UNIversalis-Zeitung Sommersemester 2018
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SPEZIAL<br />
<strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong><br />
Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />
ArtMedia Verlag Freiburg Sommer <strong>2018</strong> 25. Ausgabe / 14. Jahrgang<br />
Kein toter Hund, ein lebendiger Geist<br />
Ein Gespräch mit den Organisatoren der Ringvorlesung zu Marx‘ 200. Geburtstag<br />
Zu Karl Marx‘ 200. Geburtstag<br />
findet an der Universität<br />
Freiburg vom 25. April bis<br />
18. Juli eine Ringvorlesung statt.<br />
Vorträge von unterschiedlichen<br />
Fachreferenten belegen Marx‘-<br />
Facettenreichtum und auch seine<br />
Aktualität. Dr. Christian Dries,<br />
Soziologe, und PD Dr. Sebastian<br />
Schwenzfeuer, Philosoph, organisieren<br />
die Großveranstaltung. Fabian<br />
Lutz hat sie zum Interview<br />
getroffen und mit ihnen über den<br />
Hund und Geist Karl Marx gesprochen,<br />
über Vulgärmarxismus<br />
und Ideologien sowie den wahren<br />
Marx und darüber, ob man von<br />
dem einen Marx überhaupt sprechen<br />
kann.<br />
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Aus dem Inhalt:<br />
Im Gespräch: Dr. Alexandra<br />
Klotz, Epilepsiezentrum der<br />
Universitätsklinik3<br />
Neue Recherche:<br />
„Monsieur Göthé...“ 4<br />
Annette Kolb:<br />
Femme de lettres<br />
5<br />
„Die Tyrannei des<br />
Wachstums“: Jason Hickel 7<br />
Mit den Waffen der Kunst9<br />
Zumbiegel erlernt<br />
das Alphabet10<br />
Vom Kooperationsnetzwerk<br />
zur School of Education13<br />
Von der Muse geküsst 14<br />
Jacob Taubes‘ zweiter<br />
Sammel-Band –<br />
Apokalypse und Politik 17<br />
Großer Denker in massiver Bronze. Die Marx-Statue des chinesischen<br />
Bildhauers Wu Weishan wurde am 5. Mai in Trier enthüllt. Proteste<br />
blieben nicht aus (siehe Seite 2)<br />
Foto: Daniel John<br />
<strong>UNIversalis</strong>: In ihrer eröffnenden<br />
Podiumsdiskussion vom 25. April<br />
war von Marx als „totem Hund“<br />
die Rede. Marx ist biologisch nur<br />
einmal gestorben, wurde aber immer<br />
wieder ausgegraben,<br />
dann wieder für<br />
tot erklärt. Was ist jetzt<br />
eigentlich mit ihm?<br />
Christian Dries: Wolfgang<br />
Eßbach hat bei<br />
dieser Podiumsdiskussion<br />
gesagt, dass man<br />
bei toten Hunden nie so<br />
ganz weiß, ob sie nicht<br />
doch nur schlafen. So<br />
gesehen ist Marx oft<br />
für tot erklärt worden,<br />
aber er war wohl nie<br />
wirklich tot.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Sie nennen<br />
Marx auch einen<br />
„lebendigen Geist“.<br />
Dries: Zum einen ist<br />
Marx natürlich ein<br />
großer Geist, ein großer<br />
Denker, ein großer<br />
Philosoph. Das war er,<br />
neben seinen anderen<br />
Eigenschaften als Politiker,<br />
Revolutionär,<br />
Journalist, Soziologe.<br />
Und zum anderen ist<br />
er, und das spielt auf<br />
Jacques Derrida an, ein<br />
Gespenst, das uns immer<br />
wieder heimsucht.<br />
Auch wenn es für tot<br />
erklärt wird. Marx steht<br />
immer wieder im Subtext,<br />
taucht immer wieder<br />
auf, spielt sich aus<br />
dem Hintergrund wieder<br />
in den Vordergrund.<br />
So kommt man um ihn<br />
auch nicht herum.<br />
Sebastian Schwenzfeuer:<br />
Marx schreibt<br />
selbst im Kommunistischen<br />
Manifest, dass<br />
der Kommunismus wie<br />
ein Gespenst durch Europa<br />
geht. In gewisser<br />
Weise geht heute Marx<br />
als Gespenst durch unsere<br />
Zeit. Nur ist dieses<br />
Gespenst Marx, nicht<br />
das Gespenst des Kommunismus<br />
im 19. Jahrhundert.<br />
Auf eine gewisse<br />
Weise ist er heute<br />
lebendiger denn je.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Warum<br />
ist Marx gerade heute<br />
so lebendig?<br />
Dries: Daniel Loick<br />
hat in seinem Vortrag<br />
zu Marx‘ (und Engels‘)<br />
Politik der Lebensformen<br />
(09.05.) gesagt,<br />
dass man über Marx<br />
eigentlich immer reden<br />
kann und sollte.<br />
Sicher haben ihm die Finanzkrise<br />
ab 2007, und ebenso die negativen<br />
Folgen der Globalisierung zu einer<br />
Renaissance verholfen, nicht nur in<br />
Europa, sondern weltweit. Selbst<br />
in den USA, wo man seit einigen<br />
Jahren wieder Marx liest und neue<br />
linke Zeitschriften gegründet hat.<br />
Schwenzfeuer: Angesichts der veränderten<br />
weltpolitischen Lage, dem<br />
Zusammenbruch des Ostblocks<br />
1989/90, glaube ich auch, dass der<br />
Blick auf Marx viel freier geworden<br />
ist und auch noch werden kann. Die<br />
Person Marx ist heute an keine bestimmte<br />
Partei oder ein bestimmtes<br />
Programm mehr gebunden. Für die<br />
Zeit vor 1989 würde ich hingegen<br />
von einer „hermeneutischen Blockade“<br />
gegenüber Marx sprechen,<br />
da war auch die Unbefangenheit<br />
noch nicht da. Das macht schon<br />
einen großen Unterschied für das,<br />
was man an Marx sieht und was<br />
man aus ihm machen will und kann.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Damit sprechen Sie<br />
ja auch das Problem der Ideologisierung<br />
Marx‘ an, das auch noch<br />
heute, lange nach dem Zusammenbruch<br />
des Ostblocks besteht.<br />
Gerade in Trier sorgte die Enthüllung<br />
der von China geschenkten<br />
Marx-Statue an dessen Geburtstag<br />
am 5. Mai für breite Empörung.<br />
Weil Marx als Statue glorifiziert<br />
erscheint, aber auch, weil ein Geschenk<br />
von der Autokratie China<br />
angenommen wurde. Wovor haben<br />
die Menschen mehr Angst: Vor<br />
Marx oder den diktatorischen Erben<br />
seiner Theorie?<br />
Dries: Diese Diskussionen sind ein<br />
Ausdruck der „hermeneutischen<br />
Blockade“, die Sebastian erwähnt<br />
hatte – beziehungsweise ihrer Folgen.<br />
Es gibt viele Marx-Bilder, die<br />
herumgeistern, und eines ist eben<br />
das von Marx als Begründer des<br />
Kommunismus und, wenn man so<br />
will, Stalinismus, des „real existierenden<br />
Sozialismus“. Das Bild ist<br />
in den Köpfen drin und wird bei so<br />
einem konkreten Anlass auch wieder<br />
aktualisiert. Ich denke, das sind<br />
Diskussionen, die durchaus geführt<br />
werden müssen. Marx ist von vielen<br />
Leuten in Beschlag genommen<br />
worden, im sogenannten Marxismus,<br />
oder dem Vulgärmarxismus.<br />
Sebastian hat aber zu Recht gesagt,<br />
dass wir jetzt einen unverstellteren<br />
Blick auf Marx haben können.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Was meinen Sie mit<br />
„Vulgärmarxismus“?<br />
Dries: Eine ideologisch verkürzte<br />
und auf „Lehrformeln“ zurechtgestutzte<br />
Version Marx’scher Überlegungen.<br />
Das fängt schon mit<br />
Friedrich Engels an, dem viele<br />
vorgeworfen haben, Marx in einer<br />
„vulgarisierten Fassung“ auf<br />
den Markt gebracht und so für die<br />
politischen Bewegungen der Zeit,<br />
Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie<br />
etc., handhabbar gemacht zu<br />
haben. Es gab immer wieder recht<br />
primitive, dogmatische Marx-<br />
Verständnisse, etwa in bestimmten<br />
politischen Gruppierungen wie<br />
den sogenannten K-Gruppen in der<br />
Nachfolge der Proteste von 1968,<br />
natürlich auch im Ostblock, in den<br />
Parteischriften, etwa der SED. Nur<br />
spielt dieser Vulgärmarxismus heute<br />
eigentlich keine Rolle mehr (außer<br />
vielleicht in China). Jedenfalls<br />
gibt es keine ernsthaften Marx-LeserInnen,<br />
die damit etwas anfangen<br />
könnten.<br />
Schwenzfeuer: Diese verkürzten<br />
Lesarten halten den Texten auch<br />
nicht Stand. Durch die kritische Gesamtausgabe<br />
sind die Texte ja noch<br />
besser erschlossen. Auch das ist übrigens<br />
ein hermeneutischer Vorteil,<br />
den wir heute haben und der nicht<br />
zu unterschätzen ist. Der Vulgärmarxismus<br />
reicht gar nicht an die<br />
Komplexität, die Gebrochenheit,<br />
die Vielfältigkeit der Marx’schen<br />
Überlegungen heran, die nie nur<br />
in eine Richtung zielten. Was man<br />
am Vulgärmarxismus positiv sehen<br />
könnte, wäre der Versuch, etwas,<br />
das schwierig ist, zugänglicher zu<br />
machen. Damit stellt sich ja auch<br />
die wichtige Frage, wie man die<br />
komplizierten Analysen, etwa im<br />
Kapital, breitenwirksam verständlich<br />
machen kann.<br />
Dries: Wobei schon Marx selbst zu<br />
Auslagern<br />
Aufbewahren<br />
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Lebzeiten populäre Schriften veröffentlicht<br />
hat, etwa Lohn, Preis und<br />
Profit. Da hat er selbst versucht,<br />
seine Theorie etwas eingängiger<br />
darzustellen. In seiner Kritik des<br />
Gothaer Programms versucht er der<br />
Sozialdemokratie seiner Zeit zu erklären,<br />
was sein Standpunkt ist und<br />
warum es der bessere Standpunkt<br />
ist. Sein Werk als geschlossene<br />
Weltanschauung zu präsentieren,
2 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
wie es der Vulgärmarxismus in Folge<br />
von Lenin ja getan hat, war aber<br />
nie Marx‘ Intention.<br />
Schwenzfeuer: Gerade Lenin hat<br />
Marx nicht einfach nur verständlich<br />
gemacht, sondern immens<br />
umgedeutet und zahlreiche eigene<br />
Thesen eingebracht. Der Vulgärmarxismus<br />
ist ein Konglomerat aus<br />
einem vulgär gelesenen Marx, und<br />
Lenin, angereichert vielleicht mitTrotzki,<br />
Mao und anderen.<br />
Dries: Im Laufe seines Lebens wurde<br />
es Marx immer wichtiger, seine<br />
Theorie in eine wissenschaftliche<br />
Form zu bringen und auch als solche<br />
zu vermitteln. Die marxistischleninistische<br />
Weltanschauung<br />
war hingegen der Versuch, Marx‘<br />
Theorie ins Politische zu wenden.<br />
Marx wurde zum Kampfinstrument.<br />
Lenin war ja kein Idiot, der Marx<br />
nicht verstanden hat, sondern er hat<br />
ihn politisch wirkmächtig umfrisiert.<br />
Durch die unterschiedlichen<br />
Umgestaltungen entstanden ja auch<br />
die vielen unterschiedlichen Marx-<br />
Bilder.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Warum hat man Marx<br />
immer aufbereiten müssen? Lag es<br />
auch an seiner Komplexität, seiner<br />
Widersprüchlichkeit, die Sie bereits<br />
erwähnten?<br />
Schwenzfeuer: Marx ist ein ambitionierter<br />
Theoretiker. Er ist Philosoph,<br />
Historiker, Wirtschaftswissenschaftler<br />
und auch Soziologe,<br />
auch wenn es die beiden letzteren<br />
Disziplinen damals noch nicht gab.<br />
Und er verbindet diese, für uns<br />
heute getrennten Perspektiven auf<br />
eine ganz originäre, hochreflektierte<br />
Weise. Das bedingt schon<br />
von der Sache her, dass er gar nicht<br />
einfach zugänglich sein kann. Als<br />
Philosoph kann ich sagen, dass alle<br />
großen Theoretiker schwierig sind,<br />
da darf man gar nichts Einfaches<br />
erwarten.<br />
Dries: Marx‘ Denken ist durch<br />
mehrere große Umbrüche und permanente<br />
Neuanläufe gekennzeichnet.<br />
Er arbeitet seine eigene Theorie<br />
immer wieder um, nimmt Impulse<br />
auf, ist ein großer Eklektiker. Das<br />
sind Einflüsse aus der Philosophie,<br />
der Wissenschaft, der Ökonomie,<br />
aber auch zeitgenössische Begebenheiten.<br />
Er arbeitete auch immer<br />
wieder journalistisch und war so<br />
nahe am Tagesgeschehen. Diese<br />
Umbrüche und Umarbeitungen,<br />
die von einem lebendigen Geist<br />
zeugen, sprechen auch dafür, dass<br />
man es nicht mit einem kompakten<br />
Werk, sondern eher mit einem Torso<br />
zu tun hat, oder gleich mehreren<br />
davon! Aber das macht gerade den<br />
Reiz dieses Marx’schen „Werks“<br />
aus.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Können Sie eine spezielle<br />
Phase in Marx‘ Leben benennen?<br />
Dries: Oliver Marchart schließt am<br />
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25.06. mit dem Vortrag Marx als<br />
Demokrat. Das Marx’sche Frühwerk<br />
im Licht radikaler Demokratietheorie<br />
an den frühen Marx an.<br />
Da war Marx noch ein stark von<br />
der Aufklärung geprägter Radikaldemokrat.<br />
Manche knüpfen heute<br />
wieder an diesen Marx an, und das<br />
kann man an ganz unterschiedlichen<br />
Teilen seines Werkes tun<br />
und ganz unterschiedliche Aspekte<br />
weiterdenken. Aber egal wo man<br />
ansetzt, es ist eben anstrengend.<br />
Wie Marx im Kapital selbst sagt:<br />
Ich setze Leser voraus, die selber<br />
denken wollen. Das ist die Minimalvoraussetzung.<br />
Andererseits ist<br />
Marx auch ein großartiger Stilist.<br />
Einer der größten deutscher Zunge,<br />
würde ich sagen. Deswegen ist es<br />
immer ein ganz großes Vergnügen,<br />
ihn zu lesen. Das betrifft seine klassischen<br />
Texte wie das Kapital, aber<br />
auch seine Polemiken, die großartig<br />
und durchaus auch unterhaltsam<br />
sind.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: In Ihrer Ringvorlesung<br />
sind dem vielfältigen Programm<br />
Marx‘ vielfältige wissenschaftliche<br />
Zugänge gegenübergestellt,<br />
mit Referenten aus verschiedenen<br />
Disziplinen. Nicht zuletzt<br />
sind Sie beide als Organisatoren ja<br />
in zwei unterschiedlichen Disziplinen<br />
beheimatet. Wie sehen Sie Ihre<br />
Disziplinen, die Philosophie und<br />
die Soziologie, speziell mit Marx<br />
verbunden?<br />
Schwenzfeuer: Für mich als Philosophen<br />
ist Marx als Erbe Hegels<br />
interessant. Marx bietet eine ingeniöse<br />
Ausgestaltung der Hegel’schen<br />
Methode. Das ist auch für heutige<br />
philosophische Diskurse äußerst<br />
interessant. Natürlich werden das<br />
Marxisten nicht gerne hören, denn<br />
Hegel ist ja bürgerliche Philosophie.<br />
Dries: Ungeachtet der Zäsur von<br />
1989 und der hermeneutischen<br />
Blockade hatte Marx immer einen<br />
Platz in der Soziologie. Das war in<br />
der Philosophie nicht immer so. In<br />
der Soziologie sind die Kontinuitäten<br />
doch etwas stärker. Bei uns<br />
ist Marx fester Teil des Lehrplans.<br />
Im Bachelor-Studium werden alle<br />
Dr. Christian Dries, Soziologe, und PD Dr. Sebastian Schwenzfeuer, Philosoph<br />
mindestens einmal mit Marx konfrontiert.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Haben Sie noch mehr<br />
mit Marx vor?<br />
Schwenzfeuer: Ich lasse die Flut der<br />
Publikationen, die uns zum Jubiläum<br />
überrollt, erst einmal kommen und<br />
schaue dann, wo ich meinen Fokus<br />
setze. Ich habe mir Marx als Autoren<br />
nicht wegen des Jubiläums ausgesucht.<br />
Als ich vor einigen Semestern<br />
begann, mich intensiver mit Marx<br />
auseinanderzusetzen, hatte ich das gar<br />
nicht im Blick. Auf den Umstand des<br />
Jubiläums wurde ich von dritter Seite<br />
hingewiesen. Natürlich ist es eine<br />
glückliche Fügung, dass das Jubiläum<br />
so eine große öffentliche Aufmerksamkeit<br />
für Marx erregt. Aber damit<br />
ist die Sache für mich noch nicht abgeschlossen.<br />
Dries: Ein konkretes Projekt habe ich<br />
nicht, aber ich stelle in meinen eigenen<br />
Arbeiten immer wieder fest, dass<br />
es zu Marx viele Berührungspunkte<br />
gibt. Und da sind wir auch wieder<br />
beim Gespenst: Marx taucht immer<br />
wieder auf. Gerade in vielen modernen<br />
Texten des 20. Jahrhunderts mit<br />
denen ich arbeite. Marx ist ein ganz<br />
starker Referenzpunkt – ob sich Autoren<br />
direkt oder indirekt auf ihn beziehen<br />
oder sich von ihm abstoßen.<br />
Darüber hinaus finde ich es schwierig,<br />
noch etwas Neues, Interessantes<br />
zu jemandem zu sagen und vor allem<br />
zu schreiben, über den schon so unfassbar<br />
viel gesagt und geschrieben<br />
wurde. Das sieht man ja auch bei vielen<br />
aktuellen Publikationen, die oft<br />
wenig Neues bringen. Also, da man<br />
muss nicht unbedingt noch etwas<br />
hinzufügen, sondern darf sich auch<br />
einfach seine persönlichen Lieblingsautoren<br />
für die Lektüre reservieren,<br />
als andauernde Anregung und „Fundgrube“,<br />
und das einfach genießen.<br />
Eine Übersicht der noch folgenden<br />
Vorträge der Vorlesungsreihe findet<br />
sich unter www.studiumgenerale.uni-freiburg.de<br />
und unter dem<br />
Menüpunkt Colloquium politicum/<br />
Vortragsreihen.<br />
Zündstoff und differenzierte Debatten<br />
Zu den Feierlichkeiten des Karl-Marx-Jahrs <strong>2018</strong> rüttelt eine Kontroverse den Kulturbetrieb auf. Es geht um<br />
eine stolze Statue, Chinas Einfluss und falsche Heldenverehrung. Vielleicht ja perfekter Zündstoff, um eine lebhafte<br />
Debatte zu starten<br />
An seinem 200. Geburtstag<br />
erscheint Karl Marx überlebensgroß<br />
auf dem Simeonstiftplatz in<br />
Trier. Das rote Tuch fällt und enthüllt<br />
eine erhaben stolze Statue aus<br />
Bronze. Trier ist Marx‘ Geburtsort,<br />
aber nicht alle Trierer wollen<br />
Geburtstag feiern. Zur Enthüllung<br />
gab es nicht nur Feierlichkeiten,<br />
sondern auch Demonstrationen<br />
verschiedener Prägung, nur geeint<br />
durch den Wunsch, Marx wieder<br />
vom 5,50 Meter hohen Sockel zu<br />
holen. Der Protest entzündet sich<br />
nicht nur am bekanntermaßen umstrittenen<br />
Ruf des Vaters des Kommunismus,<br />
sondern auch an den<br />
politischen Hintergründen der Statue,<br />
die eben ein Geschenk Chinas<br />
an die Geburtsstadt darstellt. Sind<br />
die diplomatischen Beziehungen<br />
Deutschlands zu China schon an<br />
sich ein kontroverses Politikum,<br />
konkretisiert sich die Problematik<br />
angesichts des Urvaters des Kommunismus<br />
noch. So gilt das autoritär<br />
geführte China doch gerade<br />
als ein Negativbeispiel, ein Beleg<br />
für das Scheitern des Kommunismus.<br />
Marx wiederum wird dann als<br />
Ideengeber für solche Autokratien<br />
problematisiert. Aus den harten und<br />
stolzen Zügen der massiven Skulptur<br />
scheint für viele eine klare Huldigung<br />
des Kommunismus hervorzutreten<br />
– ein schaler ideologischer<br />
Beigeschmack und eine Erinnerung<br />
an Zeiten von Kulturverherrlichung<br />
durch die Kunst des Sozialistischen<br />
Realismus. Ein empfindliches Thema,<br />
gerade in einem Land, das<br />
durch den Sozialismus schon einmal<br />
entzwei gerissen wurde. Neben<br />
Demonstrationen von der AfD, einer<br />
Gegendemonstration und einer<br />
Demonstration von Befürwortern<br />
gab es auch allgemeinen Protest,<br />
längst schon im Trierer Stadtrat, der<br />
die Schenkung im März 2017<br />
genehmigte, aber auch von<br />
der Schriftstellervereinigung<br />
PEN-Zentrum Deutschland,<br />
dem tschechischen Staatspräsidenten<br />
Vaclav Klaus und<br />
Verbänden wie der Union der<br />
Opferverbände Kommunistischer<br />
Gewaltherrschaft.<br />
Dabei sind die Trierer<br />
Feierlichkeiten im 200. Geburtsjahr<br />
von Karl Marx<br />
eigentlich eben nicht als<br />
forcierte Kontroverse angelegt,<br />
sondern sollen differenzierte<br />
Einblicke in ein<br />
kontroverses Werk bieten.<br />
Auf diese Weise ließe sich<br />
die Statue als ausgestelltes<br />
Untersuchungsobjekt begreifen,<br />
dessen kritische Kontextualisierung<br />
über die Veranstaltungen<br />
<strong>2018</strong> ja erfolgt.<br />
Zunächst ist da vor allem die<br />
große Ausstellung im Rheinischen<br />
Landesmuseum Trier<br />
vom 5. Mai bis 21. Oktober<br />
<strong>2018</strong>, die auf 1000 m² Ausstellungsfläche<br />
Person und<br />
Wirken Marx‘ umfassend in<br />
den Blick nimmt. „Stationen eines<br />
Lebens“ ist wiederum das Motto<br />
der Ausstellung im Stadtmuseum<br />
Simeonstift Trier. Ebenfalls vom<br />
5. Mai bis 21. Oktober <strong>2018</strong> wird<br />
über einen Rundgang der Lebensweg<br />
Marx‘ anschaulich. Und nicht<br />
zuletzt wartet auch das Museum<br />
Karl-Marx-Haus seit dem 5. Mai<br />
mit einer neuen Dauerausstellung<br />
auf. Daneben beweisen weitere<br />
Veranstaltungen, ob aus dem Bereich<br />
Theater, Bildung oder Film<br />
einen enormen Facettenreichtum im<br />
Umgang mit Marx. Steht hinter der<br />
Aufstellung der Statue, deren Kontroverse<br />
immerhin absehbar war,<br />
also ein effektiver Mediencoup?<br />
Die Ausstellung „Leben. Werk. Zeit“ im Rheinischen Landesmuseum Trier<br />
Vielleicht heiligt der Zweck ja die<br />
Mittel, denn die Aufmerksamkeit<br />
die Trier und damit Marx erhalten,<br />
sind seiner historischen Bedeutung<br />
ja angemessen, und einem so großen<br />
Festival sicherlich auch. Eine<br />
akademisch ruhige Debatte wird es<br />
aber nicht werden, dafür polarisiert<br />
Marx doch zu sehr, bis heute und<br />
Foto: Karl-Marx-Ausstellung Trier<br />
vermutlich noch für lange Zeit.<br />
Zu diskutieren ist aber, und das<br />
gilt allgemein, wie man mit kontroversen<br />
historischen Gegenständen<br />
und Personen umzugehen hat.<br />
Gerade wenn es sich um eine lange,<br />
längst verknöcherte Debatte<br />
handelt, kann etwas Sprengstoff<br />
durchaus die nötige Aufmerksamkeit<br />
und Bewegung bringen, die<br />
Debatte selbst aber auch unmöglich<br />
machen. Gegenüber der Causa Trier<br />
bleibt vor allem Erstaunen darüber,<br />
dass ein so großes Land wie China<br />
auf eine kleine Stadt wie Trier<br />
blickt und ihr eine Statue kreiert. Im<br />
Übrigen vielleicht auch ein Grund,<br />
warum es sinnvoll ist, eine so große<br />
Ausstellung zu veranstalten: Man<br />
nimmt die Resonanz des Medienereignisses<br />
und formt sie zu lebhaften,<br />
neuen Debatten, und genießt<br />
noch dazu höhere Besucherzahlen.<br />
Und so blickt auch Deutschland auf<br />
Trier. Was immerhin deutlich wird:<br />
Aus kleinen Verhältnissen können<br />
weltbewegende Menschen treten.<br />
Was auch deutlich wird: China hält<br />
sich nicht zurück. Und so kann man<br />
neben der Bedeutung eines Karl<br />
Marx, auch ganz realpolitisch und<br />
sogar anschaulich die Mächteverhältnisse<br />
der Welt an einer kleinen<br />
Stadt in Rheinland-Pfalz demonstrieren.<br />
Die Diskussion um Marx<br />
und den Kommunismus ist längst<br />
nicht zu Ende.<br />
Fabian Lutz
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 3<br />
„Noch steckt die Forschung in den<br />
Kinderschuhen“<br />
Dr. Alexandra Klotz ist Oberärztin am Epilepsiezentrum der Universitätsklinik Freiburg. Für<br />
die Therapie von Epilepsiekranken setzt sie den Cannabiswirkstoff Cannabidiol (CBD) ein, der<br />
seit einer Gesetzesänderung im März 2017 zur umfassenderen medizinischen Anwendung in<br />
Deutschland zugelassen ist. Langzeiterfahrungen mit dem Medikament stehen jedoch noch aus.<br />
Fabian Lutz hat die Ärztin getroffen. Ein Gespräch über Wirkung, Chancen und Wahrnehmung<br />
eines umstrittenen Wirkstoffs<br />
Historische Verwendung von<br />
Cannabis als Medizin. Ein<br />
Cannabisextrakt zu Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts<br />
Dr. Andrea Klotz, Epilepsiezentrum Universitätsklinik Freiburg<br />
Foto: Universitätsklinikum Freiburg<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Cannabis als Medikament,<br />
Cannabis in der Therapie.<br />
Das löst auch Befremden aus, vielleicht<br />
weil viele Menschen dabei<br />
an THC und illegale Rauschmittel<br />
denken.<br />
Dr. Alexandra Klotz: Cannabis<br />
wird als Medikament schon<br />
ebenso lange eingesetzt wie auch<br />
als Rauschmittel, bereits im alten<br />
Ägypten oder China. Die Hanfpflanze<br />
enthält sehr viele aktive<br />
Wirkstoffe, Cannabinoide genannt,<br />
die potentiell als Medikament dienen<br />
können. Der Wirkstoff, der<br />
gerade intensiver erforscht wird,<br />
das Cannabidiol (CBD), ist ein Teil<br />
der Pflanze, der im Gegensatz zum<br />
THC keine berauschende Wirkung<br />
hat. Von den über 100 aktiven Pflanzenstoffen<br />
der Hanfpflanze sind<br />
Cannabidiol und THC übrigens nur<br />
zwei, wir wissen nicht, ob die 98<br />
anderen nicht auch potentiell gute<br />
Medikamente sein können.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Wie gut ist die medizinische<br />
Wirkung von Cannabis<br />
erforscht?<br />
Dr. Klotz: Hierzu muss man sich<br />
zunächst überlegen, welche Forschungsergebnisse<br />
gefragt sind.<br />
Wenn man sich das Beispiel Cannabidiol<br />
anschaut: Da gibt es<br />
Grundlagendaten zur Wirkung von<br />
Cannabidiol in der Zelle, dann<br />
Daten aus Tierversuchen zur Wirkung<br />
von Cannabidiol bei einem<br />
bestimmten Epilepsiemodell und<br />
Beobachtungen zur Wirkung beim<br />
Menschen selbst. In dieser Reihenfolge<br />
nimmt auch die Datendichte<br />
ab. Die Grundlagendaten und die<br />
aus Tierversuchen sind qualitativ<br />
und quantitativ besser als jene,<br />
die man durch die Anwendung am<br />
Menschen erhält. Das hat auch<br />
forschungsgeschichtliche Gründe.<br />
In den 60ern gab es Forschergruppen,<br />
die sich intensiv mit der medizinischen<br />
Wirkung von Cannabis<br />
beschäftigt haben, unter anderem<br />
jene um den israelischen Forscher<br />
Raphael Mechoulam, der auch den<br />
Wirkstoff THC entschlüsselt hat.<br />
Durch die Nähe zum kontroversen<br />
Drogenthema ist das aber nicht<br />
weiter verfolgt worden. Erst in den<br />
letzten fünf Jahren hat sich die medizinische<br />
Cannabisforschung wieder<br />
intensiviert.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Welche Ergebnisse<br />
zur medizinischen Wirkung zeigen<br />
die unterschiedlichen Datenerhebungen?<br />
Dr. Klotz: Bei der Grundlagenund<br />
Tierforschung zeigt sich, dass<br />
das Cannabidiol enorm viele, verschiedene<br />
Wirkungen hat. Es wirkt<br />
gegen Entzündungen, Übelkeit,<br />
Krampfanfälle, wirkt antioxidativ<br />
und hat noch viele weitere Effekte.<br />
Die entscheidende Frage ist aber,<br />
ob diese Wirkungen auch beim<br />
Menschen eintreten und mit welchen<br />
Nebnwirkungen. Die besten<br />
Daten dazu liegen tatsächlich in<br />
der Epileptologie vor, gerade im<br />
Kinderbereich. Cannabidiol wirkt<br />
definitiv gegen epileptische Anfälle.<br />
Wir wissen aber noch nicht, ob<br />
es bei allen Arten von Anfällen und<br />
allen Formen von Epilepsie wirkt.<br />
Die Verträglichkeit scheint recht<br />
gut zu sein, außerdem scheint das<br />
Cannabidiol nach den Daten, die<br />
wir bis jetzt zur Verfügung haben<br />
auch kein Abhängigkeitspotential<br />
zu besitzen. Für ein Medikament ist<br />
das natürlich sehr vorteilhaft. Insgesamt<br />
steckt die Forschung, gerade<br />
was die Langzeitwirkung anbetrifft<br />
aber noch in den Kinderschuhen.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Aber es gibt einen<br />
Forschungstrend.<br />
Dr. Klotz: Cannabis ist erst mit der<br />
Gesetzesänderung im März 2017<br />
zur medizinischen Verwendung<br />
richtig freigegeben worden. Vorher<br />
war die medizinische Verwendung<br />
von Cannabis in Deutschland<br />
auf sehr wenige Anwendungen im<br />
Bereich der Behandlung von Erwachsenen<br />
beschränkt, auch gab<br />
es nur ganz wenige Präparate. Die<br />
Freigabe 2017 bringt aber auch<br />
gesetzliche Vorgaben. So muss die<br />
vorliegende Erkrankung schwer<br />
sein, ebenso müssen andere, gute<br />
Alternativen ausgeschöpft sein oder<br />
gar nicht erst zur Verfügung stehen.<br />
Die Kostenübernahme ist noch ein<br />
anderes Thema, denn Cannabismedikamente<br />
sind teuer. Das muss individuell<br />
über einen Antrag an die<br />
Krankenkasse geklärt werden.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Warum haben Sie sich<br />
für eine Therapie mit Cannabidiol<br />
entschieden?<br />
Dr. Klotz: Wir haben uns in der<br />
Freiburger Epileptologie dafür entschieden,<br />
die Therapie mit Cannabidiol<br />
zu versuchen, weil es in der<br />
Epileptologieforschung die besten<br />
Daten zur Wirkung gibt. Wir wissen<br />
aber auch, dass Cannabidiol<br />
ein Medikament ist, zu dem noch<br />
keine Langzeiterfahrungen vorliegen.<br />
Daher wollen wir das ganz<br />
standardisiert machen. Das heißt,<br />
dass alle unsere Patienten ganz bestimmte<br />
Vorsorge- und Begleituntersuchungen<br />
erhalten. Die Therapie<br />
wird von einem erfahrenen Epileptologen<br />
geleitet, der Beginn der<br />
Therapie erfolgt immer stationär.<br />
Bei einem Medikament, das keine<br />
offizielle Zulassung hat, keine randomisiert-kontrolliert-verblindeten<br />
Studien, also nicht den klassischen<br />
Weg für eine Medikamentzulassung<br />
durchlaufen hat, trägt der durchführende<br />
Arzt die Verantwortung. Die<br />
Therapie ist immer zunächst für<br />
drei Monate angesetzt, weil wir beobachten<br />
wollen, wie das Medikament<br />
vertragen wird, aber auch weil<br />
wir eine gewisse Rechtfertigungspflicht<br />
gegenüber den Krankenkassen<br />
haben, die den Patienten diese<br />
teure Therapie ermöglichen. Wenn<br />
man gar keinen Effekt bemerkt,<br />
würde man die Therapie nach drei<br />
Monaten auch beenden, ansonsten<br />
fährt man mit der Therapie fort.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Erforschen Sie zusätzlich<br />
die Wirkung des Cannabidiol<br />
auf Ihre Patienten?<br />
Dr. Klotz: Wir evaluieren unsere<br />
Daten. Wir bitten Eltern und erwachsene<br />
Patienten um eine Einverständniserklärung,<br />
dass wir die<br />
Daten, die wir während dem Therapieversuch<br />
gewinnen, auswerten<br />
dürfen. So können wir herausfinden,<br />
wer von den Medikamenten wirklich<br />
profitiert, welche Patientengruppe<br />
besser, welche schlechter<br />
darauf anspricht, welche Nebenwirkungen<br />
wirklich alltagsrelevant sind<br />
und welche vielleicht weniger.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Haben Sie schon viele<br />
Erfolge evaluieren können?<br />
Dr. Klotz: Die Patientendaten, die<br />
wir aktuell überblicken, wurden<br />
noch nicht formell ausgewertet, daher<br />
kann ich keine Statistik präsentieren.<br />
Es gibt aber Patienten, die an<br />
schweren Epilepsien leiden und sehr<br />
von der Therapie profitieren. Etwa<br />
ein kleiner Junge, der extrem empfindlich<br />
auf Sonnenlicht reagiert und<br />
davon Anfälle bekommt. Dieses Jahr<br />
war er zum ersten Mal in seinem Leben<br />
Skifahren, weil er dank der Therapie<br />
zum ersten Mal ins helle Licht<br />
auf der Piste konnte. Solche Fälle<br />
sind natürlich Vorzeigefälle. Wir<br />
haben aber auch eine ganze Reihe<br />
Patienten, die nicht auf die Therapie<br />
angesprochen haben. Mein Gefühl<br />
ist also, dass es Patienten gibt, denen<br />
die Therapie hilft, aber ein Wundermittel<br />
ist Cannabidiol nicht.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Dabei glauben manche,<br />
dass die Legalisierung von<br />
Cannabidiol ein vollständig neues<br />
Kapitel moderner Medizingeschichte<br />
aufschlagen wird.<br />
Dr. Klotz: Das sehe ich nicht kommen.<br />
Überhaupt bezweifle ich, dass<br />
es ein Medikament geben wird, das<br />
jetzt und plötzlich zum Wundermittel<br />
gegen alle Epilepsien wird. Patienten<br />
sprechen wohl darauf an und<br />
es ist einen Versuch wert, aber es ist<br />
eben kein Wundermittel.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Begegnen Sie als Ärztin<br />
noch anderen, übereilten Hoffnungen<br />
gegenüber dem Cannabidiol?<br />
Dr. Klotz: Patienten oder deren Eltern<br />
haben oft die Vorstellung, dass<br />
das Medikament etwas Pflanzliches<br />
ist. Das stimmt aber nicht. Es ist<br />
zwar ein Medikament, das aus einer<br />
Pflanze gewonnen wird, aber das ist<br />
bei anderen Medikamenten ebenso.<br />
Es ist auch definitiv ein Medikament<br />
und daher kein Wohlfühl- oder Nahrungsergänzungsmittel.<br />
Es ist ein<br />
Medikament und sollte als solches<br />
auch verwendet werden.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Können Sie anhand<br />
eines Einzelfalls schildern, wie Cannabidiol<br />
auf bestimmte Epilepsiesymptomatiken<br />
wirkt?<br />
Dr. Klotz: Epilepsie ist wie ein<br />
Kurzschluss im Gehirn. Unser Gehirn<br />
arbeitet mit elektrischer Aktivität,<br />
so kommunizieren unsere<br />
Nervenzellen unter anderem auch<br />
miteinander. Wenn plötzlich mehrere<br />
Nervenzellen damit anfangen,<br />
überschüssige elektrische Energie zu<br />
produzieren, kann man einen epileptischen<br />
Anfall beobachten. Das kann<br />
sich zum Beispiel in Zuckungen oder<br />
Bewusstseinsstörungen ausdrücken.<br />
Das Cannabidiol scheint die Wahrscheinlichkeit<br />
für einen Anfall bei<br />
erhöhter elektrischer Aktivität zu<br />
senken. Soweit zumindest die Theorie.<br />
Im Tierversuch mit Mäusen, die<br />
an Epilepsie erkrankt waren, konnte<br />
man die Anzahl der Anfälle senken,<br />
wenn Cannabidiol gegeben wurde.<br />
Man konnte auch zeigen, dass das<br />
Potential für eine Epilepsie weniger<br />
wurde. Was für konkrete Auswirkungen<br />
Cannabidiol nun hat,<br />
etwa auf die epileptische Aktivität<br />
die man im EEG (Anm. Messung<br />
der Hirnströme) messen kann oder<br />
beim Schlaf – denn zwischen Epilepsie<br />
und Schlaf gibt es einige Verbindungen<br />
–, kann man noch nicht<br />
sagen.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Wie haben Patienten<br />
auf die Therapie reagiert? Haben<br />
Sie einen richtigen Cannabidiol-<br />
Boom mit großen Patientenzahlen<br />
erlebt?<br />
Dr. Klotz: Nach der Gesetzesänderung<br />
hat die Anzahl der Anfragen<br />
zugenommen, die Anfragen haben<br />
aber auch nicht überhandgenommen.<br />
Ich glaube, die Leute setzen<br />
sich schon sehr differenziert mit<br />
einer Cannabidioltherapie auseinander.<br />
Gerade im Kinderbereich<br />
fragen sich Eltern, ob das wirklich<br />
die richtige Therapie für ihr Kind ist.<br />
Ich habe jedenfalls wenige Patienten<br />
ablehnen müssen, weil sich andere,<br />
besser etablierte Therapieformen<br />
eher bewähren würden. In der Regel<br />
sind das schon wohlüberlegte,<br />
differenzierte Anfragen.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Die medizinische Erforschung<br />
von Cannabis ist Pioniersarbeit.<br />
Hat die Epileptologie<br />
in Freiburg eine Vorreiterrolle in<br />
diesem Bereich?<br />
Dr. Klotz: Wir sind deutschlandweit<br />
das einzige universitäre Epilepsiezentrum,<br />
das einer Cannabidioltherapie<br />
so einen standardisierten Plan<br />
zugrundelegt. Ich kenne Kollegen,<br />
die auch Cannabidiol einsetzen,<br />
allerdings bei geringeren Patientenzahlen.<br />
Vor kurzem haben wir<br />
eine Untersuchung durchgeführt,<br />
bei der wir europaweit Epileptologen<br />
gefragt haben, wie sie zu einer<br />
Cannabidioltherapie stehen. Da war<br />
durchaus Offenheit und auch ein<br />
recht großer Anteil hat Cannabidiol<br />
bereits eingesetzt, aber eher bei<br />
zwei, drei, vier Patienten, nicht bei<br />
größeren Patientenzahlen.<br />
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4 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
Meisterhafter Schneider mit<br />
glücklicher Hand<br />
Neue Recherche: „Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater“<br />
„Im Auslegen seid nur frisch und<br />
munter,<br />
legt ihr nichts aus, dann legt was<br />
unter.“<br />
Johann Wolfgang v. Goethe<br />
Johann W. Goethe hat seinem<br />
Großvater väterlicherseits, Friedrich<br />
Georg Göthé (1657-1730),<br />
anscheinend wenig Bedeutung<br />
eingeräumt, obwohl er diesem Wesentliches<br />
verdankt, nämlich Weltläufigkeit<br />
und ein beträchtliches<br />
Vermögen. Die Forschung hat diesbezüglich<br />
wenig herausgefunden,<br />
seit der Archivar und Historiker<br />
Rudolf Jung im Goethe-Jahr 1899<br />
einen Aufsatz veröffentlicht hat, der<br />
nachfolgenden Wissenschaftlern<br />
immerhin Grundlageninformation<br />
lieferte. Nun hat ein dreiköpfiges<br />
Autorenteam mit dem Buch „Monsieur<br />
Göthé. Goethes unbekannter<br />
Großvater“ eine umfassende Studie<br />
vorgelegt (erschienen 2017 in<br />
der Edition Die Andere Bibliothek);<br />
anhand von Dokumenten sowie<br />
kulturgeschichtlichen und soziologischen<br />
Ausführungen geht die<br />
Recherche der Lebensgeschichte<br />
des Schneidermeisters und späteren<br />
Gastwirts Friedrich Georg<br />
Göthé nach und zeichnet ein deutliches<br />
Bild dieses bemerkenswerten<br />
Mannes: 1674 hatte er als Schneidergeselle<br />
das Dorf seiner Herkunft<br />
in Thüringen verlassen, war zwölf<br />
Jahre lang in Deutschland und<br />
Frankreich auf Wanderschaft und<br />
lebte zuletzt einige Jahre in Lyon,<br />
damals eine Hochburg der Mode<br />
und Seidenindustrie. In dieser Zeit<br />
versah er den letzten Buchstaben<br />
seines Namens mit einem Akzent,<br />
um Göthé der französischen Aussprache<br />
anzupassen. Doch er verließ<br />
Frankreich, als Ludwig XIV<br />
1685 („Edikt von Fontainebleau“)<br />
den Protestanten die Ausübung<br />
ihrer Religion verbot, beantragte<br />
das Bürgerrecht in Frankfurt<br />
am Main, das er 1686 erhielt, und<br />
heiratete. Mit seiner in Frankreich<br />
erworbenen Kunstfertigkeit konnte<br />
Göthé hier zum erfolgreichen Damenschneider<br />
avancieren, der sogar<br />
bei Prinzessinnen gefragt war.<br />
Einzelheiten dieser Biographie<br />
müssen spekulativ bleiben, klar ist<br />
jedoch u.a., dass das Geburtshaus<br />
von Friedrich Georg Göthe in der<br />
thüringischen Ortschaft Kannawurf<br />
bei Artern steht und der Vater Hans<br />
Christian Göthe dort Hufschmied<br />
war. Die Autoren von „Monsieur<br />
Göthé“, Heiner Boehncke, Hans<br />
Sarkowicz und Joachim Seng, haben<br />
Berge von Literatur gesichtet,<br />
Archive besucht und Kirchenbücher<br />
gewälzt, um dem Mann<br />
Kontur zu verleihen. Nachdem er<br />
Artern 1674 verließ, was aus seinem<br />
„Lebens-Lauff“ (dies wichtige<br />
Dokument befindet sich heute im<br />
Goethe-Schiller-Archiv in Weimar)<br />
hervorgeht, auf Wanderschaft war,<br />
sich 1686 in Frankfurt ansiedelte,<br />
heiratete er im Jahr 1705 in zweiter<br />
Friedrich Georg Göthé<br />
Ehe (seine erste Frau war im Kindbett<br />
verstorben) die Witwe des Weidenhof-Wirts,<br />
Cornelia Schellhorn<br />
(1668-1754), womit sein Vermögen<br />
durch ein Hotel-Gasthof und einen<br />
Weinhandel erweitert wurden. Als<br />
er 1730 verstarb, zählten zu seinem<br />
Nachlass u.a. 34.000 Liter Wein.<br />
Johann Caspar, Goethes Vater<br />
Friedrich Georg Göthé war sehr<br />
um die Bildung seiner Söhne bemüht,<br />
auch seinem Sohn Johann<br />
Caspar Goethe (1710-1782) hatte er<br />
eine ausgezeichnete Ausbildung zukommen<br />
lassen, dieser promovierte,<br />
wurde Kaiserlicher Rat und konnte<br />
von seinem ererbten Vermögen leben;<br />
aus seiner Ehe mit Catharina<br />
Elisabeth Textor (1731-1808) ging<br />
schließlich Johann Wolfgang Goethe<br />
(1749-1832) hervor, knapp 19<br />
Jahre nach dem Tod des Großvaters<br />
väterlicherseits, von dem das<br />
Fundament für ein sorgloses Leben<br />
der Familie in Frankfurt am Großen<br />
Hirschgraben stammte,<br />
dem heutigen Goethe-Haus<br />
(www.goethehaus-frankfurt.<br />
de).<br />
Für den Umstand, dass<br />
Göthé von seinen Nachkommen<br />
stark ausgeblendet<br />
wurde, haben die Autoren<br />
des Buches vor allem psychologische<br />
Erklärungen.<br />
Zunächst scheint sich Johann<br />
Caspar, Goethes Vater,<br />
der in Frankfurt zum<br />
Kaiserlichen Rat aufstieg,<br />
mit einem gewissen Dünkel<br />
über seine „bescheidene“<br />
Herkunft hinwegzusetzen.<br />
Einen renommierteren<br />
Stammbaum bot vielmehr<br />
die Familie seiner Frau, die<br />
des einflussreichen Schultheiß<br />
Johann Wolfgang Textor<br />
(immerhin wurde der Vorname<br />
der Großmutter väterlicherseits tradiert,<br />
bis zur Enkelin Cornelia Goethe).<br />
Auch Johann Wolfgang Goethe<br />
verwies gerne auf seine Abkunft<br />
von Johann Wolfgang Textor und<br />
maß dem anderen Großvater wenig<br />
Bedeutung bei; dieser war zudem<br />
bereits 19 Jahre vor seiner Geburt<br />
gestorben, während er mit dem Textor-Großvater<br />
fast zwei Jahrzehnte<br />
Umgang hatte. Der Germanist Heiner<br />
Boehncke bemerkt dazu, dass<br />
es in der damals hierarchisch stark<br />
Cornelia Göthé<br />
gegliederten Gesellschaft nur wenige<br />
Möglichkeiten gab, einen neuen<br />
Platz zu erobern, weshalb sich Goethe<br />
lieber dem höheren Stand eines<br />
alten Patriziergeschlechts zugeordnet<br />
habe, als einem Schneider und<br />
Gastwirt.<br />
Als er jedoch in Weimar seine<br />
Amtsgeschäfte aufnahm, da ließ er<br />
sich in Lyon einen blauen Seidenfrack<br />
schneidern, als mache sich<br />
der großväterliche Schneider wieder<br />
bemerkbar.<br />
Erste Begegnung der<br />
Familien Göthé und<br />
Textor<br />
Zwischen den Familien<br />
Göthé und Textor<br />
gab es eventuell eine<br />
unbewusste Distanz,<br />
sie waren nämlich 1693<br />
erstmals aufeinandergetroffen,<br />
und zwar juristisch.<br />
Denn Friedrich<br />
Georg Göthé hatte den<br />
Stadtsyndikus Dr. jur.<br />
Johann Wolfgang Textor,<br />
Urgroßvater mütterlicherseits,<br />
zusammen<br />
mit einem Dutzend anderer<br />
Frankfurter Geschäftsleute,<br />
verklagt,<br />
weil dieser Rechnungen<br />
seiner Frau, nämlich der<br />
achtzehnjährigen Patriziertochter<br />
Maria Sibylla Fleischbein, nicht bezahlen<br />
wollte, die er 1693 in zweiter<br />
Ehe geheiratet hatte; diese hatte sich,<br />
bevor die Ehe geschieden wurde, teuer<br />
einkleiden lassen und bei Göthé<br />
z.B. eine mit grünem Samt bezogene<br />
Schnürbrust in Auftrag gegeben sowie<br />
ein Manteau aus gelb gestreifter<br />
Seide, verziert mit silbernen Borten.<br />
Der Rechtshistoriker Prof. Dr. Michael<br />
Stolleis ist der kuriosen Prozessakte<br />
(sie liegt im Frankfurter<br />
Institut für Stadtgeschichte) historisch-juristisch<br />
nachgegangen und<br />
hat daraus das Theaterstück „Textor<br />
versus Göthé“ gemacht.<br />
„Allem Leben, allem Tun, aller<br />
Kunst muss das Handwerk vorausgehen,<br />
welches nur in der<br />
Beschränkung erworbe n wird.<br />
Eines recht wissen und ausüben<br />
gibt höhere Bildung als Halbheit<br />
im Hundertfältigen.“<br />
Wilhelm Meisters Wanderjahre I, 12<br />
Als Johann Wolfgang v. Goethe<br />
an seiner Autobiographie „Dichtung<br />
und Wahrheit“ schrieb, so Joachim<br />
Seng, einer der Ko-Autoren des<br />
Buches, „hatte er sich - seine Mutter<br />
war 1808 in Frankfurt gestorben -<br />
Unterlagen, unter anderem auch die<br />
Erbteilung von seinem Großvater<br />
und auch andere Dokumente, zum<br />
Beispiel die Leichenrede, die damals<br />
gehalten wurde, ein mehrseitiges<br />
Dokument, das den Lebenslauf des<br />
Großvaters nochmal Revue passieren<br />
lässt, nach Weimar kommen lassen<br />
(…) Also, er hat sich sehr wohl<br />
dafür interessiert und wusste auch<br />
etwas darüber, aber offensichtlich<br />
wollte er es dann doch nicht erzählen.<br />
Der Großvater wird ja erwähnt,<br />
allerdings ohne Namen.“ Dass dieser<br />
nur an einer einzigen Stelle gestreift<br />
wird, hält Heiner Boehnke für „Verdrängungsprosa“;<br />
es sei sonderbar,<br />
dass Goethe sich für Handwerker<br />
interessierte, aber den eigenen Vorfahr<br />
in diesem Zusammenhang kaum<br />
beachtet. In der spannenden Recherche<br />
„Monsieur Göthé. Goethes unbekannter<br />
Großvater“ lässt sich all<br />
dies genauer erfahren, und noch viel<br />
mehr, z.B. inwiefern Goethe einen<br />
ausgeprägten Bezug zum Märchen<br />
„Das tapfere Schneiderlein“ hatte. Im<br />
Buch finden sich auch Informationen<br />
zum Schicksal verschiedener Bilder<br />
aus dem Familienbesitz, darunter die<br />
Porträts der Großeltern väterlicherseits<br />
(s. Abb.); obwohl sie mehrfach<br />
schriftlich vermerkt sind und vieles<br />
dafür spricht, lässt sich nicht mit Sicherheit<br />
sagen, ob die beiden Menschen<br />
auf den Abbildungen Goethes<br />
Großeltern sind. Die erste Auflage<br />
des Buches ist bereits vergriffen, erschienen<br />
ist nun eine Neuauflage als<br />
Extradruck.<br />
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz,<br />
Joachim Seng. Monsieur Göthé.<br />
Goethes unbekannter Großvater. Die<br />
Andere Bibliothek, 420 S., zahlr. Abbildungen.<br />
Berlin <strong>2018</strong>. 24,00 €<br />
Cornelia Frenkel
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 5<br />
Femme de lettres, Humanistin und<br />
deutsch-französische Mittlerin<br />
Vierbändige Werkausgabe Annette Kolb erschienen<br />
ihrem Mitstreiter René Schickele,<br />
der sich ebenfalls zwei verfeindeten<br />
Staaten zugehörig fühlte.<br />
„die wohltemperierte Stimmung<br />
einer Anzahl von Saiten, die uns<br />
von dem ersten bis zum letzten<br />
Wort festhält, bezaubert und beglückt.“<br />
Ernst Weiß über Annette Kolbs<br />
Roman „Daphne Herbst“<br />
Zwischen den Kriegen –<br />
Atempause in der Wahlheimat<br />
Badenweiler<br />
Zwischen 1919 und 1923 war<br />
Annette Kolb viel umhergereist,<br />
in Deutschland, Frankreich, Italien<br />
und der Schweiz, um durch Vorträge<br />
und Lesungen für Völkerverständigung<br />
zu werben. Sorgenvoll<br />
sieht sie sich mit einer zunehmend<br />
geistigen und materiellen Verelen-<br />
„Ob sie euch noch etwas zu sagen<br />
haben wird, und ob etwas von<br />
ihren Büchern noch bleiben wird,<br />
wenn sie tot ist, das sind Fragen,<br />
die nur ihr werdet beantworten<br />
können“.<br />
Annette Kolb. Befohlenes<br />
Selbstporträt für Quartaner, 1932<br />
Die<br />
Texte von Annette Kolb<br />
(1870 – 1967) sind für die Literaturgeschichte<br />
wertbeständig, sie ermöglichen<br />
dem Leser an mehreren<br />
Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts<br />
in Europa teilzunehmen, die<br />
von barbarischen Kriegen geprägt<br />
waren, aber auch von der Sehnsucht<br />
nach Kultur, Verständigung<br />
und Freundschaft. Die Sprache unserer<br />
Vorfahren, der Geist und die<br />
Gefühle, die ihren Büchern innewohnen,<br />
können uns daran erinnern<br />
– ohne sie würde uns Wesentliches<br />
fehlen.<br />
Um uns davor zu bewahren, hat<br />
die Deutsche Akademie für Sprache<br />
und Dichtung zum 50. Todestag<br />
von Annette Kolb eine vierbändige<br />
Werkausgabe ediert, die deren<br />
Textproduktion erstmals in vollem<br />
Umfang sichtbar und zugänglich<br />
macht. Sorgfältige Kommentare<br />
der Herausgeber Hiltrud und Günter<br />
Häntzschel erleichtern den Zugang<br />
zu den Romanen, Erzählungen, Essays,<br />
Reisebeschreibungen, Übersetzungen,<br />
Feuilletontexten und<br />
„Briefen einer Deutsch-Französin“<br />
(1916) ebenso wie ein einführender<br />
Essay des Literaturkritikers Albert<br />
von Schirnding. Annette Kolbs vielschichtiges<br />
Werk ist nicht nur Geschichte,<br />
sondern enthält durchaus<br />
aktuelle Perspektiven auf intellektuelle<br />
und politische Fragen; beispielhaft<br />
bleibt zudem der Wagemut dieser<br />
femme de lettres. Rainer Maria<br />
Rilke wollte Annette Kolb für ihren<br />
Roman „Das Exemplar“ (1913), in<br />
dem es um eine Reise nach England<br />
geht, mit der die Protagonistin ein<br />
abgebrochenes Gespräch wiederaufnehmen<br />
will, „mit Blumen überschütten“.<br />
Für Thomas Mann war<br />
die grazile Lady ebenfalls eine singuläre<br />
Figur, er hat sie als „Annette<br />
Scheurl“ im „Doktor Faustus“<br />
porträtiert. Nicht zuletzt setzte ihr<br />
Franz Blei in seinem „Großen Bestiarium<br />
der modernen Literatur“<br />
(1922) ein Denkmal; er bezeichnet<br />
sie als „Edelziege von vornehmem<br />
Pedigree“ und charakterisiert sie<br />
ferner durchaus schmeichelhaft als<br />
Frau, die den Umbruch im Verhältnis<br />
der Geschlechter sehr avantgardistisch<br />
gestaltet habe. Kolbs bekannteste<br />
Werke sind vielleicht der<br />
autobiographisch grundierte Roman<br />
„Die Schaukel“ (1934) sowie die<br />
„Briefe einer Deutsch-Französin“<br />
(1916).<br />
Zwischen zwei Nationen<br />
Annette Kolb war Tochter einer<br />
Französin und eines Deutschen, sie<br />
hatte fünf Geschwister; der Vater<br />
wirkte meisterhaft als Gartenbau-<br />
Architekt im Botanischen Garten<br />
München; die Mutter Sophie Danvin<br />
entstammte einer französischen<br />
Künstlerfamilie, war Pianistin und<br />
führte in München einen Salon,<br />
dem Franz Liszt und Richard Wagner<br />
nicht fern blieben. Für Annette<br />
Kolb war ihre Herkunft äußerst<br />
prägend, die Konsequenzen der<br />
deutsch-französischen Kriege seit<br />
1870/71 gingen ihr durch Mark und<br />
Bein; von Kind an gehörten Familie<br />
und Völkerverständigung für sie<br />
zusammen, was sich von ihren ersten<br />
Prosaskizzen (1899) bis hin zu<br />
ihrem letzten „Selbstporträt“ zeigt.<br />
Die Zugehörigkeit zu zwei Ländern<br />
erlebte sie als Bereicherung, doch<br />
ebenso als Zwiespalt, wie sich in ihren<br />
teils sarkastischen Artikeln über<br />
die politische Situation in Europa<br />
erweist sowie anhand biographischer<br />
Porträts von Romain Rolland,<br />
Gustav Stresemann, Aristide Briand<br />
und anderen Personen, die sich<br />
um Völkerverständigung und einen<br />
„Kriegsächtungspakt“ bemühten.<br />
Kolb hatte zunächst eine Klosterschule<br />
besucht, in der sie unter<br />
der Frömmelei und emotionalen<br />
Abgestumpftheit der Nonnen leidet;<br />
daraus entwickelte sie eine<br />
antiklerikale Haltung, obwohl sie<br />
sich gleichzeitig als Katholikin<br />
verstand und den Protestantismus<br />
bespöttelte – vieles dazu findet sich<br />
in ihrer autobiographischen Erzählung<br />
„Torso“ (1905). Schließlich<br />
durfte sie zwar ein Lehrinstitut in<br />
München besuchen, bedauerte aber<br />
später eine mangelnde Ausbildung.<br />
Nichtsdestoweniger ist die brillante<br />
Autodidaktin von Jugend an sehr<br />
selbständig und lernt im Salon ihrer<br />
Mutter Kunst und Künstler kennen;<br />
zu ihren Büchern zählen auch eine<br />
Mozart- und eine Schubert-Biographie.<br />
Der Durchbruch als Schriftstellerin<br />
gelang ihr mit dem Roman<br />
„Das Exemplar“.<br />
„Mein Leben wird letzten Endes<br />
vor allem die Geschichte eines Gedankens<br />
gewesen sein, der einer<br />
deutsch-französischen Verbrüderung,<br />
deren Zusammenbruch ich<br />
erfahren musste“.<br />
Annette Kolb 1920<br />
Erster Weltkrieg<br />
Als Annette Kolb vom Ausbruch<br />
des Ersten Weltkriegs erfährt, will<br />
sie Europas Denker und Schriftsteller<br />
dagegen entflammen, stößt<br />
aber insbesondere in Deutschland<br />
auf Granit. Bei ihrer ersten pazifistischen<br />
Rede 1915 in Dresden wird<br />
sie niedergeschrien und wegen ihrer<br />
„Briefe einer Deutsch-Französin“<br />
(1916), in denen sie mit den<br />
Regierenden beider Länder scharf<br />
ins Gericht geht, gilt sie rechts und<br />
links des Rheins als Vaterlandsverräterin;<br />
ihre Post wird überwacht<br />
und das Kriegsministerium untersagt<br />
ihr Kontakte ins Ausland. 1916<br />
emigriert sie, mit Hilfe Walther Rathenaus,<br />
in die Schweiz, wird aber<br />
weiterhin beschattet. In materieller<br />
und moralischer Hinsicht erhält sie<br />
Unterstützung von René Schickele,<br />
Romain Rolland und Harry Graf<br />
Kessler. Von ihrer Emigration in<br />
die Schweiz (1917-1919) handelt<br />
das Tagebuch „Zarastro“. Nach dem<br />
Krieg fühlte sich die Tochter zweier<br />
Nationen, die für eine Verständigung<br />
der Feinde eintrat, ihrer Heimatstadt<br />
München entfremdet; zunächst<br />
lebt sie unstet, lässt sich aber<br />
1923 in Badenweiler nieder, neben<br />
dung konfrontiert, mit Antisemitismus<br />
und Hass auf den „Erbfeind“<br />
Frankreich. Zwischen den Kriegen,<br />
von ihrer Wahlheimat Badenweiler
6 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
aus, spielt Kolb eine wichtige Rolle<br />
im deutschen Literaturbetrieb,<br />
genießt Anerkennung und ist sehr<br />
produktiv; ihre Romane, etwa die<br />
Familiensaga „Daphne Herbst“<br />
(1928) sowie „Die Schaukel“, ein<br />
Sittengemälde des Münchner Großbürgertums,<br />
spielen zwar vor 1914,<br />
sind aber teils erst später geschrieben<br />
worden.<br />
NS-Zeit, Zweiter Weltkrieg und<br />
wieder Exil<br />
Die „Vogesen vor Augen,<br />
Deutschland im Rücken“, lebte sie<br />
in guter Nachbarschaft zur Familie<br />
ihres Schicksalsgenossen René<br />
Schickele, der bereits Ende 1932<br />
Zuflucht in Südfrankreich suchte<br />
und 1940 verstarb. 1932 veröffentlicht<br />
Annette Kolb ihr sogenanntes<br />
„Beschwerdebuch“, das knapp skizzierte<br />
Beobachtungen aus den vergangenen<br />
Jahren zusammenstellt;<br />
sie handeln von Schönheitsfehlern<br />
des Rundfunks, von bedenklichen<br />
Entwicklungen in Literatur und<br />
Musik und den neuesten Irrwegen<br />
des militarisierten Nationalismus.<br />
Kolb beklagt hier den Übelstand<br />
der Welt, aber nicht im Ton einer<br />
pathetisch Entrüsteten, aber sie<br />
fühlt sich verletzt. Doch selbst bei<br />
bitterstem Sarkasmus dürfen Anmut<br />
und Grazie in ihrer Diktion nicht<br />
fehlen, wenn sie die Aktionen beschreibt,<br />
mit denen der Faschismus<br />
„sein Kommen bereitet“, indem er<br />
die Gemüter vernebelt. Für sie, die<br />
Einzelgängerin, die sich intellektuell<br />
nicht verwursten ließ und gerade<br />
deshalb viel Selbstkritik benötigte,<br />
steht die verantwortungsbewusste<br />
Persönlichkeit über allem.<br />
In ihrem 1960 veröffentlichten<br />
Text „Memento“ beschreibt sie<br />
unter der Überschrift „1933“ den<br />
Abschied von ihrem geliebten Badenweiler,<br />
bevor sie sich erneut ins<br />
Exil gezwungen sieht, zunächst in<br />
die Schweiz, dann nach Paris und<br />
nach dem Einmarsch deutscher<br />
Truppen 1940 auf abenteuerlichen<br />
Wegen nach Lissabon und 1941<br />
nach New York − da ist sie über<br />
70 Jahre alt. In New York bleibt<br />
sie auf Almosen angewiesen. Als<br />
sie 1945 in den „tiefdurchfurchten<br />
europäischen Alltag“ zurückkehrt,<br />
waren nicht nur Städte und Häuser<br />
zerstört, sondern Freunde und Kollegen<br />
verstorben, verschollen oder<br />
deportiert. Bereits in „Vernichtete<br />
Existenzen“ (1939) hatte sie dies<br />
thematisiert, in vielen späteren Artikeln<br />
blickt sie einfühlend auf einstige<br />
Weggenossen zurück, etwa auf<br />
Reinhold Schneider, Klaus Mann<br />
und Jean Giraudoux.<br />
Nach 1945 – Lichtgestalt der<br />
deutsch-französischen Beziehungen<br />
Zunächst 1945 in Paris und ab<br />
1961 in München fühlt sie sich erneut<br />
aus der Zeit gefallen und stellte<br />
als Emigrantin unbequeme Fragen,<br />
die zunächst niemand hören wollte.<br />
Doch ihr Engagement für die<br />
deutsch-französische Aussöhnung<br />
wird diesmal fruchtbar – in beiden<br />
Ländern wird sie Zug um Zug mit<br />
Ehrungen bedacht, vom Großen<br />
Verdienstkreuz der Bundesrepublik<br />
Deutschland bis zum französischen<br />
Pour le mérite. Sie avanciert zur<br />
Lichtgestalt der Verständigung,<br />
zum „Gewissen Europas“, und ihr<br />
Werk wird als „Roman europäischer<br />
Erziehung“ bezeichnet. Die<br />
„citoyenne de deux patries“ sieht<br />
sich mit dem Goethepreis der Stadt<br />
Frankfurt bedacht und erhält im<br />
Jahr 1955 das Ehrenbürgerrecht<br />
Badenweilers, im dortigen Kurhaus<br />
ist heute ein Saal nach ihr benannt.<br />
Das „Fräulein Kolb“, das lebenslang<br />
keinem Disput aus dem Weg<br />
gegangen und vielen Schriftstellern<br />
und Politikern Europas eine<br />
Freundin war, hatte schon 1920 den<br />
Herausgeber des „Literarischen<br />
Echos“ gebeten, er möge, statt einer<br />
biographischen Skizze, vermerken:<br />
„Mein Leben wird letzten Endes<br />
vor allem die Geschichte eines Gedankens<br />
gewesen sein, der einer<br />
deutsch-französischen Verbrüderung,<br />
deren Zusammenbruch ich<br />
erfahren musste“.<br />
Ein Markenzeichen von Annette<br />
Kolb waren bizarre Hüte sowie ein<br />
leise naives Auftreten, womit sie<br />
vermutlich ihren unbeirrbaren Blick<br />
kaschieren wollte, mit dem sie das<br />
Zeitgeschehen immer scharfzüngig<br />
beobachtet hat; eine Qualität ihrer<br />
Literatur ist das unerschrockene<br />
Wort. Bevor sie 97jährig in München<br />
verstarb, hatte sie eine letzte<br />
Flugreise nach Israel geführt. Es<br />
ist ein wichtiges Signal, dass die<br />
Deutsche Akademie für Sprache<br />
und Dichtung sich derzeit engagiert,<br />
zentrale Werke deutschsprachiger<br />
Autorinnen des 20. Jahrhunderts<br />
besser zugänglich zu machen, zu<br />
denen etwa Irmgard Keun, Hermynia<br />
Zur Mühlen und Annette Kolb<br />
gehören. Wie sehr letztere das Ge-<br />
Annette Kolb auf der Terasse © Münchner Stadtbibliothek, Monacensia F.46<br />
sicht der jungen Bundesrepublik<br />
mitprägte, zeigen die Bilder des<br />
Fotografen Stefan Moses, der seine<br />
Aufgabe darin sah, Menschen<br />
zu fotografieren, „bevor sie verlorengehen“;<br />
er porträtierte u.a.<br />
Heinrich Böll, Willy Brandt, Meret<br />
Oppenheim und eben die hochbetagte<br />
Annette Kolb. Die Münchner<br />
Stadtbibliothek verwahrt<br />
übrigens deren Nachlass (www.<br />
muenchner-stadtbibliothek.de/<br />
monacensia) und trägt maßgeblich<br />
dazu bei, Kolbs Werk immer wieder<br />
ins öffentliche Bewusstsein zu<br />
bringen. Das Literarische Museum<br />
Tschechow-Salon in Badenweiler<br />
(www.badenweiler.de) leistet<br />
dazu ebenfalls einen essentiellen<br />
Beitrag. Doch mit den nun erstmals<br />
greifbaren „Werken“ kann<br />
die Gedankenwelt von Annette<br />
Kolb endlich „neue Freunde gewinnen“,<br />
wie es sich der Romanist<br />
Ernst Robert Curtius schon 1955<br />
gewünscht hat.<br />
Annette Kolb. Werke. Hg. i. A. der<br />
Deutschen Akademie für Sprache<br />
und Dichtung und der Wüstenrot<br />
Annette Kolb beim <strong>Zeitung</strong>slesen<br />
© Münchner Stadtbibliothek, Monacensia (Signatur AK F 46)<br />
Stiftung von Hiltrud und Günter<br />
Häntzschel. Mit einem Essay von<br />
Albert von Schirnding. Bibliothek<br />
Wüstenrot Stiftung. Autorinnen des<br />
20. Jahrhunderts. 4 Bde., 2.260 S.,<br />
39 Abb., im Schuber. 49 €<br />
Stefan Moses. Deutschlands Emigranten.<br />
Nimbus Verlag 2013<br />
Cornelia Frenkel
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 7<br />
Stich ins Auge des Kapitalismus<br />
Jason Hickels Sachbuch „Die Tyrannei des Wachstums“ stellt das globale Wachstum in Frage<br />
Jason Hickel steht dem Kapitalismus<br />
und seinen Wachstumsversprechen<br />
kritisch gegenüber.<br />
Vielleicht sogar feindselig, denn<br />
seine Kritik an der wie selbstverständlichen<br />
Spaltung der Welt in<br />
Arm und Reich kommt hart und<br />
umfassend. Auch wenn die große<br />
Hoffnung ausbleibt, bleibt ein beeindruckend<br />
facettenreiches Buch<br />
über eine große, fatale Lüge.<br />
Wir sehen eine Welt und die ist<br />
entzweigerissen. Eine ganz gängige<br />
Phrase und auch das Covermotiv<br />
von Jason Hickels Sachbuch Die<br />
Tyrannei des Wachstums. Die große<br />
Nordkugel ragt dabei gefräßig über<br />
der Südhalbkugel. Was für die Fressenden<br />
Wachstum ist, ist für die Gefressenen<br />
Tyrannei. Und denen will<br />
Hickel seine Stimme leihen. Eine<br />
Kampfschrift also? Gerechtigkeitssuche<br />
mindestens.<br />
Die Dringlichkeit seines Anliegens,<br />
die strukturellen und historisch<br />
vertieften Ungerechtigkeiten des<br />
Globalen Nordens gegenüber dem<br />
Globalen Süden herauszuarbeiten,<br />
lässt Hickel nie vergessen. Seine<br />
Abrechnung geht in die Breite, stützt<br />
sich auf Daten, hinterfragt aber auch<br />
deren Quellen. Sein Zugang bleibt<br />
hart, schnell, aber auch von Akribie<br />
geprägt. Auf gut 400 Seiten erwartet<br />
man schließlich einiges und obwohl<br />
Hickel mit seiner breiten Perspektive<br />
an vielen Punkten kürzen<br />
muss, erhalten LeserInnen massig<br />
Informationen und Denkansätze.<br />
Schließlich gilt es, große Zusammenhänge<br />
zu verstehen. Hickel als<br />
Anthropologe und Lehrer an der<br />
London School of Economics verbindet<br />
dabei Handfestes mit Philosophischem.<br />
Handfestes bereits<br />
beim Titel des ersten Kapitels: „Der<br />
Entwicklungswahn“. Um die Kluft<br />
zu beschreiben, die Nord und Süd,<br />
Jason Hickel, Anthropologe und Lehrer an der London School of Economics<br />
Reich und Arm trennt, gilt es ein<br />
Paradigma zu erfassen, das Vielen<br />
noch unhinterfragt scheint: Jenes<br />
der guten Entwicklungshilfe wie<br />
man sie durch Spendenaufrufe und<br />
Werbung nur allzu gut kennt.<br />
Die Leistung Hickels ist, dass er<br />
nicht nur Fakten beschreibt, sondern<br />
auch jene Ideologien und Denkmuster,<br />
die erst „Fakten“ schaffen.<br />
Bewusstseinsbildung transparent<br />
gemacht also. Im Falle der Entwicklungshilfe<br />
zeigt Hickel auf, dass<br />
man nicht von gutem Willen sprechen<br />
kann, vielmehr von Abschätzigkeit<br />
und Manipulation. Dem Entwicklungsparadigma<br />
liegt nämlich<br />
die Annahme zugrunde, dass Europa<br />
und die Länder Nordamerikas<br />
entwickelter seien als jene des Globalen<br />
Südens, der dem gegenüber<br />
als zurückgeblieben verbleibt, mit<br />
seinen falschen Werten und politischen<br />
Vorstellungen. Darauf gründet<br />
ein Wohlbefinden, das vielleicht so<br />
manchem besser bekannt sein dürfte,<br />
als er zugeben mag. Denn durch<br />
die Entwicklungshilfe erhalten die<br />
reichen Länder eine erhabene, quasi<br />
religiöse Position. „Diese neue Perspektive<br />
eröffnete ihnen den Zugang<br />
zu einer höheren, beinahe kosmologischen<br />
Mission. Die entwickelten<br />
Länder konnten sich als Leuchtfeuer<br />
der Hoffnung zeigen, als Retter<br />
der Bedürftigen. Sie würden ihnen<br />
die helfende Hand reichen, sie großzügig<br />
an ihren Reichtümern teilhaben<br />
lassen und so den ‚primitiven‘<br />
Ländern des Globalen Südens dazu<br />
verhelfen, ihnen auf dem Weg zum<br />
Erfolg zu folgen.“ Der giftige Tonfall<br />
Hickels, der sich gegenüber jener<br />
Gönnerhaltung entlädt, entbehrt<br />
natürlich selbst nicht den Stolz des<br />
Kritikers.<br />
Aber er hat Gründe. Denn während<br />
der Hunger weltweit immer<br />
weiter zunimmt, wirkt die Idee<br />
dieses Paradigmas immer weniger<br />
überzeugend. Und fundamental<br />
anders gefragt: Vielleicht rührt die<br />
Armut ja auch gar nicht von natürlichen,<br />
strukturellen Gegebenheiten<br />
in den armen Ländern. Man ahnt es<br />
schon: Die Entwicklungshilfe soll<br />
von etwas ablenken, genauer einer<br />
Schuld, die den „entwickelten<br />
Ländern“ eher anzulasten ist als jenen<br />
armen auf der Welt. Statistisch<br />
kehrt Hickel heraus, dass das Geld,<br />
das die betroffenen Länder an Entwicklungshilfe<br />
erhalten weit unter<br />
dem liegt, was diese an finanziellen<br />
Verlusten erleiden. Jene, die Entwicklungsgelder<br />
bewilligen, sind<br />
dabei ironischerweise oft jene, die<br />
Foto: Guddi Singh<br />
Schulden eintreiben oder aggressiv<br />
Patentrechte einfordern, kurz:<br />
jene Länder, die das Beste aus dem<br />
Der AOK-Studenten-Service.<br />
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Ungleichgewicht der Welt machen.<br />
Große Gönner wie die Gates Foundation<br />
schließen lebensrettende<br />
Medikamente über Patente weg,<br />
ein Global Player wie die Weltbank<br />
profitiert von der enormen Staatsverschuldung<br />
des Globalen Südens<br />
und Charity-Idol Bono genießt all<br />
das Geld, das er den armen Ländern<br />
über ein parasitäres Steueroasensystem<br />
nimmt. Das sind für sich<br />
genommen natürlich keine neuen<br />
Fakten. Hickel versteht es aber<br />
dennoch, diese auf schlüssige Weise<br />
einem Denkansatz gegenüberzustellen,<br />
der effektiv vor diesen Fakten<br />
schützt. So banal es also auch<br />
klingt, so sehr existiert es weiter<br />
in den Köpfen: Wer gibt, der kann<br />
ZGH 0147/09 · 05/18 · Foto: peterheck.de
8 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
JASON HICKEL<br />
DIE<br />
TYRANNEI DES<br />
WACHSTUMS<br />
doch gleichzeitig nicht nehmen!<br />
Eben doch. „Wie schon zu Trumans<br />
Zeiten dient Entwicklungshilfe als<br />
eine Art Propaganda, die die Nehmer<br />
als Geber darstellt und verschleiert,<br />
wie die globale Wirtschaft wirklich<br />
funktioniert.“ Wer damit aufräumen<br />
will, muss aus diesem Denken raus.<br />
Hickel praktiziert das mit seinem<br />
Buch auf vorbildliche Weise.<br />
Hickels Vorgehen ist durch und<br />
durch investigativ geprägt. Zunächst<br />
einmal nimmt er dezidiert die „Erfolge“<br />
des Entwicklungsparadigmas<br />
auseinander. Präzise und mit<br />
kritischem Blick beweist Hickel,<br />
wie einfach man Statistiken manipulieren<br />
kann. Eben kein Problem,<br />
wenn man als stolzer Geber Armutsgrenzen<br />
sehr niedrig ansetzt oder<br />
Armutbekämpfungserfolge sanft in<br />
Zeiträume verschiebt, für die man<br />
eigentlich gar keine Verantwortung<br />
trägt. So weist man Erfolge vor, die<br />
dann rechtfertigen, dass ein kapitalistisches<br />
Wachstumssystem mit<br />
seiner Gewinnmaximierung auch<br />
für die armen Länder immer etwas<br />
bieten kann. Oder: Gebe den Reichen<br />
und auch für die Ärmsten sickert<br />
noch genug durch. Die Trickle-down-Theorie,<br />
die man vor allem<br />
noch aus Thatchers Zeiten kennt,<br />
bester Neoliberalismus.<br />
Die wirklichen Gründe für die<br />
globale Ungerechtigkeit, die wirkliche<br />
Tyrannei sucht Hickel im Mittelteil<br />
seines Buches historisch auf,<br />
abseits all der Blendwerke einer<br />
modernen Entwicklungswirtschaft.<br />
Schließlich: „Die Entwicklungshilfeindustrie<br />
hat uns darauf gedrillt, in<br />
kurzen Zeiträumen zu denken.“ Dabei<br />
war Armut nicht immer mit dem<br />
Süden assoziiert. Um 1500 noch<br />
gab es nur wenige Unterschiede<br />
zwischen Europa und dem Rest der<br />
Welt, teils lag das Lebensniveau<br />
in Ländern wie Lateinamerika, Indien<br />
oder Asien sogar über dem<br />
von Europa. Aber das änderte sich,<br />
denn bekanntermaßen gab es da den<br />
Kolonialismus, den Hickel als eine<br />
Begründung des heute vorherrschenden<br />
Armutsspiegels der Welt erklärt.<br />
Gerade die große industrielle Revolution<br />
war als kolonialistisch organisiertes<br />
„Outsourcing“ landintensiver<br />
Produktionen ein echter Erfolg und<br />
trieb die Länder des Südens einem<br />
beispiellosen Verfall durch Ausbeutung<br />
entgegen. Durch die Sklaverei<br />
wiederum erhielten die Vereinigten<br />
Staaten zwischen 1619 und 1865 222<br />
Milliarden Stunden erzwungener<br />
Arbeit. Stoff auf dem Weltreiche<br />
ruhen. Der Raub von Ressourcen,<br />
Land und Arbeitskräften ließ das<br />
große Wirtschaftswachstum Europas<br />
erst möglich werden. Aber auch<br />
domani<br />
möbel<br />
innerhalb Europas fanden entsprechende<br />
Enteignungen statt. Im England<br />
des 18. und 19. Jahrhunderts<br />
wurde gemeinschaftlich genutztes<br />
Land im großen Stil von Kleinbauern<br />
genommen und in die industrielle<br />
Massenproduktion eingebunden.<br />
Diese „Enclosure“-Bewegung, die<br />
schon im Mittelalter begann, kannte<br />
viele Aufstände, schließlich aber<br />
auch viele Tote, Flüchtlinge und wie<br />
man weiß, verarmte Landarbeiter in<br />
den großen Fabrik- und Industriemetropolen.<br />
Das Wachstumsrezept<br />
Großbritanniens: „Es waren diese<br />
drei Kräfte – Akkumulation von<br />
Wohlstand, massenhafte Vertreibung<br />
von Kleinbauern und die Schaffung<br />
Wie globale Ungleichheit<br />
die Welt spaltet und was dagegen<br />
zu tun ist<br />
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eines Verbrauchermarktes –, welche<br />
die internen Voraussetzungen für die<br />
industrielle Revolution schufen. Die<br />
externen Voraussetzungen hatten [...]<br />
mit der Kolonisierung von Amerika<br />
und dem Sklavenhandel zu tun.“ Es<br />
ist schwer, den bissigen Zynismus<br />
Hickels angesichts der Reihung<br />
perverser Ungerechtigkeiten nicht<br />
mitzudenken. Guter Empath, der er<br />
ist, weiß Hickel genau, wann die<br />
Faktenlage schwerwiegend genug<br />
ist, um die Wut auf wenigen Worten<br />
zu ballen. Entsprechend lautet eine<br />
Kapitelüberschrift: „Wie Großbritannien<br />
die Länder Asiens unterentwickelte“.<br />
Schließlich war für eine schrankenlose,<br />
rücksichtslose Wirtschaft<br />
die Öffnung aller Länder notwendig.<br />
Ein Land wie China, das sich wohlweißlich<br />
dem Weltmarkt verweigerte,<br />
wurde mit den Opiumkriegen<br />
schließlich dazu gezwungen und<br />
wirtschaftlich niedergerungen. Die<br />
Kolonialzeit Indiens bietet einen<br />
weiteren Beleg für die erzwungene,<br />
neue „freie“ Marktwirtschaft und<br />
ein gutes Beispiel für das, was Globalisierung<br />
schon früh bedeutete. Als<br />
diese Zeit wiederum eine Kehrtwende<br />
erfahren sollte, mit progressiven<br />
Denkern wie Mahatma Gandhi,<br />
Marcus Garvey sowie einem neuen<br />
Entwurf für eigene, selbststärkende<br />
Volkswirtschaften in den ehemals<br />
armen Ländern des Globalen Südens,<br />
wussten die reichen Länder<br />
richtig zu intervenieren. Putsche<br />
und Militärdiktaturen legen davon<br />
ein erschreckendes Zeugnis ab, das<br />
Hickel im Kontrastverfahren nur<br />
zu gerne demonstriert. Das erfolgreiche<br />
Wirtschaftswachstum durch<br />
die Etablierung einer gerechten inländischen<br />
Wirtschaftspolitik in den<br />
Ländern des Globalen Südens steht<br />
totaler Verarmung, Mord und Korruption<br />
gegenüber – Dinge, die den<br />
Staatsstreichen in Ländern wie Kongo,<br />
Chile, Ghana, Iran oder Brasilien<br />
unverzüglich folgten. Wohlstand<br />
auf Kosten ausgebeuteter Länder<br />
auch in der zweiten Hälfte des 20.<br />
Jahrhunderts und ein wesentlicher<br />
Grundstein für die bestehende Armut.<br />
„Die westlichen Mächte haben<br />
unzählige Versuche, echte Unabhängigkeit<br />
zu erreichen, vereitelt, was<br />
ein ziemlich ironisches Licht auf<br />
das historische Image des Westens<br />
als leuchtendes Vorbild für Demo<br />
kratie und Volkssouveränität wirft.“<br />
Als auch diese Phase ein Ende fand,<br />
sahen sich die gebeutelten Länder<br />
als arm und nahmen gerne oder mit<br />
Zwang Kredite auf, um in der entfesselten<br />
Weltwirtschaft Stand halten<br />
zu können. Strukturanpassungsprogramme<br />
durch den Internationalen<br />
Währungsfond (IWF) sollten ihnen<br />
schließlich dabei helfen, die Schulden<br />
auch wieder zurückzuzahlen. Massiver<br />
Sozialabbau, wie man ihn vor<br />
wenigen Jahren auch in Griechenland<br />
beobachten konnte. So gelang es den<br />
Geldgebern, erneut Kontrolle über die<br />
Wirtschaftspolitik der nunmehr längst<br />
wieder armen Länder zu verschaffen<br />
und diese dem neoliberalen Credo der<br />
Gewinnmaximierung zu unterwerfen.<br />
„Es wurde ihnen eine ‚Rück-Entwicklung‘<br />
im Namen der Entwicklung<br />
aufgezwungen.“ Wer sich geweigert<br />
hätte, hätte sich der Gefahr eines Militärputsches,<br />
etwa durch die USA,<br />
ausgesetzt, der natürlich auch eine<br />
wirtschaftliche Öffnung des Landes<br />
erzwungen hätte.<br />
Die Laune der LeserInnen dürfte<br />
sich während der Lektüre kaum<br />
bessern, schließlich führt Hickel die<br />
Ausbeutung der Länder des Globalen<br />
Südens in allen Phasen und bis heute<br />
vor. Schließlich besteht der Neoliberalismus<br />
noch immer und buhlt um<br />
ein Bruttoinlandprodukt, das kaum<br />
im Interesse bedürftiger Menschen<br />
sein kann. Dumpingpreise für Landwirtschaft,<br />
Sexarbeit oder die Verweigerung<br />
von Patentmedizin für AIDS-<br />
Kranke in Afrika sind harsche Folgen<br />
einer gewinnorientierten Politik. Steuerhinterzieher,<br />
Landräuber, Klimaverächter<br />
verstärken die grässlichen Folgen<br />
bis heute und vermutlich bis weit<br />
in die Zukunft. Die mächtigen Konzerne<br />
wie IWF und Weltbank bleiben<br />
indes immun, die gebeutelten Länder<br />
sind in Gremien und Räten unterrepräsentiert,<br />
Absprachen der echten Player<br />
finden in Nebenzimmern statt. Die<br />
Kluft zwischen Arm und Reich zieht<br />
sich überall hindurch und berührt alle<br />
Ebenen. Man ist ja auch erstaunt, wie<br />
gut alles aufeinander abgestimmt ist,<br />
wie absolut die Verweigerung eines<br />
gerechten Lebensstils. Man kann den<br />
Zorn Hickels ja auch nur verstehen.<br />
Nur will man auch verstehen, was<br />
Hickel für Lösungen hat. Angesichts<br />
der vernichtenden, historisch fundierten<br />
Ungerechtigkeiten können seine<br />
Hypothesen aber nur enttäuschen.<br />
Auf lediglich 70 Seiten sucht Hickel<br />
nach neuen Möglichkeiten, die Kluft<br />
durch Gerechtigkeit zu schließen,<br />
falsche Wohltätigkeit soll dabei bloß<br />
vergessen werden. Aber auch hier<br />
rutscht er immer wieder unstet in ein<br />
Konstatieren weiterer negativer Entwicklungen<br />
ab, als wäre sein eigener<br />
Glaube doch etwas unsicher, als wären<br />
seine Lösungen freundliches Schulterklopfen<br />
für einen geschändeten Leichnam.<br />
Vor allem bleibt Wut: „Würde<br />
die US-Regierung die globale Armut<br />
wirklich ausmerzen wollen, sollte sie<br />
vielleicht, statt Entwicklungshilfe zu<br />
zahlen, die Strukturanpassungsprogramme<br />
beenden, gegen die weit verbreitete<br />
Steuervermeidung vorgehen<br />
und unfaire Handelsgesetze abschaffen<br />
– drei der führenden Ursachen für<br />
Armut überhaupt.“ Immerhin begeht<br />
Hickel den Fehler nicht, seinen Untersuchungsgegenstand<br />
vorher nicht<br />
ausreichend konturiert zu haben, nur<br />
bleiben seine konstruktiven Änderungsvorschläge<br />
eher Appell, Ideenwerkstatt,<br />
Diskursgrundlage als<br />
durchdachtes Gegenmodell: „Die unerlässliche<br />
Verrücktheit der Fantasie“.<br />
Aber vielleicht auch nur der Durst der<br />
LeserInnen nach mehr Hoffnung bei<br />
all der beeindruckend niederschlagenden,<br />
scharfen Betrachtung. Der<br />
Riss bleibt erst einmal bestehen.<br />
Jason Hickel, Die Tyrannei des<br />
Wachstums, dtv München <strong>2018</strong>.<br />
Fabian Lutz
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 9<br />
Mit den Waffen der Kunst<br />
Es geht nicht etwa um den Streit,<br />
welche Kunst nun die richtige sei.<br />
Auch nicht darum, welche Mittel der<br />
Kunst am meisten zuträglich seien.<br />
Ein Hund, der sein Geschäft verrichtet,<br />
ist vielmehr die entsprechende Metapher.<br />
Die Coverabbildung des neuesten<br />
Kunstbandes – Doris H. Lehmann<br />
(Hg.): „Vom Streit zum Bild. Bildpolemik<br />
und andere Waffen der Künstler“<br />
– vom wissenschaftlichen Kunstbuchverlag<br />
ad picturam in Merzhausen bei<br />
Freiburg wurde einmal mehr zielsicher<br />
ausgewählt und lässt an der thematischen<br />
Originalität seines Inhalts keine<br />
Zweifel.<br />
Völlig klar, hier kommt keine Langeweile<br />
auf. Wenn Künstler streiten, ist<br />
die Phalanx ihrer Kriegsmittel überaus<br />
imposant. Nur dass es sich um keine<br />
Farbpalette handelt, derer sie sich bedienen.<br />
Ihre bildnerischen Kämpfe sind<br />
eher thematischer Art – meist geführt<br />
mit spitzem Bleistift – und zuweilen<br />
an Frivolität kaum zu überbieten. Insofern<br />
verspricht dieser Band eingangs<br />
Einiges an Unterhaltung.<br />
Dennoch wäre dies zu kurz gegriffen.<br />
Erneut gelang der Verlegerin Carmen<br />
Flum nach ihrer letzten Publikation<br />
„Künstlerhelden“ die Verquickung<br />
eines exotischen Themas mit dem Anspruch<br />
hehrer Wissenschaft. Erschienen<br />
ist der aktuelle Band im Rahmen<br />
des DFG-Projekts „Streitstrategien<br />
bildender Künstler in der Neuzeit“<br />
mit Beiträgen von Helen Barr, Giuseppe<br />
Capriotti, Cristina Fontcuberta<br />
Originelle Neuerscheinung des Freiburger Kunstbuchverlags ad picturam<br />
i Famadas, Ekatarina Kepetzis, Petra<br />
Kunzelmann, Doris H. Kunzelmann<br />
und Charlotte Mende, welche indes<br />
nicht immer so flüssig und leicht daherkommen,<br />
wie es die Titelabbildung<br />
vielleicht zunächst suggeriert.<br />
Interessant sind die verschiedenen<br />
Ausführungen allemal und ausnahmslos.<br />
So entstammt der geschäftige<br />
Hund der Feder keines Geringeren<br />
als Rembrandt van Rijn, findet sich<br />
dort aber nur am Rande – wiewohl<br />
im Vordergrund – seiner Radierung<br />
„Der barmherzige Samariter“ (1633).<br />
Ein Bilddetail und Rätsel, das bereits<br />
Kunsthistoriker wie Heinrich Wölfflin<br />
irritierte, ist ein defäkierender Köter<br />
doch in der biblischen Vorlage gar nicht<br />
vorgesehen. Dennoch ist es gerade der<br />
Hund, der die Blicke des Betrachters<br />
auf sich zieht. Was steckt dahinter?<br />
Ein humoristischer Ausrutscher des<br />
Künstlers? Sozialkritik? Oder fußt des<br />
Rätsels Lösung doch wesentlich tiefer?<br />
Doris H. Lehmanns Ausführungen<br />
– von ihr, die zugleich Herausgeberin<br />
dieses Bandes ist, stammt dieser<br />
interessante Beitrag – zeigen auf, wie<br />
intermediale Untersuchungen zu ganz<br />
neuen Ergebnissen führen können, wo<br />
vormals auf rein bildnerische Vorlagen<br />
beschränkte Forschungsmethoden versagten.<br />
Zum Beispiel ergibt die Einbeziehung<br />
der Sprichwort-Forschung<br />
unter Berücksichtigung eines für den<br />
Künstler (historisch belegten) relevanten<br />
Streits eine plausible Lesart für<br />
dieses Werk.<br />
Gerade die Unmittelbarkeit des Sehens<br />
in einer mit den visuellen Mitteln<br />
der Kunst geführten Auseinandersetzung<br />
vermag eine wesentlich deutlichere<br />
Direktheit als sie etwa mit abstrakten<br />
Worten zu erzielen wäre. Dies<br />
zeigt sich nicht nur an Rembrandts<br />
Beispiel, sondern wird besonders augenscheinlich,<br />
wenn Künstler wie Kurt<br />
Schwitters oder Neo Rauch ihre Kunstkritiker<br />
mittels Karikaturen verhöhnen.<br />
In deren Offenheit zeigt sich auch die<br />
Emanzipation der Gegenwartskunst, die<br />
grundsätzlich keine Kritik (vielmehr<br />
keine Kriterien) mehr zulässt.<br />
Subtil historisierend, gewürzt mit raffinierten<br />
Bildzitaten, weist Neo Rauch<br />
seine Kunstkritiker in ihre Grenzen.<br />
Allerdings nur, sofern diese „eliminatorische<br />
Zielsetzungen“ verfolgen. Dann<br />
aber gerät ihm der Pinsel zur Waffe,<br />
obwohl er den destruktiven Schwätzern<br />
„am liebsten eins auf die Nase geben“<br />
würde. Da das aber nicht erlaubt ist,<br />
greift er zu den legitimen Mitteln der<br />
Kunst, die sich, heute mehr denn je,<br />
durch nichts und niemanden einschränken<br />
lassen.<br />
Die Instrumentalisierung von Kunstwerken<br />
als Waffen bildender Künstler<br />
reicht indes gar bis ins Mittelalter oder<br />
weiter in der Kunstgeschichte zurück<br />
und richtete sich mitnichten nur gegen<br />
Kunstverächter. Manch einem dienten<br />
sie als Motor schöpferischer Kreativität.<br />
Darüber hinaus lassen sich jedoch auch<br />
regelrechte Fehden konkurrierender<br />
und sich gegenseitig bekämpfender<br />
Künstler bezeugen. Sie nutzten ihre<br />
Bilder als Bühnen, auf denen sie ihre<br />
Kämpfe öffentlich austrugen. Dass der<br />
Kreativität hierbei keinerlei Grenzen<br />
gesetzt waren, versteht sich von selbst.<br />
„Künstlerstreit wurde und wird im Bild<br />
verhandelt, indem auf einer von in der<br />
Regel mehreren Leseebenen kritische<br />
Inhalte adressenorientiert kommuniziert<br />
wurden“, so die Herausgeberin.<br />
Dass diese Art der Auseinandersetzung<br />
nicht zu verwechseln ist mit dem<br />
sogenannten „Künstlerstreit“ (auch genannt<br />
„Paragone“ oder „Wettstreit der<br />
Künste“), muss an sich nicht eigens<br />
betont werden, gestaltete sich dieser<br />
doch auf eher hehre Weise. Diesem gegenüber<br />
kannten die Waffen der Künstler<br />
kein Pardon, waren sie erst einmal<br />
gezückt. Welch unterschiedliche Strategien<br />
sich hieraus entwickeln konnten,<br />
zeigen die einzelnen Beiträge in diesem<br />
Band auf.<br />
Eine Konstante lässt sich mit dem<br />
motivischen Einsatz von Hunden dennoch<br />
ausmachen, der immerhin auf<br />
eines der ältesten und international am<br />
weitesten verbreiteten Schimpfworte<br />
zurückgeht. Hierin unterscheidet sich<br />
auch die Gegenwart nicht von der<br />
Tradition. Noch heute werden Kontrahenten<br />
im Bild verhöhnt, beleidigt und<br />
gedemütigt – entmannt, enthauptet und<br />
vernichtet. Ein Fass ohne Boden, möchte<br />
man meinen. Dessen Inhalt hätte sich<br />
hie und da in den Texten vielleicht etwas<br />
lockerer aufbereiten lassen, wurde<br />
dafür aber umso ansprechender inszeniert.<br />
Letzteres ist allein der Verlegerin<br />
zu verdanken, die es mit Pfiff versteht,<br />
die zuweilen graue Eminenz der Wissenschaft<br />
geistreich zu verjüngen.<br />
Das E-Book ist auf arthistoricum.net<br />
dauerhaft frei verfügbar, die Printausgabe<br />
ist im Buchhandel oder über den<br />
Verlag erhältlich (ISBN 978-3-942919-<br />
04-3; 44,00 € [D]). Weitere Informationen<br />
unter http://ad-picturam.de.<br />
Friederike Zimmermann
10 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
Zumbiegel erlernt das Alphabet<br />
Satire aus dem akademischen Milieu von Dirk Schindelbeck<br />
DAS KLEINE SCHAUSPIELHAUS IN FREIBURG<br />
MUSICAL<br />
VON<br />
WILLIAM S.<br />
BURROUGHS<br />
ROBERT<br />
WILSON<br />
RATHAUSHOFSPIELE43<br />
UND<br />
TOM<br />
WAITS<br />
Rathausgasse 5a • 79098 Freiburg • 07 61/2 56 56<br />
Welch schöne Jahre, Jahre des<br />
Aufbruchs, der neuen Ideen! Drei<br />
Freunde waren sie, angetreten, die<br />
wissenschaftliche Welt aus den<br />
Angeln zu heben. Heinrich Zumbiegel<br />
war einer von ihnen – gewesen.<br />
Denn mit den Jahren war<br />
tiefe Entfremdung eingetreten,<br />
und schuld daran war allein das<br />
Alphabet. Niemand hatte seinerzeit<br />
mit der Arbeitsgemeinschaft<br />
Bütefisch, Schnarrhäuser-Knotenberger<br />
und Zumbiegel gerechnet.<br />
Auf einmal waren sie da, erregten<br />
Aufmerksamkeit in Wissenschaftskreisen.<br />
Und nach drei, vier Jahren<br />
hatten sie sich einen guten Namen<br />
erschrieben.<br />
Von da an aber wirkte, unmerklich<br />
erst, dann immer machtvoller,<br />
das gnadenlose Gesetz des Alphabets.<br />
Seit jeher gibt dieses ja die<br />
Reihenfolge der Autorennamen auf<br />
dem Buchdeckel vor. Dass unter<br />
solchen Voraussetzungen Zumbiegel<br />
niemals würde über einen Nebeneintrag<br />
in den Bibliotheks-Katalogen<br />
hinauskommen, war ihm<br />
von Anfang an bewusst gewesen.<br />
Mit der Souveränität des Intellektuellen<br />
hatte er dem Umstand aber<br />
nur wenig Bedeutung geschenkt.<br />
Was waren Bibliotheken, staubige<br />
Listen? Die Öffentlichkeit wertete<br />
mit Sicherheit anders und würde<br />
Verdienst und Ruhm schon gerecht<br />
allen am Werk beteiligten Köpfen<br />
zugestehen.<br />
Zumbiegel sollte sich täuschen.<br />
Als er anfing, den Tatbestand in<br />
seiner Tragweite zu erfassen, waren<br />
aus Monaten Jahre geworden.<br />
Von da an verdüsterte sich sein Gemütszustand<br />
ebenso schleichend<br />
wie das Buch breitere Anerkennung<br />
erfuhr. Nach den ersten Rezensionen,<br />
in denen von der epochalen<br />
Leistung eines Bütefisch<br />
die Rede war, hatte sich Zumbiegel<br />
noch in Selbstironie geflüchtet.<br />
Es gab ja immer wieder auch<br />
seriöse Besprechungen, in welchen<br />
das Werk bei voller Nennung aller<br />
Autoren gepriesen wurde. Dann<br />
folgten wieder Dutzende von Rezensionen<br />
über Bütefisch oder,<br />
wenn es hochkam, Bütefisch et<br />
al. Und ihrer wurden immer mehr<br />
– und ein entsprechend falscher<br />
Eindruck verfestigte sich in der<br />
Öffentlichkeit. Natürlich hatte<br />
Zumbiegel diesen Mechanismus<br />
The<br />
Black<br />
Rider<br />
08.08.<br />
BIS<br />
02.09.<br />
<strong>2018</strong><br />
wallgraben-theater.com<br />
durchschaut: Weil Bütefisch vorn<br />
stand, galt er vielen unfähigen <strong>Zeitung</strong>sschreibern<br />
automatisch als<br />
Leiter der Arbeitsgruppe – womit<br />
sich für sie die Nennung der anderen<br />
Autoren erübrigte.<br />
Es kam der Tag, an dem Zumbiegel<br />
dies nicht länger hinnehmen<br />
wollte. Eine dümmliche, wieder<br />
nur Bütefisch lobende Sudelbesprechung<br />
nahm er zum Anlass,<br />
den verantwortlichen Redakteur<br />
zur Rede zu stellen. Was bekam<br />
er zur Antwort? Platznot habe die<br />
Nennung aller Namen verhindert.<br />
Bütefisch, Schnarrhäuser-Knotenberger<br />
und Zumbiegel passten<br />
eben nicht in die <strong>Zeitung</strong>sspalte<br />
mit 37 Anschlägen. Zumbiegel<br />
nahm den Bescheid entgegen – die<br />
Zahl der Anschläge war korrekt<br />
angegeben – und blieb zerknirscht.<br />
Seine Gedanken begannen um<br />
Schnarrhäuser-Knotenberger zu<br />
kreisen. Wenn er den Kollegen<br />
überzeugen könnte, auf einen<br />
Teil seines Namens zu verzichten,<br />
dann passten sie doch alle drei in<br />
die Spalte...? Zumbiegel organisierte<br />
ein Treffen und trug ihm<br />
den Plan einer Namensverkürzung<br />
vor. Etwa Schnarrhäuser-K. oder<br />
– kühner – Schnarrberger, eventuell<br />
auch Schnarrknoter. Doch<br />
der Kollege schüttelte den Kopf.<br />
Und eröffnete Zumbiegel, dass<br />
sein Name bereits eine Konzession<br />
darstelle. Vor seiner Verehelichung<br />
mit ihm habe seine Frau<br />
Knotenberger-Kopetzky geheißen.<br />
In langen Diskussionen sei es ihm<br />
gelungen, wenigstens im wissenschaftlichen<br />
Verkehr den Kopetzky<br />
unterdrücken zu dürfen. Dafür<br />
müsse Knotenberger immer gedruckt<br />
werden. Diese Lösung, als<br />
sozusagen äußerste Kompressionsstufe,<br />
enthalte keine weiteren Reduktionsmöglichkeiten.<br />
Zumbiegel<br />
nahm den Bescheid entgegen und<br />
blieb zerknirscht.<br />
Währenddessen mehrte das<br />
Werk seinen Ruhm. Anfragen kamen,<br />
selbstverständlich immer an<br />
Bütefisch, zu wissenschaftlichen<br />
Tagungen und Kongressen. Bütefisch<br />
– das muss der Gerechtigkeit<br />
halber gesagt werden – war fair<br />
genug, die Einladungen auch an<br />
seine Mitstreiter weiterzugeben.<br />
Eines Tages vertrat Zumbiegel<br />
die Arbeit der Gruppe auf einem<br />
wissenschaftlichen Symposium.<br />
Schon als er den Saal betrat, hörte<br />
er Tuscheln: „Ist das nicht einer<br />
von der Bütefisch-Truppe.“ Es<br />
La Qualitá ha un Nome<br />
dauerte nicht lange, bis man ihn<br />
offen ansprach: „Haben Sie nicht<br />
auch an dem großen Bütefisch-<br />
Buch mitgeschrieben?“ Zumbiegel<br />
nickte wie geistesabwesend...<br />
Noch im Abgang von der Tagung<br />
hörte er hinter sich: „Das war doch<br />
ein Bütefischer, nicht?“<br />
Der vernichtendste Schlag aber<br />
kam erst auf der Buchmesse. Angereist,<br />
im Namen des Teams das<br />
Spitzenprodukt des Hauses zu<br />
vertreten, strebte er selbstbewusst<br />
hinter den Stand. Eine Verlags-<br />
Repräsentantin, die in ihm nicht<br />
den Autor erkannte, sondern einen<br />
dreisten Messebesucher, trat<br />
ihm in den Weg. Bedeutungsvoll<br />
wies Zumbiegel auf das kunstvoll<br />
zu einem Buchturm aufgeschichtete<br />
Werk der Arbeitsgruppe und<br />
erklärte, er sei Autor. Süffisant<br />
gab die Dame zurück: „Sie sind<br />
Beiträger“. Wieder das Alphabet!<br />
Zumbiegel blieb zerknirscht.<br />
In seiner Depression vergrub er<br />
sich in Lektüre. Vom berühmten<br />
Institut für Sozialforschung hatte<br />
er zwar häufig gehört, aber bis<br />
dato nur Bruchstückhaftes gewusst.<br />
Jetzt las er sich ein, vertiefte<br />
sein Wissen. Unweigerlich<br />
stieß er auf die Namen Adorno,<br />
Benjamin, Horkheimer, Marcuse.<br />
Als er die Studien zum autoritären<br />
Charakter in die Hand nahm,<br />
das Werk, welches Adorno in den<br />
Staaten erst bekannt gemacht hatte,<br />
fuhr er wie elektrisiert hoch.<br />
Nach seiner Emigration in die<br />
USA 1938 hatte es Wiesengrund-<br />
Adorno vorgezogen, sich in The-<br />
Ihr Partner für die<br />
feine italienische Küche<br />
Inh. Edmund Huber e.K.<br />
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Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 11<br />
fuhr wie benommen hoch: Richtig,<br />
er war diesen Namen schon<br />
im realen Leben begegnet. Doch<br />
Zumbiegel blieb klug und verschwiegen.<br />
In ihm arbeitete ein<br />
teuflischer Plan. Hatte er nicht,<br />
mithilfe von Zwick und Zytkow,<br />
die Chance seines Lebens, aus<br />
Leidensgenossen die idealen Mitarbeiter<br />
zu rekrutieren, um das<br />
Herkuleswerk „Ruhmgerechtigkeit“<br />
mit verdreifachter Energie<br />
zu vollenden?<br />
Der Start der wissenschaftlichen<br />
Arbeitsgemeinschaft Zumbiegel,<br />
Zwick und Zytkow begann verheißungsvoll.<br />
Geschickt versuchte<br />
Zumbiegel, seine Mitstreiter zu<br />
höherer Produktivität anzuregen.<br />
Doch so gut ihre Namen mit dem<br />
seinen harmonierten, ihr Talent<br />
und ihr Fleiß waren beschränkt.<br />
Immer wieder blieb ihm selbst<br />
die meiste Arbeit zu tun übrig.<br />
Die heimliche Rechnung, sich mit<br />
ihrer Hilfe jenen Ruhm zurückzuholen,<br />
der ihm einst als Bütefisch<br />
et al vorenthalten worden war, sie<br />
schien nicht aufzugehen.<br />
Trotz aller Widerstände schritt<br />
das Werk voran. Es gelang, einen<br />
Verleger zu finden, der die auf 26<br />
Bände angelegte Gesamtausgabe<br />
engagiert betreuen wollte. Schon<br />
nach vier Jahren lag das Manuskript<br />
des ersten Teilbandes „Bedeutungsgerechtigkeit,<br />
Band 1,<br />
Aaa - Aru“ beim Verlag. Zumbiegel,<br />
voller Vorfreude, lud Zwick<br />
und Zytkow zu sich nach Hause<br />
ein. Man trank Tee, unterhielt sich<br />
freundschaftlich, scherzte. Dann,<br />
wie auf ein Zeichen, zogen beide<br />
Dokumente aus ihren Taschen.<br />
Zwick hatte am Tag zuvor geheiratet<br />
und den Namen seiner Frau<br />
angenommen: er nannte sich nun<br />
Adelung-Zwick. Zytkow hingegen<br />
hatte vor kurzem und unerwartet<br />
aus einem polnischen Archiv Unterlagen<br />
zugesandt bekommen. Er<br />
sei, was er zuvor nicht gewusst<br />
habe, aus einem alten Adelsgeschlecht<br />
und heiße von Zytkow.<br />
Für die Deckel der 26 Bände ergebe<br />
sich die neue Autoren-Reihenfolge:<br />
Adelung-Zwick, von<br />
Zytkow, Zumbiegel...<br />
In dieser Nacht verlief Zumbiegels<br />
Lieblingstraum ungewohnt.<br />
Er betrat seine Bibliothek. Der<br />
Buchbinder war soeben damit<br />
beschäftigt, die „Studien zum<br />
autoritären Charakter“ neu aufzubereiten,<br />
jenes epochale Werk<br />
von Robert Newitt Sanford und<br />
anderen. Zumbiegel schaute ihm<br />
interessiert über die Schulter. Auf<br />
dem Deckel waren die platzfressenden<br />
Namen der Mitautoren<br />
bereits getilgt. Eben sollte auch<br />
der Schmutztitel neu gesetzt werden.<br />
Plötzlich geriet Zumbiegel in<br />
Wallung. Das konnte er, aus der<br />
Kenntnis des Werkes, auf keinen<br />
Fall hinnehmen. Wenigstens musste<br />
doch, der Fairness halber, eingefügt<br />
werden: Unter Mitarbeit von<br />
Theodor Adorno.<br />
Lust auf was Neues?<br />
Orbis Pictus als Werbezugabe der Firma Erdal Rex von<br />
ca. 1912.<br />
Diese Reklamemarkenserie umfasste ein ganzes Alphabet<br />
mit entsprechenden, auf das Produkt bezogenen Zweizeilern<br />
mit „pädagogischem Mehrwert“.<br />
Hier werden die akademischen Titel Dr. und Prof abgebildet<br />
(waagerecht und senkrecht)<br />
aus Privatarchiv<br />
odor W. Adorno umzubenennen,<br />
aus ästhetischen Gründen, wie es<br />
hieß. Zumbiegel durchschaute den<br />
Fall sofort. Schließlich sprach das<br />
Ergebnis für sich: Von vier Autoren,<br />
welche die Studie gemeinsam<br />
verfasst hatten – die Namen von<br />
Else Frenkel-Brunswik, Daniel J.<br />
Levinson, Robert Nevitt Sanford<br />
passten doch in keine <strong>Zeitung</strong>sspalte!<br />
– blieb am Ende auf dem<br />
Buchdeckel stehen: Adorno et<br />
al. Was für ein Coup! Den Nachnamen<br />
so zu verkürzen, dass er,<br />
amerikanischem Geschmack entsprechend<br />
wie ein abgekürzter<br />
Vorname daherkam und locker an<br />
den andern vorbeizog!<br />
Mit was für Spätfolgen für die<br />
Wissenschaft! Marketing-Adorno,<br />
in die Welt hinausposaunt, um<br />
ein Forschungsgebiet mit seinem<br />
Namen zu bekleben und in jedem<br />
Arbeitszusammenhang, vor allem<br />
im Hinblick auf den genialen Benjamin,<br />
diesen stets hinter sich zu<br />
lassen. Beim Börsenverein des<br />
Buchhandels, den Grossisten, den<br />
Buchhändlern, den Bibliotheken,<br />
den Redakteuren, in den Seminarankündigen,<br />
den Literaturlisten,<br />
Glossaren und Apparaten, Marketing-Adorno<br />
stand vorn, vorn,<br />
vorn. Was war er, Zumbiegel, doch<br />
für ein Dilettant! Hatte er, in vorgerücktem<br />
Alter, überhaupt noch<br />
Möglichkeiten, verlorenen Boden<br />
gut zu machen? Wenn er sich etwa<br />
zum Biegel nannte, am besten in<br />
der abgekürzten Version z. Biegel.<br />
Es mochte Bibliotheken geben, die<br />
ihn dann unter B und nicht unter<br />
z einordneten. Aber wenn er sich<br />
ehrlich befragte, musste er einräumen,<br />
dass diese Strategie nicht<br />
trug.<br />
Dafür war sein Forschungsinteresse<br />
entflammt. Zumbiegel<br />
machte sich an das Projekt „Bedeutungsgerechtigkeit“.<br />
Bis jetzt<br />
hatte noch niemand den empirisch<br />
gesicherten Nachweis erbracht, in<br />
welchem Ausmaß bei gleichrangigen<br />
Autoren die vom Alphabet<br />
Begünstigten automatisch profitierten,<br />
die hinten Stehenden unverschuldet<br />
Benachteiligungen erlitten<br />
bis hin zu lebenslänglichen<br />
Karriereblockaden. Vor diesem<br />
Herkuleswerk war noch jeder andere<br />
zurückgeschreckt. Zumbiegel<br />
nicht. Ihn trieb es, erstmals handfestes<br />
Zahlenmaterial vorzulegen.<br />
Ihm schwebte so etwas vor wie<br />
ein Ruhm-Indikator in Form einer<br />
hochgestellten Ziffer hinter jeden<br />
Autorennamen – als Koeffizient<br />
und Kennzahl für zuviel bzw. zuwenig<br />
in der Öffentlichkeit zugestandener<br />
Bedeutung.<br />
In dieser Lebensphase angestrengten<br />
wissenschaftlichen<br />
Arbeitens überkam Zumbiegel ein<br />
wiederkehrender Traum. Er betrat<br />
den Büchersaal einer einzigartigen<br />
Bibliothek: die Bibliothek der reziproken<br />
Registrierungen. Hier<br />
wurde jedes neu eintreffende, von<br />
Autorenkollektiven verfasste Buch<br />
aufmerksam begutachtet, geprüft<br />
und – sofern die schreiberischen<br />
Anteile als gleichwertig befunden<br />
wurden – der vom Alphabet<br />
diktierten Autoren-Reihenfolge<br />
entkleidet. In der eigenen Buchbinderei<br />
wurden neue Buchdeckel<br />
angefertigt, ebenso die Schmutztitel<br />
und die Literaturangaben in den<br />
Apparaten und Anhängen: alles in<br />
liebevoller Handarbeit neu gesetzt.<br />
Das Endergebnis waren sauber gebundene<br />
Gemeinschaftswerke in<br />
umgekehrter Reihenfolge der Autoren-Nennungen.<br />
Immer wieder<br />
stöhnte Zumbiegel während seines<br />
Lieblingstraums lustvoll auf.<br />
Eines nachts wurde sein Traum<br />
empfindlich gestört. Zwei rüde<br />
Personen drängten sich vor –<br />
Zwick und Zytkow. Zumbiegel<br />
> in der Physiotherapie<br />
> auf den Pflegestationen<br />
> in der Haustechnik<br />
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12 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
Vom Sprachunterricht zum sprachsensiblen<br />
Fachunterricht<br />
Das Promotionskolleg Deutsch als Fremd- und Zweitsprache<br />
„Ohne Deutsch kann man hier<br />
nichts machen ...“*– so der Kommentar<br />
eines zugewanderten<br />
Schülers in einer nordrhein-westfälischen<br />
Vorbereitungsklasse. In<br />
der Tat sind Bildungserfolg und<br />
Sprachkompetenzen eng miteinander<br />
verzahnt, wie zahlreiche Studien<br />
belegen. Neu zugewanderte<br />
Schülerinnen und Schüler stehen<br />
dabei vor besonderen Herausforderungen:<br />
Die Sprache, die sie erwerben,<br />
ist zugleich Medium des Unterrichts.<br />
Dabei sind sie gefordert,<br />
sich innerhalb vergleichsweise kurzer<br />
Zeit bildungs- und fachsprachliche<br />
Varietäten des Deutschen<br />
anzueignen. Überdies gilt es, sich<br />
mit den Regeln und Regularitäten<br />
des deutschen Schulsystems, mit<br />
Arbeits- und Sozialformen etc. vertraut<br />
zu machen. Dieser Prozess der<br />
schulischen Erstintegration wird –<br />
deutschlandweit – über unterschiedliche<br />
schulorganisatorische Modelle<br />
realisiert: Das Spektrum reicht von<br />
speziellen Vorbereitungsklassen<br />
(Paralleles Modell) über integrative<br />
und teilintegrative Modelle bis zur<br />
Submersion, wo neu zugewanderte<br />
Kinder und Jugendliche unmittelbar<br />
in eine Regelklasse eingegliedert<br />
werden und an allgemeinen Sprachfördermaßnahmen<br />
teilnehmen. Das<br />
Ziel all dieser Modelle ist es, den<br />
Schülerinnen und Schülern einen<br />
erfolgreichen Übergang in das<br />
Regelsystem zu ermöglichen und<br />
die Weichen für eine gelingende<br />
Bildungsbeteiligung zu schaffen.<br />
Bislang ist über die Wirksamkeit<br />
dieser Modelle wenig bekannt und<br />
Unterricht in einer Vorbereitungsklasse<br />
hinsichtlich der curricularen Inhalte<br />
und den Möglichkeiten zielführender<br />
Unterrichtskonzeptionen<br />
besteht noch Forschungsbedarf. In<br />
diesem Kontext ist das im August<br />
2017 gestartete Promotionskolleg<br />
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache<br />
„Vom Sprachunterricht zum<br />
sprachsensiblen Fachunterricht“<br />
angesiedelt.<br />
denen sich das Promotionskolleg<br />
widmet.<br />
Das Promotionskolleg DaF/DaZ<br />
ist ein gemeinsames Projekt der<br />
sechs Pädagogischen Hochschulen<br />
in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe,<br />
Ludwigsburg, Schwäbisch Gmünd<br />
und Weingarten und wird vom Ministerium<br />
für Wissenschaft, Forschung<br />
und Kunst Baden-Württem-<br />
schulischen Handlungsfelder, die<br />
Lehrkräfte in den Vorbereitungsklassen<br />
darin unterstützen, die neuen<br />
Schülerinnen und Schüler auf<br />
die sprachlichen Anforderungen im<br />
Fachunterricht gezielt vorzubereiten<br />
(Irene Bundschuh, PH Freiburg).<br />
In einem weiteren Promotionsvorhaben<br />
werden lehrerseitige interaktive<br />
Praktiken im fachsensiblen<br />
Die Mitglieder des Promotionskollegs DaF/DaZ: „Vom fachsensiblen Sprachunterricht zum<br />
sprachsensiblen Fachunterricht“<br />
rende und Lernende in der Vorbereitungsklasse<br />
und später im Fachunterricht<br />
gestellt werden, betreffen<br />
jedoch nicht alleine das Erlernen<br />
bildungssprachlicher Varietäten für<br />
eine erfolgreiche Partizipation am<br />
Regelunterricht. Im Unterricht mit<br />
neu zugewanderten Schülerinnen<br />
und Schülern ist von verschiedenen<br />
Dimensionen der Heterogenität auszugehen,<br />
die alle gleichermaßen berücksichtigt<br />
werden müssen. Dazu<br />
gehören unterschiedliche Schulerfahrungen,<br />
das Aufwachsen in unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen<br />
und kulturellen Systemen, unterschiedliche<br />
Sprachlernerfahrungen<br />
bzw. unterschiedliche Sprachbiographien.<br />
Diese heterogenen Voraussetzungen<br />
sind allerdings nicht<br />
allein unter dem Blickwinkel der<br />
Herausforderung zu sehen, eröffnen<br />
sie doch zugleich Möglichkeiten,<br />
unter Kooperation verschiedener<br />
Fachdisziplinen, (sprach-)pädagogische<br />
Antworten auf eine erfolgreiche<br />
Teilhabe am Bildungsprozess<br />
zu finden.<br />
So birgt die sprachliche Heterogenität<br />
enorme Potenziale, die<br />
lernförderlich genutzt werden<br />
können und sollten. In Vorbereitungsklassen<br />
findet sich eine große<br />
Sprachenvielfalt: Die Lerngruppen<br />
setzen sich aus verschiedenen Herkunftsländern<br />
zusammen und viele<br />
Lernende sind mehrsprachig. Das<br />
heißt, dass die meisten bereits Erfahrungen<br />
mit Sprachen und Sprachenlernen<br />
gemacht haben. Hier<br />
ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten,<br />
das Sprachbewusstsein der<br />
Lernenden über Sprachvergleich<br />
und Reflexion über Sprachen heranzuziehen<br />
und so den Erwerbsprozess<br />
im Deutschen zu unterstützen.<br />
Mit der Frage, ob und inwiefern<br />
Mehrsprachigkeit im Klassenraum<br />
berücksichtigt wird, befasst sich<br />
u.a. das Promotionsprojekt von Saskia<br />
Alber-Mack (PH Schwäbisch<br />
Gmünd). Erfahrungsorientiertes lexikalisches<br />
Lernen an literarischen<br />
Texten in einer mehrsprachigen<br />
Lerngruppe steht im Fokus des Teilprojekts<br />
an der PH Karlsruhe (Ute<br />
Filsinger).<br />
Die einzelnen Forschungsvorhaben<br />
im Promotionskolleg sind komplementär<br />
und einander ergänzend<br />
zu verstehen. Am Ende der dreijährigen<br />
Förderphase sollen Angebote<br />
zur Professionalisierung von Lehrerinnen<br />
und Lehrern entwickelt und<br />
evaluiert werden.<br />
Mehr Informationen unter:<br />
https://www.ph-freiburg.de/deutsch/<br />
forschung/promotionskolleg-dafdaz.html<br />
Prof. Dr. Gabriele Kniffka (Leitung)<br />
Jun.-Prof. Dr. Nadja Wulff (Koordination)<br />
Institut für Deutsche Sprache und<br />
Literatur<br />
Pädagogische Hochschule Freiburg<br />
*Ohne Deutsch kann man hier<br />
nichts machen. Film (2007) von<br />
Paul Schwarz im Auftrag der Stiftung<br />
Mercator, Essen<br />
Es nimmt sich der Herausforderung<br />
an, in Vorbereitungs- und Regelklassen<br />
Sprachkompetenzen in<br />
enger Verzahnung mit Fachinhalten,<br />
die für die spätere erfolgreiche<br />
Integration in den Fachunterricht<br />
notwendig sind, aufzubauen. Wie<br />
können neu zugewanderte Kinder<br />
und Jugendliche, die möglicherweise<br />
durch Migration bzw. Flucht<br />
wertvolle Schulzeit verloren haben,<br />
sprachlich auf den Fachunterricht<br />
vorbereitet werden? Welches<br />
Sprachwissen und welche Sprachhandlungen<br />
sind für die Vermittlung<br />
von Fachinhalten relevant? Und wie<br />
können angehende und bereits praktizierende<br />
Lehrkräfte in Sprachlernklassen<br />
und im Fachunterricht unterstützt<br />
werden? Dies sind Fragen,<br />
berg mit insgesamt 1,65 Mio. Euro<br />
gefördert. Das Promotionskolleg ist<br />
als Netzwerk aller Pädagogischen<br />
Hochschulen des Landes angelegt.<br />
In den sieben Teilprojekten, die jeweils<br />
von abgeordneten Lehrkräften<br />
bearbeitet werden, steht die sprachliche<br />
Bildung von neu zugewanderten<br />
Schülerinnen und Schülern<br />
in Vorbereitungs- und Regelklassen<br />
im Fokus des Forschungsinteresses.<br />
Ziel des Promotionsprogramms ist<br />
es, wissenschaftlich und empirisch<br />
begründete praxisnahe Maßnahmen<br />
zur Unterstützung von Lehrerinnen<br />
und Lehrern zu erforschen. So soll<br />
beispielsweise ein fächerübergreifendes<br />
Rahmencurriculum, mit<br />
Berücksichtigung der sprachlichen<br />
Anforderungen für die einzelnen<br />
Sprachunterricht untersucht (Markus<br />
Willmann, PH Freiburg). Kommunikative<br />
Aushandlungsprozesse<br />
im Unterricht werden in einem dritten<br />
Projekt in den Blick genommen<br />
und auf ihre Aneignungs- als auch<br />
Vermittlungslogik hin untersucht<br />
(Alev Kaya, PH Weingarten). An<br />
der PH Ludwigsburg wird auf der<br />
Grundlage einer Bedarfserhebung<br />
durch Fragebögen eine dreistufige<br />
Fortbildungssequenz entwickelt,<br />
implementiert und evaluiert (Andrea<br />
Thormählen). Handlungsorientierte<br />
Lehr-/Lernarrangements für<br />
den sprachsensiblen Technikunterricht<br />
in der Sekundarstufe werden<br />
an der PH Heidelberg entwickelt<br />
und erprobt (Martin Koch).<br />
Herausforderungen, vor die Leh-<br />
SPEZIAL<br />
<strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong><br />
Für Universität und Hochschulen in Freiburg<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber:<br />
Helmut Schlieper<br />
Christel Jockers<br />
Verlag:<br />
Art Media Verlagsgesellschaft mbH<br />
Auerstr. 2 • 79108 Freiburg<br />
Telefon: 07 61 / 72 072<br />
Fax: 07 61 / 74 972<br />
e-mail: redaktion@kulturjoker.de<br />
Redaktionsleitung:<br />
Christel Jockers<br />
Autoren dieser Ausgabe:<br />
Jens Bodemer<br />
Dr. Cornelia Frenkel<br />
Dr. Susanne Hartmann<br />
Fabian Lutz<br />
Dr. Dirk Schindelbeck<br />
Dr. Friederike Zimmermann u.a.<br />
Grafik:<br />
Christian Oehms<br />
Satz:<br />
Stephanie Pfefferle-Kienzle<br />
Druck:<br />
Rheinpfalz Verlag und Druckerei<br />
GmbH & Co. KG, Ludwigshafen<br />
Der Nachdruck von Texten und den vom<br />
Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher<br />
Genehmigung des Verlages.
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 13<br />
Berufliche Bildung<br />
Die Pädagogische Hochschule<br />
Freiburg erweitert zum Wintersemester<br />
<strong>2018</strong>/2019 ihr Angebot um drei<br />
Masterstudiengänge der beruflichen<br />
Bildung: M. Ed. Berufliche Bildung<br />
– Pflege/Wirtschafts- und Sozialmanagement;<br />
M. Sc. Berufspädagogik<br />
– Gesundheit/Wirtschafts- und Sozialmanagement<br />
und M. Sc. Berufspädagogik<br />
– Textiltechnik und<br />
Bekleidung/Wirtschaft.<br />
Die neuen viersemestrigen Masterstudiengänge<br />
bauen auf Bachelorstudiengängen<br />
der Pädagogischen<br />
Hochschule (Gesundheitspädagogik,<br />
B. Sc. für den Master<br />
der Studienrichtung Gesundheit),<br />
der Katholischen Hochschule Freiburg<br />
(Berufspädagogik im Gesundheitswesen,<br />
B.A. für den Master<br />
der Studienrichtung Pflege) bzw.<br />
der Hochschule Reutlingen (Textiltechnologie/Textilmanagement,<br />
B. Eng.) sowie der Hochschule<br />
Albstadt-Sigmaringen (Textil- und<br />
Bekleidungstechnologie, B. Eng.)<br />
für den Master der Studienrichtung<br />
Textiltechnik und Bekleidung/<br />
Wirtschaft auf. Mit der Hochschule<br />
Reutlingen und der Hochschule<br />
Albstadt-Sigmaringen bestehen bereits<br />
Lehrkooperationen. Gleichzeitig<br />
stehen die neuen Angebote auch<br />
Bewerberinnen und Bewerbern mit<br />
einem fachlich eng verwandten<br />
Bachelorabschluss anderer Hochschulen<br />
offen, in dem dort gelegte<br />
fachliche Grundlagen vertieft und<br />
Neue Masterstudiengänge an der Pädagogischen Hochschule Freiburg<br />
ergänzt werden.<br />
Die drei neuen Masterstudiengänge<br />
umfassen die Bereiche Bildungswissenschaften<br />
mit Berufs- und<br />
Wirtschaftspädagogik, Fachdidaktik<br />
und Schulpraktika sowie die Fachwissenschaft<br />
des jeweiligen Unterrichtsfachs.<br />
In der Studienrichtung<br />
Gesundheit werden darüber hinaus<br />
auch fachwissenschaftliche Inhalte<br />
der beruflichen Fachrichtung vermittelt.<br />
Im Master der Studienrichtung<br />
Textiltechnik und Bekleidung/<br />
Wirtschaft werden vor allem bildungswissenschaftliche<br />
Inhalte und<br />
Kompetenzen (Berufs- und Wirtschaftspädagogik,<br />
Fachdidaktik,<br />
Schulpraxis etc.) vermittelt, da davon<br />
ausgegangen wird, dass ein vertieftes<br />
ingenieurwissenschaftliches<br />
und wirtschaftswissenschaftliches<br />
Studium vorliegt.<br />
Der Abschluss des M. Ed. in der<br />
Fachrichtung Pflege ermöglicht den<br />
Einstieg in den Vorbereitungsdienst<br />
für das Höhere Lehramt an beruflichen<br />
Schulen sowie eine Lehrtätigkeit<br />
an staatlichen und privaten<br />
Pflegeschulen. Absolventinnen und<br />
Absolventen der beiden weiteren<br />
Fachrichtungen (Abschluss M. Sc.)<br />
streben eine Lehrtätigkeit in der<br />
beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />
an. In der Fachrichtung<br />
Gesundheit z.B. an Schulen des<br />
Gesundheitswesens. In der Fachrichtung<br />
Textiltechnik und Bekleidung<br />
sind es staatliche und private<br />
Gesundheitsberufe sind im Aufwind<br />
Mode- und Textilschulen sowie eine<br />
Tätigkeit in der Weiterbildung der<br />
Textil- und Modeindustrie.<br />
„Im Rahmen der Ausschreibung<br />
des landeseigenen Masterprogramms<br />
2016 konnte sich die<br />
Hochschule mit diesem Konzept<br />
zur beruflichen Bildung durchsetzen<br />
und ergänzt das bisherige<br />
Angebot der Beruflichen Bildung<br />
um drei Studienrichtungen mit<br />
insgesamt 45 Studienplätzen“, so<br />
Prof. Dr. Andy Richter, Studiengangleiter<br />
der Fachrichtung Pflege.<br />
„Ein Studienangebot dieser Art existiert<br />
bislang noch nicht in Baden-<br />
DAK- Pressfoto<br />
Württemberg“, berichtet die Studiengangleiterin<br />
der Fachrichtung<br />
Gesundheit, Dr. Andrea Warnke,<br />
und ergänzt, dass gegenwärtige und<br />
zukünftige Versorgungsbedarfe<br />
von Patientinnen und Patienten nur<br />
mit adäquat ausgebildetem Fachpersonal<br />
hinreichend gedeckt werden<br />
können. Prof. Dr. Anne-Marie<br />
Grundmeier, Studiengangleiterin<br />
der Fachrichtung Textiltechnik und<br />
Bekleidung, betont, dass dieses<br />
deutschlandweit das einzige Studienangebot<br />
neben dem Studienstandort<br />
an der RWTH Aachen ist.<br />
Die Immatrikulation ist jeweils<br />
zum Wintersemester möglich;<br />
Bewerbungsfrist ist der 15. Juli.<br />
Inhaltliche Fragen für die Fachrichtungen<br />
Pflege und Gesundheit<br />
beantwortet Dr. Andrea Warnke<br />
(andrea.warnke@ph-freiburg.de),<br />
für die Fachrichtung Textiltechnik<br />
und Bekleidung Prof. Dr. Anne-<br />
Marie Grundmeier (grundmeier@<br />
ph-freiburg.de)<br />
Prof. Dr. Anne-Marie Grundmeier<br />
Institut für Alltagskultur, Bewegung<br />
und Gesundheit/Fachrichtung<br />
Mode und Textil<br />
Prof. Dr. Andy Richter<br />
Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik/Fachbereich<br />
Fachdidaktik<br />
technischer Fachrichtungen<br />
Dr. Andrea Warnke<br />
Institut für Alltagskultur, Bewegung<br />
und Gesundheit/Fachrichtung<br />
Public Health & Health<br />
Education<br />
Pädagogische Hochschule<br />
Freiburg<br />
Freiburg Advanced Center of Education<br />
(FACE)<br />
Getragen von den Impulsen der<br />
ersten Phase der Qualitätsoffensive<br />
Lehrerbildung des Bundes wurden<br />
in der Lehrkräftebildung am Standort<br />
Freiburg neue Strukturen und<br />
Inhalte in Lehre, Forschung und<br />
Praxis etabliert. Dies erfolgt seit<br />
2015 im Kooperationsnetzwerk<br />
FACE (Freiburg Advanced Center<br />
of Education), zu dem sich die<br />
Albert-Ludwigs-Universität und die<br />
Pädagogische Hochschule Freiburg<br />
zusammengeschlossen haben.<br />
Um die erreichten und weiter<br />
angestrebten Innovationen nachhaltig<br />
einzurichten, haben sich die<br />
Universität und die Pädagogische<br />
Hochschule nun darauf geeinigt, das<br />
Netzwerk FACE in eine „School of<br />
Education“ – unter Beibehaltung<br />
des Namens FACE – umzuwandeln.<br />
Als Rechtsform der „School“<br />
wurde eine „gemeinsame wissenschaftliche<br />
Einrichtung“ gemäß § 6<br />
Abs. 4 LHG gewählt. Damit ist die<br />
neue School of Education (FACE)<br />
unmittelbar den Rektoraten beider<br />
Hochschulen zugeordnet (zuständig:<br />
Prorektorin Prof. Dr. Juliane<br />
Besters-Dilger der Universität und<br />
Rektor Prof. Dr. Ulrich Druwe der<br />
Pädagogischen Hochschule).<br />
Mitglieder der School of Education<br />
(FACE) sind: alle Studierenden<br />
der Lehramtsstudiengänge<br />
Sekundarstufen I und II an beiden<br />
Hochschulen, an der Pädagogischen<br />
Hochschule alle Lehrenden im<br />
Lehramt, an der Universität Lehrende<br />
auf Antrag, die Mitarbeiter/-<br />
innen beider Hochschulen, die in<br />
Schwabentörle<br />
Oberlinden 23 . 79098 Freiburg<br />
Tel. 0761.6800565<br />
Fax 0761.6800567<br />
www.schwabentoerle.de<br />
info@schwabentoerle.de<br />
Öffnungszeiten<br />
Mo-Sa 11.00 – 15.00 Uhr<br />
17.00 – 01.00 Uhr<br />
Ruhetag<br />
Warme Küche<br />
täglich 11.30 – 14.00 Uhr<br />
17.30 – 22.00 Uhr<br />
Vom Kooperationsnetzwerk zur School of Education<br />
der Administration des FACE tätig<br />
sind, auf Antrag zur Promotion<br />
angenommenen Doktorand/-innen<br />
sowie Habilitand/-innen, die in Bereichen<br />
der Bildungsforschung wissenschaftlich<br />
arbeiten.<br />
Die operative Leitung von FACE<br />
liegt bei einem paritätisch besetzten,<br />
sechsköpfigen Direktorium,<br />
das aus seinen Reihen den/die<br />
geschäftsführende/n Direktor/-in<br />
und eine/n Stellvertreter/-in wählt;<br />
diese Kolleg/-innen werden demnächst<br />
benannt. Dem Direktorium<br />
ist eine Geschäftsstelle unterstellt,<br />
die sich mit Themen wie Studienkoordination,<br />
Studienberatung,<br />
Campusmanagement, Evaluation,<br />
Online-Unterstützungsstrukturen<br />
etc. befasst.<br />
Die dauerhafte Errichtung der<br />
School of Education (FACE) bedingt<br />
eine umfassende Reorganisation<br />
und Zusammenführung der<br />
bisher – gerade an der Universität<br />
– über Fakultäten und administrative<br />
Bereiche der Hochschulen zerstreuten<br />
Lehramtszuständigkeiten,<br />
um das Leitmotiv der „Lehrkräftebildung<br />
aus einer Hand“ strukturell<br />
zu erreichen. Parallel dazu muss<br />
auch der systematische Aufbau<br />
neuer Strukturen betrieben werden,<br />
etwa gemeinsame Gremien, vgl.<br />
Handlungsfeld Lehre. Zudem gilt<br />
es, neue hochschulübergreifende<br />
Verwaltungs- und Unterstützungsprozesse<br />
zu entwickeln und nachhaltig<br />
zu verankern. Hierzu gehört<br />
die Abstimmung des Student-Life-<br />
Cycles beider Hochschulen sowie<br />
die Umsetzung im Campusmanagementsystem<br />
HISinOne und Aufbau<br />
einer integrierten Lernplattform<br />
ILIAS.<br />
Die neue School of Education<br />
(FACE) weist drei Handlungsfelder<br />
auf: Handlungsfeld Lehre:<br />
Die Leitung haben kraft Amtes die<br />
beiden Prorektor/-innen Lehre und<br />
Studium von Universität und Pädagogischer<br />
Hochschule. Als weitere,<br />
jeweils paritätisch besetzte Gremien<br />
werden ein Gemeinsamer Studienausschuss<br />
sowie ein Gemeinsamer<br />
Prüfungsausschuss neu gebildet und<br />
zudem etabliert die Universität ein<br />
zentrales Lehrkräfteprüfungsamt.<br />
In siebzehn an beiden Hochschulen<br />
angebotenen Lehramtsfächern<br />
wurde ein Lehraustausch vereinbart:<br />
Die Universität liefert fachwissenschaftliche<br />
Angebote für die<br />
Pädagogische Hochschule und die<br />
Pädagogische Hochschule liefert<br />
die forschungsorientierte Fachdidaktik<br />
für die Universität. Damit<br />
gilt: Das Sekundarstufe-I-Lehramt<br />
und das Gymnasiale Lehramt wird<br />
grundsätzlich in FACE studiert, also<br />
immer an beiden Hochschulen; die<br />
Lehramtsstudierenden sind an beiden<br />
Hochschulen immatrikuliert.<br />
Die zukünftige Aufgabe von<br />
FACE besteht nun darin, die Lehrkräftebildung<br />
in Freiburg stetig zu<br />
verbessern. Hierzu wurde das „Freiburger<br />
Profil“ entwickelt, welches<br />
einen Focus auf die Herstellung<br />
von Kohärenz zwischen Fachwissenschaft,<br />
Fachdidaktik, Bildungswissenschaft<br />
sowie den schulpraktischen<br />
Anteilen des Studiums hat.<br />
Entsprechend wurden und werden<br />
besondere Lehrprojekte entwickelt<br />
(finanziert u.a. durch die zweite<br />
Phase der Qualitätsoffensive Lehrerbildung),<br />
evaluiert und im Erfolgsfall<br />
im Curriculum der Hochschulen<br />
verankert. Zudem bemühen<br />
sich die Hochschulen in Kooperation<br />
mit den Staatlichen Seminaren<br />
um eine systematische curriculare<br />
Abstimmung zwischen den beiden<br />
Phasen der Lehramtsausbildung.<br />
Handlungsfeld Forschung/Nachwuchsförderung:<br />
Die Leitung haben<br />
kraft Amtes die Sprecher/-innen des<br />
gemeinsamen Kompetenzzentrums<br />
empirische Bildungs- und Unterrichtsforschung<br />
(KeBU); aktuell<br />
Prof. Dr. Timo Leuders, Prof. Dr.<br />
Wolfram Rollett, beide Pädagogische<br />
Hochschule, und Prof. Dr.<br />
Alexander Renkl, Prof. Dr. Matthias<br />
Nückles, beide Universität. Im Rahmen<br />
des KeBU wurden und werden<br />
Nachwuchskollegs eingeworben und<br />
gemeinsame Forschungsprojekte zur<br />
Intensivierung der Bildungs- und<br />
Unterrichtsforschung vorbereitet.<br />
Aktuell laufen Kollegs zur Visualisierung,<br />
zur Förderung fachspezifischer<br />
und fachübergreifender<br />
Kompetenzen bei Lehrkräften und<br />
zu diagnostischen Kompetenzen.<br />
Weitere Informationen unter http://<br />
www.kebu-freiburg.de/.<br />
Handlungsfeld Praxis: Die Leitung<br />
haben kraft Amtes die Sprecher<br />
des Praxiskollegs; aktuell Prof.<br />
Dr. Lars Holzäpfel, Pädagogische<br />
Hochschule, und Prof. Dr. Wolfgang<br />
Hochbruck, Universität. Eingebunden<br />
ist zudem das Zentrum für<br />
Lehrkräftefortbildung (ZELF) der<br />
Pädagogischen Hochschule (Leitung:<br />
Dr. Patrick Blumschein). Das<br />
Praxiskolleg betreibt insbesondere<br />
die Vernetzung aller Akteure der<br />
Lehrkräftebildung am Standort Freiburg<br />
(den Seminaren für Didaktik<br />
und Lehrerbildung, den Schulen der<br />
Region, dem Regierungspräsidium<br />
und der Stadt). Den verschiedenen<br />
Akteuren werden zahlreiche Angebote<br />
unterbreitet, z.B. eine Ringvorlesung,<br />
zu denen hochkarätige<br />
Forscher/-innen eingeladen werden,<br />
deren Erkenntnisse besonders relevant<br />
für die Praxis sind. Außerdem<br />
werden Weiterbildungszertifikate für<br />
Multiplikator/-innen entwickelt und<br />
umgesetzt.<br />
Wir hoffen, dass durch diese neuen<br />
Strukturen die Lehrkräftebildung am<br />
Standort Freiburg noch attraktiver,<br />
die Bildungs- und Unterrichtsforschung<br />
effektiver und die Vernetzung<br />
zwischen den verschiedenen<br />
Akteuren für alle Beteiligten zu einer<br />
deutlichen professionellen Bereicherung<br />
führen wird.<br />
Prof. Dr. Ulrich Druwe<br />
Rektor<br />
Pädagogische Hochschule Freiburg<br />
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Traumberuf mit Zukunft<br />
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oder 9 Kurs-Wochenenden<br />
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14 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
Von der Muse geküsst – auch beim<br />
Studium?<br />
Schreibpädagogin und Schriftstellerin Sibylle Zimmermann verrät, wie man sie lockt<br />
Am Zentrum für Schlüsselqualifikationen<br />
der Universität<br />
Freiburg können Studierende<br />
Kreatives Schreiben lernen. Die<br />
Kurse sind literarisch ausgerichtet<br />
und finden in den Semesterferien<br />
statt. Kreativ schreiben<br />
lernen, geht das? Die versierte<br />
Schreibpädagogin lehrt, wie<br />
flüssige Texte und fesselnde Geschichten<br />
entstehen. Doch die<br />
Methoden des Kreativen Schreibens<br />
vermögen weit mehr. Auch<br />
aufs Texten in Studium und Beruf<br />
lassen sie sich anwenden.<br />
Wie ein roter Faden zieht sich das<br />
Schreiben und Unterrichten durch<br />
das Leben von Sibylle Zimmermann.<br />
Vielfältig und ein wenig<br />
abenteuerlich mutet ihr Werdegang<br />
an. Geboren und aufgewachsen in<br />
Freiburg, zog sie zuerst nach Tübingen,<br />
um sich an der Universität<br />
einzuschreiben. In Israel hütete<br />
sie Schafe und eignete sich dieses<br />
Handwerk an. Nach ihrem Diplom<br />
in Biologie war sie lange im Management<br />
eines Pharmaunternehmens<br />
angestellt. Sie nahm eine<br />
Stelle als Dozentin an der University<br />
of Queensland im australischen<br />
Brisbane an. Doch ihr Faible fürs<br />
Schreiben ließ sie nie los. Sie studierte<br />
Literaturwissenschaft und absolvierte<br />
in Berlin die Ausbildung<br />
zur Schreibpädagogin. 2005 kehrte<br />
sie nach Freiburg zurück, gründete<br />
das Zentrum für Schreibtraining,<br />
verlieh ihm 2017 ein erweitertes<br />
Konzept als Institut für Kreatives<br />
Schreiben. Ab und an bringt sie mit<br />
Teilnehmern Bücher heraus.<br />
Eine ausgefeilte Methodik und viel<br />
Arbeit stecken hinter der Literatur,<br />
wie Sibylle Zimmermann aus ihrer<br />
schriftstellerischen Laufbahn weiß.<br />
Sie veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten<br />
und Romane. Mehrere<br />
Bände mit Erzählungen gab sie heraus.<br />
Angefangen hat sie mit Beiträgen<br />
in Literaturzeitschriften. Später<br />
folgte ein literarischer Roman. Nur<br />
um es mal auszuprobieren, landete<br />
sie beim Krimi. Seitdem betätigt sie<br />
sich sehr erfolgreich auch auf diesem<br />
Feld.<br />
Sie gewann 2011 den Agatha-Christie-Krimipreis,<br />
2016 den ersten<br />
Freiburger Krimi Slam Preis sowie<br />
den ersten deutschen E-Book-Preis.<br />
Einer ihrer Krimis wurde für den<br />
Friedrich-Glauser-Preis nominiert.<br />
Außerdem gehört sie zur Jury des<br />
Freiburger Krimipreises.<br />
Seit 15 Jahren zeigt Sibylle Zimmermann<br />
Wissbegierigen, wie sie<br />
ihr Potential in die richtigen Wege<br />
leiten können, sei es an der Universität,<br />
in der Volkshochschule<br />
oder ihrem eigenen Institut. Inzwischen<br />
ist ihr Ruf als Dozentin<br />
weit über die Grenzen der Regio<br />
gedrungen. Zu ihren Kursen reisen<br />
Interessierte aus dem gesamten<br />
deutschsprachigen Raum an,<br />
vom Bodenseegebiert, aus Berlin,<br />
aus Norddeutschland und aus<br />
der Schweiz. Susanne Hartmann<br />
sprach mit Sibylle Zimmermann<br />
über ihr schriftstellerisches Knowhow<br />
und wie sie ihr Können für<br />
andere einsetzt.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Sie haben mit zehn<br />
Jahren Ihre ersten Erfahrungen<br />
als Autorin gesammelt?<br />
Sibylle Zimmermann: Die Badische<br />
<strong>Zeitung</strong> hat Geschichten<br />
von Kindern gesucht. Sie hat meine<br />
veröffentlicht und mit zehn<br />
Mark honoriert. Daraufhin wollte<br />
ich Schriftstellerin werden, weil<br />
man nirgendwo so leicht Geld verdient.<br />
Meine nächste Geschichte<br />
haben sie allerdings nicht genommen.<br />
Deshalb habe ich die Schriftstellerei<br />
wieder aufgegeben.<br />
Sibylle Zimmermann, Schreibpädagogin<br />
Pressefoto
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 15<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Was erwartet die Studierenden<br />
in Ihrem Kurs?<br />
Sibylle Zimmermann: Um Ideen<br />
zu entwickeln, um Texte zu strukturieren,<br />
kommen Techniken wie<br />
Clustern oder Mindmap zum Einsatz.<br />
Anhand eines Plans erfasse<br />
ich beispielsweise Sinneseindrücke:<br />
Geräusche, Gerüche, rote<br />
Häuser, usw., um eine Geschichte<br />
zu erzählen. Das Verfahren kann<br />
ich auch im Beruf nutzen. Wenn<br />
ich Events organisiere, notiere ich<br />
Inhalte, Uhrzeiten, Ort. Steht die<br />
Teambildung im Vordergrund?<br />
Danach kann ich texten. Wenn ich<br />
zwischendrin überlegen und zusammensuchen<br />
muss, bringt mich<br />
das aus dem Schreibfluss. Ebenso,<br />
wenn ich gleichzeitig kritisiere.<br />
Das Rezept Nr. 1 gegen Schreibblockaden<br />
lautet: Textproduktion<br />
und Textkritik voneinander trennen.<br />
<strong>UNIversalis</strong>:Was bietet der Kurs<br />
Studierenden, damit sie Vertrauen<br />
in ihre Fähigkeiten fassen?<br />
Sibylle Zimmermann: Frisch entstandene<br />
Texte werden vorgelesen,<br />
nicht bewertet. So kann man sich<br />
frei entfalten. Ich übe zwar auf<br />
Wunsch Kritik, aber nur bei überarbeiteten<br />
Texten.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Worauf kommt es<br />
beim Kreativen Schreiben an?<br />
Sibylle Zimmermann: Von der<br />
Schulbank an lernen wir kognitiv<br />
zu arbeiten. Über diese Schiene<br />
die Kreativität anzukurbeln, klappt<br />
nicht. Ich lehre Methoden und<br />
Techniken, die helfen, sie in Gang<br />
zu bringen, ebenso handwerkliche<br />
Übungen. Bei einer Übung rennt<br />
man die Treppe hoch.<br />
Vorher notiert man, was man empfinden<br />
wird. Meistens kommt Herzklopfen<br />
und schnelle Atmung. Hinterher<br />
überrascht alle, was sie noch<br />
alles gespürt haben. Handwerkliche<br />
Aspekte sind ausschlaggebend: Wie<br />
ist eine Erzählung aufgebaut? Viele<br />
der Studierenden haben ein Romanskript<br />
in der Schublade. Zwanzig<br />
Seiten und dann ist das Projekt<br />
abgestürzt. Aber warum? Weil der<br />
Autor weder die Strukturen des Romans<br />
kennt noch weiß, wann sich<br />
was ereignen soll. Oder Einführung<br />
und Beschreibung der Hauptperson<br />
ufern aus, da er aus den Augen verliert,<br />
dass fünf weitere Personen<br />
auftreten. So würde der Roman<br />
5000 Seiten lang werden.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Welche Leistungen<br />
erbringen die Studierenden im Seminar?<br />
Sibylle Zimmermann: Sie schreiben<br />
Texte vor Ort und probieren so<br />
verschiedene Methoden aus. Als<br />
Abschlussarbeit verfassen sie eine<br />
Kurzgeschichte, egal in welchem<br />
Genre. Sie bestehen, indem sie<br />
Strukturvorgaben und handwerkliche<br />
Kriterien erfüllen. Dafür erhalten<br />
sie 4 ECTS-Punkte.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Inspiriert das Seminar<br />
Studierende, weiter zu schreiben?<br />
Sibylle Zimmermann: Spontan<br />
fällt mir Jonas Navid Al-Nemri<br />
ein. Ich riet ihm, sich an Verlage zu<br />
wenden. Als ein Verlag seine Erzählungen<br />
„Umm Nur“ herausbrachte,<br />
haben wir uns riesig gefreut.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Wie sind Ihre Erfahrungen<br />
mit den Studenten und Teilnehmern<br />
Ihrer Kurse?<br />
Sibylle Zimmermann: Kreative<br />
Angebote fehlen im studentischen<br />
Alltag. Meine Seminare sind in kürzester<br />
Zeit voll. Manche denken, so<br />
gut wie Thomas Mann schreibe ich<br />
nie. In Deutschland grassiert der<br />
Mythos: Schriftsteller sind Genies,<br />
die vom Himmel fallen. Künstler<br />
lernen zu malen und zu musizieren.<br />
Nur beim Schreiben glaubt man,<br />
man setzt sich hin, schon fließt<br />
ein Weltbestseller aus der Feder.<br />
Die USA, wo Kreatives Schreiben<br />
Standard ist, bringen nicht ohne<br />
Grund tolle Autoren hervor. Deshalb<br />
unterrichte ich es am Zentrum<br />
für Schlüsselqualifikationen und an<br />
meinem Institut.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Sie haben als Schäferin<br />
in Israel gearbeitet. Wie kamen<br />
Sie dazu?<br />
Sibylle Zimmermann: Ich jobbte<br />
als Volontärin in einem Kibbuz.<br />
Aber ich wollte länger in der Natur<br />
arbeiten und dabei das Schreiben<br />
wieder aufnehmen. So zog ich als<br />
Schäferin mit 700 Tieren durchs<br />
Karmelgebirge. In Pausen setzte ich<br />
mich unter einen Olivenbaum und<br />
schrieb Geschichten. Dieses Jahr<br />
hat mich sehr inspiriert.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Sie waren beruflich in<br />
vielen Bereichen tätig.<br />
Sibylle Zimmermann: Ich hab<br />
immer gerne unterrichtet und mir<br />
Bereiche gesucht, wo ich schreiben<br />
konnte. So habe ich in Australien<br />
Multimedia-Drehbücher entworfen,<br />
interaktive Lehr-Tutorials für Studenten.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Können wir neuen Lesestoff<br />
von Ihnen erwarten?<br />
Sibylle Zimmermann: Mein jüngster<br />
Kriminalroman „Das Mosaik“<br />
soll bald erscheinen. Es geht um<br />
ein Verbrechen, das vor vielen Jahren<br />
passierte und nicht aufgedeckt<br />
wurde.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Handelt es sich um<br />
Mord?<br />
Sibylle Zimmermann: Ja, er steht<br />
in Verbindung mit anderen Verbrechen.<br />
Der Täter wurde nie angezeigt,<br />
weil alle eingeschüchtert<br />
wurden. Nach 20 Jahren taucht ein<br />
Opfer auf und zwingt andere, Farbe<br />
zu bekennen.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Die Schreibpädagogik<br />
gehört zu den Angeboten an Ihrem<br />
Institut. An wen richtet sich diese<br />
Ausbildung?<br />
Sibylle Zimmermann: Sie ist<br />
darauf ausgerichtet, selbst Kurse<br />
für Kreatives Schreiben zu geben.<br />
Studierende und Lehrer im Fach<br />
Deutsch können sie nutzen, ebenso<br />
Autoren und Therapeuten. Anwendungsbereiche<br />
können zum Beispiel<br />
in Reha-Einrichtungen liegen. In der<br />
Kunsttherapie wird getöpfert und<br />
gemalt, aber kaum geschrieben.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Sie sind in Ihrer Lehrtätigkeit<br />
breit aufgestellt.<br />
Sibylle Zimmermann: Mir macht´s<br />
Spaß mit unterschiedlichen Gruppen<br />
zu arbeiten. Es ist schön zu entdecken,<br />
was für Begabungen in Teilnehmenden<br />
schlummern.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Autor sein bedeutet,<br />
sich einer einsamen Beschäftigung<br />
zu widmen. Wie gehen Sie damit<br />
um?<br />
Sibylle Zimmermann: Privat oder<br />
im Institut genieße ich es unter Menschen<br />
zu sein. Wenn ich schreibe,<br />
kann ich allerdings keinen Trubel<br />
um mich gebrauchen. Für mich bedeutet<br />
Unterrichten und Schreiben<br />
eine ideale Kombination von Einsamkeit<br />
und Sozialleben.<br />
<strong>UNIversalis</strong>: Besitzen Sie ein<br />
Schreibmotto?<br />
Sibylle Zimmermann: Kafka<br />
meinte: „Wege entstehen dadurch,<br />
dass man sie geht.“ Mein Lebensmotto.<br />
Ich könnte mich nicht besser<br />
beschreiben als mit diesem Spruch.<br />
Aber es ist nicht jedem zu empfehlen,<br />
weil es anstrengend ist.<br />
Zentrum für Schlüsselqualifikationen:<br />
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15., 22., 29. 8. <strong>2018</strong>, 10-17 Uhr.<br />
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16 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
Zur Hermeneutik der<br />
„Schwarzen Hefte“<br />
Rezension: Heidegger-Jahrbuch 11<br />
Nachdem sich der erste hysterische<br />
Sturm der Rezeption von Heideggers<br />
sogenannten „Schwarzen<br />
Heften“ gelegt hatte, wurden wieder<br />
sachlichere Stimmen vernehmbar.<br />
So auch im bereits Ende letzten Jahres<br />
erschienenen Heidegger-Jahrbuch<br />
11 vom hiesigen Alber-Verlag.<br />
Mit Heideggers „Schwarzen Heften“<br />
betraute Journalisten wähnten<br />
sich scheinbar in guter Gesellschaft,<br />
wenn sie den längst als „Naziphilosoph“<br />
Entlarvten nun auch noch des<br />
Antisemitismus bezichtigen konnten.<br />
Jetzt durfte der Philosoph zum<br />
zweiten Mal „erledigt“ werden. Die<br />
internationalen akademischen Stars<br />
wie Jean-Luc Nancy (Straßburg),<br />
Hans-Ulrich Gumbrecht (Stanford),<br />
Donatella di Cesare (Rom) und mit<br />
Einschränkung auch Peter Trawny,<br />
der als Herausgeber die Diskussion<br />
mit in diese Richtung gelenkt hatte,<br />
saßen dieser tendenziösen und<br />
einseitig auf den Antisemitismus<br />
fixierten Deutung der „Schwarzen<br />
Hefte“ auf und sind dem Charme<br />
der Empörung leider ebenso erlegen<br />
wie manche Journalisten. Wobei<br />
Trawnys Einlassungen, wenn<br />
man sie genau betrachtet, eher<br />
differenzierter zu bewerten sind.<br />
Er gibt sich alle Mühe, wenn nicht<br />
den Philosophen als Person so aber<br />
seine Philosophie, die größer zu<br />
sein scheint als der kleine Mann,<br />
der sie denkt und unter ihrer Last<br />
zu zerbrechen droht, unter seinem<br />
Eindruck des „seinsgeschichtlichen<br />
Antisemitismus“ dennoch zu retten;<br />
v.a. in seiner Schrift „Irrnisfuge“<br />
(2014), die kurz nach seinem<br />
„Heidegger und der Mythos der<br />
jüdischen Weltverschwörung“ erschien<br />
und z.T. durchaus als Revision<br />
desselben gelesen werden kann.<br />
Doch sensationslüstern stürzte man<br />
sich eben nur auf sein „rotes Buch“.<br />
Rüdiger Safranski, der Heidegger-<br />
Biograf, hatte ja bereits zu Anfang<br />
der Debatte den Verdacht geäußert,<br />
dass man die skandalumwitterten<br />
Stellen dankbar aufnahm, um sich<br />
Heideggers eigentlicher Philosophie<br />
nun elegant entledigen zu können.<br />
Hysterie und Angst vor der<br />
großen Irre<br />
Dass dies in den Beiträgen des<br />
aktuellen Heidegger-Jahrbuchs<br />
nicht geschieht, ist begrüßenswert.<br />
Der Tenor ist nun wieder der Sache<br />
gewidmet, vielleicht auch dem<br />
Umstand geschuldet, dass vier Jahre<br />
nach der Erstveröffentlichung genug<br />
Zeit war, die bisher erschienenen<br />
Bände zu bearbeiten, statt sich bloß<br />
die 0,3 Prozent der Textmasse ausmachenden<br />
antisemitischen Stellen<br />
herauszupicken, ohne sich nur<br />
annähernd darum zu bemühen, sie<br />
in ihrem Kontext zu betrachten. Es<br />
kursierten Meinungspamphlete, die<br />
ihre Argumentation nur aus Vorurteilen<br />
aufgebaut hatten und entsprechende<br />
Stellen suchten, um jene bestätigt<br />
zu finden, statt zu lesen, was<br />
wirklich in den „Schwarzen Heften“<br />
stand. Die Herausgeber Alfred Denker<br />
und der ehemalige Freiburger<br />
Holger Zaborowski schicken gleich<br />
in ihrem Vorwort voraus, dass „die<br />
Frage nach seinem Verhältnis zum<br />
Nationalsozialismus und die Frage<br />
nach seinem Antisemitismus“ die<br />
Debatte dominiert hätten, obwohl<br />
sich Heidegger nicht nur in seinem<br />
Gesamtwerk, sondern sogar „in den<br />
Schwarzen Heften zum Großteil mit<br />
anderen Themen befasste“ und dies<br />
völlig aus dem Blick geriet.<br />
Die zentrale Leitfrage der gesamten<br />
Debatte war dem Thema gewidmet,<br />
ob nach der Entdeckung der<br />
skandalösen Stellen in seinen Denktagebüchern,<br />
die die sogenannten<br />
„Schwarzen Hefte“ eigentlich sind,<br />
worauf der Beitrag von Richard Polt<br />
(Cincinnati, USA) insistiert, Heideggers<br />
Denken und Werk mit einem<br />
wie immer gearteten Antisemitismus<br />
per se „kontaminiert“ (Trawny)<br />
seien. Oder ob Heideggers Erwähnung<br />
der Juden „innerhalb des<br />
weiten Horizonts der Modernitätskritik<br />
betrachtet werden sollte“ (F.<br />
Brencio), wie es auch Silvio Vietta<br />
(Hildesheim) tut. Auch für Ingo<br />
Farin (Tasmanien) „ist die globale<br />
Zivilisationskritik“ zentraler Inhalt,<br />
der mit „den Juden“ nichts zu tun<br />
hätte. Er geht sehr plausibel sogar<br />
soweit, dass „ohne jeglichen Beleg,<br />
einige Termini, die Heidegger<br />
benutzt, als ‚Code‘ für antisemitische<br />
Inhalte interpretiert“ würden,<br />
„was als methodologische Maxime<br />
darauf hinaus“ liefe, „in den Text<br />
Heideggers das hineinzulegen, was<br />
man gerne aus ihm<br />
herauslesen möchte“.<br />
Der Beitrag Takao<br />
Todorokis (Yokosuka,<br />
JPN), bemerkt,<br />
dass die umstrittenen<br />
Stellen zum Judentum<br />
„wiederholt immer<br />
in einem Zusammenhang<br />
zu seinen<br />
kritischen Bemerkungen<br />
zum Nationalsozialismus<br />
auftauchen“.<br />
Dieser sei<br />
ja „völlig durch das<br />
metaphysische Denken,<br />
das Heidegger<br />
als etwas Jüdisches<br />
ansieht, bestimmt“.<br />
Beim Hervorkommen<br />
der „Machenschaften“<br />
hätte „die<br />
jüdisch-christliche<br />
Schöpfungslehre und<br />
die damit zusammenhängende<br />
Vorstellung eines<br />
absoluten Gottes eine große Rolle<br />
gespielt“. Genau so sieht es auch<br />
Francesca Brencio (Zaragoza, ESP,<br />
u. Freiburg). Todorokis Beitrag<br />
sieht zwar den Zusammenhang<br />
von Heideggers Bemerkungen<br />
zum Judentum mit seinem „seynsgeschichtlichen<br />
Denken“, bewegt<br />
sich aber im Rahmen der Unterscheidung<br />
Silvio Viettas, der das<br />
rassistische Vernichtungsprogramm<br />
der Nazis von einer „lässlichen Judenkritik“<br />
mit nachvollziehbaren<br />
guten Gründen getrennt wissen<br />
möchte. Für Peter Trawny war bei<br />
einem Podiumsgespräch mit Vietta<br />
und Safranski in der Rainhofscheune<br />
in Kirchzarten vor zweieinhalb<br />
Jahren im politisch korrekten Sinne<br />
hier die Grenze zum rassistischen<br />
Antisemitismus überschritten. Die<br />
unvereinbaren Auffassungen werden<br />
die Heidegger-Forschung wohl<br />
weiterhin in mindestens zwei Lager<br />
von Befürwortern und Gegnern<br />
spalten. Es wäre wünschenswert,<br />
dass Heideggers eigentliche Philosophie<br />
hinter dieser Diskussion<br />
nicht in Vergessenheit gerät und diese<br />
Debatte und jede weitere dadurch<br />
die anfangs fehlenden aber gleichwohl<br />
angemessenen Zwischentöne<br />
gewinnt. Das Heidegger-Jahrbuch<br />
11 des Alber-Verlags trägt mit einer<br />
bemerkenswerten Internationalität<br />
und Unaufgeregtheit der Beiträge<br />
jedenfalls dazu bei und relativiert<br />
auch so manche Aufgeregtheit der<br />
deutschen Diskussion.<br />
Alfred Denker, Holger Zaborowski<br />
(Hrsg.), Zur Hermeneutik der<br />
„Schwarzen Hefte“, Heidegger-<br />
Jahrbuch 11, Alber-Verlag Freiburg<br />
2017, 224 Seiten, € 50, im Abo € 42<br />
Jens Bodemer
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 17<br />
„Eine einzige Welt genügt mir nicht“<br />
Jacob Taubes‘ zweiter Sammel-Band mit Aufsätzen ist 30 Jahre nach seinem Tod erschienen – Apokalypse<br />
und Politik<br />
Am 23.03.1987 schreibt Martin<br />
Meyer im Nachruf auf Jacob<br />
Taubes zwei Tage nach dessen Tod<br />
in der NZZ, dass dieser im Römerbrief<br />
des Paulus „glaubte den Text<br />
gefunden zu haben, in welchem die<br />
Sprengkraft abendländischer Eschatologie<br />
für Jahrhunderte eingelagert<br />
ist“. Im Bewusstsein seiner unheilbaren<br />
Krankheit vertiefte sich der<br />
aus einer gelehrten Rabbinerfamilie<br />
stammende Taubes noch ein letztes<br />
Mal in das Thema, das ihn sein Leben<br />
lang begleitete. Die Identifikation<br />
mit dem Völkerapostel Paulus<br />
ging soweit, dass er sich sogar im<br />
Alltag mit ihm ohne sein eigenes<br />
Zutun konfrontiert sah: Taubes<br />
reichte in einer Berliner Apotheke<br />
am Mexikoplatz ein Rezept ein. Der<br />
Apotheker entzifferte den Namen<br />
und vergewisserte sich: „Heißen Sie<br />
Paulus?“ Darauf Taubes: „Eigentlich<br />
ja. Woher wissen Sie das? Aber<br />
auf dem Rezept steht Taubes.“ Er<br />
sah es als seinen Auftrag, sein Lebensthema,<br />
den abtrünnigen Juden<br />
Paulus für die Juden heimzuholen<br />
(wir kommen darauf zurück).<br />
Seine zweite Ehefrau Margherita<br />
von Brentano warf ihm sein Verhältnis<br />
mit Ingeborg Bachmann in<br />
Rom vor und ihn verband eine tiefe<br />
Freundschaft mit Susan Sontag, die<br />
bei ihm in Harvard (oder war es an<br />
der Columbia in New York? – die<br />
Angaben schwanken) im Seminar<br />
als Studentin saß und für ihr Referat<br />
deutsch lernte, um den gerade<br />
mal zehn Jahre älteren Dozenten zu<br />
beeindrucken. Seine erste Frau Susan,<br />
geb. Feldmann nahm sich 1969,<br />
acht Jahre nach der Scheidung und<br />
kurz nach Veröffentlichung ihres<br />
Romans „Divorcing“, in dem es um<br />
die wohl nicht nur fiktionale und offensichtlich<br />
unschöne Aufarbeitung<br />
der Ehe mit ihm ging, das Leben.<br />
Wenn Jacob Taubes seinen Studenten<br />
Texte unter offenen Verständnisfragen<br />
zur Diskussion<br />
stellte, machte er ihnen sogleich<br />
klar, dass man einen Text am besten<br />
verstünde, wenn man fragte,<br />
wogegen dieser Text steht. Wer ist<br />
der Gegner, gegen den er sich richtet?<br />
Er hat sich seine Gegner mit<br />
Bedacht erwählt.<br />
Auf Carl Schmitts Grabstein steht<br />
zu lesen: „Er kannte den Nomos“.<br />
Taubes kannte den Polemos. Beide<br />
Denker suchten den theologischen<br />
Kern, der sich in politischen Fragen<br />
verbarg. Gerade in Schmitt, dem<br />
Freund-Feind-Denker schlechthin,<br />
fand er den würdigen Widersacher.<br />
Den „Kronjuristen des Dritten<br />
Reichs“, befand er für würdig,<br />
sich einzulassen. Briefe kamen von<br />
Schmitt, sie wurden gelesen – und<br />
blieben unbeantwortet. Taubes<br />
zierte sich – zunächst... „Die Geschichte<br />
Jacob Taubes – Carl<br />
Schmitt“ (AuP, S.299-307) liest sich<br />
wie ein Intellektuellen-Nachkriegskrimi<br />
der frühen Bundesrepublik<br />
als man sich zwischen links und<br />
rechts ganz neu sortieren musste.<br />
Der „messianische Irrwisch“ wie<br />
ihn Armin Mohler, sein Freund aus<br />
der Studentenzeit von ganz rechts,<br />
nannte, war beim Übertritt zum<br />
Gegner wesentlich hemmungsloser<br />
als andere.<br />
Er kannte den Polemos<br />
Der polemische Index seines<br />
Denkens hat ihm nicht nur Freunde<br />
beschert. Aber ihm ging es nicht so<br />
sehr um den Frieden mit seinem<br />
Jacob Taubes<br />
Gegenüber als vielmehr darum, den<br />
Kern der Gegensätze noch zuzuspitzen<br />
– Aug‘ in Aug‘. Der trieb<br />
ihn um. Es war schon paulinisch<br />
gedacht, den Gegner „so stark wie<br />
möglich“ zu machen, denn „mit<br />
einem Gegner, den ich sofort lahmlege,<br />
lohnt es nicht weiter zu reden“,<br />
(Die Politische Theologie des Paulus,<br />
S. 122, München 1997, PTdP)<br />
betonte Taubes.<br />
Der Rabbinersohn, mit 20 selbst<br />
Absolvent der Rabbinerschule in<br />
Zürich, war ein Sprechdenker, der<br />
bis auf die verstreuten Aufsätze, die<br />
nun in dem Band „Apokalypse und<br />
Politik“ (AuP) neu erschienen sind<br />
und zum Teil erstmalig in deutscher<br />
Übersetzung vorgelegt werden, nie<br />
mehr nach seiner mit 23 Jahren vorgelegten<br />
Dissertation über „Abendländische<br />
Eschatologie“ (1947) eine<br />
größere Monografie veröffentlichte.<br />
Querdenker bei „Poetik und<br />
Hermeneutik“<br />
Jacob Taubes war rasch ein intellektueller<br />
Star in der frühen Bundesrepublik.<br />
Es war ja alles andere<br />
als selbstverständlich, in das Land<br />
der Täter zurückzukehren. Um ihn<br />
ranken sich Legenden und Anekdoten.<br />
Eine stammt aus erster Hand<br />
von Manfred Frank, des Tübinger<br />
Philosophen, der damals bei der<br />
produktivsten interdisziplinären<br />
Forschungsgruppe der frühen Republik<br />
dabei war, „Poetik und Hermeneutik“.<br />
Taubes war vielleicht<br />
nicht gerade einer ihrer Initiatoren<br />
und seine Rolle des Querulanten hat<br />
ihm den Ruf des Enfant terrible dieser<br />
Gruppe eingebracht, aber seine<br />
Diskussionsbeiträge gelten als legendär.<br />
Taubes‘ spitze Zunge faszinierte,<br />
während andere Denker der<br />
Gruppe nur gefielen. Ulrich Raulff,<br />
Direktor des Literaturarchivs Marbach,<br />
der ihn in Seminaren an der<br />
FU Berlin noch erlebte, formulierte<br />
es einmal so: „Taubes war ein Meister<br />
der Phrasierung. Wie er nachlässig<br />
einsetzte und seine Themen<br />
anspielte, wie er Läufe anlegte, Pausen,<br />
Brüche und Wiederholungen,<br />
das war Jazz. Nie zuvor hatte ich ein<br />
derartiges rhetorisches Ereignis erlebt<br />
wie diesen seltsamen Mann, in<br />
dem, wenn er zu sprechen begann,<br />
die jahrhundertealte Redekunst der<br />
Rabbinen, von denen er abstammte,<br />
zum Leben zu erwachen schien.“<br />
„Max, du musst dran glauben“<br />
Als Taubes mit seinen Kollegen<br />
nach einer der langen Tagungen der<br />
Gruppe „Poetik und Hermeneutik“<br />
spät nachts ins Hotel zurückkehrte,<br />
trug sich eine Szene zu, die Manfred<br />
Frank so schildert:<br />
„Mir fällt eine Szene mit Jacob<br />
Taubes und Max Imdahl nach einem<br />
Tag voller Referate und Diskussionen<br />
über ‚Individualität‘ ein. Wir<br />
kamen tief in der Nacht ins Hotel.<br />
Taubes wollte unbedingt um drei<br />
Uhr morgens ein Frühstück – angeblich<br />
sähe ich schon ganz schwach<br />
aus. Natürlich gab es gar kein Personal.<br />
Aber Taubes baute sich wie<br />
ein Prophet auf, und plötzlich wurde<br />
das Unmögliche Ereignis. Da<br />
fragte ihn Max Imdahl, Butterbrot<br />
kauend und Kaffee trinkend, in seinem<br />
Ääscher Platt: ‚Jacob, wie häls’<br />
du et eijentlich mit de Relijion?‘ Er<br />
sei früher frommer Katholik gewesen;<br />
jetzt erlebe er das Religiöse nur<br />
noch vor Kunstwerken. Taubes aber<br />
antwortete: ‚Max, das ist ganz einfach,<br />
du musst dran glauben‘.“<br />
Taubes erkannte die Wichtigkeit<br />
der Monotheismusdebatte, die mit<br />
dem Streit Carl Schmitt /Erik Peterson<br />
in den 20er Jahren ihren Ausgang<br />
nahm und bis weit über die<br />
Jahrtausendwende hinaus zwischen<br />
dem Ägyptologen Jan Assmann und<br />
Peter Sloterdijk fortgeführt wurde<br />
und – Ironie der Geschichte – mit<br />
der weltumspannenden Durchdringung<br />
des Islam im Zuge der<br />
Flüchtlingswelle nichts an Brisanz<br />
eingebüßt hat. Bei „Politischer Theologie“<br />
im Sinne Carl Schmitts geht<br />
es im Kern um Gottesherrschaft<br />
Privatfoto: Prof. Dr. Gabriele Althaus<br />
(Theokratie), die den weltlichen<br />
Herrscher als den irdischen Vertreter<br />
Gottes versteht (Repräsentation).<br />
Darauf hat Erik Peterson dann 1935<br />
in dem berühmten Essay „Der Monotheismus<br />
als politisches Problem“<br />
mit der fundamentalen Anzweiflung<br />
dieser Form der politischen Theologie<br />
reagiert, der in der These gipfelt,<br />
dass mit dem Christentum und dem<br />
dreieinigen Gott jeder politischen<br />
Theologie der Boden entzogen<br />
sei, da sich in ihm keine weltliche<br />
politische Ordnung repräsentieren<br />
ließe. Was es bedeuten kann, wenn<br />
die Theologie zur Begründung von<br />
Freund- und Feindbestimmungen<br />
herangezogen wird, erleben wir<br />
aktuell. Wenn die Neuzeit aus der<br />
Idee einer „Epoche als einer aus<br />
dem Nichts ansetzenden Selbstbegründung“<br />
(Blumenberg) resultiert,<br />
ist Enttheologisierung ihre Signatur.<br />
Das gilt aber offenbar nur im aufgeklärten<br />
Europa. Und weil es in<br />
der Moderne schlicht keine theologische<br />
Grundlage für eine Freund-<br />
Feind-Unterscheidung gibt, leben<br />
wir mehr denn je in einer Situation<br />
der Desorientierung, die im Weberschen<br />
Sinne neue Dämonen gebiert<br />
und ihre Ersatzschauplätze erobert.<br />
Jüdische Tradition der Textexegese<br />
Auch wenn es richtig sein mag,<br />
was Norbert Bolz über Taubes sagt,<br />
dass er „keine Lehre, keine Botschaft,<br />
keine Schule“ hätte, vielleicht<br />
nicht einmal ein konsistentes<br />
Werk hinterließ, so sind die Studien<br />
des berühmten Ägyptologen, Jan<br />
Assmann, zur Erinnerungskultur,<br />
zur Spurensuche eines kulturellen<br />
Gedächtnisses absolut undenkbar<br />
ohne den Einfluss seines großen<br />
Lehrers Taubes. Und natürlich wäre<br />
auch Peter Sloterdijks Theopoesie<br />
unmöglich, ohne auf den Schultern<br />
dieses Sonderbeauftragten Gottes<br />
zu stehen. Er war der große Inspirator<br />
auch für Denker wie Giorgio<br />
Agamben („Die Zeit, die bleibt.<br />
Ein Kommentar zum Römerbrief“,<br />
2000) oder Slavoj Zizek.<br />
Taubes konnte mit seiner Aura<br />
eine Atmosphäre wirklicher Geistigkeit<br />
stiften, die frei war von<br />
jedem Dogma. Er studierte an den<br />
Autoren nicht die Seite, die sie ihm<br />
zuwandten, sondern gerade die, die<br />
sie vor ihm verbargen. Es wurde erzählt,<br />
dass er ganze Bücher durch<br />
Hand auflegen erfasste. Gemeint<br />
war wohl sein Suchen nach dem<br />
einen Satz, in dem in nuce ganze<br />
Bedeutungszusammenhänge angelegt<br />
waren, so dass Taubes ganze<br />
Gedankengebäude und Weltalter<br />
daraus erschloss. Kurzum: es ging<br />
ihm um eine dramatische Leseweise,<br />
das Theologumenon in noch so atheistisch<br />
scheinendem Text musste<br />
auffindbar sein. So etwa ordnete er<br />
bereits in der „Abendländische(n)<br />
Eschatologie“ Marx in die philosophische<br />
Eschatologie Europas ein.<br />
„Sozialökonomie ist für Marx Heilsökonomie“<br />
(AE, S.246).<br />
Texte wurden weniger interpretiert<br />
als vielmehr in einer jüdischen<br />
Tradition der Exegese kommentiert,<br />
aus ihrem Zeitkontext verstanden,<br />
was ihn zu einem Vorläufer<br />
der Diskursanalyse aus Frankreich<br />
machte. Befreundet war er in Paris<br />
u.a. mit Alexandre Kojève. Diesem<br />
berühmtesten französischen Hegel-<br />
Interpreten saß die gesamte französische<br />
Intellektuellenelite der Nachkriegszeit<br />
wie Simone de Beauvoir,<br />
Georges Bataille, Roger Caillois,<br />
Jacques Lacan, Maurice Merleau-<br />
Ponty u.v.a. zu Füßen. Dessen Fußnote<br />
zum Begriff des Posthistoire ist<br />
ein wichtiger Aufsatz von Taubes in<br />
„Apokalypse und Politik“ gewidmet:<br />
„Ästhetisierung der Wahrheit<br />
im Posthistoire“ (1988, AuP, S.308-<br />
317), der bereits in der Festschrift<br />
für Margherita von Brentano, jene<br />
bei Heidegger promovierte zweite<br />
Ehefrau von Taubes, abgedruckt war.<br />
Dort geht es um die Fußnote, die
18 <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> Sommer <strong>2018</strong><br />
in der deutschen Erstausgabe zunächst<br />
gar nicht erschien, weshalb<br />
er den Finger genau in diese Wunde<br />
legte und diese als interessanteste<br />
erkor, weil sie die einzige Erweiterung<br />
der ersten Auflage, „also der<br />
Witz Kojèves ist“. „So entsteht der<br />
Eindruck, es handle sich bei Kojèves<br />
Interpretation Hegels um eine jener<br />
unendlich scharfsinnigen, aber braven<br />
Hegelinterpretationen, die den<br />
akademischen Markt bestimmen,<br />
während in Wahrheit Alexandre Kojève<br />
die wohl schärfste, wenn auch<br />
abenteuerliche Ortsbestimmung der<br />
Gegenwart im Gewand einer Hegel-<br />
Exegese exponiert.“ (AuP, S.309)<br />
Mit dieser Art detektivischem Spürsinn<br />
stellt er klar, worum es Kojève<br />
eigentlich geht und welche okkassionalistische<br />
Methodik dahinter steckt,<br />
nämlich unsere Situation der Zeit<br />
am Leitfaden Hegels exemplarisch<br />
zu erfassen: „Das Verschwinden des<br />
Menschen am Ende der Geschichte<br />
ist also keine kosmische Katastrophe:<br />
Die natürliche Welt bleibt, was<br />
sie seit aller Ewigkeit ist...“ (ebd.)<br />
Die Geschichte geschähe post Hegel<br />
nur noch als ob. Alles, was den<br />
Menschen glücklich macht, könne<br />
aufrecht erhalten werden: „Die<br />
Kunst, die Liebe, das Spiel...“.<br />
Eine ganze Generation bis zu<br />
Francis Fukuyama betete den Inhalt<br />
dieser ursprünglich vergessenen<br />
Fußnote nach. In Frankreich konnte<br />
sie schon 1966 in Foucaults Diktum<br />
am Ende von „Les mots et les<br />
choses“ gipfeln, dass „der Mensch<br />
verschwindet wie am Meeresufer<br />
ein Gesicht im Sand“, was auch für<br />
Foucault nur ein beiläufiges Ereignis<br />
war, da DER Mensch als Individuum<br />
erst eine ganz junge Erfindung<br />
war.<br />
„Bevor Sie sterben, sagen Sie das<br />
einigen.“<br />
Zeit seines Lebens kannte Taubes<br />
die Schriften des erzkonservativen<br />
Carl Schmitt. Dessen „Politische<br />
Theologie“ von 1922 hinterließ<br />
bereits Spuren in Taubes früher<br />
Dissertation über „Abendländische<br />
Eschatologie“ obgleich er sie dort<br />
noch nicht als Quelle angibt, könnte<br />
er sie schon wahrgenommen haben.<br />
Als „Apokalyptiker der Gegenrevolution“<br />
(AuP, S. 271 ff.) deklarierte<br />
er ihn in seinem Nachruf<br />
in der TAZ 1985. Dahinter verbirgt<br />
sich die größte Hochachtung<br />
des „Erzjuden“ (wie Taubes sich<br />
selbst nannte) gegenüber dem NS-<br />
Juristen. Das geht sogar soweit,<br />
dass er darüber nachdenkt, was er<br />
in der Situation Schmitts damals<br />
gemacht hätte. Hans Blumenberg<br />
brachte ihn auf die Idee, dass es<br />
Schmitt, Kojève und ihm ums Selbe<br />
ging. Als Blumenberg ihm in<br />
einem Brief vorhielt - „Hören Sie<br />
doch endlich auf mit dieser tribunalistischen<br />
Einstellung...“ – sagte er<br />
sich: „Hör mal Jacob, du bist nicht<br />
der Richter, gerade als Jude bist du<br />
nicht der Richter, denn du musst<br />
doch zugeben, wenn du was gelernt<br />
hast, dann hast du was von Schmitt<br />
gelernt. Ich weiß von der Naziperiode.<br />
Ich weiß noch viel mehr,<br />
einen Teil, den ich priesterlich mit<br />
Schweigen bedecke, der nicht in die<br />
Öffentlichkeit gelangt. Du bist nicht<br />
der Richter, denn als Jude warst du<br />
nicht in der Versuchung. Wir waren<br />
in dem Sinne begnadet, dass wir<br />
gar nicht dabei sein konnten. Nicht<br />
weil wir nicht wollten, sondern<br />
weil man uns nicht ließ. Also, Sie<br />
können richten, weil Sie vom Widerstand<br />
wissen, ich kann nicht sicher<br />
über mich selbst sein, ich kann<br />
nicht sicher über irgendeinen sein,<br />
dass er vom Infekt der nationalen<br />
Erhebung nicht angesteckt wird<br />
und ein oder zwei Jahre verrückt<br />
spielt, hemmungslos, wie er war.<br />
Über die Hemmungslosigkeit von<br />
Carl Schmitt ist viel zu reden. […]<br />
Von einem Kult war zwischen uns<br />
nie die Rede. Es war Distanz, aber<br />
es war mir nicht unbedeutend, mit<br />
einem Staatsrechtler von der Gewalt<br />
gesessen zu haben, und er ließ<br />
sich von mir erklären, ganz spontan,<br />
nicht gewollt, nicht lehrhaft, die<br />
Hintergründe von Römer IX-XI.<br />
Und er hat mir gesagt: ‚Bevor Sie<br />
sterben, sagen Sie das einigen‘.“<br />
Stress mit dem Vermieter ?<br />
Kommen Sie zu uns !<br />
Wir können weiterhelfen.<br />
Mieterverein Regio Freiburg e.V<br />
Marchstr. 1<br />
79106 Freiburg<br />
Telefon: 0761 - 20270-0<br />
Fax: 0761 - 20270-70<br />
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Zeit als Bedrängnis<br />
Das war Taubes dann im Angesicht<br />
seiner unheilbaren Krankheit<br />
so „ein ungeheurer Satz“, ein Auftrag<br />
des großen Staatsrechtlers an<br />
den Schriftgelehrten, den Exegeten<br />
der heiligen Schrift, dass er genau<br />
dies tat. Ein paar Wochen vor seinem<br />
Tod, im Februar 1987, ließ<br />
sich Taubes schon so geschwächt<br />
von seiner Krankheit, dass er die<br />
von Montag bis Freitag geplante<br />
Veranstaltung am Mittwoch an der<br />
Heidelberger Universitätsklinik unterbrechen<br />
musste, von Berlin nach<br />
Heidelberg an die Forschungsstätte<br />
der Evangelischen Studiengemeinschaft<br />
bringen, um vor einer<br />
kleinen Schar von Zuhörern einen<br />
Kurs über den Römerbrief abzuhalten.<br />
Sein Vortragsthema im<br />
Herbst davor zu dem für ihn dort<br />
noch philosophischen Problem der<br />
„Galgenfrist. Apokalyptische Zeiterfahrung<br />
einst und jetzt“ ist nun<br />
existenzielle Not geworden. In dieser<br />
Galgenfrist, „jene Erfahrung<br />
von Zeit und Geschichte als Frist“<br />
wusste der Apokalyptiker Taubes<br />
sich dem Katechontiker Schmitt<br />
verwandt. Das Zeitgefühl der Frist<br />
beinhaltete, in der Erwartung eines<br />
katastrophischen Endes zu leben.<br />
Wo Taubes ‚Apokalypse now‘ sieht,<br />
sagt Schmitt ‚Apokalypse, aber jetzt<br />
noch nicht‘. Dass Zeit Frist heißt,<br />
bedeutet: „Es gibt keine ewige Wiederkehr,<br />
die Zeit ermöglicht keine<br />
Lässigkeit, sondern ist Bedrängnis.“<br />
Taubes fühlte sich als Fremder<br />
und hatte „keine Aktien in dieser<br />
Welt“. Er blieb in den Städten seines<br />
Wirkens, geb. in Wien, Schule<br />
und Studium in Zürich, wohnhaft<br />
in Paris, Jerusalem, New York und<br />
Berlin ein Fremder. „Reisender in<br />
Ideen“ wurde er genannt, dabei ist<br />
er existentiell zu einem Gnostiker<br />
geworden. Weil er ein Fremdling in<br />
dieser Welt war, prägte er mit gutem<br />
Grund den Satz: „Eine einzige Welt<br />
genügt mir nicht.“<br />
„Nietzsche war mein bester<br />
Lehrer für Paulus:“<br />
Seine lebenslange Beschäftigung<br />
und auch Identifikation mit<br />
Paulus, dem 13. Apostel, der Jesus<br />
nicht mehr persönlich kennenlernte,<br />
wurde noch in keiner Schrift festgehalten.<br />
Nun wurde wahr, was ihm<br />
Schmitt aufgab. Die vier Tage in der<br />
FEST gelten als sein geistiges Vermächtnis.<br />
In den jetzt neu erschienenen<br />
Aufsätzen schimmert die Figur<br />
des Paulus immer wieder auf. So<br />
etwa in dem Beitrag von 1954 über<br />
Karl Barths Römerbrief-Kommentar<br />
(AuP, S.83-94) oder in der viel<br />
späteren „Erkenntnistheoretische(n)<br />
Reflexion zur Geschichte vom Sündenfall“<br />
von 1982 (S.246-252).<br />
Dass Nietzsche sein „bester Lehrer<br />
für Paulus“ war, erläuterte er erst<br />
kurz vor seinem Tod, auch in einem<br />
Interview (TUMULT, Zeitschrift für<br />
Verkehrswissenschaft, Nr. 4, 1982),<br />
das von Eliten und Auserwähltheit<br />
handelt: Die Juden sind die Auserwählten<br />
Gottes, eine Elite, aber die<br />
ersten Christen waren gerade darin<br />
Avantgarde, dass sie keine Elite<br />
sein wollten...<br />
„Also mit einer ungeheuren Kraft,<br />
mit großer symbolischer Ladung<br />
verbindet Paulus die Theologie des<br />
Kreuzes mit einer Umkehrung der<br />
Vorstellung von Elite“, sagt Taubes<br />
und zitiert aus 1. Korinther, 26: „...<br />
was töricht ist vor der Welt, das hat<br />
Gott erwählet, dass er die Weisen zu<br />
Schanden mache; und was schwach<br />
ist vor der Welt, das hat Gott erwählet,<br />
dass er zu Schanden mache, was<br />
stark ist...“. Gott am Kreuz war das<br />
gewaltigste Symbol der Umkehrung<br />
des antiken Elitebegriffs und Nietzsche<br />
hat das „mit ungeheurem Gespür<br />
[…] bemerkt“. Mit den Augen<br />
des Hasses sähe Nietzsche „mehr<br />
als die Theologen, die 2000 Jahre<br />
Sätze repetieren, ohne zu merken,<br />
welches Potential in ihnen steckt“<br />
(Tumult, a.a.O., S.71).<br />
Die subversive Kraft aller<br />
Zukurzgekommenen<br />
Daher auch die berühmten Umkehrformeln<br />
Pauli, die in der<br />
Schwäche die Stärke sahen: Die<br />
Letzten werden die Ersten sein, die<br />
Armen die Reichen usw. Hier werden<br />
Mächte frei, von denen man<br />
bisher nie geglaubt hat, dass es<br />
Mächte sind. Es ist die subversive<br />
Kraft der Zukurzgekommenen, aller<br />
Erniedrigten und Beleidigten,<br />
der Kranken, die Paulus plötzlich<br />
stark macht. Er setzt die Stärke aller<br />
Schwachen frei.<br />
Die fundamentale Tragweite<br />
des Problems ist Folgendes: Das<br />
Schicksal des Abendlandes vollzieht<br />
sich im Zeichen der Entscheidung<br />
für oder gegen die Gründung<br />
eines Volks. Paulus stand vor dieser<br />
Entscheidung, vor der Moses<br />
einst kapitulierte, weil diesem die<br />
radikale Zugehörigkeit zum auserwählten<br />
Volk Gottes nie verloren<br />
ging, während Paulus mit seinem<br />
universalistischen Sendungsauftrag<br />
der christlichen Botschaft aus dieser<br />
Diskursordnung der Zugehörigkeit<br />
heraustritt und damit aber Taubes<br />
zufolge die schwerwiegende Verantwortung<br />
auf sich lädt, das Volk<br />
Israels zu zerstören, indem er ein<br />
„neues Volk Gottes“ zu gründen<br />
sucht.<br />
Fortan wird die Figur des Einzelnen<br />
vor Gott konstitutiv, während<br />
der Begriff des Volkes negiert<br />
wird. Hier liegt laut Taubes<br />
der Sprengstoff einer „Politischen<br />
Theologie“. Die Vorstellung einer<br />
Identität, der der Jude durch Geburt<br />
zugehört, sei hier wirklich bedroht.<br />
Nicht physisch, sondern durch die<br />
Aufforderung zur Abkehr, dass<br />
man seiner angestammten Religion<br />
wie Paulus selbst im „Damaskus-Erlebnis“<br />
durch einen Aufruf<br />
den Rücken kehrt, Konversion im<br />
Wortsinn. Die reale Bedrohung des<br />
Judentums (Gen. objectivus) geht<br />
also von einem universellen Glauben<br />
aus, der auf dieser Konversion<br />
beruht, der Aufforderung an<br />
jeden Einzelnen, im Namen einer<br />
unwiderlegbaren neuen Wahrheit<br />
den eigenen Glauben aufzugeben.<br />
Peter Sloterdijk spielte mit dem<br />
subversiven Charakter des neuen<br />
Glaubens in einem zentralen Kapitel<br />
(das 5.) seiner „... schrecklichen<br />
Kinder der Neuzeit“ (DsKN)<br />
und nannte Jesus einen „Bastard<br />
Gottes“, da dieser seine weltlichen<br />
Eltern verleugne, indem die Anrede<br />
des Vaters „aus dem irdischen<br />
Gebrauch verbannt werden“ muss,<br />
„nachdem Jesus seine überirdische<br />
Vater-Konzeption auf den Kreis<br />
seiner Anhänger ausgedehnt hatte“<br />
(DsKN, S. 286). Zeugung werde<br />
fortan durch Bekenntnis ersetzt. Der<br />
Vaterreligion des Judentums tritt die<br />
christliche des Sohnes gegenüber.<br />
Der damals junge Taubes-Assistent<br />
Norbert Bolz hat das am Leitfaden<br />
Nietzsches und Freuds in der Festschrift<br />
für Taubes zum 60. Geburtstag<br />
auf den Punkt gebracht: „Der<br />
Ägypter Moses stiftet die jüdische<br />
Religion, der Jude Paulus zerstört<br />
sie. […] Christus tritt an die Stelle<br />
des Vatergottes, sein Opfer erlöst<br />
von der Erbsünde und beschwichtigt<br />
das Schuldbewusstsein. Freud<br />
nun durchschaut, von Paulus geleitet,<br />
das Schuldbewusstsein als Gewissensangst.<br />
[…] Auf des Paulus<br />
Spur ist Freud zum Bekenntnis des<br />
Gottesmordes vorgedrungen. Und<br />
deshalb würdigt er das Christentum<br />
als – sofern es den Sohn vergottet<br />
– ‚unverhülltestes‘ Geständnis des<br />
Urverbrechens“ am Vater.<br />
Der größte Coup der<br />
Weltgeschichte<br />
Die Auserwähltheit zu opfern, um<br />
den Monotheismus allen zugänglich<br />
zu machen, war der semantische<br />
Umdeutungs-Coup des Paulus, um<br />
das ungeheure Schuldbewusstsein<br />
des Mordes am Ur-Vater zu beschwichtigen,<br />
das bereits die Ödipusgeschichte<br />
thematisiert – Freud<br />
variiert den Zusammenhang bereits<br />
in „Totem und Tabu“ sogar für die<br />
Urhorde. Wunsch und Tabu des Inzest<br />
sind von daher als Fluch über<br />
die Menschheit verhängt. Erst das<br />
Christentum kann die grausame
Sommer <strong>2018</strong> <strong>UNIversalis</strong>-<strong>Zeitung</strong> 19<br />
Tat durch das Sohnesopfer sühnen<br />
– und damit dem zerstörerischen<br />
Schuldbewusstsein Einhalt gebieten.<br />
Nur: Schuld und daraus resultierendes<br />
schlechtes Gewissen findet<br />
Nietzsche entsetzlich. Denn man<br />
kann sich diesem nicht entziehen.<br />
Weder jüdisch: weil kein Mensch<br />
sich ständig an 613 Gesetze je halten<br />
kann; noch christlich: weil wir<br />
nur im Geiste erlöst sind, doch bis<br />
zum Tag der Erlösung in unserem<br />
sündigen Fleisch stecken. Die vollkommen<br />
fiktionale Erlösung macht<br />
Nietzsche rasend.<br />
Erst Freud schickt sich durch<br />
die Erfindung einer Therapie unter<br />
Anerkennung des Christentums an,<br />
den Zugang zum Unbewussten zu<br />
erschließen – und sieht darin den<br />
naturwissenschaftlichen Ansatz<br />
einer Problemlösung. In Paulus<br />
sieht Freud allerdings die vertane<br />
Chance, die Schuld anzuerkennen,<br />
um sie im Durcharbeitungsprozess<br />
wirklich loszuwerden. Nietzsche<br />
wollte die Schuld am liebsten ganz<br />
abschaffen. Beide erkennen das<br />
abendländische Verhängnis, durch<br />
das christliche Erlösungsangebot<br />
aus dem Schuldzusammenhang<br />
nicht wirklich ausbrechen zu können.<br />
… und Nietzsche zerbricht<br />
daran<br />
Nietzsches Wut entlädt sich über<br />
den Paria, den Tschandala, den<br />
Sklaven, dem ganzen niederen<br />
Volk. Weil man durch die christliche<br />
Hypostasierung des Opfers<br />
dieses nicht abschafft, sondern es<br />
perpetuiert. Und Taubes will gerade<br />
hierin Nietzsches tiefen humanen<br />
„Impuls gegen die Verstrickung von<br />
Schuld und Versöhnung, auf der<br />
die gesamte paulinische, aber auch<br />
schon alttestamentliche Dialektik<br />
beruht“ (PTdP, S.121) erkennen.<br />
Schuld-, Opfer- und Versöhnungskreislauf<br />
sollen endlich durchbrochen<br />
werden, um eine „Unschuld<br />
des Werdens“ zu ermöglichen.<br />
Nietzsches „Privatmythologie“<br />
der ewigen Wiederkehr war ja gegen<br />
diesen nicht enden wollenden<br />
Schuldzusammenhang ausgeheckt,<br />
als Antwort auf die Heilstat des<br />
Gottessohnes, die das Unheil der<br />
abendländischen Verstrickungen,<br />
Kriege, Untaten doch nicht verhindern<br />
und das Leiden nicht überwinden<br />
konnte. Das christliche<br />
Nein zum Leben und Ja zum Leiden<br />
soll ersetzt werden durch ein<br />
dionysisches Ja zum Leiden und<br />
zum Leben. Sein Antwortversuch<br />
geht zurück auf seinen Philhellenismus,<br />
seine Graecomanie, wie<br />
Taubes selbst sagt. Und dennoch<br />
sitzt Taubes‘ eschatologisch-apokalyptisches<br />
Geschichtsbild dieser<br />
archaischen Verherrlichung sowie<br />
ahistorischen und mythischen Verzerrung<br />
der Antike durch Nietzsche<br />
auf. Taubes steht hier nicht allein:<br />
Spengler stellt im „Untergang des<br />
Abendlandes“ (1918) die Eigenart<br />
des griechischen Denkens als geschichtslos<br />
dar. Auch Martin Bubers,<br />
Walter Benjamins, Thorleif<br />
Bomanns (Das hebräische Denken<br />
im Vergleich mit dem Griechischen,<br />
1952), Gershom Scholems Antike-<br />
Vorstellungen waren zutiefst von<br />
Nietzsche geprägt. Karl Löwith,<br />
dessen „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“<br />
sich wie ein Spiegel<br />
von Taubes‘ „Abendländische(r)<br />
Eschatologie“ liest und fast gleichzeitig<br />
erscheint (1949), schlägt sich<br />
auf die Seite von Nietzsches geprägtem<br />
Antike-Modell und suchte<br />
damit einen Ausweg aus dem eindimensional-eschatologischen<br />
Denken,<br />
während Taubes als Akosmiker<br />
den Spuren der Endzeiterwartung<br />
nachhing.<br />
„Nietzsches Lehre suchte die<br />
Verbindung zwischen dem heidnischen<br />
Muster des Kreises und<br />
dem biblischen Muster des Pfeils<br />
eschatologischer Geschichte. Aber<br />
er scheiterte, denn der Kreis ist ein<br />
Symbol menschlicher Existenz ohne<br />
Zukunft und ergibt keinen ethischen<br />
Imperativ“ (AuP, S.130), den aber<br />
Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr<br />
für den Menschen erdacht<br />
hatte.<br />
Diese Nietzscheanische Antike-<br />
Verklärung erkannt zu haben, die<br />
die Welt zyklisch, als Kreislauf<br />
denkt und somit die Grundlage für<br />
die ewige Wiederkehr war, ist den<br />
Forschungen des Tübinger Religionswissenschaftlers<br />
Hubert Cancik<br />
zu verdanken. Sie steht eben im Gegensatz<br />
zu einer linearen, zielgerichteten,<br />
judeo-christlichen Geschichtsauffassung,<br />
die sich säkularisiert als<br />
Hegelsche Geschichtsphilosophie<br />
ausprägt. Taubes hebt neben Benjamin<br />
– „Es ist niemals ein Dokument<br />
der Kultur, ohne ein solches der Barbarei<br />
zu sein“ – auf den von Nietzsche<br />
erkannten Zusammenhang ab:<br />
„Die höchste Frucht menschlichen<br />
Geistes und Lebens ist erkauft worden<br />
und nur erkaufbar auf dem Fundament<br />
von Sklaverei, dass viele für<br />
Wenige arbeiten, so dass Wenige<br />
Muße haben und in ihnen sich das<br />
Humanum verwirklicht“ (Tumult,<br />
a.a.O., S.73). Und die Frage nach<br />
der Rechtfertigung, ob es das wert<br />
ist, hat Nietzsche bis hin zur Apologie<br />
der Sklaverei mit „Ja“ beantwortet<br />
– und ist selbst daran zerbrochen.<br />
Taubes: „Das ist sein Paradox:<br />
Apologie der Sklaverei aus Rettung<br />
des Humanen.“ – Aus dem er nie<br />
hinausgefunden hat.<br />
Das Ressentiment gewinnt Genie<br />
Nun kommt Paulus wieder ins<br />
Spiel. Und Nietzsche bemerkt, dass<br />
Ressentiment der Sprengstoff ist,<br />
mit dem die „Verschwörung der<br />
Leidenden“, der Schwachen, die<br />
antike Welt der vornehmen Werte<br />
in die Luft sprengt. Deshalb sieht er<br />
in Paulus das Ressentiment schöpferisch<br />
werden. Was heißt das genau?<br />
Dazu hilft ein Blick in den<br />
Römerbrief, den ja nur wirklich<br />
verstehen kann, wer über eine profunde<br />
Kenntnis über die hebräische<br />
Bibel verfügt und mit rabbinischen<br />
Argumentationstechniken vertraut<br />
ist – so wie Taubes. Die Briefe sind<br />
in Wahrheit gar nicht an die Römer<br />
gerichtet, sondern an die Synagoge<br />
zu Rom. Am jüdischen Gottesdienst<br />
dürfen ja seit jeher auch nicht-jüdische<br />
Gäste (Gojim) teilnehmen.<br />
Sie müssen sich nicht an alle jüdischen<br />
Gebote halten. Die elementaren<br />
Regeln zivilisierten Verhaltens<br />
reichen vollauf. Sie werden zwar<br />
respektiert, aber sie werden nicht<br />
Teil des auserwählten Volkes. Nun<br />
kommt Paulus unter diese Gäste und<br />
erklärt, dass sie nicht Juden zweiter<br />
Klasse sein müssen, die Zeit des Gesetzes<br />
sei vorbei. Sie stünden ganz<br />
in der Gnade Christi, wenn sie sein<br />
Evangelium annähmen. Das führt<br />
zu Ärger mit dem jüdischen Establishment,<br />
da er ihnen quasi als Nebenbuhler<br />
wichtige Gäste abtrünnig<br />
macht. Das Genie des Paulus liegt<br />
nun darin, dass er eine Theologie für<br />
alle schafft, für die Armen und die<br />
Vornehmen, für Juden wie Nicht-<br />
Juden, kurzum: für alle Menschen<br />
weltweit. Und weil Nietzsche im<br />
„Antichrist“ den Römerbrief nicht<br />
mehr (wie noch in der „Morgenröte“)<br />
zurate zieht, ist er mit seiner<br />
These vom Christentum als Sklavenmoral,<br />
für die er sich auf Korinther<br />
beruft (vgl. etwa 2. Kor. 12,10<br />
„..denn wenn ich schwach bin, dann<br />
bin ich stark!“, der auch Benjamin<br />
zu der Idee der „schwachen messianischen<br />
Kraft“ in seiner zweiten der<br />
geschichtsphilosophischen Thesen<br />
inspiriert hatte), diesmal auf der<br />
falschen Fährte und wie Taubes es<br />
nennt „nicht pfiffig“ genug. Sein Ergebnis<br />
kann er stehen lassen:<br />
„Die ganze Arbeit der antiken<br />
Welt umsonst.“<br />
Nietzsche hat kein Wort für „etwas<br />
so Ungeheures“. Paulus zertrümmert<br />
tatsächlich die antike<br />
Welt. Nämlich jetzt die griechischrömische.<br />
Seine Theologie der Liebe<br />
ist eine Kampfansage an den Heroismus<br />
der Antike, den Nietzsche<br />
so brennend verehrt. Eine Theologie<br />
der Liebe ist eine der Schwäche,<br />
weil der Liebende schwach ist, nicht<br />
in sich ruht, sondern den anderen<br />
braucht. Und auch Gott kommt ohne<br />
die Gegenliebe der Menschen nicht<br />
aus. Nietzsche sieht diesen schwachen<br />
Gott, aber auch das geht ihm<br />
gegen den Strich. Der Jude Paulus<br />
gewinnt gegen Rom, indem er statt<br />
das Gesetz die Liebe predigt. Das<br />
römische Reich wird nicht einfach<br />
politisch demontiert, sondern wird<br />
von einer großen psychologischen<br />
Kollektivmacht unterlaufen; dem<br />
unendlichen Bedürfnis, sich vom<br />
Schuldgefühl, von Gewissensbissen<br />
zu befreien. Paulus hatte den<br />
Riecher für die unwiderstehliche<br />
weltgeschichtliche Energie, die das<br />
Christentum durch die Möglichkeit<br />
der Vergebung der Sünden gegenüber<br />
dem Judentum in der Überwindung<br />
des Schuldgefühls der<br />
Menschen hatte. Das machte es so<br />
unendlich überlegen und münzt also<br />
das Ressentiment der Schwachen zu<br />
einer schöpferischen Stärke um. Als<br />
jüdischem Eiferer wäre ihm der Sieg<br />
gegen ein Imperium niemals gelungen<br />
und die jüdischen Zeloten, die<br />
diesen Krieg mit militärischen Mitteln<br />
führten, haben ihn grausam<br />
verloren. „Rom gegen Judäa, Judäa<br />
gegen Rom“ aus Nietzsches „Zur<br />
Genealogie der Moral“, das die<br />
NS-Ideologen inspirierte; es gab für<br />
Nietzsche „kein größeres Ereignis<br />
als diesen Kampf, diese Fragestellung,<br />
diesen todfeindlichen Widerspruch...“<br />
und Paulus, dessen christologische<br />
Botschaft mit dem Wort<br />
vom Kreuz weltgeschichtlich zündet<br />
– der lachende Dritte. Ein verfemter<br />
Tod am Kreuz hebt alle Gesetze auf<br />
– und die ganze Arbeit der antiken<br />
Welt. Gott am Kreuz, „den Juden<br />
ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit“<br />
(1. Kor. 1, 23). Taubes erkennt<br />
den weltgeschichtlichen Erfolg des<br />
Erzketzers Paulus an und will ihn so<br />
für das Judentum fruchtbar machen.<br />
Vor diesem Hintergrund können wir<br />
Taubes‘ Versuch der Heimholung<br />
Pauli als Beitrag zur christlich-jüdischen<br />
Versöhnung lesen.<br />
Das Verhängnis des deutschen<br />
Geistes<br />
Statt die Juden in den deutschen<br />
Geschichtsbüchern mit dem Holocaust<br />
erst als Opfer auftauchen<br />
zu lassen, müsste man die ganze<br />
Geschichte mit all ihren Verstrickungen<br />
erzählen, damit der innere<br />
Zusammenhang von „Olymp, Sinai<br />
und Golgatha“ (von Griechen,<br />
Juden, Christen), „von Ionien bis<br />
Jena“ (von Platon bis Hegel) im<br />
Taubesschen Sinn ans Licht eines<br />
Tages befördert wird. In erwähntem<br />
Interview sagt Taubes auch, dass er<br />
Goethes Isolierung des „Olymp“<br />
für den Beginn der Graecomanie,<br />
sein gespieltes Heidentum für „das<br />
Verhängnis des deutschen Geistes“<br />
hält. Nietzsche hätte die Kosten für<br />
diese Paganität berechnet und sie<br />
teuer bezahlt. Was ist der Preis dafür<br />
„zu behaupten, dass die christliche<br />
Denkform zu Ende ging“?<br />
Nietzsches Zerrüttung lässt nur erahnen,<br />
wie nah an den Abgrund ihn<br />
die Widersprüche im Kampf gegen<br />
das Christentum gebracht haben.<br />
Die „kleinere Form“ dieser Kosten<br />
vollziehe sich etwa bis ins deutsche<br />
Gymnasium, „das eben antike Texte<br />
durchpaukt“, aber „die Bergpredigt<br />
dem Religionsunterricht überlässt“.<br />
Vor dieser Zweigleisigkeit,<br />
die schon einmal zum „Dorischen<br />
Zeitalter“ führen sollte, warnte und<br />
fürchtete sich Taubes, der einen<br />
Großteil seiner Familie in der Shoah<br />
verlor. Vielleicht wäre das ein Ansatz,<br />
um mit Taubes‘ Botschaft, seines<br />
Denkens in Konstellationen, auf<br />
der Höhe unserer Zeit noch einmal<br />
Ernst zu machen.<br />
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