von abgeordneten Lehrkräften<br />

bearbeitet werden, steht die sprachliche<br />

Bildung von neu zugewanderten<br />

Schülerinnen und Schülern<br />

in Vorbereitungs- und Regelklassen<br />

im Fokus des Forschungsinteresses.<br />

Ziel des Promotionsprogramms ist<br />

es, wissenschaftlich und empirisch<br />

begründete praxisnahe Maßnahmen<br />

zur Unterstützung von Lehrerinnen<br />

und Lehrern zu erforschen. So soll<br />

beispielsweise ein fächerübergreifendes<br />

Rahmencurriculum, mit<br />

Berücksichtigung der sprachlichen<br />

Anforderungen für die einzelnen<br />

Sprachunterricht untersucht (Markus<br />

Willmann, PH Freiburg). Kommunikative<br />

Aushandlungsprozesse<br />

im Unterricht werden in einem dritten<br />

Projekt in den Blick genommen<br />

und auf ihre Aneignungs- als auch<br />

Vermittlungslogik hin untersucht<br />

(Alev Kaya, PH Weingarten). An<br />

der PH Ludwigsburg wird auf der<br />

Grundlage einer Bedarfserhebung<br />

durch Fragebögen eine dreistufige<br />

Fortbildungssequenz entwickelt,<br />

implementiert und evaluiert (Andrea<br />

Thormählen). Handlungsorientierte<br />

Lehr-/Lernarrangements für<br />

den sprachsensiblen Technikunterricht<br />

in der Sekundarstufe werden<br />

an der PH Heidelberg entwickelt<br />

und erprobt (Martin Koch).<br />

Herausforderungen, vor die Leh-<br />

SPEZIAL<br />

<strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong><br />

Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber:<br />

Helmut Schlieper<br />

Christel Jockers<br />

Verlag:<br />

Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />

Auerstr. 2 • 79108 Freiburg<br />

Telefon: 07 61 / 72 072<br />

Fax: 07 61 / 74 972<br />

e-mail: redaktion@kulturjoker.de<br />

Redaktionsleitung:<br />

Christel Jockers<br />

Autoren dieser Ausgabe:<br />

Jens Bodemer<br />

Dr. Cornelia Frenkel<br />

Dr. Susanne Hartmann<br />

Fabian Lutz<br />

Dr. Dirk Schindelbeck<br />

Dr. Friederike Zimmermann u.a.<br />

Grafik:<br />

Christian Oehms<br />

Satz:<br />

Stephanie Pfefferle-Kienzle<br />

Druck:<br />

Rheinpfalz Verlag und Druckerei<br />

GmbH & Co. KG, Ludwigshafen<br />

Der Nachdruck von Texten und den vom<br />

Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher<br />

Genehmigung des Verlages.


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 13<br />

Berufliche Bildung<br />

Die Pädagogische Hochschule<br />

Freiburg erweitert zum Wintersemester<br />

<strong>2018</strong>/2019 ihr Angebot um drei<br />

Masterstudiengänge der beruflichen<br />

Bildung: M. Ed. Berufliche Bildung<br />

– Pflege/Wirtschafts- und Sozialmanagement;<br />

M. Sc. Berufspädagogik<br />

– Gesundheit/Wirtschafts- und Sozialmanagement<br />

und M. Sc. Berufspädagogik<br />

– Textiltechnik und<br />

Bekleidung/Wirtschaft.<br />

Die neuen viersemestrigen Masterstudiengänge<br />

bauen auf Bachelorstudiengängen<br />

der Pädagogischen<br />

Hochschule (Gesundheitspädagogik,<br />

B. Sc. für den Master<br />

der Studienrichtung Gesundheit),<br />

der Katholischen Hochschule Freiburg<br />

(Berufspädagogik im Gesundheitswesen,<br />

B.A. für den Master<br />

der Studienrichtung Pflege) bzw.<br />

der Hochschule Reutlingen (Textiltechnologie/Textilmanagement,<br />

B. Eng.) sowie der Hochschule<br />

Albstadt-Sigmaringen (Textil- und<br />

Bekleidungstechnologie, B. Eng.)<br />

für den Master der Studienrichtung<br />

Textiltechnik und Bekleidung/<br />

Wirtschaft auf. Mit der Hochschule<br />

Reutlingen und der Hochschule<br />

Albstadt-Sigmaringen bestehen bereits<br />

Lehrkooperationen. Gleichzeitig<br />

stehen die neuen Angebote auch<br />

Bewerberinnen und Bewerbern mit<br />

einem fachlich eng verwandten<br />

Bachelorabschluss anderer Hochschulen<br />

offen, in dem dort gelegte<br />

fachliche Grundlagen vertieft und<br />

Neue Masterstudiengänge an der Pädagogischen Hochschule Freiburg<br />

ergänzt werden.<br />

Die drei neuen Masterstudiengänge<br />

umfassen die Bereiche Bildungswissenschaften<br />

mit Berufs- und<br />

Wirtschaftspädagogik, Fachdidaktik<br />

und Schulpraktika sowie die Fachwissenschaft<br />

des jeweiligen Unterrichtsfachs.<br />

In der Studienrichtung<br />

Gesundheit werden darüber hinaus<br />

auch fachwissenschaftliche Inhalte<br />

der beruflichen Fachrichtung vermittelt.<br />

Im Master der Studienrichtung<br />

Textiltechnik und Bekleidung/<br />

Wirtschaft werden vor allem bildungswissenschaftliche<br />

Inhalte und<br />

Kompetenzen (Berufs- und Wirtschaftspädagogik,<br />

Fachdidaktik,<br />

Schulpraxis etc.) vermittelt, da davon<br />

ausgegangen wird, dass ein vertieftes<br />

ingenieurwissenschaftliches<br />

und wirtschaftswissenschaftliches<br />

Studium vorliegt.<br />

Der Abschluss des M. Ed. in der<br />

Fachrichtung Pflege ermöglicht den<br />

Einstieg in den Vorbereitungsdienst<br />

für das Höhere Lehramt an beruflichen<br />

Schulen sowie eine Lehrtätigkeit<br />

an staatlichen und privaten<br />

Pflegeschulen. Absolventinnen und<br />

Absolventen der beiden weiteren<br />

Fachrichtungen (Abschluss M. Sc.)<br />

streben eine Lehrtätigkeit in der<br />

beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />

an. In der Fachrichtung<br />

Gesundheit z.B. an Schulen des<br />

Gesundheitswesens. In der Fachrichtung<br />

Textiltechnik und Bekleidung<br />

sind es staatliche und private<br />

Gesundheitsberufe sind im Aufwind<br />

Mode- und Textilschulen sowie eine<br />

Tätigkeit in der Weiterbildung der<br />

Textil- und Modeindustrie.<br />

„Im Rahmen der Ausschreibung<br />

des landeseigenen Masterprogramms<br />

2016 konnte sich die<br />

Hochschule mit diesem Konzept<br />

zur beruflichen Bildung durchsetzen<br />

und ergänzt das bisherige<br />

Angebot der Beruflichen Bildung<br />

um drei Studienrichtungen mit<br />

insgesamt 45 Studienplätzen“, so<br />

Prof. Dr. Andy Richter, Studiengangleiter<br />

der Fachrichtung Pflege.<br />

„Ein Studienangebot dieser Art existiert<br />

bislang noch nicht in Baden-<br />

DAK- Pressfoto<br />

Württemberg“, berichtet die Studiengangleiterin<br />

der Fachrichtung<br />

Gesundheit, Dr. Andrea Warnke,<br />

und ergänzt, dass gegenwärtige und<br />

zukünftige Versorgungsbedarfe<br />

von Patientinnen und Patienten nur<br />

mit adäquat ausgebildetem Fachpersonal<br />

hinreichend gedeckt werden<br />

können. Prof. Dr. Anne-Marie<br />

Grundmeier, Studiengangleiterin<br />

der Fachrichtung Textiltechnik und<br />

Bekleidung, betont, dass dieses<br />

deutschlandweit das einzige Studienangebot<br />

neben dem Studienstandort<br />

an der RWTH Aachen ist.<br />

Die Immatrikulation ist jeweils<br />

zum Wintersemester möglich;<br />

Bewerbungsfrist ist der 15. Juli.<br />

Inhaltliche Fragen für die Fachrichtungen<br />

Pflege und Gesundheit<br />

beantwortet Dr. Andrea Warnke<br />

(andrea.warnke@ph-freiburg.de),<br />

für die Fachrichtung Textiltechnik<br />

und Bekleidung Prof. Dr. Anne-<br />

Marie Grundmeier (grundmeier@<br />

ph-freiburg.de)<br />

Prof. Dr. Anne-Marie Grundmeier<br />

Institut für Alltagskultur, Bewegung<br />

und Gesundheit/Fachrichtung<br />

Mode und Textil<br />

Prof. Dr. Andy Richter<br />

Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik/Fachbereich<br />

Fachdidaktik<br />

technischer Fachrichtungen<br />

Dr. Andrea Warnke<br />

Institut für Alltagskultur, Bewegung<br />

und Gesundheit/Fachrichtung<br />

Public Health & Health<br />

Education<br />

Pädagogische Hochschule<br />

Freiburg<br />

Freiburg Advanced Center of Education<br />

(FACE)<br />

Getragen von den Impulsen der<br />

ersten Phase der Qualitätsoffensive<br />

Lehrerbildung des Bundes wurden<br />

in der Lehrkräftebildung am Standort<br />

Freiburg neue Strukturen und<br />

Inhalte in Lehre, Forschung und<br />

Praxis etabliert. Dies erfolgt seit<br />

2015 im Kooperationsnetzwerk<br />

FACE (Freiburg Advanced Center<br />

of Education), zu dem sich die<br />

Albert-Ludwigs-Universität und die<br />

Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

zusammengeschlossen haben.<br />

Um die erreichten und weiter<br />

angestrebten Innovationen nachhaltig<br />

einzurichten, haben sich die<br />

Universität und die Pädagogische<br />

Hochschule nun darauf geeinigt, das<br />

Netzwerk FACE in eine „School of<br />

Education“ – unter Beibehaltung<br />

des Namens FACE – umzuwandeln.<br />

Als Rechtsform der „School“<br />

wurde eine „gemeinsame wissenschaftliche<br />

Einrichtung“ gemäß § 6<br />

Abs. 4 LHG gewählt. Damit ist die<br />

neue School of Education (FACE)<br />

unmittelbar den Rektoraten beider<br />

Hochschulen zugeordnet (zuständig:<br />

Prorektorin Prof. Dr. Juliane<br />

Besters-Dilger der Universität und<br />

Rektor Prof. Dr. Ulrich Druwe der<br />

Pädagogischen Hochschule).<br />

Mitglieder der School of Education<br />

(FACE) sind: alle Studierenden<br />

der Lehramtsstudiengänge<br />

Sekundarstufen I und II an beiden<br />

Hochschulen, an der Pädagogischen<br />

Hochschule alle Lehrenden im<br />

Lehramt, an der Universität Lehrende<br />

auf Antrag, die Mitarbeiter/-<br />

innen beider Hochschulen, die in<br />

Schwabentörle<br />

Oberlinden 23 . 79098 Freiburg<br />

Tel. 0761.6800565<br />

Fax 0761.6800567<br />

www.schwabentoerle.de<br />

info@schwabentoerle.de<br />

Öffnungszeiten<br />

Mo-Sa 11.00 – 15.00 Uhr<br />

17.00 – 01.00 Uhr<br />

Ruhetag<br />

Warme Küche<br />

täglich 11.30 – 14.00 Uhr<br />

17.30 – 22.00 Uhr<br />

Vom Kooperationsnetzwerk zur School of Education<br />

der Administration des FACE tätig<br />

sind, auf Antrag zur Promotion<br />

angenommenen Doktorand/-innen<br />

sowie Habilitand/-innen, die in Bereichen<br />

der Bildungsforschung wissenschaftlich<br />

arbeiten.<br />

Die operative Leitung von FACE<br />

liegt bei einem paritätisch besetzten,<br />

sechsköpfigen Direktorium,<br />

das aus seinen Reihen den/die<br />

geschäftsführende/n Direktor/-in<br />

und eine/n Stellvertreter/-in wählt;<br />

diese Kolleg/-innen werden demnächst<br />

benannt. Dem Direktorium<br />

ist eine Geschäftsstelle unterstellt,<br />

die sich mit Themen wie Studienkoordination,<br />

Studienberatung,<br />

Campusmanagement, Evaluation,<br />

Online-Unterstützungsstrukturen<br />

etc. befasst.<br />

Die dauerhafte Errichtung der<br />

School of Education (FACE) bedingt<br />

eine umfassende Reorganisation<br />

und Zusammenführung der<br />

bisher – gerade an der Universität<br />

– über Fakultäten und administrative<br />

Bereiche der Hochschulen zerstreuten<br />

Lehramtszuständigkeiten,<br />

um das Leitmotiv der „Lehrkräftebildung<br />

aus einer Hand“ strukturell<br />

zu erreichen. Parallel dazu muss<br />

auch der systematische Aufbau<br />

neuer Strukturen betrieben werden,<br />

etwa gemeinsame Gremien, vgl.<br />

Handlungsfeld Lehre. Zudem gilt<br />

es, neue hochschulübergreifende<br />

Verwaltungs- und Unterstützungsprozesse<br />

zu entwickeln und nachhaltig<br />

zu verankern. Hierzu gehört<br />

die Abstimmung des Student-Life-<br />

Cycles beider Hochschulen sowie<br />

die Umsetzung im Campusmanagementsystem<br />

HISinOne und Aufbau<br />

einer integrierten Lernplattform<br />

ILIAS.<br />

Die neue School of Education<br />

(FACE) weist drei Handlungsfelder<br />

auf: Handlungsfeld Lehre:<br />

Die Leitung haben kraft Amtes die<br />

beiden Prorektor/-innen Lehre und<br />

Studium von Universität und Pädagogischer<br />

Hochschule. Als weitere,<br />

jeweils paritätisch besetzte Gremien<br />

werden ein Gemeinsamer Studienausschuss<br />

sowie ein Gemeinsamer<br />

Prüfungsausschuss neu gebildet und<br />

zudem etabliert die Universität ein<br />

zentrales Lehrkräfteprüfungsamt.<br />

In siebzehn an beiden Hochschulen<br />

angebotenen Lehramtsfächern<br />

wurde ein Lehraustausch vereinbart:<br />

Die Universität liefert fachwissenschaftliche<br />

Angebote für die<br />

Pädagogische Hochschule und die<br />

Pädagogische Hochschule liefert<br />

die forschungsorientierte Fachdidaktik<br />

für die Universität. Damit<br />

gilt: Das Sekundarstufe-I-Lehramt<br />

und das Gymnasiale Lehramt wird<br />

grundsätzlich in FACE studiert, also<br />

immer an beiden Hochschulen; die<br />

Lehramtsstudierenden sind an beiden<br />

Hochschulen immatrikuliert.<br />

Die zukünftige Aufgabe von<br />

FACE besteht nun darin, die Lehrkräftebildung<br />

in Freiburg stetig zu<br />

verbessern. Hierzu wurde das „Freiburger<br />

Profil“ entwickelt, welches<br />

einen Focus auf die Herstellung<br />

von Kohärenz zwischen Fachwissenschaft,<br />

Fachdidaktik, Bildungswissenschaft<br />

sowie den schulpraktischen<br />

Anteilen des Studiums hat.<br />

Entsprechend wurden und werden<br />

besondere Lehrprojekte entwickelt<br />

(finanziert u.a. durch die zweite<br />

Phase der Qualitätsoffensive Lehrerbildung),<br />

evaluiert und im Erfolgsfall<br />

im Curriculum der Hochschulen<br />

verankert. Zudem bemühen<br />

sich die Hochschulen in Kooperation<br />

mit den Staatlichen Seminaren<br />

um eine systematische curriculare<br />

Abstimmung zwischen den beiden<br />

Phasen der Lehramtsausbildung.<br />

Handlungsfeld Forschung/Nachwuchsförderung:<br />

Die Leitung haben<br />

kraft Amtes die Sprecher/-innen des<br />

gemeinsamen Kompetenzzentrums<br />

empirische Bildungs- und Unterrichtsforschung<br />

(KeBU); aktuell<br />

Prof. Dr. Timo Leuders, Prof. Dr.<br />

Wolfram Rollett, beide Pädagogische<br />

Hochschule, und Prof. Dr.<br />

Alexander Renkl, Prof. Dr. Matthias<br />

Nückles, beide Universität. Im Rahmen<br />

des KeBU wurden und werden<br />

Nachwuchskollegs eingeworben und<br />

gemeinsame Forschungsprojekte zur<br />

Intensivierung der Bildungs- und<br />

Unterrichtsforschung vorbereitet.<br />

Aktuell laufen Kollegs zur Visualisierung,<br />

zur Förderung fachspezifischer<br />

und fachübergreifender<br />

Kompetenzen bei Lehrkräften und<br />

zu diagnostischen Kompetenzen.<br />

Weitere Informationen unter http://<br />

www.kebu-freiburg.de/.<br />

Handlungsfeld Praxis: Die Leitung<br />

haben kraft Amtes die Sprecher<br />

des Praxiskollegs; aktuell Prof.<br />

Dr. Lars Holzäpfel, Pädagogische<br />

Hochschule, und Prof. Dr. Wolfgang<br />

Hochbruck, Universität. Eingebunden<br />

ist zudem das Zentrum für<br />

Lehrkräftefortbildung (ZELF) der<br />

Pädagogischen Hochschule (Leitung:<br />

Dr. Patrick Blumschein). Das<br />

Praxiskolleg betreibt insbesondere<br />

die Vernetzung aller Akteure der<br />

Lehrkräftebildung am Standort Freiburg<br />

(den Seminaren für Didaktik<br />

und Lehrerbildung, den Schulen der<br />

Region, dem Regierungspräsidium<br />

und der Stadt). Den verschiedenen<br />

Akteuren werden zahlreiche Angebote<br />

unterbreitet, z.B. eine Ringvorlesung,<br />

zu denen hochkarätige<br />

Forscher/-innen eingeladen werden,<br />

deren Erkenntnisse besonders relevant<br />

für die Praxis sind. Außerdem<br />

werden Weiterbildungszertifikate für<br />

Multiplikator/-innen entwickelt und<br />

umgesetzt.<br />

Wir hoffen, dass durch diese neuen<br />

Strukturen die Lehrkräftebildung am<br />

Standort Freiburg noch attraktiver,<br />

die Bildungs- und Unterrichtsforschung<br />

effektiver und die Vernetzung<br />

zwischen den verschiedenen<br />

Akteuren für alle Beteiligten zu einer<br />

deutlichen professionellen Bereicherung<br />

führen wird.<br />

Prof. Dr. Ulrich Druwe<br />

Rektor<br />

Pädagogische Hochschule Freiburg<br />

300 € - 400 € Rabatt<br />

für Student* innen<br />

Traumberuf mit Zukunft<br />

E rlebnis-<br />

P ädagogik<br />

Ausbildung<br />

Frei wählbar:<br />

3 oder 6 Wochen als Block,<br />

oder 9 Kurs-Wochenenden<br />

EOS Erlebnispädagogik e.V. Wildbachweg 11 79117 Freiburg<br />

www.eos-erlebnispaedagogik.de/ausbildungen 0761 - 600 800


14 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

Von der Muse geküsst – auch beim<br />

Studium?<br />

Schreibpädagogin und Schriftstellerin Sibylle Zimmermann verrät, wie man sie lockt<br />

Am Zentrum für Schlüsselqualifikationen<br />

der Universität<br />

Freiburg können Studierende<br />

Kreatives Schreiben lernen. Die<br />

Kurse sind literarisch ausgerichtet<br />

und finden in den Semesterferien<br />

statt. Kreativ schreiben<br />

lernen, geht das? Die versierte<br />

Schreibpädagogin lehrt, wie<br />

flüssige Texte und fesselnde Geschichten<br />

entstehen. Doch die<br />

Methoden des Kreativen Schreibens<br />

vermögen weit mehr. Auch<br />

aufs Texten in Studium und Beruf<br />

lassen sie sich anwenden.<br />

Wie ein roter Faden zieht sich das<br />

Schreiben und Unterrichten durch<br />

das Leben von Sibylle Zimmermann.<br />

Vielfältig und ein wenig<br />

abenteuerlich mutet ihr Werdegang<br />

an. Geboren und aufgewachsen in<br />

Freiburg, zog sie zuerst nach Tübingen,<br />

um sich an der Universität<br />

einzuschreiben. In Israel hütete<br />

sie Schafe und eignete sich dieses<br />

Handwerk an. Nach ihrem Diplom<br />

in Biologie war sie lange im Management<br />

eines Pharmaunternehmens<br />

angestellt. Sie nahm eine<br />

Stelle als Dozentin an der University<br />

of Queensland im australischen<br />

Brisbane an. Doch ihr Faible fürs<br />

Schreiben ließ sie nie los. Sie studierte<br />

Literaturwissenschaft und absolvierte<br />

in Berlin die Ausbildung<br />

zur Schreibpädagogin. 2005 kehrte<br />

sie nach Freiburg zurück, gründete<br />

das Zentrum für Schreibtraining,<br />

verlieh ihm 2017 ein erweitertes<br />

Konzept als Institut für Kreatives<br />

Schreiben. Ab und an bringt sie mit<br />

Teilnehmern Bücher heraus.<br />

Eine ausgefeilte Methodik und viel<br />

Arbeit stecken hinter der Literatur,<br />

wie Sibylle Zimmermann aus ihrer<br />

schriftstellerischen Laufbahn weiß.<br />

Sie veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten<br />

und Romane. Mehrere<br />

Bände mit Erzählungen gab sie heraus.<br />

Angefangen hat sie mit Beiträgen<br />

in Literaturzeitschriften. Später<br />

folgte ein literarischer Roman. Nur<br />

um es mal auszuprobieren, landete<br />

sie beim Krimi. Seitdem betätigt sie<br />

sich sehr erfolgreich auch auf diesem<br />

Feld.<br />

Sie gewann 2011 den Agatha-Christie-Krimipreis,<br />

2016 den ersten<br />

Freiburger Krimi Slam Preis sowie<br />

den ersten deutschen E-Book-Preis.<br />

Einer ihrer Krimis wurde für den<br />

Friedrich-Glauser-Preis nominiert.<br />

Außerdem gehört sie zur Jury des<br />

Freiburger Krimipreises.<br />

Seit 15 Jahren zeigt Sibylle Zimmermann<br />

Wissbegierigen, wie sie<br />

ihr Potential in die richtigen Wege<br />

leiten können, sei es an der Universität,<br />

in der Volkshochschule<br />

oder ihrem eigenen Institut. Inzwischen<br />

ist ihr Ruf als Dozentin<br />

weit über die Grenzen der Regio<br />

gedrungen. Zu ihren Kursen reisen<br />

Interessierte aus dem gesamten<br />

deutschsprachigen Raum an,<br />

vom Bodenseegebiert, aus Berlin,<br />

aus Norddeutschland und aus<br />

der Schweiz. Susanne Hartmann<br />

sprach mit Sibylle Zimmermann<br />

über ihr schriftstellerisches Knowhow<br />

und wie sie ihr Können für<br />

andere einsetzt.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Sie haben mit zehn<br />

Jahren Ihre ersten Erfahrungen<br />

als Autorin gesammelt?<br />

Sibylle Zimmermann: Die Badische<br />

<strong>Zeitung</strong> hat Geschichten<br />

von Kindern gesucht. Sie hat meine<br />

veröffentlicht und mit zehn<br />

Mark honoriert. Daraufhin wollte<br />

ich Schriftstellerin werden, weil<br />

man nirgendwo so leicht Geld verdient.<br />

Meine nächste Geschichte<br />

haben sie allerdings nicht genommen.<br />

Deshalb habe ich die Schriftstellerei<br />

wieder aufgegeben.<br />

Sibylle Zimmermann, Schreibpädagogin<br />

Pressefoto


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 15<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Was erwartet die Studierenden<br />

in Ihrem Kurs?<br />

Sibylle Zimmermann: Um Ideen<br />

zu entwickeln, um Texte zu strukturieren,<br />

kommen Techniken wie<br />

Clustern oder Mindmap zum Einsatz.<br />

Anhand eines Plans erfasse<br />

ich beispielsweise Sinneseindrücke:<br />

Geräusche, Gerüche, rote<br />

Häuser, usw., um eine Geschichte<br />

zu erzählen. Das Verfahren kann<br />

ich auch im Beruf nutzen. Wenn<br />

ich Events organisiere, notiere ich<br />

Inhalte, Uhrzeiten, Ort. Steht die<br />

Teambildung im Vordergrund?<br />

Danach kann ich texten. Wenn ich<br />

zwischendrin überlegen und zusammensuchen<br />

muss, bringt mich<br />

das aus dem Schreibfluss. Ebenso,<br />

wenn ich gleichzeitig kritisiere.<br />

Das Rezept Nr. 1 gegen Schreibblockaden<br />

lautet: Textproduktion<br />

und Textkritik voneinander trennen.<br />

<strong>UNIversalis</strong>:Was bietet der Kurs<br />

Studierenden, damit sie Vertrauen<br />

in ihre Fähigkeiten fassen?<br />

Sibylle Zimmermann: Frisch entstandene<br />

Texte werden vorgelesen,<br />

nicht bewertet. So kann man sich<br />

frei entfalten. Ich übe zwar auf<br />

Wunsch Kritik, aber nur bei überarbeiteten<br />

Texten.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Worauf kommt es<br />

beim Kreativen Schreiben an?<br />

Sibylle Zimmermann: Von der<br />

Schulbank an lernen wir kognitiv<br />

zu arbeiten. Über diese Schiene<br />

die Kreativität anzukurbeln, klappt<br />

nicht. Ich lehre Methoden und<br />

Techniken, die helfen, sie in Gang<br />

zu bringen, ebenso handwerkliche<br />

Übungen. Bei einer Übung rennt<br />

man die Treppe hoch.<br />

Vorher notiert man, was man empfinden<br />

wird. Meistens kommt Herzklopfen<br />

und schnelle Atmung. Hinterher<br />

überrascht alle, was sie noch<br />

alles gespürt haben. Handwerkliche<br />

Aspekte sind ausschlaggebend: Wie<br />

ist eine Erzählung aufgebaut? Viele<br />

der Studierenden haben ein Romanskript<br />

in der Schublade. Zwanzig<br />

Seiten und dann ist das Projekt<br />

abgestürzt. Aber warum? Weil der<br />

Autor weder die Strukturen des Romans<br />

kennt noch weiß, wann sich<br />

was ereignen soll. Oder Einführung<br />

und Beschreibung der Hauptperson<br />

ufern aus, da er aus den Augen verliert,<br />

dass fünf weitere Personen<br />

auftreten. So würde der Roman<br />

5000 Seiten lang werden.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Welche Leistungen<br />

erbringen die Studierenden im Seminar?<br />

Sibylle Zimmermann: Sie schreiben<br />

Texte vor Ort und probieren so<br />

verschiedene Methoden aus. Als<br />

Abschlussarbeit verfassen sie eine<br />

Kurzgeschichte, egal in welchem<br />

Genre. Sie bestehen, indem sie<br />

Strukturvorgaben und handwerkliche<br />

Kriterien erfüllen. Dafür erhalten<br />

sie 4 ECTS-Punkte.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Inspiriert das Seminar<br />

Studierende, weiter zu schreiben?<br />

Sibylle Zimmermann: Spontan<br />

fällt mir Jonas Navid Al-Nemri<br />

ein. Ich riet ihm, sich an Verlage zu<br />

wenden. Als ein Verlag seine Erzählungen<br />

„Umm Nur“ herausbrachte,<br />

haben wir uns riesig gefreut.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Wie sind Ihre Erfahrungen<br />

mit den Studenten und Teilnehmern<br />

Ihrer Kurse?<br />

Sibylle Zimmermann: Kreative<br />

Angebote fehlen im studentischen<br />

Alltag. Meine Seminare sind in kürzester<br />

Zeit voll. Manche denken, so<br />

gut wie Thomas Mann schreibe ich<br />

nie. In Deutschland grassiert der<br />

Mythos: Schriftsteller sind Genies,<br />

die vom Himmel fallen. Künstler<br />

lernen zu malen und zu musizieren.<br />

Nur beim Schreiben glaubt man,<br />

man setzt sich hin, schon fließt<br />

ein Weltbestseller aus der Feder.<br />

Die USA, wo Kreatives Schreiben<br />

Standard ist, bringen nicht ohne<br />

Grund tolle Autoren hervor. Deshalb<br />

unterrichte ich es am Zentrum<br />

für Schlüsselqualifikationen und an<br />

meinem Institut.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Sie haben als Schäferin<br />

in Israel gearbeitet. Wie kamen<br />

Sie dazu?<br />

Sibylle Zimmermann: Ich jobbte<br />

als Volontärin in einem Kibbuz.<br />

Aber ich wollte länger in der Natur<br />

arbeiten und dabei das Schreiben<br />

wieder aufnehmen. So zog ich als<br />

Schäferin mit 700 Tieren durchs<br />

Karmelgebirge. In Pausen setzte ich<br />

mich unter einen Olivenbaum und<br />

schrieb Geschichten. Dieses Jahr<br />

hat mich sehr inspiriert.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Sie waren beruflich in<br />

vielen Bereichen tätig.<br />

Sibylle Zimmermann: Ich hab<br />

immer gerne unterrichtet und mir<br />

Bereiche gesucht, wo ich schreiben<br />

konnte. So habe ich in Australien<br />

Multimedia-Drehbücher entworfen,<br />

interaktive Lehr-Tutorials für Studenten.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Können wir neuen Lesestoff<br />

von Ihnen erwarten?<br />

Sibylle Zimmermann: Mein jüngster<br />

Kriminalroman „Das Mosaik“<br />

soll bald erscheinen. Es geht um<br />

ein Verbrechen, das vor vielen Jahren<br />

passierte und nicht aufgedeckt<br />

wurde.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Handelt es sich um<br />

Mord?<br />

Sibylle Zimmermann: Ja, er steht<br />

in Verbindung mit anderen Verbrechen.<br />

Der Täter wurde nie angezeigt,<br />

weil alle eingeschüchtert<br />

wurden. Nach 20 Jahren taucht ein<br />

Opfer auf und zwingt andere, Farbe<br />

zu bekennen.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Die Schreibpädagogik<br />

gehört zu den Angeboten an Ihrem<br />

Institut. An wen richtet sich diese<br />

Ausbildung?<br />

Sibylle Zimmermann: Sie ist<br />

darauf ausgerichtet, selbst Kurse<br />

für Kreatives Schreiben zu geben.<br />

Studierende und Lehrer im Fach<br />

Deutsch können sie nutzen, ebenso<br />

Autoren und Therapeuten. Anwendungsbereiche<br />

können zum Beispiel<br />

in Reha-Einrichtungen liegen. In der<br />

Kunsttherapie wird getöpfert und<br />

gemalt, aber kaum geschrieben.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Sie sind in Ihrer Lehrtätigkeit<br />

breit aufgestellt.<br />

Sibylle Zimmermann: Mir macht´s<br />

Spaß mit unterschiedlichen Gruppen<br />

zu arbeiten. Es ist schön zu entdecken,<br />

was für Begabungen in Teilnehmenden<br />

schlummern.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Autor sein bedeutet,<br />

sich einer einsamen Beschäftigung<br />

zu widmen. Wie gehen Sie damit<br />

um?<br />

Sibylle Zimmermann: Privat oder<br />

im Institut genieße ich es unter Menschen<br />

zu sein. Wenn ich schreibe,<br />

kann ich allerdings keinen Trubel<br />

um mich gebrauchen. Für mich bedeutet<br />

Unterrichten und Schreiben<br />

eine ideale Kombination von Einsamkeit<br />

und Sozialleben.<br />

<strong>UNIversalis</strong>: Besitzen Sie ein<br />

Schreibmotto?<br />

Sibylle Zimmermann: Kafka<br />

meinte: „Wege entstehen dadurch,<br />

dass man sie geht.“ Mein Lebensmotto.<br />

Ich könnte mich nicht besser<br />

beschreiben als mit diesem Spruch.<br />

Aber es ist nicht jedem zu empfehlen,<br />

weil es anstrengend ist.<br />

Zentrum für Schlüsselqualifikationen:<br />

https://www.zfs.uni-freiburg.<br />

de/de/bok/kommunikation, Termine:<br />

15., 22., 29. 8. <strong>2018</strong>, 10-17 Uhr.<br />

Institut für Kreatives Schreiben:<br />

www.kreativ-schreiben-lernen.de<br />

Einfach<br />

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16 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

Zur Hermeneutik der<br />

„Schwarzen Hefte“<br />

Rezension: Heidegger-Jahrbuch 11<br />

Nachdem sich der erste hysterische<br />

Sturm der Rezeption von Heideggers<br />

sogenannten „Schwarzen<br />

Heften“ gelegt hatte, wurden wieder<br />

sachlichere Stimmen vernehmbar.<br />

So auch im bereits Ende letzten Jahres<br />

erschienenen Heidegger-Jahrbuch<br />

11 vom hiesigen Alber-Verlag.<br />

Mit Heideggers „Schwarzen Heften“<br />

betraute Journalisten wähnten<br />

sich scheinbar in guter Gesellschaft,<br />

wenn sie den längst als „Naziphilosoph“<br />

Entlarvten nun auch noch des<br />

Antisemitismus bezichtigen konnten.<br />

Jetzt durfte der Philosoph zum<br />

zweiten Mal „erledigt“ werden. Die<br />

internationalen akademischen Stars<br />

wie Jean-Luc Nancy (Straßburg),<br />

Hans-Ulrich Gumbrecht (Stanford),<br />

Donatella di Cesare (Rom) und mit<br />

Einschränkung auch Peter Trawny,<br />

der als Herausgeber die Diskussion<br />

mit in diese Richtung gelenkt hatte,<br />

saßen dieser tendenziösen und<br />

einseitig auf den Antisemitismus<br />

fixierten Deutung der „Schwarzen<br />

Hefte“ auf und sind dem Charme<br />

der Empörung leider ebenso erlegen<br />

wie manche Journalisten. Wobei<br />

Trawnys Einlassungen, wenn<br />

man sie genau betrachtet, eher<br />

differenzierter zu bewerten sind.<br />

Er gibt sich alle Mühe, wenn nicht<br />

den Philosophen als Person so aber<br />

seine Philosophie, die größer zu<br />

sein scheint als der kleine Mann,<br />

der sie denkt und unter ihrer Last<br />

zu zerbrechen droht, unter seinem<br />

Eindruck des „seinsgeschichtlichen<br />

Antisemitismus“ dennoch zu retten;<br />

v.a. in seiner Schrift „Irrnisfuge“<br />

(2014), die kurz nach seinem<br />

„Heidegger und der Mythos der<br />

jüdischen Weltverschwörung“ erschien<br />

und z.T. durchaus als Revision<br />

desselben gelesen werden kann.<br />

Doch sensationslüstern stürzte man<br />

sich eben nur auf sein „rotes Buch“.<br />

Rüdiger Safranski, der Heidegger-<br />

Biograf, hatte ja bereits zu Anfang<br />

der Debatte den Verdacht geäußert,<br />

dass man die skandalumwitterten<br />

Stellen dankbar aufnahm, um sich<br />

Heideggers eigentlicher Philosophie<br />

nun elegant entledigen zu können.<br />

Hysterie und Angst vor der<br />

großen Irre<br />

Dass dies in den Beiträgen des<br />

aktuellen Heidegger-Jahrbuchs<br />

nicht geschieht, ist begrüßenswert.<br />

Der Tenor ist nun wieder der Sache<br />

gewidmet, vielleicht auch dem<br />

Umstand geschuldet, dass vier Jahre<br />

nach der Erstveröffentlichung genug<br />

Zeit war, die bisher erschienenen<br />

Bände zu bearbeiten, statt sich bloß<br />

die 0,3 Prozent der Textmasse ausmachenden<br />

antisemitischen Stellen<br />

herauszupicken, ohne sich nur<br />

annähernd darum zu bemühen, sie<br />

in ihrem Kontext zu betrachten. Es<br />

kursierten Meinungspamphlete, die<br />

ihre Argumentation nur aus Vorurteilen<br />

aufgebaut hatten und entsprechende<br />

Stellen suchten, um jene bestätigt<br />

zu finden, statt zu lesen, was<br />

wirklich in den „Schwarzen Heften“<br />

stand. Die Herausgeber Alfred Denker<br />

und der ehemalige Freiburger<br />

Holger Zaborowski schicken gleich<br />

in ihrem Vorwort voraus, dass „die<br />

Frage nach seinem Verhältnis zum<br />

Nationalsozialismus und die Frage<br />

nach seinem Antisemitismus“ die<br />

Debatte dominiert hätten, obwohl<br />

sich Heidegger nicht nur in seinem<br />

Gesamtwerk, sondern sogar „in den<br />

Schwarzen Heften zum Großteil mit<br />

anderen Themen befasste“ und dies<br />

völlig aus dem Blick geriet.<br />

Die zentrale Leitfrage der gesamten<br />

Debatte war dem Thema gewidmet,<br />

ob nach der Entdeckung der<br />

skandalösen Stellen in seinen Denktagebüchern,<br />

die die sogenannten<br />

„Schwarzen Hefte“ eigentlich sind,<br />

worauf der Beitrag von Richard Polt<br />

(Cincinnati, USA) insistiert, Heideggers<br />

Denken und Werk mit einem<br />

wie immer gearteten Antisemitismus<br />

per se „kontaminiert“ (Trawny)<br />

seien. Oder ob Heideggers Erwähnung<br />

der Juden „innerhalb des<br />

weiten Horizonts der Modernitätskritik<br />

betrachtet werden sollte“ (F.<br />

Brencio), wie es auch Silvio Vietta<br />

(Hildesheim) tut. Auch für Ingo<br />

Farin (Tasmanien) „ist die globale<br />

Zivilisationskritik“ zentraler Inhalt,<br />

der mit „den Juden“ nichts zu tun<br />

hätte. Er geht sehr plausibel sogar<br />

soweit, dass „ohne jeglichen Beleg,<br />

einige Termini, die Heidegger<br />

benutzt, als ‚Code‘ für antisemitische<br />

Inhalte interpretiert“ würden,<br />

„was als methodologische Maxime<br />

darauf hinaus“ liefe, „in den Text<br />

Heideggers das hineinzulegen, was<br />

man gerne aus ihm<br />

herauslesen möchte“.<br />

Der Beitrag Takao<br />

Todorokis (Yokosuka,<br />

JPN), bemerkt,<br />

dass die umstrittenen<br />

Stellen zum Judentum<br />

„wiederholt immer<br />

in einem Zusammenhang<br />

zu seinen<br />

kritischen Bemerkungen<br />

zum Nationalsozialismus<br />

auftauchen“.<br />

Dieser sei<br />

ja „völlig durch das<br />

metaphysische Denken,<br />

das Heidegger<br />

als etwas Jüdisches<br />

ansieht, bestimmt“.<br />

Beim Hervorkommen<br />

der „Machenschaften“<br />

hätte „die<br />

jüdisch-christliche<br />

Schöpfungslehre und<br />

die damit zusammenhängende<br />

Vorstellung eines<br />

absoluten Gottes eine große Rolle<br />

gespielt“. Genau so sieht es auch<br />

Francesca Brencio (Zaragoza, ESP,<br />

u. Freiburg). Todorokis Beitrag<br />

sieht zwar den Zusammenhang<br />

von Heideggers Bemerkungen<br />

zum Judentum mit seinem „seynsgeschichtlichen<br />

Denken“, bewegt<br />

sich aber im Rahmen der Unterscheidung<br />

Silvio Viettas, der das<br />

rassistische Vernichtungsprogramm<br />

der Nazis von einer „lässlichen Judenkritik“<br />

mit nachvollziehbaren<br />

guten Gründen getrennt wissen<br />

möchte. Für Peter Trawny war bei<br />

einem Podiumsgespräch mit Vietta<br />

und Safranski in der Rainhofscheune<br />

in Kirchzarten vor zweieinhalb<br />

Jahren im politisch korrekten Sinne<br />

hier die Grenze zum rassistischen<br />

Antisemitismus überschritten. Die<br />

unvereinbaren Auffassungen werden<br />

die Heidegger-Forschung wohl<br />

weiterhin in mindestens zwei Lager<br />

von Befürwortern und Gegnern<br />

spalten. Es wäre wünschenswert,<br />

dass Heideggers eigentliche Philosophie<br />

hinter dieser Diskussion<br />

nicht in Vergessenheit gerät und diese<br />

Debatte und jede weitere dadurch<br />

die anfangs fehlenden aber gleichwohl<br />

angemessenen Zwischentöne<br />

gewinnt. Das Heidegger-Jahrbuch<br />

11 des Alber-Verlags trägt mit einer<br />

bemerkenswerten Internationalität<br />

und Unaufgeregtheit der Beiträge<br />

jedenfalls dazu bei und relativiert<br />

auch so manche Aufgeregtheit der<br />

deutschen Diskussion.<br />

Alfred Denker, Holger Zaborowski<br />

(Hrsg.), Zur Hermeneutik der<br />

„Schwarzen Hefte“, Heidegger-<br />

Jahrbuch 11, Alber-Verlag Freiburg<br />

2017, 224 Seiten, € 50, im Abo € 42<br />

Jens Bodemer


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 17<br />

„Eine einzige Welt genügt mir nicht“<br />

Jacob Taubes‘ zweiter Sammel-Band mit Aufsätzen ist 30 Jahre nach seinem Tod erschienen – Apokalypse<br />

und Politik<br />

Am 23.03.1987 schreibt Martin<br />

Meyer im Nachruf auf Jacob<br />

Taubes zwei Tage nach dessen Tod<br />

in der NZZ, dass dieser im Römerbrief<br />

des Paulus „glaubte den Text<br />

gefunden zu haben, in welchem die<br />

Sprengkraft abendländischer Eschatologie<br />

für Jahrhunderte eingelagert<br />

ist“. Im Bewusstsein seiner unheilbaren<br />

Krankheit vertiefte sich der<br />

aus einer gelehrten Rabbinerfamilie<br />

stammende Taubes noch ein letztes<br />

Mal in das Thema, das ihn sein Leben<br />

lang begleitete. Die Identifikation<br />

mit dem Völkerapostel Paulus<br />

ging soweit, dass er sich sogar im<br />

Alltag mit ihm ohne sein eigenes<br />

Zutun konfrontiert sah: Taubes<br />

reichte in einer Berliner Apotheke<br />

am Mexikoplatz ein Rezept ein. Der<br />

Apotheker entzifferte den Namen<br />

und vergewisserte sich: „Heißen Sie<br />

Paulus?“ Darauf Taubes: „Eigentlich<br />

ja. Woher wissen Sie das? Aber<br />

auf dem Rezept steht Taubes.“ Er<br />

sah es als seinen Auftrag, sein Lebensthema,<br />

den abtrünnigen Juden<br />

Paulus für die Juden heimzuholen<br />

(wir kommen darauf zurück).<br />

Seine zweite Ehefrau Margherita<br />

von Brentano warf ihm sein Verhältnis<br />

mit Ingeborg Bachmann in<br />

Rom vor und ihn verband eine tiefe<br />

Freundschaft mit Susan Sontag, die<br />

bei ihm in Harvard (oder war es an<br />

der Columbia in New York? – die<br />

Angaben schwanken) im Seminar<br />

als Studentin saß und für ihr Referat<br />

deutsch lernte, um den gerade<br />

mal zehn Jahre älteren Dozenten zu<br />

beeindrucken. Seine erste Frau Susan,<br />

geb. Feldmann nahm sich 1969,<br />

acht Jahre nach der Scheidung und<br />

kurz nach Veröffentlichung ihres<br />

Romans „Divorcing“, in dem es um<br />

die wohl nicht nur fiktionale und offensichtlich<br />

unschöne Aufarbeitung<br />

der Ehe mit ihm ging, das Leben.<br />

Wenn Jacob Taubes seinen Studenten<br />

Texte unter offenen Verständnisfragen<br />

zur Diskussion<br />

stellte, machte er ihnen sogleich<br />

klar, dass man einen Text am besten<br />

verstünde, wenn man fragte,<br />

wogegen dieser Text steht. Wer ist<br />

der Gegner, gegen den er sich richtet?<br />

Er hat sich seine Gegner mit<br />

Bedacht erwählt.<br />

Auf Carl Schmitts Grabstein steht<br />

zu lesen: „Er kannte den Nomos“.<br />

Taubes kannte den Polemos. Beide<br />

Denker suchten den theologischen<br />

Kern, der sich in politischen Fragen<br />

verbarg. Gerade in Schmitt, dem<br />

Freund-Feind-Denker schlechthin,<br />

fand er den würdigen Widersacher.<br />

Den „Kronjuristen des Dritten<br />

Reichs“, befand er für würdig,<br />

sich einzulassen. Briefe kamen von<br />

Schmitt, sie wurden gelesen – und<br />

blieben unbeantwortet. Taubes<br />

zierte sich – zunächst... „Die Geschichte<br />

Jacob Taubes – Carl<br />

Schmitt“ (AuP, S.299-307) liest sich<br />

wie ein Intellektuellen-Nachkriegskrimi<br />

der frühen Bundesrepublik<br />

als man sich zwischen links und<br />

rechts ganz neu sortieren musste.<br />

Der „messianische Irrwisch“ wie<br />

ihn Armin Mohler, sein Freund aus<br />

der Studentenzeit von ganz rechts,<br />

nannte, war beim Übertritt zum<br />

Gegner wesentlich hemmungsloser<br />

als andere.<br />

Er kannte den Polemos<br />

Der polemische Index seines<br />

Denkens hat ihm nicht nur Freunde<br />

beschert. Aber ihm ging es nicht so<br />

sehr um den Frieden mit seinem<br />

Jacob Taubes<br />

Gegenüber als vielmehr darum, den<br />

Kern der Gegensätze noch zuzuspitzen<br />

– Aug‘ in Aug‘. Der trieb<br />

ihn um. Es war schon paulinisch<br />

gedacht, den Gegner „so stark wie<br />

möglich“ zu machen, denn „mit<br />

einem Gegner, den ich sofort lahmlege,<br />

lohnt es nicht weiter zu reden“,<br />

(Die Politische Theologie des Paulus,<br />

S. 122, München 1997, PTdP)<br />

betonte Taubes.<br />

Der Rabbinersohn, mit 20 selbst<br />

Absolvent der Rabbinerschule in<br />

Zürich, war ein Sprechdenker, der<br />

bis auf die verstreuten Aufsätze, die<br />

nun in dem Band „Apokalypse und<br />

Politik“ (AuP) neu erschienen sind<br />

und zum Teil erstmalig in deutscher<br />

Übersetzung vorgelegt werden, nie<br />

mehr nach seiner mit 23 Jahren vorgelegten<br />

Dissertation über „Abendländische<br />

Eschatologie“ (1947) eine<br />

größere Monografie veröffentlichte.<br />

Querdenker bei „Poetik und<br />

Hermeneutik“<br />

Jacob Taubes war rasch ein intellektueller<br />

Star in der frühen Bundesrepublik.<br />

Es war ja alles andere<br />

als selbstverständlich, in das Land<br />

der Täter zurückzukehren. Um ihn<br />

ranken sich Legenden und Anekdoten.<br />

Eine stammt aus erster Hand<br />

von Manfred Frank, des Tübinger<br />

Philosophen, der damals bei der<br />

produktivsten interdisziplinären<br />

Forschungsgruppe der frühen Republik<br />

dabei war, „Poetik und Hermeneutik“.<br />

Taubes war vielleicht<br />

nicht gerade einer ihrer Initiatoren<br />

und seine Rolle des Querulanten hat<br />

ihm den Ruf des Enfant terrible dieser<br />

Gruppe eingebracht, aber seine<br />

Diskussionsbeiträge gelten als legendär.<br />

Taubes‘ spitze Zunge faszinierte,<br />

während andere Denker der<br />

Gruppe nur gefielen. Ulrich Raulff,<br />

Direktor des Literaturarchivs Marbach,<br />

der ihn in Seminaren an der<br />

FU Berlin noch erlebte, formulierte<br />

es einmal so: „Taubes war ein Meister<br />

der Phrasierung. Wie er nachlässig<br />

einsetzte und seine Themen<br />

anspielte, wie er Läufe anlegte, Pausen,<br />

Brüche und Wiederholungen,<br />

das war Jazz. Nie zuvor hatte ich ein<br />

derartiges rhetorisches Ereignis erlebt<br />

wie diesen seltsamen Mann, in<br />

dem, wenn er zu sprechen begann,<br />

die jahrhundertealte Redekunst der<br />

Rabbinen, von denen er abstammte,<br />

zum Leben zu erwachen schien.“<br />

„Max, du musst dran glauben“<br />

Als Taubes mit seinen Kollegen<br />

nach einer der langen Tagungen der<br />

Gruppe „Poetik und Hermeneutik“<br />

spät nachts ins Hotel zurückkehrte,<br />

trug sich eine Szene zu, die Manfred<br />

Frank so schildert:<br />

„Mir fällt eine Szene mit Jacob<br />

Taubes und Max Imdahl nach einem<br />

Tag voller Referate und Diskussionen<br />

über ‚Individualität‘ ein. Wir<br />

kamen tief in der Nacht ins Hotel.<br />

Taubes wollte unbedingt um drei<br />

Uhr morgens ein Frühstück – angeblich<br />

sähe ich schon ganz schwach<br />

aus. Natürlich gab es gar kein Personal.<br />

Aber Taubes baute sich wie<br />

ein Prophet auf, und plötzlich wurde<br />

das Unmögliche Ereignis. Da<br />

fragte ihn Max Imdahl, Butterbrot<br />

kauend und Kaffee trinkend, in seinem<br />

Ääscher Platt: ‚Jacob, wie häls’<br />

du et eijentlich mit de Relijion?‘ Er<br />

sei früher frommer Katholik gewesen;<br />

jetzt erlebe er das Religiöse nur<br />

noch vor Kunstwerken. Taubes aber<br />

antwortete: ‚Max, das ist ganz einfach,<br />

du musst dran glauben‘.“<br />

Taubes erkannte die Wichtigkeit<br />

der Monotheismusdebatte, die mit<br />

dem Streit Carl Schmitt /Erik Peterson<br />

in den 20er Jahren ihren Ausgang<br />

nahm und bis weit über die<br />

Jahrtausendwende hinaus zwischen<br />

dem Ägyptologen Jan Assmann und<br />

Peter Sloterdijk fortgeführt wurde<br />

und – Ironie der Geschichte – mit<br />

der weltumspannenden Durchdringung<br />

des Islam im Zuge der<br />

Flüchtlingswelle nichts an Brisanz<br />

eingebüßt hat. Bei „Politischer Theologie“<br />

im Sinne Carl Schmitts geht<br />

es im Kern um Gottesherrschaft<br />

Privatfoto: Prof. Dr. Gabriele Althaus<br />

(Theokratie), die den weltlichen<br />

Herrscher als den irdischen Vertreter<br />

Gottes versteht (Repräsentation).<br />

Darauf hat Erik Peterson dann 1935<br />

in dem berühmten Essay „Der Monotheismus<br />

als politisches Problem“<br />

mit der fundamentalen Anzweiflung<br />

dieser Form der politischen Theologie<br />

reagiert, der in der These gipfelt,<br />

dass mit dem Christentum und dem<br />

dreieinigen Gott jeder politischen<br />

Theologie der Boden entzogen<br />

sei, da sich in ihm keine weltliche<br />

politische Ordnung repräsentieren<br />

ließe. Was es bedeuten kann, wenn<br />

die Theologie zur Begründung von<br />

Freund- und Feindbestimmungen<br />

herangezogen wird, erleben wir<br />

aktuell. Wenn die Neuzeit aus der<br />

Idee einer „Epoche als einer aus<br />

dem Nichts ansetzenden Selbstbegründung“<br />

(Blumenberg) resultiert,<br />

ist Enttheologisierung ihre Signatur.<br />

Das gilt aber offenbar nur im aufgeklärten<br />

Europa. Und weil es in<br />

der Moderne schlicht keine theologische<br />

Grundlage für eine Freund-<br />

Feind-Unterscheidung gibt, leben<br />

wir mehr denn je in einer Situation<br />

der Desorientierung, die im Weberschen<br />

Sinne neue Dämonen gebiert<br />

und ihre Ersatzschauplätze erobert.<br />

Jüdische Tradition der Textexegese<br />

Auch wenn es richtig sein mag,<br />

was Norbert Bolz über Taubes sagt,<br />

dass er „keine Lehre, keine Botschaft,<br />

keine Schule“ hätte, vielleicht<br />

nicht einmal ein konsistentes<br />

Werk hinterließ, so sind die Studien<br />

des berühmten Ägyptologen, Jan<br />

Assmann, zur Erinnerungskultur,<br />

zur Spurensuche eines kulturellen<br />

Gedächtnisses absolut undenkbar<br />

ohne den Einfluss seines großen<br />

Lehrers Taubes. Und natürlich wäre<br />

auch Peter Sloterdijks Theopoesie<br />

unmöglich, ohne auf den Schultern<br />

dieses Sonderbeauftragten Gottes<br />

zu stehen. Er war der große Inspirator<br />

auch für Denker wie Giorgio<br />

Agamben („Die Zeit, die bleibt.<br />

Ein Kommentar zum Römerbrief“,<br />

2000) oder Slavoj Zizek.<br />

Taubes konnte mit seiner Aura<br />

eine Atmosphäre wirklicher Geistigkeit<br />

stiften, die frei war von<br />

jedem Dogma. Er studierte an den<br />

Autoren nicht die Seite, die sie ihm<br />

zuwandten, sondern gerade die, die<br />

sie vor ihm verbargen. Es wurde erzählt,<br />

dass er ganze Bücher durch<br />

Hand auflegen erfasste. Gemeint<br />

war wohl sein Suchen nach dem<br />

einen Satz, in dem in nuce ganze<br />

Bedeutungszusammenhänge angelegt<br />

waren, so dass Taubes ganze<br />

Gedankengebäude und Weltalter<br />

daraus erschloss. Kurzum: es ging<br />

ihm um eine dramatische Leseweise,<br />

das Theologumenon in noch so atheistisch<br />

scheinendem Text musste<br />

auffindbar sein. So etwa ordnete er<br />

bereits in der „Abendländische(n)<br />

Eschatologie“ Marx in die philosophische<br />

Eschatologie Europas ein.<br />

„Sozialökonomie ist für Marx Heilsökonomie“<br />

(AE, S.246).<br />

Texte wurden weniger interpretiert<br />

als vielmehr in einer jüdischen<br />

Tradition der Exegese kommentiert,<br />

aus ihrem Zeitkontext verstanden,<br />

was ihn zu einem Vorläufer<br />

der Diskursanalyse aus Frankreich<br />

machte. Befreundet war er in Paris<br />

u.a. mit Alexandre Kojève. Diesem<br />

berühmtesten französischen Hegel-<br />

Interpreten saß die gesamte französische<br />

Intellektuellenelite der Nachkriegszeit<br />

wie Simone de Beauvoir,<br />

Georges Bataille, Roger Caillois,<br />

Jacques Lacan, Maurice Merleau-<br />

Ponty u.v.a. zu Füßen. Dessen Fußnote<br />

zum Begriff des Posthistoire ist<br />

ein wichtiger Aufsatz von Taubes in<br />

„Apokalypse und Politik“ gewidmet:<br />

„Ästhetisierung der Wahrheit<br />

im Posthistoire“ (1988, AuP, S.308-<br />

317), der bereits in der Festschrift<br />

für Margherita von Brentano, jene<br />

bei Heidegger promovierte zweite<br />

Ehefrau von Taubes, abgedruckt war.<br />

Dort geht es um die Fußnote, die


18 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />

in der deutschen Erstausgabe zunächst<br />

gar nicht erschien, weshalb<br />

er den Finger genau in diese Wunde<br />

legte und diese als interessanteste<br />

erkor, weil sie die einzige Erweiterung<br />

der ersten Auflage, „also der<br />

Witz Kojèves ist“. „So entsteht der<br />

Eindruck, es handle sich bei Kojèves<br />

Interpretation Hegels um eine jener<br />

unendlich scharfsinnigen, aber braven<br />

Hegelinterpretationen, die den<br />

akademischen Markt bestimmen,<br />

während in Wahrheit Alexandre Kojève<br />

die wohl schärfste, wenn auch<br />

abenteuerliche Ortsbestimmung der<br />

Gegenwart im Gewand einer Hegel-<br />

Exegese exponiert.“ (AuP, S.309)<br />

Mit dieser Art detektivischem Spürsinn<br />

stellt er klar, worum es Kojève<br />

eigentlich geht und welche okkassionalistische<br />

Methodik dahinter steckt,<br />

nämlich unsere Situation der Zeit<br />

am Leitfaden Hegels exemplarisch<br />

zu erfassen: „Das Verschwinden des<br />

Menschen am Ende der Geschichte<br />

ist also keine kosmische Katastrophe:<br />

Die natürliche Welt bleibt, was<br />

sie seit aller Ewigkeit ist...“ (ebd.)<br />

Die Geschichte geschähe post Hegel<br />

nur noch als ob. Alles, was den<br />

Menschen glücklich macht, könne<br />

aufrecht erhalten werden: „Die<br />

Kunst, die Liebe, das Spiel...“.<br />

Eine ganze Generation bis zu<br />

Francis Fukuyama betete den Inhalt<br />

dieser ursprünglich vergessenen<br />

Fußnote nach. In Frankreich konnte<br />

sie schon 1966 in Foucaults Diktum<br />

am Ende von „Les mots et les<br />

choses“ gipfeln, dass „der Mensch<br />

verschwindet wie am Meeresufer<br />

ein Gesicht im Sand“, was auch für<br />

Foucault nur ein beiläufiges Ereignis<br />

war, da DER Mensch als Individuum<br />

erst eine ganz junge Erfindung<br />

war.<br />

„Bevor Sie sterben, sagen Sie das<br />

einigen.“<br />

Zeit seines Lebens kannte Taubes<br />

die Schriften des erzkonservativen<br />

Carl Schmitt. Dessen „Politische<br />

Theologie“ von 1922 hinterließ<br />

bereits Spuren in Taubes früher<br />

Dissertation über „Abendländische<br />

Eschatologie“ obgleich er sie dort<br />

noch nicht als Quelle angibt, könnte<br />

er sie schon wahrgenommen haben.<br />

Als „Apokalyptiker der Gegenrevolution“<br />

(AuP, S. 271 ff.) deklarierte<br />

er ihn in seinem Nachruf<br />

in der TAZ 1985. Dahinter verbirgt<br />

sich die größte Hochachtung<br />

des „Erzjuden“ (wie Taubes sich<br />

selbst nannte) gegenüber dem NS-<br />

Juristen. Das geht sogar soweit,<br />

dass er darüber nachdenkt, was er<br />

in der Situation Schmitts damals<br />

gemacht hätte. Hans Blumenberg<br />

brachte ihn auf die Idee, dass es<br />

Schmitt, Kojève und ihm ums Selbe<br />

ging. Als Blumenberg ihm in<br />

einem Brief vorhielt - „Hören Sie<br />

doch endlich auf mit dieser tribunalistischen<br />

Einstellung...“ – sagte er<br />

sich: „Hör mal Jacob, du bist nicht<br />

der Richter, gerade als Jude bist du<br />

nicht der Richter, denn du musst<br />

doch zugeben, wenn du was gelernt<br />

hast, dann hast du was von Schmitt<br />

gelernt. Ich weiß von der Naziperiode.<br />

Ich weiß noch viel mehr,<br />

einen Teil, den ich priesterlich mit<br />

Schweigen bedecke, der nicht in die<br />

Öffentlichkeit gelangt. Du bist nicht<br />

der Richter, denn als Jude warst du<br />

nicht in der Versuchung. Wir waren<br />

in dem Sinne begnadet, dass wir<br />

gar nicht dabei sein konnten. Nicht<br />

weil wir nicht wollten, sondern<br />

weil man uns nicht ließ. Also, Sie<br />

können richten, weil Sie vom Widerstand<br />

wissen, ich kann nicht sicher<br />

über mich selbst sein, ich kann<br />

nicht sicher über irgendeinen sein,<br />

dass er vom Infekt der nationalen<br />

Erhebung nicht angesteckt wird<br />

und ein oder zwei Jahre verrückt<br />

spielt, hemmungslos, wie er war.<br />

Über die Hemmungslosigkeit von<br />

Carl Schmitt ist viel zu reden. […]<br />

Von einem Kult war zwischen uns<br />

nie die Rede. Es war Distanz, aber<br />

es war mir nicht unbedeutend, mit<br />

einem Staatsrechtler von der Gewalt<br />

gesessen zu haben, und er ließ<br />

sich von mir erklären, ganz spontan,<br />

nicht gewollt, nicht lehrhaft, die<br />

Hintergründe von Römer IX-XI.<br />

Und er hat mir gesagt: ‚Bevor Sie<br />

sterben, sagen Sie das einigen‘.“<br />

Stress mit dem Vermieter ?<br />

Kommen Sie zu uns !<br />

Wir können weiterhelfen.<br />

Mieterverein Regio Freiburg e.V<br />

Marchstr. 1<br />

79106 Freiburg<br />

Telefon: 0761 - 20270-0<br />

Fax: 0761 - 20270-70<br />

www.mieterverein-regio-freiburg.de<br />

Zeit als Bedrängnis<br />

Das war Taubes dann im Angesicht<br />

seiner unheilbaren Krankheit<br />

so „ein ungeheurer Satz“, ein Auftrag<br />

des großen Staatsrechtlers an<br />

den Schriftgelehrten, den Exegeten<br />

der heiligen Schrift, dass er genau<br />

dies tat. Ein paar Wochen vor seinem<br />

Tod, im Februar 1987, ließ<br />

sich Taubes schon so geschwächt<br />

von seiner Krankheit, dass er die<br />

von Montag bis Freitag geplante<br />

Veranstaltung am Mittwoch an der<br />

Heidelberger Universitätsklinik unterbrechen<br />

musste, von Berlin nach<br />

Heidelberg an die Forschungsstätte<br />

der Evangelischen Studiengemeinschaft<br />

bringen, um vor einer<br />

kleinen Schar von Zuhörern einen<br />

Kurs über den Römerbrief abzuhalten.<br />

Sein Vortragsthema im<br />

Herbst davor zu dem für ihn dort<br />

noch philosophischen Problem der<br />

„Galgenfrist. Apokalyptische Zeiterfahrung<br />

einst und jetzt“ ist nun<br />

existenzielle Not geworden. In dieser<br />

Galgenfrist, „jene Erfahrung<br />

von Zeit und Geschichte als Frist“<br />

wusste der Apokalyptiker Taubes<br />

sich dem Katechontiker Schmitt<br />

verwandt. Das Zeitgefühl der Frist<br />

beinhaltete, in der Erwartung eines<br />

katastrophischen Endes zu leben.<br />

Wo Taubes ‚Apokalypse now‘ sieht,<br />

sagt Schmitt ‚Apokalypse, aber jetzt<br />

noch nicht‘. Dass Zeit Frist heißt,<br />

bedeutet: „Es gibt keine ewige Wiederkehr,<br />

die Zeit ermöglicht keine<br />

Lässigkeit, sondern ist Bedrängnis.“<br />

Taubes fühlte sich als Fremder<br />

und hatte „keine Aktien in dieser<br />

Welt“. Er blieb in den Städten seines<br />

Wirkens, geb. in Wien, Schule<br />

und Studium in Zürich, wohnhaft<br />

in Paris, Jerusalem, New York und<br />

Berlin ein Fremder. „Reisender in<br />

Ideen“ wurde er genannt, dabei ist<br />

er existentiell zu einem Gnostiker<br />

geworden. Weil er ein Fremdling in<br />

dieser Welt war, prägte er mit gutem<br />

Grund den Satz: „Eine einzige Welt<br />

genügt mir nicht.“<br />

„Nietzsche war mein bester<br />

Lehrer für Paulus:“<br />

Seine lebenslange Beschäftigung<br />

und auch Identifikation mit<br />

Paulus, dem 13. Apostel, der Jesus<br />

nicht mehr persönlich kennenlernte,<br />

wurde noch in keiner Schrift festgehalten.<br />

Nun wurde wahr, was ihm<br />

Schmitt aufgab. Die vier Tage in der<br />

FEST gelten als sein geistiges Vermächtnis.<br />

In den jetzt neu erschienenen<br />

Aufsätzen schimmert die Figur<br />

des Paulus immer wieder auf. So<br />

etwa in dem Beitrag von 1954 über<br />

Karl Barths Römerbrief-Kommentar<br />

(AuP, S.83-94) oder in der viel<br />

späteren „Erkenntnistheoretische(n)<br />

Reflexion zur Geschichte vom Sündenfall“<br />

von 1982 (S.246-252).<br />

Dass Nietzsche sein „bester Lehrer<br />

für Paulus“ war, erläuterte er erst<br />

kurz vor seinem Tod, auch in einem<br />

Interview (TUMULT, Zeitschrift für<br />

Verkehrswissenschaft, Nr. 4, 1982),<br />

das von Eliten und Auserwähltheit<br />

handelt: Die Juden sind die Auserwählten<br />

Gottes, eine Elite, aber die<br />

ersten Christen waren gerade darin<br />

Avantgarde, dass sie keine Elite<br />

sein wollten...<br />

„Also mit einer ungeheuren Kraft,<br />

mit großer symbolischer Ladung<br />

verbindet Paulus die Theologie des<br />

Kreuzes mit einer Umkehrung der<br />

Vorstellung von Elite“, sagt Taubes<br />

und zitiert aus 1. Korinther, 26: „...<br />

was töricht ist vor der Welt, das hat<br />

Gott erwählet, dass er die Weisen zu<br />

Schanden mache; und was schwach<br />

ist vor der Welt, das hat Gott erwählet,<br />

dass er zu Schanden mache, was<br />

stark ist...“. Gott am Kreuz war das<br />

gewaltigste Symbol der Umkehrung<br />

des antiken Elitebegriffs und Nietzsche<br />

hat das „mit ungeheurem Gespür<br />

[…] bemerkt“. Mit den Augen<br />

des Hasses sähe Nietzsche „mehr<br />

als die Theologen, die 2000 Jahre<br />

Sätze repetieren, ohne zu merken,<br />

welches Potential in ihnen steckt“<br />

(Tumult, a.a.O., S.71).<br />

Die subversive Kraft aller<br />

Zukurzgekommenen<br />

Daher auch die berühmten Umkehrformeln<br />

Pauli, die in der<br />

Schwäche die Stärke sahen: Die<br />

Letzten werden die Ersten sein, die<br />

Armen die Reichen usw. Hier werden<br />

Mächte frei, von denen man<br />

bisher nie geglaubt hat, dass es<br />

Mächte sind. Es ist die subversive<br />

Kraft der Zukurzgekommenen, aller<br />

Erniedrigten und Beleidigten,<br />

der Kranken, die Paulus plötzlich<br />

stark macht. Er setzt die Stärke aller<br />

Schwachen frei.<br />

Die fundamentale Tragweite<br />

des Problems ist Folgendes: Das<br />

Schicksal des Abendlandes vollzieht<br />

sich im Zeichen der Entscheidung<br />

für oder gegen die Gründung<br />

eines Volks. Paulus stand vor dieser<br />

Entscheidung, vor der Moses<br />

einst kapitulierte, weil diesem die<br />

radikale Zugehörigkeit zum auserwählten<br />

Volk Gottes nie verloren<br />

ging, während Paulus mit seinem<br />

universalistischen Sendungsauftrag<br />

der christlichen Botschaft aus dieser<br />

Diskursordnung der Zugehörigkeit<br />

heraustritt und damit aber Taubes<br />

zufolge die schwerwiegende Verantwortung<br />

auf sich lädt, das Volk<br />

Israels zu zerstören, indem er ein<br />

„neues Volk Gottes“ zu gründen<br />

sucht.<br />

Fortan wird die Figur des Einzelnen<br />

vor Gott konstitutiv, während<br />

der Begriff des Volkes negiert<br />

wird. Hier liegt laut Taubes<br />

der Sprengstoff einer „Politischen<br />

Theologie“. Die Vorstellung einer<br />

Identität, der der Jude durch Geburt<br />

zugehört, sei hier wirklich bedroht.<br />

Nicht physisch, sondern durch die<br />

Aufforderung zur Abkehr, dass<br />

man seiner angestammten Religion<br />

wie Paulus selbst im „Damaskus-Erlebnis“<br />

durch einen Aufruf<br />

den Rücken kehrt, Konversion im<br />

Wortsinn. Die reale Bedrohung des<br />

Judentums (Gen. objectivus) geht<br />

also von einem universellen Glauben<br />

aus, der auf dieser Konversion<br />

beruht, der Aufforderung an<br />

jeden Einzelnen, im Namen einer<br />

unwiderlegbaren neuen Wahrheit<br />

den eigenen Glauben aufzugeben.<br />

Peter Sloterdijk spielte mit dem<br />

subversiven Charakter des neuen<br />

Glaubens in einem zentralen Kapitel<br />

(das 5.) seiner „... schrecklichen<br />

Kinder der Neuzeit“ (DsKN)<br />

und nannte Jesus einen „Bastard<br />

Gottes“, da dieser seine weltlichen<br />

Eltern verleugne, indem die Anrede<br />

des Vaters „aus dem irdischen<br />

Gebrauch verbannt werden“ muss,<br />

„nachdem Jesus seine überirdische<br />

Vater-Konzeption auf den Kreis<br />

seiner Anhänger ausgedehnt hatte“<br />

(DsKN, S. 286). Zeugung werde<br />

fortan durch Bekenntnis ersetzt. Der<br />

Vaterreligion des Judentums tritt die<br />

christliche des Sohnes gegenüber.<br />

Der damals junge Taubes-Assistent<br />

Norbert Bolz hat das am Leitfaden<br />

Nietzsches und Freuds in der Festschrift<br />

für Taubes zum 60. Geburtstag<br />

auf den Punkt gebracht: „Der<br />

Ägypter Moses stiftet die jüdische<br />

Religion, der Jude Paulus zerstört<br />

sie. […] Christus tritt an die Stelle<br />

des Vatergottes, sein Opfer erlöst<br />

von der Erbsünde und beschwichtigt<br />

das Schuldbewusstsein. Freud<br />

nun durchschaut, von Paulus geleitet,<br />

das Schuldbewusstsein als Gewissensangst.<br />

[…] Auf des Paulus<br />

Spur ist Freud zum Bekenntnis des<br />

Gottesmordes vorgedrungen. Und<br />

deshalb würdigt er das Christentum<br />

als – sofern es den Sohn vergottet<br />

– ‚unverhülltestes‘ Geständnis des<br />

Urverbrechens“ am Vater.<br />

Der größte Coup der<br />

Weltgeschichte<br />

Die Auserwähltheit zu opfern, um<br />

den Monotheismus allen zugänglich<br />

zu machen, war der semantische<br />

Umdeutungs-Coup des Paulus, um<br />

das ungeheure Schuldbewusstsein<br />

des Mordes am Ur-Vater zu beschwichtigen,<br />

das bereits die Ödipusgeschichte<br />

thematisiert – Freud<br />

variiert den Zusammenhang bereits<br />

in „Totem und Tabu“ sogar für die<br />

Urhorde. Wunsch und Tabu des Inzest<br />

sind von daher als Fluch über<br />

die Menschheit verhängt. Erst das<br />

Christentum kann die grausame


Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 19<br />

Tat durch das Sohnesopfer sühnen<br />

– und damit dem zerstörerischen<br />

Schuldbewusstsein Einhalt gebieten.<br />

Nur: Schuld und daraus resultierendes<br />

schlechtes Gewissen findet<br />

Nietzsche entsetzlich. Denn man<br />

kann sich diesem nicht entziehen.<br />

Weder jüdisch: weil kein Mensch<br />

sich ständig an 613 Gesetze je halten<br />

kann; noch christlich: weil wir<br />

nur im Geiste erlöst sind, doch bis<br />

zum Tag der Erlösung in unserem<br />

sündigen Fleisch stecken. Die vollkommen<br />

fiktionale Erlösung macht<br />

Nietzsche rasend.<br />

Erst Freud schickt sich durch<br />

die Erfindung einer Therapie unter<br />

Anerkennung des Christentums an,<br />

den Zugang zum Unbewussten zu<br />

erschließen – und sieht darin den<br />

naturwissenschaftlichen Ansatz<br />

einer Problemlösung. In Paulus<br />

sieht Freud allerdings die vertane<br />

Chance, die Schuld anzuerkennen,<br />

um sie im Durcharbeitungsprozess<br />

wirklich loszuwerden. Nietzsche<br />

wollte die Schuld am liebsten ganz<br />

abschaffen. Beide erkennen das<br />

abendländische Verhängnis, durch<br />

das christliche Erlösungsangebot<br />

aus dem Schuldzusammenhang<br />

nicht wirklich ausbrechen zu können.<br />

… und Nietzsche zerbricht<br />

daran<br />

Nietzsches Wut entlädt sich über<br />

den Paria, den Tschandala, den<br />

Sklaven, dem ganzen niederen<br />

Volk. Weil man durch die christliche<br />

Hypostasierung des Opfers<br />

dieses nicht abschafft, sondern es<br />

perpetuiert. Und Taubes will gerade<br />

hierin Nietzsches tiefen humanen<br />

„Impuls gegen die Verstrickung von<br />

Schuld und Versöhnung, auf der<br />

die gesamte paulinische, aber auch<br />

schon alttestamentliche Dialektik<br />

beruht“ (PTdP, S.121) erkennen.<br />

Schuld-, Opfer- und Versöhnungskreislauf<br />

sollen endlich durchbrochen<br />

werden, um eine „Unschuld<br />

des Werdens“ zu ermöglichen.<br />

Nietzsches „Privatmythologie“<br />

der ewigen Wiederkehr war ja gegen<br />

diesen nicht enden wollenden<br />

Schuldzusammenhang ausgeheckt,<br />

als Antwort auf die Heilstat des<br />

Gottessohnes, die das Unheil der<br />

abendländischen Verstrickungen,<br />

Kriege, Untaten doch nicht verhindern<br />

und das Leiden nicht überwinden<br />

konnte. Das christliche<br />

Nein zum Leben und Ja zum Leiden<br />

soll ersetzt werden durch ein<br />

dionysisches Ja zum Leiden und<br />

zum Leben. Sein Antwortversuch<br />

geht zurück auf seinen Philhellenismus,<br />

seine Graecomanie, wie<br />

Taubes selbst sagt. Und dennoch<br />

sitzt Taubes‘ eschatologisch-apokalyptisches<br />

Geschichtsbild dieser<br />

archaischen Verherrlichung sowie<br />

ahistorischen und mythischen Verzerrung<br />

der Antike durch Nietzsche<br />

auf. Taubes steht hier nicht allein:<br />

Spengler stellt im „Untergang des<br />

Abendlandes“ (1918) die Eigenart<br />

des griechischen Denkens als geschichtslos<br />

dar. Auch Martin Bubers,<br />

Walter Benjamins, Thorleif<br />

Bomanns (Das hebräische Denken<br />

im Vergleich mit dem Griechischen,<br />

1952), Gershom Scholems Antike-<br />

Vorstellungen waren zutiefst von<br />

Nietzsche geprägt. Karl Löwith,<br />

dessen „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“<br />

sich wie ein Spiegel<br />

von Taubes‘ „Abendländische(r)<br />

Eschatologie“ liest und fast gleichzeitig<br />

erscheint (1949), schlägt sich<br />

auf die Seite von Nietzsches geprägtem<br />

Antike-Modell und suchte<br />

damit einen Ausweg aus dem eindimensional-eschatologischen<br />

Denken,<br />

während Taubes als Akosmiker<br />

den Spuren der Endzeiterwartung<br />

nachhing.<br />

„Nietzsches Lehre suchte die<br />

Verbindung zwischen dem heidnischen<br />

Muster des Kreises und<br />

dem biblischen Muster des Pfeils<br />

eschatologischer Geschichte. Aber<br />

er scheiterte, denn der Kreis ist ein<br />

Symbol menschlicher Existenz ohne<br />

Zukunft und ergibt keinen ethischen<br />

Imperativ“ (AuP, S.130), den aber<br />

Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr<br />

für den Menschen erdacht<br />

hatte.<br />

Diese Nietzscheanische Antike-<br />

Verklärung erkannt zu haben, die<br />

die Welt zyklisch, als Kreislauf<br />

denkt und somit die Grundlage für<br />

die ewige Wiederkehr war, ist den<br />

Forschungen des Tübinger Religionswissenschaftlers<br />

Hubert Cancik<br />

zu verdanken. Sie steht eben im Gegensatz<br />

zu einer linearen, zielgerichteten,<br />

judeo-christlichen Geschichtsauffassung,<br />

die sich säkularisiert als<br />

Hegelsche Geschichtsphilosophie<br />

ausprägt. Taubes hebt neben Benjamin<br />

– „Es ist niemals ein Dokument<br />

der Kultur, ohne ein solches der Barbarei<br />

zu sein“ – auf den von Nietzsche<br />

erkannten Zusammenhang ab:<br />

„Die höchste Frucht menschlichen<br />

Geistes und Lebens ist erkauft worden<br />

und nur erkaufbar auf dem Fundament<br />

von Sklaverei, dass viele für<br />

Wenige arbeiten, so dass Wenige<br />

Muße haben und in ihnen sich das<br />

Humanum verwirklicht“ (Tumult,<br />

a.a.O., S.73). Und die Frage nach<br />

der Rechtfertigung, ob es das wert<br />

ist, hat Nietzsche bis hin zur Apologie<br />

der Sklaverei mit „Ja“ beantwortet<br />

– und ist selbst daran zerbrochen.<br />

Taubes: „Das ist sein Paradox:<br />

Apologie der Sklaverei aus Rettung<br />

des Humanen.“ – Aus dem er nie<br />

hinausgefunden hat.<br />

Das Ressentiment gewinnt Genie<br />

Nun kommt Paulus wieder ins<br />

Spiel. Und Nietzsche bemerkt, dass<br />

Ressentiment der Sprengstoff ist,<br />

mit dem die „Verschwörung der<br />

Leidenden“, der Schwachen, die<br />

antike Welt der vornehmen Werte<br />

in die Luft sprengt. Deshalb sieht er<br />

in Paulus das Ressentiment schöpferisch<br />

werden. Was heißt das genau?<br />

Dazu hilft ein Blick in den<br />

Römerbrief, den ja nur wirklich<br />

verstehen kann, wer über eine profunde<br />

Kenntnis über die hebräische<br />

Bibel verfügt und mit rabbinischen<br />

Argumentationstechniken vertraut<br />

ist – so wie Taubes. Die Briefe sind<br />

in Wahrheit gar nicht an die Römer<br />

gerichtet, sondern an die Synagoge<br />

zu Rom. Am jüdischen Gottesdienst<br />

dürfen ja seit jeher auch nicht-jüdische<br />

Gäste (Gojim) teilnehmen.<br />

Sie müssen sich nicht an alle jüdischen<br />

Gebote halten. Die elementaren<br />

Regeln zivilisierten Verhaltens<br />

reichen vollauf. Sie werden zwar<br />

respektiert, aber sie werden nicht<br />

Teil des auserwählten Volkes. Nun<br />

kommt Paulus unter diese Gäste und<br />

erklärt, dass sie nicht Juden zweiter<br />

Klasse sein müssen, die Zeit des Gesetzes<br />

sei vorbei. Sie stünden ganz<br />

in der Gnade Christi, wenn sie sein<br />

Evangelium annähmen. Das führt<br />

zu Ärger mit dem jüdischen Establishment,<br />

da er ihnen quasi als Nebenbuhler<br />

wichtige Gäste abtrünnig<br />

macht. Das Genie des Paulus liegt<br />

nun darin, dass er eine Theologie für<br />

alle schafft, für die Armen und die<br />

Vornehmen, für Juden wie Nicht-<br />

Juden, kurzum: für alle Menschen<br />

weltweit. Und weil Nietzsche im<br />

„Antichrist“ den Römerbrief nicht<br />

mehr (wie noch in der „Morgenröte“)<br />

zurate zieht, ist er mit seiner<br />

These vom Christentum als Sklavenmoral,<br />

für die er sich auf Korinther<br />

beruft (vgl. etwa 2. Kor. 12,10<br />

„..denn wenn ich schwach bin, dann<br />

bin ich stark!“, der auch Benjamin<br />

zu der Idee der „schwachen messianischen<br />

Kraft“ in seiner zweiten der<br />

geschichtsphilosophischen Thesen<br />

inspiriert hatte), diesmal auf der<br />

falschen Fährte und wie Taubes es<br />

nennt „nicht pfiffig“ genug. Sein Ergebnis<br />

kann er stehen lassen:<br />

„Die ganze Arbeit der antiken<br />

Welt umsonst.“<br />

Nietzsche hat kein Wort für „etwas<br />

so Ungeheures“. Paulus zertrümmert<br />

tatsächlich die antike<br />

Welt. Nämlich jetzt die griechischrömische.<br />

Seine Theologie der Liebe<br />

ist eine Kampfansage an den Heroismus<br />

der Antike, den Nietzsche<br />

so brennend verehrt. Eine Theologie<br />

der Liebe ist eine der Schwäche,<br />

weil der Liebende schwach ist, nicht<br />

in sich ruht, sondern den anderen<br />

braucht. Und auch Gott kommt ohne<br />

die Gegenliebe der Menschen nicht<br />

aus. Nietzsche sieht diesen schwachen<br />

Gott, aber auch das geht ihm<br />

gegen den Strich. Der Jude Paulus<br />

gewinnt gegen Rom, indem er statt<br />

das Gesetz die Liebe predigt. Das<br />

römische Reich wird nicht einfach<br />

politisch demontiert, sondern wird<br />

von einer großen psychologischen<br />

Kollektivmacht unterlaufen; dem<br />

unendlichen Bedürfnis, sich vom<br />

Schuldgefühl, von Gewissensbissen<br />

zu befreien. Paulus hatte den<br />

Riecher für die unwiderstehliche<br />

weltgeschichtliche Energie, die das<br />

Christentum durch die Möglichkeit<br />

der Vergebung der Sünden gegenüber<br />

dem Judentum in der Überwindung<br />

des Schuldgefühls der<br />

Menschen hatte. Das machte es so<br />

unendlich überlegen und münzt also<br />

das Ressentiment der Schwachen zu<br />

einer schöpferischen Stärke um. Als<br />

jüdischem Eiferer wäre ihm der Sieg<br />

gegen ein Imperium niemals gelungen<br />

und die jüdischen Zeloten, die<br />

diesen Krieg mit militärischen Mitteln<br />

führten, haben ihn grausam<br />

verloren. „Rom gegen Judäa, Judäa<br />

gegen Rom“ aus Nietzsches „Zur<br />

Genealogie der Moral“, das die<br />

NS-Ideologen inspirierte; es gab für<br />

Nietzsche „kein größeres Ereignis<br />

als diesen Kampf, diese Fragestellung,<br />

diesen todfeindlichen Widerspruch...“<br />

und Paulus, dessen christologische<br />

Botschaft mit dem Wort<br />

vom Kreuz weltgeschichtlich zündet<br />

– der lachende Dritte. Ein verfemter<br />

Tod am Kreuz hebt alle Gesetze auf<br />

– und die ganze Arbeit der antiken<br />

Welt. Gott am Kreuz, „den Juden<br />

ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“<br />

(1. Kor. 1, 23). Taubes erkennt<br />

den weltgeschichtlichen Erfolg des<br />

Erzketzers Paulus an und will ihn so<br />

für das Judentum fruchtbar machen.<br />

Vor diesem Hintergrund können wir<br />

Taubes‘ Versuch der Heimholung<br />

Pauli als Beitrag zur christlich-jüdischen<br />

Versöhnung lesen.<br />

Das Verhängnis des deutschen<br />

Geistes<br />

Statt die Juden in den deutschen<br />

Geschichtsbüchern mit dem Holocaust<br />

erst als Opfer auftauchen<br />

zu lassen, müsste man die ganze<br />

Geschichte mit all ihren Verstrickungen<br />

erzählen, damit der innere<br />

Zusammenhang von „Olymp, Sinai<br />

und Golgatha“ (von Griechen,<br />

Juden, Christen), „von Ionien bis<br />

Jena“ (von Platon bis Hegel) im<br />

Taubesschen Sinn ans Licht eines<br />

Tages befördert wird. In erwähntem<br />

Interview sagt Taubes auch, dass er<br />

Goethes Isolierung des „Olymp“<br />

für den Beginn der Graecomanie,<br />

sein gespieltes Heidentum für „das<br />

Verhängnis des deutschen Geistes“<br />

hält. Nietzsche hätte die Kosten für<br />

diese Paganität berechnet und sie<br />

teuer bezahlt. Was ist der Preis dafür<br />

„zu behaupten, dass die christliche<br />

Denkform zu Ende ging“?<br />

Nietzsches Zerrüttung lässt nur erahnen,<br />

wie nah an den Abgrund ihn<br />

die Widersprüche im Kampf gegen<br />

das Christentum gebracht haben.<br />

Die „kleinere Form“ dieser Kosten<br />

vollziehe sich etwa bis ins deutsche<br />

Gymnasium, „das eben antike Texte<br />

durchpaukt“, aber „die Bergpredigt<br />

dem Religionsunterricht überlässt“.<br />

Vor dieser Zweigleisigkeit,<br />

die schon einmal zum „Dorischen<br />

Zeitalter“ führen sollte, warnte und<br />

fürchtete sich Taubes, der einen<br />

Großteil seiner Familie in der Shoah<br />

verlor. Vielleicht wäre das ein Ansatz,<br />

um mit Taubes‘ Botschaft, seines<br />

Denkens in Konstellationen, auf<br />

der Höhe unserer Zeit noch einmal<br />

Ernst zu machen.<br />

Jacob Taubes, Apokalypse und<br />

Politik, Aufsätze, Kritiken und<br />

kleinere Schriften, hg. von Herbert<br />

Kopp-Oberstebrink und Martin<br />

Treml, Wilhelm Fink, München<br />

2017. € 49,90.<br />

Jens Bodemer<br />

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