syndicom magazin Nr. 6 - Gratis ist nicht gratis
Das syndicom-Magazin bietet Informationen aus Gewerkschaft und Politik: Die Zeitschrift beleuchtet Hintergründe, ordnet ein und hat auch Platz für Kultur und Unterhaltendes. Das Magazin pflegt den Dialog über Social Media und informiert über die wichtigsten Dienstleistungen, Veranstaltungen und Bildungsangebote der Gewerkschaft und nahestehender Organisationen.
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syndicom
Nr. 6 Juli–August 2018
magazin
Gratis
ist nicht
gratis
Anzeige
Bitte streich dir
den 22. September
rot und dick
in der Agenda an!
Auf zur Lohndemo am 22. September!
Komm auch du nach Bern auf den Bundesplatz!
Faire Löhne für alle –
für Lohngleichheit,
gegen Diskriminierung!
Gewerkschaften und Frauenorganisationen rufen zur
nationalen Kundgebung in Bern auf.
Bauen wir Druck auf, damit es endlich vorwärts geht.
13.30 Uhr Treffpunkt auf der Schützenmatte
15.00 Uhr Schlusskundgebung auf dem Bundesplatz
mit viel Musik und kurzen Reden
syndicom-Mitglieder reisen kostenlos an.
Online anmelden und weitere Informationen unter:
my.syndicom.ch ∕ lohndemo
Inhalt
4 Teamporträt
5 Kurz und bündig
6 Die andere Seite
7 Gastautor
8 Dossier: Gratis
13 Tödliche Gratismedien
16 Arbeitswelt
22 Service public 2.0
25 Recht so!
26 Freizeit
27 1000 Worte
28 Bisch im Bild
30 Aus dem Leben von ...
31 Kreuzworträtsel
32 Inter-aktiv
Liebe Leserinnen und Leser
Konzerne zwingen ihre Kunden mit digitalen
Techniken, immer mehr Arbeiten selbst zu übernehmen.
Andere, arbeitsaufwendige Dienstleistungen
werden nicht mehr erbracht. Beides
bringt den Konzernen enorme Produktivitätsgewinne.
Beispiele sind das digitale Powerhouse
bei Postfinance (was für ein Name für simple
Auslagerungen!), der Selbsthilfe-Chat bei
Swisscom oder der Onlinearzt Deiner Krankenkasse.
Solche Prozesse, die sich derzeit beschleunigen,
vernichten lebendige Arbeit und bringen
den Unternehmen gewaltige Gewinnsteigerungen.
Diese Gewinne, erworben durch versteckte
Gratisarbeit, verschwinden in den Taschen der
Aktionäre. Dies bis hin zum Umbau der Unternehmung
zur digitalen Plattform, in der jede
soziale Verantwortung verschwindet und das
unternehmerische Risiko auf die Mitarbeitenden
abgewälzt wird. Der Steuersitz wird ebenfalls so
gelegt, dass möglichst keine Steuern anfallen.
Dieser Sezession der Unternehmen von der
Gesellschaft stellen wir unser Modell der besseren,
sozialen Digitalisierung gegenüber. Wir
müssen die Verteilung der Produktionsgewinne
und neue Investitionen in einen ausgebauten
Service public durchsetzen. In digitalen Zeiten
wird er im Zentrum der Gesellschaft stehen –
und er muss gratis sein!
4
8
22
Daniel Münger, syndicom-Präsident
4
Teamporträt
«Gemeinsames Engagement lohnt sich»
Dominic Steinmann (30)
Aufgewachsen in Ried-Brig VS. Arbeitet
in Zürich sowie im Wallis seit März 2017
als selbstständiger Fotograf. Studierte
in England Press and Editorial Photography.
Zuvor Volontär bei Keystone
und bei der NZZ. Seit September 2017
Mitglied von syndicom.
www.dominicsteinmann.com
Markus Forte (40)
Er besuchte am MAZ in Luzern den
Lehrgang Pressefotografie. Seit 2005
arbeitet er als freischaffender Fotograf
für Kunden aus dem Medien- und
Corporate-Publishing-Bereich. Er lebt
in Zürich und fotografiert überall.
Seit 2004 Mitglied von syndicom.
www.markusforte.com
Miriam Künzli (41)
Sie studierte Fotografie in München
und Luzern und arbeitet als Freelancerin
für verschiedene Zeitungen
und Unternehmen in Deutschland und
der Schweiz. Lebt mit ihrer Familie in
Zürich. Seit 2008 Mitglied von syndicom
und engagiert in der Kommission
Freie. www.miriamkuenzli.com
Text: Nina Scheu
Bild: Tom Kawara
«Eine deutliche
Verbesserung der
Verträge erreichen»
«Zuerst war es ein Schock: Im Oktober
2017 bekamen wir mit, dass
Ringier Axel Springer (RASCH) den
freien Fotografinnen und Fotografen
neue Verträge schicke, in denen ein
‹Full Buyout› verlangt würde, die
totale Abtretung des Urheberrechts.
Das bedeutet, dass der Verlag unsere
Bilder nicht nur unbeschränkt oft in
allen seinen Publikationen verwenden
darf, sondern sie auch an andere
Kunden weiterverkaufen könnte,
gratis und ohne uns zu fragen. Noch
schlimmer: Wir hätten das Recht verloren,
unsere Bilder selbst weiterzuverwerten.
Dabei ist der Pressetarif
gerade deshalb so tief, weil die Fotos
nur zur einmaligen Nutzung abgegeben
werden und jede weitere Verwendung
abgegolten werden muss.
Mit Unterstützung der Gewerkschaften
und der Fotoverbände bildete
sich eine recht grosse Gruppe von
FotografInnen, die sich an einem
Runden Tisch im Regionalsekretariat
von syndicom treffen konnte. Wir
bekamen juristische Unterstützung
für das weitere Vorgehen und Hilfe
bei der Formulierung eines Gegenvorschlags,
den wir mit RASCH verhandeln
wollten. Eine Facebook
Gruppe half bei der gegenseitigen
Vernetzung, und so starteten wir eine
Petition, die von über 800 Personen
unterschrieben wurde. Die Gruppe
verschickte unzählige Briefe, und wir
kontaktierten unsere Kolleginnen
und Kollegen auch per Telefon.
Wir rieten ihnen, statt der Pauschalverträge
unseren Gegenvorschlag zurückzuschicken
– und sei es nur als
Zeichen des Protests. Aber bei einigen
war die Angst zu gross, keine
Aufträge mehr zu bekommen. Trotzdem
war der Druck auf das RASCH
Management so stark, dass wir zum
Gespräch eingeladen wurden. Im
Februar konnten wir eine deutliche
Verbesserung der Verträge erreichen
und das ‹Full Buyout› verhindern.
Aber unseren Gegenvorschlag haben
wir nur teilweise durchgebracht.
Es war viel Arbeit. Aber es hat uns
gezeigt, dass wir zusammen einiges
erreichen können – und dass noch
viel mehr möglich gewesen wäre,
wenn alle mitgezogen hätten. Im
Berufsalltag sind wir (zu) oft Einzelkämpfer.
Die Kontakte, die jetzt entstanden
sind, sind ein Anfang, um
das zu ändern.»
Kurz und
bündig
Anträge für den SGB-Kongress 2018 \ Entscheidungen am syndicom-
Kongress \ Ständeratskommission verschlechtert die Arbeitsbedingungen \
Jubiläum des Landesstreiks \ Drei Alternativen für Le Matin \
GIV-GAV: Ausbau essenziell \
5
SGB-Kongress 2018
Der SGB-Kongress 2018 findet am
30. November und 1. Dezember 2018
statt. Anträge, die am Kongress behandelt
werden sollen, müssen mindestens
3 Monate vorher zuhanden des Vorstandes
eingereicht werden. Der Vorstand
hat die Ordnungsfrist auf den 15. August
2018 festgelegt. Die statutarische Frist
bleibt der 30. August 2018. Fragen bitte
an kommunikation@syndicom.ch
syndicom-Kongress
Nachdem am Kongress im November
2017 nicht alle Anträge behandelt werden
konnten, fand am 9. Juni 2018 der
Fortsetzungskongress statt. Es konnten
ordnungsgemäss alle Anträge behandelt
werden. Die Entscheidungen werden nun
zur Publikation aufbereitet. Sie sind ab
dem 5. Juli 2018 unter syndicom.ch/
kongress17 einzusehen.
Ständeratskommission verschlechtert
die Lage der Kader
Am 20. Juni hat die Kommission für
Wirtschaft und Abgaben des Ständerats
(WAK-S) unter der Federführung von
Konrad Graber und Karin Keller-Sutter
beschlossen, die Arbeitsbedingungen
für die Arbeitnehmenden in der Schweiz
weiter zu verschlechtern. Geht es nach
diesem Willen, dürften Arbeitnehmende,
deren Arbeitsvertrag sie als Fachspezialisten
oder Kader ausweist, nicht mehr
in den Genuss grundlegendster Arbeitsschutzbestimmungen
kommen. Die
wöchentliche Höchstarbeitszeit würde
praktisch abgeschafft, und der Schutz
vor Arbeit in der Nacht sowie die Sonntagsruhe
wären massiv bedroht.
100 Jahre Landesstreik in
Olten am 10. November
Seit dem Generalstreik am 12. November
1918 ist ein Jahrhundert vergangen. Am
Samstag, 10. November, ab 14 Uhr, findet
in der alten SBB-Hauptwerkstätte
beim Bahnhof Olten der Jubiläumsanlass
zu diesem historischen Ereignis
statt. syndicom wird zusammen mit
dem SGB, der SP und der Robert- Grimm-
Gesellschaft an diesem Jahrestag
teilnehmen. Bundesrätin Simonetta
Sommaruga und SGB-Präsident Paul
Rech steiner werden an diesem symbolischen
Ort Reden halten. Anmeldungen
für die Veranstaltung sind möglich
unter http://anmeldung.generalstreik.
ch/. Mehr Infos auf der Website zum
100-Jahr-Jubiläum des Landesstreiks
1918: www.generalstreik.ch.
Le Matin: Drei Alternativen
zum Ende im Print
Die Delegation des Personals von Le
Matin hat der Tamedia-Geschäftsleitung
drei Lösungen vorgeschlagen, die
das Verschwinden der Printausgabe
verhindern oder zumindest die Zahl der
betroffenen Mitarbeitenden verringern
sollen. Erstens die Weiterführung der
gedruckten Ausgabe ohne Job-Abbau
durch eine neue Vermarktungsstrategie
und zusätzliche Einnahmen. Zweitens
die Übernahme des Titels durch
die Redaktion, zusammen mit neuen
Investoren. Drittens die massive Entwicklung
des Internetauftritts matin.
ch zu einem vollständigen Angebot und
seine Ausstattung mit entsprechenden
Mitteln. Damit diese Alternativen
geprüft werden können, drängt das
Personal auf die Verlängerung der
Konsultationsfrist.
GIV-GAV: erste Verhandlungsrunde
Am 13. Juni traf sich die Verhandlungsdelegation
von syndicom und syna mit
der Delegation von viscom zur ersten
Verhandlungsrunde über den neuen
Gesamtarbeitsvertrag der grafischen
Industrie. Ein Konsens ist noch nicht in
Sicht, aber die Sozialpartner glauben
an eine grafische Branche mit Zukunft.
Bis zur nächsten Verhandlungsrunde
versuchen wir, viscom davon zu überzeugen,
dass ein Ausbau, wenn auch
auf einem bescheidenen Niveau, essenziell
für das Image unserer Branche
ist.
Agenda
Juli
ab 6.
Menschenrecht
Standaktionen von amnesty durch den
Sommer überall in der Schweiz gegen
die Anti-Menschenrechtsinitiative der
SVP. Denn Menschenrechte machen
uns stark. Details: amnesty.ch/de/
ueber-amnesty/veranstaltungen/2018
August
16.–19.
Openair Gampel
Gurten (11.-14.7.) verpasst? Macht
nichts. In den Walliser Bergen rockt es
sich bestens. Aufregendes Programm:
openairgampel.ch/2018/lineup
Zweitagespass: CHF 159.-
16.8.–2.9.
Spektakel am Zürcher
Theaterspektakel
Hohe Bühne und Strassenkunst und
dazu noch gratis das Spektakel des
Zürcher Bildungsbürgertums.
Zwischendurch ans Quartierfest.
Programm, Infos: theaterspektakel.ch
22.–26 .
Berner Literaturfest
40 Autorinnen und Autoren lesen an
den verschiedendsten Orten in der
Berner Altstadt. Flanieren und feiern.
Programm: berner-literaturfest.ch
Mehr Festivals, etwas Poesie im Seetal
und in Schweden: salonlit.ch/buchorte/literaturfestivals
Vorschau
22.
Frauen: Genug ist genug
Grosse Kundgebung diverser Organisationen
für Lohngleichheit und gegen
Diskriminierung der Frauen auf dem
Bundesplatz in Bern.
Ab 13.30 Uhr, Schützenmatte
syndicom.ch/agenda
6 Die andere
Hans-Jürg Schürch
Seite
ist Betriebswirt mit einer Weiterbildung zum Master of Human
Resource Management. Er ist seit 2007 bei T-Systems, seit
diesem Jahr als Director HR T-Systems Schweiz und
Österreich und Mitglied beider Geschäftsleitungen.
1
Wie ist die Marktlage in ihrer Branche?
Je technologiegetriebener unsere
Kunden ihr Geschäft betreiben, desto
mehr IT-Unterstützung benötigen
sie. Sie holen sich diese zunehmend
nicht mehr im klassischen Outsourcing,
sondern beziehen ihre
Applikationen und Services aus der
Cloud. Dadurch verändern sich die
Preismodelle: Heute koexistieren Fixpreismodelle,
Preismodelle, bei denen
nur der tatsächliche Gebrauch
verrechnet wird, oder eine Kombination
aus beiden.
2
Wie beurteilen Sie die Investitionen
Ihrer Kundinnen und Kunden in die
IT?
Kein Unternehmen kann es sich heute
leisten, nicht in die Digitalisierung
zu investieren. Neu ist aber, dass bei
Neuanschaffungen nicht die IT-Abteilung
alleine entscheidet. Mehr und
mehr werden die Fach abteilungen
wie Marketing, HR, Finance oder Sales
stark involviert, damit Tools implementiert
werden. Das erleichtert
die Prozesse und deckt die Bedürfnisse
der Kunden besser ab.
3
Was bedeutet Digitalisierung für Sie?
Digitalisierung geht in meinem Verständnis
weit über IT und Technologie
hinaus. Es ist ein fundamental
neuer Ansatz: die Bedürfnisse der
Kunden und die eigenen Prozesse
durchgängiger zu konzipieren und
mittels Technologie innovativer zu
gestalten – und damit komfortabler
nach aussen und effizienter nach innen.
Dabei nimmt die Automatisierung
eine zentrale Rolle ein.
4
Haben Sie Dienstleistungen im
Bereich der künstlichen Intelligenz?
Selbstlernende Algorithmen in Verbindung
mit Big Data, Internet of
Things oder Cloud sind mächtige
Instrumente für Wettbewerbskraft.
Wir haben in unserem Portfolio auch
KI-Services, denn wir forschen an der
Vernetzung im Auto genauso wie im
Gesundheitswesen, an der Smart City
ebenso wie an der Smart Factory.
Gleichzeitig sind wir uns der Risiken
bewusst. Daher hat sich die Deutsche
Telekom kürzlich einen Ethikkodex
für den Umgang mit KI auferlegt.
5
Welches sind die Herausforderungen
in der Branche?
Bei immer mehr Daten, die gesammelt,
ausgewertet und verarbeitet
werden, steigen die Anforderungen
an Datenschutz, Datensicherheit und
generell das Risikobewusstsein gegenüber
den Gefahren aus dem Internet.
Cybersecurity-Services müssen
daher immer hochmodern sein und
sich ganzheitlich auf die gesamte
Wertschöpfungskette beziehen. Denn
das kleinste Leck kann hohen finanziellen,
aber auch grössten Imageschaden
bedeuten.
6
Wie bewerten Sie das Lohnniveau in
Ihrer Branche? Liegt Ihre Firma eher
höher oder eher tiefer als der Schnitt?
Unsere Branche ist sie nicht die klassische
Hochlohnbranche, was man
beim zunehmenden Fachkräftemangel
eigentlich vermuten müsste. Die
Bandbreite bei den Löhnen ist sehr
gross. Eine spannende Aufgabe, eine
gute Firmenkultur oder die Beteiligung
an Aus- und Weiterbildung
steigern auch die Attraktivität. Unter
diesen Aspekten ist T-Systems im
Vergleich sehr gut aufgestellt.
Text: Sina Bühler
Bild: Yoshiko Kusano
Gastautor
«Gratis» hat in Zeiten der digitalen
Ökonomie einen schalen Beigeschmack. Etliche
Onlinemedien und -dienste sind kostenlos – und
das drückt in einigen Branchen unangenehm auf
die Löhne. Doch unter der Oberfläche des digitalisierten
Kapitalismus hat etwas Unerhörtes
stattgefunden: die Entwicklung freier Produktionsmittel,
die auf den ersten Blick auch gratis
sind und doch viel mehr als das. Begonnen hat
diese Entwicklung am 5. Januar 1984, als der
US-Informatiker Richard Stallman die Arbeit an
dem Computer-Betriebssystem GNU zur freien
Verwendung durch die Allgemeinheit aufnahm.
34 Jahre später läuft es unter dem Namen Linux
auf Millionen Rechnern und Servern in aller Welt.
Diese Idee der freien Software hat nicht nur
zahlreiche weitere Programme hervorgebracht.
Sie hat sich auch auf die Produktion frei verfügbaren
Wissens – allen voran in der Wikipedia –
und auf Maschinen erweitert. Als «freie Hardware»
stehen inzwischen auch
Produktions maschinen wie 3D-Drucker, Traktoren
oder Computerplatinen für die Gerätesteuerung
zur Verfügung. Damit ist in Teilen etwas
eingetreten, was Friedrich Engels noch als Aufgabe
des Sozia lismus gesehen hatte: «die Übertragung
der Produktionsmittel an die Produzenten»
– aus dem Kapitalismus heraus. Dies
gelang, weil Richard Stallman das System von
Patenten und Copyright aushebelte. Er stellte
die GNU-Software unter eine Lizenz, die neben
freier Verwendung und Veränderbarkeit auch
festlegte, dass jede neue Version dieser Software
unter die selbe Lizenz gestellt wurde. Inzwischen
gibt es weitere Varianten eines Urheberrechts,
das eben jene Vergesellschaftung
festschreibt. Dazu gehören die Creative-Commons-Lizenzen
für Text-, Bild- oder Tonerzeugnisse.
All die Programme, die mit diesen Lizenzen
operieren, bilden de facto eine
Geschenkökonomie, die sich innerhalb der kapitalistischen
Profitökonomie etabliert hat – und
vielleicht der Anfang eines neuen Zeitalters ist.
Der Keim einer
Geschenkökonomie
Niels Boeing ist Diplom-Physiker,
Technikjournalist und Mitgründer des
Fab Lab in Hamburg St. Pauli, einer
offenen Werkstatt für computergesteuerte
Produktionsmaschinen.
Von ihm ist zuletzt erschienen:
«Von wegen. Überlegungen zur freien
Stadt der Zukunft.» Nautilus-Flugschrift,
Hamburg 2015
7
Kleines Handbuch der digitalen Ökonomie. Clickarbeit und Datenklau.
Der Facebook-Gratisfake und andere heimliche Regeln.
Wie «gratis» den Journalismus und die Öffentlichkeit zerstört hat.
Dossier 9
So teuer
ist gratis
wirklich
10 Dossier
Gratis ist nicht gratis: So funktioniert die
Ökonomie des digitalen Zeitalters wirklich
Wir lieben das Internet und seine Social Media
wie Facebook, weil sie (meist) gratis sind.
Doch dahinter verbirgt sich der rabiate Umbau
der Gesellschaft durch die kalifornischen
Weltkonzerne.
Text: Oliver Fahrni
Bilder: Alexander Egger
Seltsam. Ich videofoniere mit dem Sohn einer Freundin in
Tokio – und es kostet mich nichts. Ich lasse mir 2 867 894
Texte, Bilder und Filme über die politische Lage in den
USA aus vielen Archiven heraussuchen. Sie werden in
Sekunden geliefert – doch niemand stellt mir Rechnung.
Das Klavierkonzert von Khatia Buniatishvili in Toulouse
ist ebens0 gratis wie meine Playlist mit Underground-Musik
auf Youtube. Ich benutze – völlig unentgeltlich – GPS,
Verschlüsselungstechnik, Satellitentechnik und checke
die Hütte, die ich in Sizilien vielleicht mieten möchte, auf
meinem Bildschirm aus der Luft und von allen Seiten.
Dies ist kein Werbespot für Google, sondern eine Frage:
Wie geht das? Wie kann dies alles und noch viel mehr
gratis sein? Denn die Bereitstellung dieser Informationen
und Dinge kostet hohe Summen. Bei Google arbeiten
60 000 Leute. Sie betreiben 900 000 Server und verbrauchen
so viel Strom wie eine riesige Stadt. Das Internet ist
inzwischen der drittgrösste Stromfresser, nach China und
den USA. Und obschon Google meine Kreditkarte niemals
belastet, wächst und wächst der Konzern rasend schnell,
machte im vergangenen Jahr 110 Milliarden Dollar Umsatz
(Staatshaushalt der Schweiz: rund 70 Milliarden) und
15 Milliarden Gewinn. Google/Alphabet hat sich offiziell
zum Ziel gesetzt, «die Information der Welt zu organisieren».
Damit könnte der Konzern an der Börse bald eine
Billion Dollar wert sein. Die grössten Chemie- und Ölmultis
und sogar Banken sind Leichtgewichte dagegen.
Cent verdienen. Eigentlich ist er chronisch in den roten
Zahlen, überschuldet und bankrott. Aber seine Aktionäre
sind mit diesem irren Verlustgeschäft schwerreich geworden:
Derzeit wiegt der Twitter-Konzern an der Börse rund
33 Milliarden Dollar.
Absurd? Nein, aber eine neue Logik: Offensichtlich
funktioniert diese aufs Internet gebaute Wirtschaft nach
anderen Regeln als nach der alten, klassischen Dreiheit:
Produkt, Preis, Profit. Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
sollten wir das verstehen.
Facebook und seine 2,2 Milliarden Mitarbeitenden
Längst herumgesprochen hat sich ein Satz aus dem Silicon
Valley: Ist etwas gratis, bist du die Ware. Das ist das
eine.
Wie der kanadische Forscher Dallas Smythe schon im
vorigen Jahrhundert schrieb: «Medien handeln mit der
Publikumsware.» Erst recht Social Media. Die Daten, die
wir etwa bei Facebook im Dauerbetrieb preisgeben, sind
der Rohstoff dieser Ökonomie. Die Algorithmen ihre Produktionsmittel.
Und die Information ihre Ware.
Mit gratis war also nichts. Wir bezahlen erstens, indem
wir den Konzernen ihren Rohstoff liefern. Sie müssen ihn
nicht, wie etwa Metalle, erst mühsam aus Minen buddeln.
Es genügt, uns auf dem Netz anzuzapfen. Im Jargon der
Branche heisst das denn auch «Data-Mining».
Algorithmen sortieren diese Datenberge so, dass unsere
Gewohnheiten und Vorlieben, unser Einkommen, unser
Konsum und unsere Kreditwürdigkeit, aber auch unsere
Krankheiten und heimlichen Neurosen wirtschaftlich
verwertbar werden. Google etwa verkauft damit nicht nur
Werbeplätze auf Hunderttausenden von Internetseiten.
Dieses Datengold wird auch teuer gehandelt. Global.
Darum blätterte Facebook 2014 für den bei Jugendlichen
besonders beliebten Nachrichtedienst WhatsApp 20 Milliarden
Dollar auf den Tisch.
Was ist bloss mit dem Kapitalismus los?
Gratis ist in diesem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem
eigentlich nicht vorgesehen. Alles ist Ware, alles wird verkauft,
alles hat seinen Preis. Bis hin zu Emotionen und Gefühlen.
Auch mit der Umweltzerstörung wird längst spekuliert
(CO²-Zertifikate), und der Systemzusammenbruch
ist ein handelbares Wertpapier in Form von «strukturierten
Produkten». So steht es um die Essenz kapitalistischer
Ökonomie.
Darum ahnen wir: Gratis ist ein Fake. Im besten
Fall eine optische Täuschung. Die Besitzer des Google-
Konzerns geben niemals wertvolles Wissen und Können
ohne Bezahlung her. Oder warum sollte Facebook Milliarden
von Mitteilungen, Bildern, Filmen, News hin und her
schaufeln, ohne damit fetten Profit zu machen? Tut Facebook
ja auch nicht, im ersten Quartal schrieb der Konzern
5,5 Milliarden Dollar Gewinn.
Schwerreich durch hohe Verluste
Und wie sollen wir den Gratiskurznachrichtendienst Twitter
begreifen? Der Konzern, über den zum Beispiel der
US-Präsident Donald Trump mit seinen 13 Millionen Followern
Weltpolitik macht, wird wahrscheinlich nie einen
Wir bezahlen
für die Gratisdienste
mit
unseren
Daten und
Fronarbeit.
Manchen scheint das harmlos. «Einfach gezielte Werbung»,
meint ein Kollege. Nur leicht irritiert ihn die Tatsache,
dass Amazon inzwischen weiss, was wir in ein paar
Stunden oder Tagen kaufen werden, lange bevor wir uns
dazu entschieden haben.
Noch riecht das nach altem Warenkapitalismus. Denn
das Geld für die Werbung stammt aus der klassischen Produktion,
also aus dem Mehrwert, den sich die Aktionäre
von der Arbeit ihrer Beschäftigten abschneiden.
Nur zielen die Strategen der kalifornischen Weltkonzerne
GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) und Co.
sehr viel weiter. Ihnen geht es um individuelle Verhaltenssteuerung.
Beim Konsum und darüber hinaus. Damit
kommen sie gut voran, wie etwa der Skandal um Facebook,
Cambridge Analytica und Trumps Wahl offenbarte.
Dass die aufbereiteten Facebook-Daten dafür bei den Meinungsmachern
landeten, war keine Panne, sondern das
Geschäftsmodell. In jüngster Zeit ploppten bei diversen
Wahl- und Abstimmungskämpfen (zuletzt in Irland) auf
normalen Internetseiten kurzzeitig und zielgruppengenau
suggestive Propagandafenster auf, sogenannte Dark-
Ads. Naiv, wer da mit seinen Daten um sich wirft, die sich
die Konzerne mit dem Versprechen «gratis» erschleichen.
Doch wir tun noch viel mehr. Wir bezahlen für die
scheinbar kostenlosen Dienste, indem wir kräftig für die
GAFA und Co. arbeiten. Täglich, ohne Lohn und oft ohne
es zu wissen. So stellen wir die Inhalte etwa von Facebook
her. Egal, wie relevant sie sind. Hautsache, wir liefern den
«Stoff», mit dem die Anbieter wuchern. Wir produzieren
den Wert.
Wir sind die verlängerte Werkbank der Konzerne
In endlosen Feedbackschleifen trainieren wir die Algorithmen
der Anbieter und ihre Künstliche Intelligenz. Wir
lehren die Sprachbots der Callcenter reden. Wer bei
Onlinehändlern ordert, erledigt gleich auch die Buchhaltung,
besorgt die Warenbewirtschaftung, das Design,
Teilen wäre gut. Doch
die Share-Economy ist
exakt das Gegenteil.
Marketingaufgaben. Und einiges mehr. Wir halten die
Maschine am Laufen.
Dabei werden wir, wie der deutsche Analytiker Timo
Daum in seinem Buch «Das Kapital sind wir» schreibt, «als
verlängerte Werkbank der Softwarehersteller in Dienst
genommen». In Umrissen ist da bereits die neue Logik der
digitalen Ökonomie erkennbar.
Wer sorgsam mit der eigenen Zeit umgeht, wird bemerken,
dass diese Fronarbeit immer mehr Lebenszeit
stiehlt. Dennoch leisten viele dieses «Clickworking» bereitwillig,
weil es den GAFA gelungen ist, die Social Media
mit einem Hauch neuer Lebensformen und kalifornischer
Surfer-Freiheit zu tarnen. «Sammle Momente, nicht
Dinge» ist einer ihrer Werbesprüche für die Millennials
dieser Welt. Besitz scheint out, teilen in. Hauptsache, vernetzt.
«Sharing is caring» heisst ein anderer Slogan aus
den Marketingabteilungen.
Richtig. Warum sollten wir nicht per Carsharing reisen?
Oder unsere Wohnung zur Verfügung stellen, während
wir Ferien machen? Oder dem Nachbarn bei einem
Rohrbruch zur Hand gehen? So werden Ressourcen besser
genutzt, und man schlägt der Logik der Verwertung, in
der alles seinen Preis hat, ein Schnippchen.
Der Haken daran ist die brutale Wirklichkeit. Gemeinnützige
Plattformen sind an den Rand gedrängt. Airbnb,
Ebay und andere neue Konzerne aber scheffeln mit unserer
Bereitschaft, zu teilen, Monsterumsätze. Sie haben die
12
Dossier
Gemeinnützigkeit kommerzialisiert und kapitalisiert.
Wenn ausgerechnet kalifornische Richter als erste den
Fahrdienst Uber scharf reguliert haben, quittierten sie damit
nicht nur die Pervertierung der schönen Idee vom
Carsharing. Sie stellten auch die Frage, wie legitim die
Uberisierung als wirtschaftliches Modell ist.
Denn hinter dem Prinzip, billig gefahren zu werden
und dies gratis über eine Plattform vermittelt zu bekommen
(wie cool das ist!), kaschiert sich ein gesellschaftlicher
Bruch: Die Arbeit leisten (also den Wert schaffen)
nun prekär Beschäftigte ohne soziale Absicherung. Sie
arbeiten auf Abruf, mit unbegrenzten Arbeitsstunden, unversichert.
Und sie müssen mehrere Jobs kumulieren, um
ihr Auskommen zu sichern, arbeiten oft nebenbei als
Kuriere, Klempner und Multidienstleister.
Dies ist das Kernmodell der neuen Ökonomie, das sich
hinter «Playlabour», «Mikrounternehmern», freier Zeitgestaltung
und anderem Lifestyle-Gerede verbirgt. Kaum
ein Bereich, der nicht gerade uberisiert wird. Konzerne
holen sich Produktideen, Zulieferteile, Software, Konstruktionspläne,
Design etc. zunehmend von irgendwoher,
durch Ausschreibung auf Plattformen weltweit. Hauptsache
billig.
Die Welt als Konzerngelände
Dieser radikale Umbau ist nicht technikgesteuert, sondern
folgt wirtschaftlichen Interessen: Er treibt die Arbeitsteilung
auf die Spitze. Er senkt den Preis für die Arbeit
und entgrenzt die Arbeitszeiten. Er drückt, durch
Auslagerung in Heimarbeit, die Kosten der Produktion.
Er zerstört soziale Absicherung, schafft also noch mehr
erzwungen-willige und billige Arbeit. Und er treibt die
Konzentration des Kapitals voran. Uber verdrängt das
Taxigewerbe bis in die hintersten Ecken der Welt und
Gratis ist real weder
Facebook noch Google.
Gratis oder so billig
wie möglich soll bloss
unsere Arbeit sein.
attackiert jetzt global Automiete, Transport und Logistik.
Amazon führt inzwischen (fast) alles, was käuflich ist, und
zerstört damit überall den Detailhandel. Facebook, Google
und ein paar andere kontrollieren und vermarkten
immer grössere Teile der Nachrichten-, Wissens- und
Kulturproduktion der Menschheit. Die Konzerne übernehmen.
Sie verwandeln, wie es in den Social Media bereits
angelegt ist, immer mehr öffentliche Räume und
Dienste in kommerzielles Privatgelände.
GAFA-Manager, etwa Facebook-Gründer Mark Zuckerberg,
machen in ihren Interviews und Schriften daraus
keinen Hehl. Sie sehen sich als die Fortschreibung der
neoliberalen Revolution der 1980er-Jahre. Nur verschärft
und radikaler.
Gratis ist nicht, was sie uns bieten. Gratis, oder so
billig wie möglich, soll unsere Arbeit sein.
Timo Daum: «Das Kapital sind wir».
Details: edition-nautilus.de
Dossier
Gratismedien zerfleischen die
Presse. Todeskampf ohne Ende?
13
Das jüngste Opfer ist die Tageszeitung
Le Matin, die ab dem 22. Juli nicht mehr in gedruckter
Form erscheint. Innert 20 Jahren ist
die Auflage der Bezahlzeitungen in der Schweiz
um 1,15 Millionen Einheiten geschrumpft.
Text: syndicom
Die heutige Situation hat viel mit dem Entscheid der Verleger
zu tun, Gratiszeitungen zu lancieren und aufrechtzuerhalten.
Eine davon ist 20 Minuten, die meistgelesene
Schweizer Zeitung mit einer Leserschaft von über 2,7 Millionen
in der Deutschschweiz, in der Romandie und in der
italienischsprachigen Schweiz. Die Onlineversion hat
mehr als eine Million Nutzerinnen und Nutzer. In der
Deutschschweiz kommen die rund 534 000 Leserinnen
und Leser der Printausgabe von Blick am Abend hinzu. Diese
Gratiszeitung wird auch im Internet von 119 000 Nutzerinnen
und Nutzern gelesen. Das Ergebnis: Die heutige
Generation sieht nicht ein, weshalb sie 500 Franken jährlich
für eine Tageszeitung bezahlen sollte, wenn die Informationen
auch umsonst angeboten werden (wobei es keine
Rolle spielt, dass es sich mitunter nur um Fotoseiten
von Grillabenden der Leserinnen und Leser handelt).
Gratiszeitungen «verbreiten seichte Informationen,
zum System erhobene Belanglosigkeit», schreibt Jacques
Pilet, Gründer verschiedener Westschweizer Zeitungen,
auf der Informationswebsite Bon pour la tête. «Ein Brei aus
Agenturmeldungen und Klatschgeschichten, eine Auswahl
unwichtiger, abgekochter Trivia. Drei Viertel der
sind nordamerikanischer Herkunft und
werden von den Agenturen vorgefertigt geliefert», so sein
Urteil.
Nur 12 % zahlen für Onlineartikel
Die Leserinnen und Leser aber haben sich daran gewöhnt.
Dies gilt vor allem für die Schweiz, wo der Anteil der Personen,
die für den Zugang zu Onlinenachrichten bezahlen,
mit 12 % sehr tief ist. Dieser Anteil sei kleiner als in
zahlreichen der übrigen 36 Länder, die im Reuters Institute
Digital News Report 2018 untersucht worden sind,
sagt Linards Udris vom Forschungsinstitut Öffentlichkeit
und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich, einer der
Autoren des Länderberichts Schweiz. «Die Schweiz unterscheidet
sich von den anderen Ländern dadurch, dass
Gratis angebote bei der Pressenutzung (Print und Online)
an erster Stelle stehen, während diese andernorts zum
Teil verschwunden sind. Über 50 % der Befragten nutzen
wöchentlich die Ausgaben von 20 Minuten», stellt der Forscher
fest.
Die Bezahlpresse kann mit einer solchen Leserzahl
nicht mithalten. Le Matin erreichte 218 000 Leserinnen
und Leser, verzeichnete aber gemäss Tamedia im letzten
Jahr einen Verlust von 6,3 Millionen Franken und innert
zehn Jahren einen solchen von fast 34 Millionen Franken.
Und selbst die Qualitätszeitungen leiden, wie die NZZ, die
in einem Jahr fast 30 000 Leserinnen und Leser der Printausgabe
einbüsste, dafür 16 000 neue Onlinenutzerinnen
und -nutzer gewann.
Schuld daran sind nicht die Leserinnen und Leser allein.
Die Verleger haben die Qualität der Zeitungen geschwächt:
Sie haben die Zahl der Auslandskorrespondentinnen
und -korrespondenten sowie Fachredakteurinnen
und -redakteure verringert, die Redaktionsbudgets zugunsten
des Marketings gekürzt, sich aus dem GAV zurückgezogen,
um die Löhne zu senken, und sie haben die
Redaktionen und damit auch die behandelten Themen
zusammengelegt und vereinheitlicht.
Die Gratiszeitungen und die Bezahltitel stehen im
Wettbewerb auf dem Markt für Pressewerbung, dessen
Umsätze heute nur noch 1,117 Milliarden Franken betragen,
11,7 % weniger als 2016. Gleichzeitig boomt die Onlinewerbung
mit Umsätzen von 2,1 Milliarden Franken und
einem Wachstum von 5,9 %, wobei die Suchmaschinenwerbung
nicht mitgerechnet wurde.
Schuld daran sind
nicht die Leserinnen
und Leser allein.
14
Dossier
Die WEKO handelt endlich
Tamedia und Ringier kontrollieren zusammen 80 % der
Auflage in der Schweiz. Die Konzentration der Titel bei
den beiden Verlagshäusern und die Tatsache, dass Tamedia
der grösste Aktionär der Schweizerischen Depeschenagentur
(SDA) war, lasteten schwer auf den Erwartungen,
die deren Hauptaktionär APA (seit der Fusion mit Keystone)
in puncto Rendite an die Agentur hatte. Mit 36 gestrichenen
Stellen bis 2019 ist die SDA ein weiteres Opfer
der Krise von Anfang dieses Jahres. Es erstaunt, dass sich
die Wettbewerbskommission (WEKO) nicht stärker für
diese Konzentration – die sich mit der Übernahme der
Basler Zeitung durch Tamedia noch verstärkt hat – interessiert
hatte. Erst Anfang Mai stimmte die WEKO einer
vertieften Überprüfung einer möglichen marktbeherrschenden
Stellung im Fall der Goldbach-Übernahme
(elektronische Medien und Werbeflächen) durch Tamedia
zu.
Zahl der gewerkschaftlich organisierten Journalistinnen
und Journalisten sinkt
Leider schwindet auch die Zahl der gewerkschaftlich organisierten
Journalisten, die zum Kampf gegen den Verlust
so vieler Arbeitsplätze bereit sind. Laut Stephanie Vonarburg,
Verantwortliche des Sektors «Presse und elektronische
Medien» bei syndicom, ist diese Entwicklung «darauf
zurückzuführen, dass die Zahl der Personen, die diesen
Beruf ausüben, sinkt. Ebenfalls hat sich der Organisationsgrad
von 70 % auf rund 50 % in den vergangenen 20 Jahren
reduziert. Aber die Branche beginnt jetzt, gewerkschaftliche
Kämpfe zu führen, wie der Streik der SDA und
der Widerstand in den Redaktionen der Tamedia zeigen»,
sagt sie.
Weniger gedruckte Zeitungen haben auch weniger Arbeitsplätze
im Druckbereich zur Folge. Gemäss dem Bundesamt
für Statistik sind in diesem Sektor innerhalb von
20 Jahren (1995–2015) zwei Drittel der Stellen verschwunden
(Rückgang von 34 987 im Jahr 1995 auf 13 097 im Jahr
2015). Gab es in der Schweiz 1995 noch 2537 Druckereien,
waren es 2015 nur noch 1060.
Ab dem 23. Juli wird Le Matin also die erste Schweizer
Tageszeitung sein, die nur noch online erscheinen wird.
Wird es möglich sein, mit einer auf 15 Personen beschränkten
Redaktion – die mit dem Sport-Center und
Newsexpress von Tamedia sowie dem Netz von 20 Minuten
zusammenarbeitet – hochwertige Inhalte zu produzieren?
«In der Regel gibt es mit einer reduzierten Redaktion bei
Printmedien Probleme», sagt Linards Udris. «Die Redaktion
der französischsprachigen Zeitung 20 Minutes ist kleiner
als jene von 20 Minuten und liefert weniger Analysen
oder eigene Texte bei Abstimmungen. Ihre Qualität ist somit
niedriger. Wichtig ist die redaktionelle Strategie, und
die Boulevardzeitung Le Matin kann somit kaum Inhalte
mit 20 Minutes austauschen», meint er. Falls Le Matin auf
ihre Stärke – exklusive Sportinformationen – verzichtet
und stattdessen Agenturmeldungen übernimmt, bestehen
Zweifel daran, ob die Zeitung überleben wird.
In der Schweiz informieren sich rund 40 % der Mediennutzerinnen
und -nutzer im Alter von 18 bis 24 Jahren, indem
sie über Suchmaschinen nach Themen suchen oder
die News über Social Media erhalten, gemäss dem Jahrbuch
Qualität der Medien 2017 des fög. Direkt auf Zeitungs-Websites
wird immer weniger häufig gesucht.
Es braucht Leser,
die bereit sind,
für eigenproduzierte
Inhalte zu bezahlen.
Die Pressefinanzierung muss neu erfunden werden.
Der Bundesrat will die Presse im Rahmen des neuen Mediengesetzes
schützen. Ein Teil der Medienabgabe soll
den Onlinemedien zukommen, die einen Leistungsauftrag
erfüllen. Doch die Vorlage, die einen Teil der Gebühren
für Onlineton und -videoangebote vorsieht, einen Teil
für Presseagenturen, gleicht die Verluste der gedruckten
Presse nicht aus. Unabhängig vom gewählten Modell
braucht es Lesende, die bereit sind, für eigenproduzierte
Inhalte, für Recherchen vor Ort und für eine Arbeit zu bezahlen,
die sich von jener der Agenturen und der in Pools
organisierten Redaktionen unterscheidet. Denn es sei ein
für alle Mal gesagt: Gute Artikel sind nie gratis.
https://bit.ly/2JZKGz7
Fotostrecke
Das Sujet zum Titelbild hat der Berner Fotograf Alexander
Egger in Derborence gefunden. In Bern hat er die Fotos auf
den Seiten 8 bis 14 und das kleine Foto fürs Inhaltsverzeichnis
aufgenommen. Seine Reportage hat er dem Thema «Leben
und Tod einer Gratiszeitung» gewidmet. Einer breit gestreuten
Presse, die nach dem Blättern einfach liegen bleibt
und so zu den Abfallbergen im öffentlichen Raum beiträgt.
Alexander Egger macht in seinen Naturfotos interessante
Studien zu Bewegung, Reflexen und Farbe. Mehr darüber auf
seiner Website: alexanderegger.ch.
15
Gratis ist teuer
Umsatz 2017*, in Milliarden US-Dollar
2,5 41
110
Quellen: Angaben der Unternehmen *Umsatz Twitter 2016
Gratis ist spekulativ
Verlust in Milliarden US-Dollar
–2,53
Twitter
(2016)
–3,44
Snapchat
(2017)
Marktwerte im Vergleich in Milliarden US-Dollar
Google
Facebook
ExxonMobil
der teuerste Öl-Multi
340
528
739
Börsenwert
33 Mia. US-Dollar
Börsenwert
27 Mia. US-Dollar
JP Morgan Chase
die teuerste Bank
314
Quellen: Angaben der Unternehmen
Gratis ist schmutzig
Das Web verbrauchte
2017
rund 8 Prozent
des weltweiten
Stroms.
1,5 x
Die Internet-Industrie
stösst heute eineinhalb
Mal soviel Treibhausgase
aus wie der weltweite
Flugbetrieb.
Gratis: Du bist die Ware
Stand 2017, in US-Dollar
Jedes LinkedIn-Mitglied
ist 550 Dollar wert
Jedes Facebook-Mitglied
ist 280 Dollar wert
550
280
Quellen: Planetoscope, Greenpeace France, Climatecare
Quellen: Eigene Berechnungen nach Angaben der Unternehmen
Online rahmt ab
Netto-Werbeumsätze Schweiz 2013 und 2017,
in Millionen Franken
Werbeumsatz
Presse
TV
Radio
Online
749
774
157
151
1117
845
Quelle: Stiftung Werbestatistik Schweiz
1615
2100
Druckereien
Angestellte
– 31%
4157
+149%
Jobsterben in der Druckbranche
Zahl der Arbeitsplätze und der Druckereien in der Schweiz
35000
30000
25000
20000
15000
10000
5000
0
Quellen: BFS, Betriebszählung
1996
1998
2000
2002
2004
2006
2008
2010
2012
2014
6839
3500
3000
2500
2000
1500
1000
500
0
Die Tricks und Hebel der digitalen Ökonomie
Nur sehr wenige Menschen würden sich wohl auf Facebook
tummeln, wenn sie dafür auch noch bezahlen müssten.
Sie geben ja schon ihre Daten preis und schaffen mit ihren
Einträgen, Clips und Bildern die Inhalte von Facebook.
Die erste Regel der digitalen Ökonomie heisst: Wer sich
durchsetzen will, braucht Masse. Gratis ist der Hebel, um
an diese Masse zu kommen. Im Falle von Facebook sind es
heute 2,2 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer. Aber die Regel
gilt für alle ähnlichen Internet-Konzerne.
Dass Facebook und Co. alles andere als gratis sind, zeigen
wir in diesem Dossier. Wir bezahlen mit Daten und Inhalten
(also Clickarbeit). Was damit geschieht, wissen wir nicht.
Wir geben sie in eine Black Box ein. Intransparenz ist
die zweite, eiserne Regel der digitalen Konzerne. Ihre
Logarithmen ordnen und steuern zwar zunehmend via Big
Data unser ganzes Leben, aber wie die gebaut sind und was
sie anrichten, wird vor uns versteckt. Wer Monsterkonzerne
wie Facebook oder Google zähmen will, bevor sie allein die
Herrschaft übernehmen, muss drei Dinge anpacken:
Logarithmen müssen transparent gemacht werden. Die
Datenhoheit muss von den Konzernen zu den Nutzenden
zurückgeführt werden. Und anonymisierte Metadaten
müssen der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.
Die dritte Grundregel digitaler Ökonomie, nach Masse und
Intransparenz heisst Verdrängung und Zerstörung.
Die Internet-Konzerne schaffen zwar auch neuen Wert,
aber im Wesentlichen verteilen sie bestehenden Wert zu
ihren Gunsten um: Dafür brechen sie gewachsene
wirtschaftliche und erkämpft soziale Strukturen auf.
16
Eine bessere
Arbeitswelt
Zusammen sind die
Redaktionen stärker!
Gnadenlos forciert Tamedia die
Medien konzentration. Ebenso gnadenlos
ist der Umgang mit den Mitarbeitenden.
Lassen wir uns durch ihre
PR-Rhetorik nicht täuschen.
Das letzte Kapitel dieses tragischen
Schauspiels: Weil zu wenige
Mitarbeitende freiwillig künden, werden
sie mit Abgangsentschädigungen
dazu «eingeladen», um den Fakt der
Massenentlassung juristisch zu umgehen.
Ja kein Sozialplan, scheint die
Devise. Das Vorgehen ist grenzwertig.
Aber Grenzen sind für Tamedia kein
Problem. Sie stülpt ihre Medienkonzentrationsstrategie
einfach über
die Redaktionsgrenzen. Arbeitsplatzverlust,
sinkende journalistische Qualität
und einen schweizweiten Einheitsbrei
nimmt sie in Kauf. Aus
gewerkschaftlicher Sicht gibt es darauf
nur eine Antwort: Der Widerstand
in den Redaktionen muss auch Grenzen
überwinden. Alle Tamedia-Redaktionen
führen den gleichen Kampf für
Qualitätsmedien mit Profil, für gute
Arbeitsbedingungen. Gegen das Prinzip
«Teile und Herrsche» hilft nur redaktionsübergreifende
Solidarität.
Christian Capacoel
Der Widerstand in den Redaktionen muss auch Grenzen überwinden, wie es im Jahr 2014
in Lausanne der Fall war. (© Yves Sancey)
https://bit.ly/2I3bbSp
Digitaler Service public
Seit dem 25. Mai 2018 gilt die neue
EU-Datenschutz-Grundverordnung
(DSGVO). In Zukunft können Daten
nur nach Zustimmung der Betroffenen
verwendet werden. So, wie es in
der EU-Grundrechtecharta verbrieft
ist. Als Folge der extraterritorialen
Wirkung der DSGVO können auch
Firmen und Behörden in der Schweiz
betroffen sein.
Beim Umgang mit personenbezogenen
Informationen müssen Firmen
künftig garantieren, die Grundsätze
der DSGVO bei der Verarbeitung von
Beschäftigten- oder Kundendaten einzuhalten.
Dies betrifft insbesondere
die Rechtmässigkeit und Zweckbindung,
aber auch die Datenminimierung.
Tun sie dies nicht, drohen ihnen
Geldbussen von bis zu 20 Millionen
Euro.
Der Skandal bei Facebook hat die
Öffentlichkeit aufgeschreckt. Das Verhindern
von Datenmissbrauch ist eine
zentrale Voraussetzung, damit die
digitale Transformation der Gesellschaft
Gewinn bringt und breiter akzeptiert
wird. Dies gilt es auch beim
Entwickeln des digitalen Service public
zu berücksichtigen.
Giorgio Pardini ist Leiter Sektor ICT und
Mitglied der Geschäftsleitung
Wenn selbst die Kirche wie eine Holding handelt und ihre
Zeitung insolvent gehen lässt, müsste der Staat eingreifen
17
Giornale del Popolo : zweifelhafte
Verträge für die Betroffenen
Das Giornale del Popolo schliesst die Tore. Die Rechnung bezahlen
die 30 Angestellten. Wie, ist noch nicht völlig geklärt
Die Zeitung Giornale del Popolo ist von
uns gegangen. Am 5. Juni hat das
Amtsgericht die Insolvenz der Gesellschaft
Nuova Società Giornale del Popolo
S.A., deren Eigentümerin die Kurie
von Lugano ist, bekannt gegeben.
Nach 92 Jahren endet somit die
Geschichte der letzten katholischen
Tageszeitung in der Schweiz. Die Krise
der Presse und der Information allgemein
ist gewiss keine Neuigkeit (es genügt,
auf Seite 13 zu lesen, was in der
Westschweiz geschieht). Der Zusammenbruch
des Werbemarktes, der
Rückgang der Abonnements und die
Habsucht der Verleger führten zum
Verschwinden mehrerer Zeitungen.
Und im Tessin rechtfertigt die Grösse
des Marktes (360 000 Einwohner)
nicht die Existenz von drei Tageszeitungen.
Mag es sich beim Giornale del
Popolo um einen angekündigten Tod
gehandelt haben – es gibt noch einige
dunkle Stellen in dieser Geschichte.
Die Zeiten
Die Bekanntgabe der Schliessung
machte die Kurie am 17. Mai. «Infolge
der instabilen Entwicklung bei der
Agentur für Werbeeinkünfte Publicitas
AG hat die Situation, die sich für
das Giornale del Popolo, zu wesentlichen
Teilen getragen von den nun
fehlenden Werbeeinnahmen dieser
Agentur, ergeben hat, den Verleger vor
die Notwendigkeit gestellt, heute die
Bilanzen beim Amtsgericht von Lugano
zu hinterlegen.
Diese Massnahme beinhaltet, dass
das Erscheinen der Tageszeitung ab
Samstag, 19. Mai 2018, eingestellt
wird. » Und die Entscheidung erfolgte
in der Tat auch blitzartig : Man hatte
vielmehr die Ankündigung einer Umstrukturierung
bis zum Jahresende erwartet
(vor allem, wenn man davon
ausgeht, dass das Budget der ersten
Monate 2018 durch 7000 Abonnenten
gesichert gewesen wäre). Das hätte die
Möglichkeit beinhaltet, Lösungen für
die Zukunft und für die Mitarbeiter
(Sozialplan) zu finden. Doch der Himmel
war alles andere als wolkenlos.
Das Wie
Seit Jahren schrieb die Zeitung der
Kurie rote Zahlen. Das Ende der Zusammenarbeit
mit dem Corriere del
Ticino hatte viele Fragen aufgeworfen.
Bereits im Juli 2017 hatte syndicom einen
langfristigen Plan des Verlags
zum Schutz der Mitarbeiter gefordert.
Die Insolvenz von Publicitas war
eine «Ausrede», um die Verantwortlichkeit
der Kurie gegenüber den Beschäftigten
herunterzusetzen. «In diesem
schwierigen Moment – so die
Mitteilung weiter – wünscht der Bischof,
allen Mitarbeitern, die nun gefordert
sind, eine überaus mühevolle
Situation auf sich zu nehmen, seinen
innigsten Dank für den grossartigen
und unerschütterlichen Einsatz während
so vieler Jahre zum Ausdruck zu
bringen. Es wird darüber nachgedacht,
wie man die Folgen dieser erzwungenen
Schliessung möglicherweise
weniger belastend gestalten
könnte.»
Mit der Hinterlegung der Bilanzen
beim Amtsgericht hat man es jedoch
faktisch verhindert, irgendeinen Sozialplan
auf den Weg zu bringen. Und
das bei einem Arbeitgeber, der naturgemäss
«verantwortungsbewusst»,
«ethisch» und «sozial» sein müsste.
Die Regeln
Wenn sich aber selbst die Kirche wie
eine Holding benimmt, indem sie die
Insolvenz eines ihrer Unternehmen
erklärt und die Lasten dem Staat aufbürdet,
so müsste dieser doch zu Hilfe
eilen.
Die Entscheidungen der Manager
(die «im Namen der Krise» Einschnitte
am Personal vornehmen) dürfen nicht
auf die Gemeinschaft abgewälzt werden.
Es bräuchte Gesetze, welche die
Firmen mit ihrer Verantwortung konfrontieren.
Im Falle des Giornale del
Popolo wurde für die 30 ab dem 1. Juni
arbeitslose Angestellten ein Solidaritätsfonds
eingerichtet. Die Berechnungen
zur Aufteilung der Fondsmittel
brachten ziemlich unklare
Vertragsverhältnisse (Unterschiede
bei den Abfindungen, Pensionierte
mit Gehaltsabrechnung, aber mit
Hungerlöhnen, Entlohnungen unter
dem Mindestsatz des alten Gesamtarbeitsvertrags
von 2004) zum Vorschein,
die einmal mehr die Forderung
nach einem GAV, der seit
14 Jahren fehlt, dringlich machen.
Vielleicht hätte ein GAV für die
Presse das Giornale del Popolo nicht
gerettet, eine Reglementierung hätte
aber die Ungleichheiten begrenzt und
den Dialog zwischen Direktion und
Verleger sicher verbessert.
syndicom hat das Konkursamt gebeten,
die Datenbank mit 7000 Abonnenten
zu bewerten und in der Konkursmasse
zu berücksichtigen. Zwei
pensionierte Redakteure des Giornale
del Popolo haben eine Online-Zeitung
angekündigt. Die Kurie will Überlegungen
dazu anstellen, wie sie sich
Gehör verschaffen kann. Auch ohne
gedruckte Zeitschrift.
Giovanni Valerio
Die Redaktion abgebildet in der letzten Nummer der Zeitung. (© Ruben Rossello)
https://bit.ly/2JNPVC0
18 Arbeitswelt
«Wir brauchen eine Messung des Wohlstands, die den Beitrag
der Frauen zur Bruttowertschöpfung aufzeigt » Margrit V. Zinggeler
Kostenlose Dienstleistungen
und Subunternehmerketten
Kostenlose Dienstleistungen sind der
erste Schritt zu den kostenpflichtigen
«Prime Services». Nach der Beantragung
des kostenlosen Dienstes und einer
gewissen Gewöhnungszeit kann/
muss man kostenpflichtige Zusatzdienste
beziehen, damit sich die Gewinnmargen
erhöhen. Folglich gerät
die logistische Struktur immer mehr
unter Druck. Als Gewerkschaft interessieren
wir uns schon lange dafür,
welche Konsequenzen kostenlose
Dienstleistungen für die Arbeitsbedingungen
haben. Im kostenlosen
Versand (wie bei Zalando) ist die strukturelle
«Return Logistic» (Millionen
Pakete nur schon in der Schweiz) ein
Phänomen, das man im Auge behalten
muss, weil es viel manuelle Arbeit
mit sehr hohen Kosten erfordert. Sie
muss daher reguliert werden. Der von
den kostenlosen Diensten verursachte
Druck auf die Gewinnmargen ist die
treibende Kraft hinter Externalisierung
von Dienstleistungen oder Auftragsweitervergabe
an Subunter -
nehmer und Subsubunternehmer.
Weni ger rentable Produkte werden oft
Dritten anvertraut. GAV bleiben somit
eine Priorität für die logistischen
Dienste, die mit einem exponentiellen
Anstieg der Anzahl Konkurrenten auf
einem zunehmend wettbewerbsorientierten
Markt konfrontiert sind. Über
den GAV im Kurierwesen versucht syndicom,
dem Sektor ein starkes Signal
zu geben: Ja, gemeinsam schaffen wir
es!
Matteo Antonini ist Leiter des Sektors Logistik und
Mitglied der syndicom-Geschäftsleitung
Die ungeschriebene Geschichte
des Wirtschaftswunders Schweiz
Ohne die Arbeit der Frauen und deren Engagement für das
Gemeinwesen wäre das nicht möglich gewesen.
«Swiss made» oder «Swiss maid»? Der
Unterschied ist nicht zu hören, und
leicht überliest man ihn. Maid bedeutet
im Englischen Magd oder auch junge
Frau. Das Wortspiel inspirierte
Prof. Margrit Zinggeler zum Titel ihres
neusten Buches. Darin zeigt sie auf,
dass das Wirtschafts wunder Schweiz
ohne die Arbeit der Frauen und deren
Engagement für das Gemeinwesen
nicht möglich gewesen wäre.
Nur einige Unverbesserliche würden
ernsthaft bestreiten, dass die
Frauen einen wesentlichen Beitrag
zum wirtschaftlichen Erfolg der
Schweiz geleistet haben. Weshalb hat
Margrit Zinggeler dennoch ihr Sabbatical
geopfert, um diese offensichtliche
Tatsache auf über 300 Seiten
festzuhalten?
Keine Geschichte von Männern
für Männer
Die historische Aufarbeitung des wirtschaftlichen
Erfolgs der Schweiz sei
sehr einseitig. «Ich habe mich geärgert,
dass hier eine Geschichte von
Männern für Männer beschrieben
wurde, die vor allem von Schlachten,
Kriegen, Allianzen handelte», erklärt
die Schweizer Professorin, die heute
einen Lehrstuhl für Deutsch an der
Eastern Michigan University innehat.
Das rief nach einer notwendigen
Richtigstellung.
«Die Frauen wirtschaften, und
die Männer erwerben»
Nach den zwölf Kapiteln, in denen
eine umfassende und detaillierte
Analyse geliefert wird, fällt auf, dass
sich trotz Industrialisierung, 68erund
#metoo-Bewegung im Grunde
nur wenig verändert hat.
Es sind bis heute vor allem Dienstleistungsberufe,
die Frauen offenstehen.
Gesellschaftlich wenig anerkannt
werden sie dementsprechend
entlohnt. Nach Zinggeler sind es aber
genau diese Tätigkeiten, die den wirtschaftlichen
Erfolg ermöglichen. Und
trotzdem werden sie durch das gängige
Wohlstandsmass, das Bruttosozialprodukt,
ungenügend erfasst.
Zinggeler plädiert deshalb für eine
alternative Messung des Wohlstands,
die den Beitrag der Frauen zur Bruttowertschöpfung
aufzeigt. Ein Beitrag,
der sich oft im informellen, unbezahlten
Bereich bewegt und dadurch in
den offiziellen Statistiken nicht oder
nur indirekt auftaucht.
Christian Capacoel
Zinggeler, Margrit V., 2017 : Swiss
Maid. The Untold Story of Women’s
Contributions to Switzerland’s Success.
Peter Lang, New York. Zurzeit nur in
Englisch, eine deutsche Übersetzung
ist in Planung.
Margrit V. Zinggeler erinnert daran, dass die Frauen bis 1971 nicht stimmen durften. (© Christian Capacoel)
https://www.margritzinggeler.com/
« Die Digitalisierung darf nicht als Ausbeutungsinstrument
missbraucht werden » David Roth
19
SBB und PostAuto beim
Fremdgehen erwischt
Im letzten Jahr versuchten SBB und PostAuto, mit dem
Fahrdienst Uber eine Zusammenarbeit aufzubauen.
Die Gewerkschaften verhinderten das. Das ist gut.
Vollkosten lassen Löhne schmelzen
Die vollen Kosten für Angestellte sind
in herkömmlichen Unternehmen bis
doppelt so hoch wie der ausbe zahlte
Lohn. Im uberisierten Modell müssen
die Sozialversicherungsbeiträge, Administration
und Arbeits räume, Fahrzeuge,
Ferien und Spesen von Scheinselbstständigen
alleine getragen
werden. Entsprechend müssten die
Löhne, also die Honorare, bei Selbstständigen
auch fast doppelt so hoch
sein. Die Unternehmen, die diese Aufträge
vergeben, denken gar nicht daran,
dies zu tun.
Keine Zusammenarbeit mit Uber. (© Manu Friederich)
In der Internetapplikation des öffentlichen
Verkehrs (öV-App) wären
Uber-Dienste vorgeschlagen worden,
als Alternative oder ergänzende Verbindungsmöglichkeiten.
Durch das
energische Einschreiten der Gewerkschaften
alarmiert, stellten die Betriebe
die Zusammenarbeit wieder ein.
Dieses Ende ist ein klares Zeichen,
dass die Digitalisierung nicht als Ausbeutungsinstrument
missbraucht
werden darf. Denn in der digitalisierten
Arbeitswelt ist das Zerstückeln
grosser Aufträge in viele kleine Jobs
leichter zu koordinieren. Und das nutzen
gerade Plattformen dazu, um vertragliche
Arbeitsverhältnisse aufzulösen
und Arbeitende als selbstständige
Unternehmer und Unternehmerinnen
zu behandeln.
Bezahlen fürs Toilettenpapier
Das hat oft schlimme Konsequenzen,
wie jüngst ein Beispiel aus den USA
zeigte. Lastwagenchauffeure mussten
für ihr Fahrzeug und dessen Unterhalt
bezahlen, bis hin zum Toilettenpapier
in den Pausenräumen. Ihre Entlohnung
wird nicht auf Basis der geleisteten
Arbeitsstunden, sondern aufgrund
der Frachtmenge berechnet.
Dies führte so weit, das für manche
Lkw-Fahrende selbst nach einer
100-Stunden-Woche die Kosten immer
noch höher waren als die Einnahmen
…
Erste kantonale Regelungen
Die meist multinationalen Firmen verstehen
es zudem blendend, sich nationalen
Gesetzen und Steuerabgaben zu
entziehen. Gegensteuer gibt hier eine
Regelung für Taxianbieter in Genf
( siehe Link unten). Diese müssen einen
Firmensitz in der Schweiz haben,
damit sie eine Lizenz erhalten. Genau
dies fordern jetzt auch die TaxifahrerInnen
von Lausanne. Nur: Isolierte
kantonale Gesetzesanstrengungen
können griffige nationale Regelungen
nicht ersetzen.
Bundesrat feiert, statt zu arbeiten
Letztes Jahr feierte der Bundesrat den
Tag der Digitalisierung. Dabei sonnte
er sich im Glanz der schönen, neuen
digitalen Welt. Aber er hat vergessen,
die Hausaufgaben zu machen. Wenn
die Schweiz die Chancen der Digitalisierung
nutzen will, dann muss sie
auch über entsprechend moderne Gesetze
verfügen. Ansonsten sind Lohndumping
und die daraus folgenden
Arbeitskämpfe vorprogrammiert.
David Roth
ge.ch/legislation/rsg/f/rsg_h1_31.html
Gratis gibt es nichts
Das Geschäftsmodell der Printmedien
läuft aus. Lange Zeit waren die Zeitungen
Goldesel. Sie finanzierten Journalismus
durch Anzeigen, und die Einnahmen
sprudelten. Doch heute verdienen
mit Werbung nur noch Tamedia
und Ringier viel Geld, die
globalen Techgiganten hingegen
enorm viel Geld (Google, Facebook,
Amazon & Co.). Wir alle tragen zu diesen
tollen Gewinnen bei, wenn wir die
Gratiszeitungen konsumieren und
wenn wir den Suchmaschinen und
den «sozialen» Medien fast alles über
uns selber verraten. Wir verschenken
ihnen wertvolles Wissen über alles,
was uns interessiert, was wir bestellen,
was wir lesen und konsumieren.
Was bekommen wir im Gegenzug?
Noch mehr Werbung. Dabei wissen
wir: Gratis gibt es nichts, denn Qualitätsarbeit
kostet, überall. Es braucht
Zeit, anständige Löhne und gute Arbeitsbedingungen,
um sauber zu recherchieren,
ansprechend zu gestalten,
verlässlich zu drucken.
Wir wollen genau, umfassend und
ehrlich informiert werden, denn Wissen
ist Macht, und die muss in der
Demokratie geteilt und kontrolliert
werden. Das geht nur, wenn uns die
Medien auch etwas wert sind. Darum
setzen wir uns als Gewerkschaft ein
für neue Finanzierungsmodelle für
unabhängige Qualitätsmedien.
Stephanie Vonarburg leitet die Branche Presse
und elektronische Medien und ist Mitglied der GL
20 Arbeitswelt
«Die Teppichetage der Tamedia wird immer reicher, und
bei uns stagnieren die Löhne.» Ein Drucker aus Bern
Grafische Industrie:
Der Medianlohn sinkt
Obwohl die Zahl der Lernenden relativ
konstant bei rund 2000 Personen
bleibt, lockt unser Sektor die Jungen
nicht in Massen an. Oder sie schliessen
ihre Ausbildung zwar ab, orientieren
sich dann aber anderweitig. Nicht
umsonst ist in unserem Sektor die
Alterskategorie der über 50-Jährigen
beim Personal besonders stark vertreten.
Um eine Zukunft aktiv aufzubauen,
muss die Branche jetzt für Junge
attraktiv werden! Wir stellen ausserdem
fest, dass Personen, die ihre Arbeit
verlieren, immer öfter ausserhalb
des Sektors eine neue Stelle suchen.
Und nicht zuletzt sagt uns das Bundesamt
für Statistik, dass der Medianlohn
in der grafischen Industrie (ohne Kaderfunktion)
von 2010 bis 2016 nicht
nur nicht gestiegen, sondern sogar um
5,1% gesunken ist. Die Delegation von
syndicom und Syna setzt sich deshalb
mit der Aufgabe an den Verhandlungstisch,
eine Verschlechterung des heutigen
GAV zu verhindern, aber auch
mit dem Ziel, die Arbeitsbedingungen
attraktiv zu gestalten – aus wirtschaftlicher
Sicht, aber nicht nur.
Die Verhandlungen gehen am
20. September in die zweite Runde.
Angelo Zanetti
https://bit.ly/2xDHWpI
Ohne GAV lupft es uns den Hut
Die Mitarbeiter der TamediaDruckzentren Bern, Lausanne
und Zürich wollen wieder in den GAV.
Es 23.00 Uhr, die Mitarbeitenden der
Nachtschicht in den Tamedia-Druckzentren
Bern, Lausanne und Zürich
treten an die Maschinen. Das erste
Mitglied der Kerngruppe schwärmt
aus und drückt allen Kollegen und
Kolleginnen ein rotes Chäppli und
Klebeetiketten in die Hand. «Ohni
GAV lupfts eus de Huet», steht da
drauf.
Die Kolleginnen und Kollegen setzen
sich die Mützen auf. Über 90 Prozent
der Belegschaft der Druckzentren
und der Prepress arbeiten in den kommenden
32 Stunden mit rotem Kopfschmuck.
In Lausanne vom 30. bis
zum 31. Mai. Damit setzen sie ein starkes
Zeichen. Die Mit arbeitenden sind
sauer. Sie wollen wieder in den GAV.
Ende 2015 trat Tamedia aus dem
Arbeitgeberverband viscom und damit
aus dem GAV grafische Industrie aus.
Die Unternehmensleitung versucht
seither, den wahren Grund zu verschleiern:
die schrittweise Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen.
Der neue, von viscom geschaffene
Verband print and communications
erlaubt es den Arbeitgebern,
dem Beispiel von Tamedia zu folgen.
Mit verheerenden Folgen für
die Belegschaft. So auch bei der
Banknotendruckerei Orell Füssli,
wo sich die Belegschaft ebenfalls
gegen den Austritt aus dem GAV
wehrt. Hier hat der Kampf bereits
die Form einer Protestpause angenommen.
Bislang bleibt die Geschäftsleitung
aber stur. Noch keine
Gesprächsbereitschaft über die
Absicherung des GAV zeigt bisher
Ringier/Swissprinters. Von den per
Ende 2018 aus dem viscom ausgetretenen
Firmen ist bisher einzig
die Stämpfli AG bereit, mit syndicom
über einen Betriebs-GAV zu
verhandeln. Die Gespräche begannen
im Juni. Er muss mindestens
so gut wie der Branchen-GAV sein
und mit der Gewerkschaft abgeschlossen
werden.
Als Erstes wurde in den drei Druckzentren
Lausanne, Bern und Zürich
die Arbeitszeit um 2 respektive 1.25
Stunden erhöht und teilweise die
Mahlzeitentschädigung gestrichen.
Für die Druckereimitarbeitenden mit
Nachtschicht heisst das, dass sie in
der Frühschicht auch am Samstag antraben
müssen.
Somit bleibt den Schichtarbeitenden
nur noch der Sonntag, um etwas
mit der Familie zu unternehmen. Die
Krux dabei ist, dass die Verkürzung der
Wochenenden unentgeltlich vollzogen
wird. Hochgerechnet wären dies
bei einem tiefen Lohn 2700 Franken,
die jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter
jährlich der Tamedia schenkt.
«Die Teppichetage der Tamedia wird
immer reicher, und bei uns stagnieren
die Löhne», sagt ein Drucker aus Bern.
Auch die Schichtzuschläge sind der
Tamedia-Geschäftsleitung seit Längerem
ein Dorn im Auge.
Um die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen
abzuwehren, forderten die
Mitarbeitenden der drei Druckzentren
mit einer Petition im April den
Wiederbeitritt von Tamedia bei
viscom und somit die Anerkennung
des GAV der grafischen Industrie.
280 Unterschriften hatte die Arbeitnehmervertretung
gesammelt. Die
Mitarbeitenden der Druckzentren
leisten zuverlässig qualitativ hochstehende
Arbeit und verlangen im Gegenzug
lediglich eine Garantie für die bestehenden
Arbeitsbedingungen. Doch
die Geschäftsleitung lehnt ab.
32 Stunden später: Es ist 5.30 Uhr
am Morgen, die letzte Schicht trägt
noch immer Rot. «Wir zeigen, dass wir
zusammenhalten und alle hinter der
Forderung stehen«, sagt ein Zürcher
Druckereimitarbeitender. «Das ist erst
der Anfang!»
Miriam Berger
Jetzt sehen und tragen die Arbeitenden in den Druckzentren von Tamedia Rot. (© DR)
syndicom.ch/aktuell/artikel/ohni-gav-lupftseus-de-huet/
«Die Post hat Zukunft, wenn sie einen umfassenden Service
public für das ganze Land wieder ins Zentrum setzt» David Roth
21
Angehörigenpflege
geht uns alle an!
Care-Arbeit: Die breite Öffentlichkeit
assoziiert damit die Pflegeberufe.
Schlecht bezahlt betreuen oftmals
Frauen aus Osteuropa oder Asien unter
schlechtesten Arbeitsbedingungen
unsere Angehörigen in der Schweiz.
VPOD und unia setzen sich zum Schutze
dieser Frauen ein. Weniger im Bewusstsein
der Öffentlichkeit ist hingegen
die unbezahlte Care-Arbeit. Zum
Beispiel wenn wir unsere Eltern oder
den Partner, die Partnerin zu Hause
pflegen.
Es sind die Frauen, die den Bärenanteil
dieser unbezahlten Arbeit
leisten. Damit sie mit dieser anspruchsvollen
Aufgabe nicht an die eigenen
Grenzen der Belastung gehen, Warnsignale
entdecken und sich mit anderen
austauschen können, bietet syndicom
den Kurs «Arbeiten und Angehörige
pflegen – wie geht das?» an. Oft stehen
diese Frauen über 50 im Erwerbsleben,
und es ergibt sich ein neuer oder zusätzlicher
Vereinbarkeitskonflikt. Darum
werden auch arbeitsrechtliche Regelungen
– auch im GAV Post und
Swisscom – beleuchtet und verschiedene
Entlastungsangebote vorgestellt.
Dieser Kurs findet am 1. September in
Zürich in Zusammenarbeit mit dem
VPOD statt, und ist zunächst nur auf
Deutsch. (https://bit.ly/2sndivp)
Patrizia Mordini, Leiterin Gleichstellung,
Mitglied der Geschäftsleitung
Jagd auf übertriebene Gewinne
bringt die Post ins Trudeln
Susanne Ruoff, die oberste Pöstlerin, ist gefallen. Das Symptom
eines angekündigten Niedergangs, wenn die Post nicht zu einem
umfassenden Service public zurückfindet.
Post-Chefin Ruoff ist der PostAuto-
Skandal zum Verhängnis geworden.
Mit ihr fällt die ganze PostAuto-Geschäftsleitung,
und Vizepräsident des
Verwaltungsrats, Adriano Vassalli, hat
seinen Rücktritt angekündigt. Übergangs-CEO
der Post wird nun Ueli
Hurni, der seine lange Karriere bei
PostFinance begonnen hatte.
Landet weich dank astronomischen
Entschädigungen: Susanne Ruoff. (© Keystone)
Am Beginn des Skandals standen
Betrügereien, die dem übertriebenen
Gewinnstreben bei PostAuto geschuldet
waren. Die Jagd nach Gewinn ist
die Folge der Profiterwartungen des
Bundesrats und des Parlamentes an
den ganzen Postkonzern. Ruoffs Management
spiegelte diese unhaltbare
Mischung: einerseits noch ein bisschen
Service public, andererseits
knallhartes Konzernmanagement für
maximalen Profit. Das führt zu ständigen
Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen
und gefährdet die flächendeckende
Versorgung. Es steht
im Widerspruch zur Wirtschafts- und
Regionalpolitik, die nicht nur die Zentren
stärken will. Ausdruck dieses Managements
sind Entlassungen, Poststellenschliessungen,
Auslagerungen,
Umgehungen des GAV, Einschnitte
beim Zustellungsdienst und einiges
mehr, auf Kosten der gesamten Bevölkerung.
Ruoff fällt weich – Tausende landen
hart
Susanne Ruoff hat über die Jahre als
CEO astronomische Entschädigungen
erhalten und fällt weich. Doch die Post
ist längst ins Trudeln geraten. Sie baut
stetig Dienstleistungen ab. Sogar im
Vorzeigebereich PostFinance. Dort
bangen derzeit 1000 Leute um ihre
Stelle. Im Rahmen des Abbauprojekts
«Victoria 2020» will die Geschäftsleitung
500 Vollzeitstellen streichen.
Zum einen Kundenberater der Geschäftskunden.
Nur noch ein Fünftel
der Geschäftskunden soll weiterhin
direkt betreut werden, alle anderen
sollen auf die überlasteten Callcenter
und Maildienste ausweichen. Zudem
bangen sehr viele Sachbearbeiterinnen
und -bearbeiter in den Operationscentern
um ihre Stelle.
syndicom greift ein
PostFinance steht bei den Menschen
in der Schuld. Sie muss Anschlusslösungen
finden. syndicom wird sich
dafür einsetzen, dass möglichst viele
Stellen erhalten werden können und
dass die gekündigten Arbeitnehmenden
wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
bekommen. Dafür sollen
sie eine Unterstützung erhalten, die
über dem vorgesehenen Sozialplan
liegt.
Die PostFinance-Manager jammern
gerne über äussere Umstände
wie die Einschränkungen, die ihnen
beim Hypothekengeschäft auferlegt
sind. Das ist aber eine nicht abzuändernde
Tatsache. Politisch ist ein Einstieg
von PostFinance ins Hypothekargeschäft
chancenlos, weil die Kantone
in diesem Geschäft ihre Kantonalbanken
nicht konkurrenzieren möchten.
Das kann man gut oder schlecht finden,
es ist aber die Realität.
Wir müssen die Politik zwingen,
die Profit-über-alles-Strategie der Post
zu beenden. Die Post hat Zukunft,
wenn sie den klaren Auftrag bekommt,
zu einem umfassenden Service public
für das ganze Land zurückzufinden.
David Roth
https://bit.ly/2JJvvKt
22 Politik
So zähmt Service public
2.0 die Digitalisierung
Wir schlagen Alarm. Wenn
die öffentliche Hand den
digitalen Umbau nicht reguliert
und sehr rasch einen
digitalen Service public aufbaut,
verliert die Schweiz ihre
Souveränität an Weltkonzerne
wie Facebook. Und der
soziale Frieden kippt. Der
Schlüssel zur Lösung ist die
Datenhoheit.
Text: Giorgio Pardini, Leiter
Sektor ICT
Bilder: alphaspirit
Demokratie und sozialer Frieden
zerfallen, wenn der Service public
abgebaut wird. Denn der öffentliche
Dienst garantiert die Versorgung
aller mit elementar notwendigen
Leistungen und Infrastrukturen.
Er schafft Zugang zu Ausbildung,
physischer Sicherheit, Lebenschancen,
Recht, sozialer Sicherheit.
Und vor allem bringt er, als Gegengewicht
zu Kapital und Markt, ein
Stück Chancengleichheit in eine
zunehmend ungerechtere Gesellschaft.
Der Service public muss weit
mehr tun
Weil sich die Schweiz verändert,
muss sich auch der Service public
an die veränderten Bedürfnisse anpassen.
Früher hat er etwa überall
Telefonkabinen aufgestellt, heute
muss er Handynetze und WLAN
Hotspots bauen. Doch um seiner
Rolle gerecht zu werden, muss er
weit mehr tun.
Getrieben vom digitalen Umbau
entstehen neue Geschäftsmodelle
wie die Plattformökonomie. In
weniger als zwei Jahrzehnten sind
gigantische Weltkonzerne entstanden:
Alphabet/Google, Amazon, Facebook,
Apple (GAFA) und andere. Sie
haben alle dieselbe Geschäftsgrundlage:
den digitalen Fussabdruck
ihrer OnlineKundschaft. Milliarden
von Kundendaten werden rund um
die Uhr gesammelt (Big Data), zusammengeführt,
durch immer ausgefeiltere
Algorithmen strukturiert
und wirtschaftlich sowie politisch
vermarktet – mit tiefgreifenden gesellschaftspolitischen
Auswirkungen.
Die GAFA übernehmen das
Kommando
Facebook verzeichnete im ersten
Quartal 2018 rund 2,2 Milliarden
aktive Nutzende, machte 2017 fast
41 Milliarden Dollar Umsatz und
Milliardengewinne. Durch ihre glo
Politik
Um seiner Rolle gerecht zu werden, muss der Service public weit mehr tun als Handynetze
und WLANHotspots zu bauen. Nur der Staat kann dafür sorgen, dass die Hoheit über die
Daten bei den Nutzenden bleibt respektive wieder an sie zurückgeht. So ein digitaler Service
public hätte im heutigen Parlament keine Chance. Eine Volksinitiative wäre ein Weg dazu.
23
bale Marktbeherrschung verfügen
solche Weltkonzerne über mehr
Kapital als die meisten Staaten.
In Bereichen wie Sicherheit, Überwachung,
Meinungsbildung, Chancengleichheit
und vielen weiteren
über nehmen sie das Kommando.
All dies basiert auf der Verwertung
von Big Data. Was mit unseren Daten
geschehen kann, war am Beispiel
der USWahlen zu sehen. Mit
der Auf bereitung und Nutzung von
rund 87 Millionen FacebookProfilen
wurde das Wahlverhalten zugunsten
von Donald Trump gesteuert.
Die GAFA, regelrechte Oligopole,
üben weltweit Einfluss auf
Staaten und Institutionen aus, ohne
jegliche Kontrolle und allein den
Aktionären verpflichtet. Diese Aktionärslogik
dient weder dem sozialen
Zusammenhalt noch einer gemeinwirtschaftlichen
Verpflichtung. Im
Gegensatz zum Service public, der
seine Dienstleistungen den Bürgerinnen
und Bürgern zur Verfügung
stellt, demokratischer Kontrolle unterliegt
und allfällige Gewinne der
Allgemeinheit zuführt.
Das Mandat des Service public auf
die digitale Welt ausdehnen
Wie bei jeder technologischen Entwicklung
mit hohen Risiken muss
der Staat im Interesse der Allgemeinheit
Regeln und Leitplanken
setzen. Im Wesentlichen geht es
hier um die zentrale Frage, wer die
Hoheit über die Daten der Nutzenden
hat. Nur der Staat kann dafür
sorgen, dass sie bei den Nutzenden
bleibt respektive wieder an sie zurückgeht.
Deshalb müssen wir darüber
nachdenken, wie wir das Mandat
des Service public auf die
digitale Welt ausdehnen können.
Das ist notwendig, wenn wir nicht
wollen, dass der digitale Umbau zu
sozialen Verwerfungen führt.
Aber auch die beste Regulierung
bleibt toter Buchstabe, wenn
die öffentliche Hand nicht selbst
Akteurin der Digitalisierung wird
und einen digitalen Service public
aufbaut. Das muss sie sehr rasch
Eine Volksinitiative
wäre ein Weg,
einen solchen
Service public zu
verwirklichen.
tun, will der Staat seine Souveränität
und seine Handlungsfähigkeit
nicht schon in den nächsten Jahren
vollständig an die Weltkonzerne verlieren.
Was nur die öffentliche Hand kann
Einige zentrale Aufgaben dieses
digitalen Service public können
praktischerweise die öffentlichen
Unternehmen wie Swisscom oder
Die Post leisten. Dafür brauchen sie
sehr rasch einen verbindlichen
Auftrag samt Spielraum und Mittel
für die anfallenden Investitionen.
Darum muss die schleichende Privatisierung
dieser Unternehmen gestoppt
werden. Gerade weil die Digitalisierung
die Arbeits und
Lebensverhältnisse dereguliert,
müssen die öffentlichen Unternehmen
im Besitz der Allgemeinheit
bleiben.
Keine Frage: Mächtige Lobbys
werden alles daran setzen, einen
solchen Service public zu verhindern.
Obschon er von hohem Interesse
für uns alle ist, hätte er im heutigen
Parlament keine Chance. Um
ihn durchzusetzen, werden wir die
Instrumente der direkten Demokratie
aktivieren müssen. Eine Volksinitiative
wäre ein Weg dazu.
https://bit.ly/2JPUwb7
Stärkung des
Service public
Die Delegierten des SGB
haben eine Resolution
beschlossen.
Ende Mai haben die Delegierten
des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes
(SGB) eine Resolution
beschlossen, die die Stärkung
des Service public fordert. Die Digitalisierung
ist für den Service
public eine Chance, die er nutzen
muss.
So muss sich die Steuerpolitik
am Finanzbedarf des Service
public ausrichten. Es braucht eine
Mindestbesteuerung, die den
Steuerwettbewerb unter den Kantonen
verhindert. Sparmassnahmen
beim Bundespersonal und
bei den Angestellten von Kantonen
und Gemeinden werden abgelehnt
genauso wie eine Marktlogik,
die den Service public
zerstört: keine Verkehrspolitik,
die zu Dumpingpreisen und
Dumpinglöhnen führt, keine Aufhebung
des Kabotageverbots,
keine Liberalisierung des internationalen
und nationalen Personenfernverkehrs!
Die Digitalisierung ist eine
Chance für den Service public,
wenn die Unternehmen das Personal
schulen und weiterbilden. Es
braucht einen Ausbau und keinen
Abbau in der digitalen Transformation
der Dienstleistungen. Angesichts
des Drucks auf die Löhne
in der Verkehrsbranche, bei Post
und Kurierdiensten sowie im
Sozialwesen und der akuten Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen
fordern die Delegierten,
dass alle Service publicBeschäftigten
vorbildlichen Gesamtarbeitsverträgen
unterstellt werden.
In öffentlichen Betrieben wie SBB,
Swisscom und Post müssen die
Kaderlöhne auf 500 000 Franken
beschränkt werden. (comm.)
24 Politik
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) wendet sich gegen den Revisionsentwurf
des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG).
Dieser würde den Versicherungen mehr Macht geben und die Willkür fördern.
VVGReform
nur für die Versicherungen
Der Versicherer könnte den
Vertrag einseitig ändern
Der Bundesrat sieht eine Revision
des Versicherungsvertragsgesetzes
(VVG) vor, welche die Lage der Versicherten
gegenüber Versicherungsgesellschaften
deutlich verschlechtern
würde. Der Schweizerische
Gewerkschaftsbund (SGB) lehnt den
Entwurf deshalb ab.
Die Vorlage des Bundesrates
würde Verschlechterungen mit sich
bringen und gäbe den Versicherern
noch mehr Macht, zu schalten und
walten, wie sie wollen.
• Einer der grössten Negativpunkte
ist die Möglichkeit zur einseitigen
Vertragsänderung durch
die Versicherer. Damit könnten die
Versicherungen von einem Tag auf
den anderen die Vertragsbedingungen
einseitig anpassen, ohne Einverständnis
des Versicherten!
• Ältere Arbeitnehmende könnten
aus der Krankentaggeldversicherung
ausgeschlossen werden.
• Versicherungen dürften künftig
bei einer Kündigung des Arbeitsvertrags
oder der Krankentaggeldversicherung
nachträglich Leistungen für
bereits eingetretene Schadensfälle
kürzen oder einstellen.
Die Schweizer Arbeitnehmenden
sind schlecht gegen Krankheit
geschützt. Für den Schutz vor einem
Erwerbsausfall wegen einer Krankheit,
die nicht zur Invalidität führt,
gibt es lediglich eine freiwillige Versicherung.
Diese unterliegt oftmals
dem VVG.
Der Gesetzgeber müsste dringend
eine Lösung für die Probleme im Zusammenhang
mit den intransparenten
und für die Versicherten nicht
nachvollziehbaren Prämienberechnungen
vorschlagen. Der Arbeitgeber
und die Versicherungsgesellschaft
können vereinbaren, dass
die Leistungen mit Beendigung
des Arbeitsverhältnisses eingestellt
werden.
Dieser skandalöse Gesetzesentwurf
schafft neue Probleme, ohne die
Situation zu regeln.
Luca Cirigliano, SGBZentralsekretär
http://www.sgb.ch/publikationen/artikel/
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Recht so!
25
Fragen an den syndicom-Rechtsdienst :
Guten Tag
Ich habe letzten Herbst meine Berufsausbildung abgeschlossen
und bis heute keine Stelle gefunden. In den Absagen
hiess es, dass sie jemanden mit beruflicher Erfahrung
suchen. Nun habe ich ein Angebot für ein einjähriges,
unbezahltes Praktikum erhalten. Ich weiss, dass schon einige,
die mit mir abgeschlossen haben, solche Praktikumsstellen
angenommen haben. Wenn ich nicht zusage, findet
sich sicher jemand anderer für das Praktikum.
Was empfehlen Sie mir?
Ich wäre schon bereit, ein unbezahltes Praktikum zu machen.
Doch ist für mich ein Jahr ohne Lohn und ohne Ferien
einfach zu lang. Nach meiner Ausbildung habe ich kein Geld
mehr und bin nun darauf angewiesen, etwas zu verdienen.
Ausserdem bringe ich mit meiner Ausbildung ja auch schon
viel Wissen mit. Muss ich effektiv so lange gratis arbeiten?
Wenn ich nun dieses einjährige, unbezahlte Praktikum
annehme und danach trotzdem keine Festanstellung
bekomme, erhalte ich überhaupt Arbeitslosengeld? Dafür
muss ich doch mindestens zwölf Monate lang Beiträge
bezahlt haben. Da bin ich ja gleich doppelt bestraft.
Antwort des syndicom-Rechtsdienstes
Das Praktikum ist gesetzlich nicht
ausdrücklich geregelt. Daher ist es
wichtig, dass ein schriftlicher Praktikumsvertrag
gemacht wird. Darin
sollten die Dauer, das angestrebte
Ziel, eine Regelung bei Krankheit sowie
der Lohn (inkl. AHV-, ALV-Beiträge
und allfälliger UVG-Beiträge)
enthalten sein. Auch eine anschliessende
Festanstellung kann bereits
vereinbart werden. Ziel eines Praktikums
ist es, das erworbene theoretische
Wissen unter fachlicher Begleitung
in der Praxis zu vertiefen, um
den Berufseinstieg zu erleichtern.
Erledigen Sie während des Praktikums
die gleichen Arbeiten wie die
Fest angestellten und werden Sie
nicht betreut, so handelt es sich um
ein befristetes Arbeitsverhältnis. In
diesem Fall besteht auch ein regulärer
Lohnanspruch.
Ein Praktikum sollte grundsätzlich
nicht länger als ein Jahr dauern.
Dann haben Sie auch Anspruch auf
mindestens vier Wochen Ferien. Bei
Praktika von kürzerer Dauer müssen
die Ferien anteilsmässig gewährt
werden. Unbezahlte Praktika sollten
hingegen nur kurze Zeit dauern, d.h.
maximal einen Monat. Ein typisches
Beispiel dafür sind Schnupperpraktika,
die meist nur einige Tage oder
eine bis zwei Wochen dauern. Dauert
das Praktikum länger, muss ein Lohn
ausgerichtet werden, auch wenn dieser
tiefer ist als bei einer Festanstellung.
Übrigens sind mehrere Praktika
nacheinander, auch wenn diese nur
von kurzer Dauer sind, beim gleichen
Arbeitgeber und im gleichen Arbeitsbereich
nicht zulässig.
Die Arbeitslosenkasse prüft in einem
solchen Fall, ob das Praktikum für
den Berufsabschluss erforderlich ist
und somit zur Ausbildung zählt. Bejaht
sie dies, gelten Sie als beitragsbefreit
und haben Anspruch auf 90 Taggelder.
Deshalb ist es wichtig, dass
Sie bei einem Praktikum etwas lernen
und nicht einfach gratis arbeiten.
syndicom.ch/recht/rechtso
26 Freizeit
Tipps
Weiterbildung: Druck auf den
eigenen Arbeitgeber machen
Sommerferien sind ein guter
Zeitpunkt, um ein paar Gedanken
an die Verfeinerung der eigenen
Möglichkeiten zu verschwenden.
Weiterbildung will gut bedacht sein.
Und rechtzeitig geplant.
Üblicherweise wird sie in der
Schweiz als individuelle Anstrengung
betrachtet. Wir Gewerkschaften
machen Weiterbildung aber
zunehmend zu einem Verhandlungsthema
mit den Arbeitgebern.
In diversen GAV haben wir erste
Schritte zu einem Recht auf Weiterbildung
verankern können (siehe
www.gav-service.ch).
Frage deinen Sekretär, was dir
zusteht. Es geht immer um zwei
Dinge: Zeit und Geld. Informiere
dich über Bildungsangebote, die
dich interessieren. Dann sprich mit
den Vorgesetzten und HR-Verantwortlichen.
Es kann gut sein, dass
sie dich erst einmal auflaufen lassen.
Insistiere! Das Recht auf
Bildung ist ein neues Thema, wir
müssen es mit etwas Druck erst
alltäglich machen.
Das ist das eine. Aber kluge Weiterbildung
heisst viel mehr, als den
eigenen Marktwert zu erhöhen. In
den Kursen der Gewerkschaft und
anderer Anbieter machen wir uns
für uns selbst klüger und stärker.
Wirtschaft und Recht werden lesbarer.
Sprachen machen uns beweglicher.
Digitale Kenntnisse souveräner.
Und Kurse zu Konfliktlösung,
Organisation, Lebensführung machen
uns vieles leichter.
Bei Movendo etwa: Frontalangriff
auf das Arbeitsgesetz (26.9.).
Wie funktioniert meine Pensionskasse
(2.10.). Mit Mindmap die Infoflut
bewältigen (12.1o.). Bei Helias:
Indesign für Einsteiger (29.8.). Bei
syndicom: Wie mache ich mich
selbstständig? (24.8.). Und etliche
andere mehr.
syndicom.ch/mitgliederservice/
aus-und-weiterbildung und: movendo.ch
© Jürgen Bauer
Paul Mason: Was nach dem
Kapitalismus kommt
Naomi Klein, die messerscharfe
Globalisierungskritikerin, schreibt
über dieses Buch: «Paul Mason entwirft
eine visionäre, fesselnd formulierte
und reale Alternative. Er wird
heftige Debatten auslösen – und
zwar genau jene, die wir unbedingt
führen müssen.» Das verspricht.
Der britische TV-Journalist
Mason (BBC) hat mit in seinem
Buch Postkapitalismus eine doppelte
Botschaft für uns: Das Wirtschafts-
und Gesellschaftssystem
Kapitalismus ist ein Auslaufmodell.
Und wie immer, wenn eine Ordnung,
die 500 Jahre lang geherrscht
hat, ihrem Ende zuneigt, kann man
die Grundrisse der kommenden
Ökonomie schon erkennen.
Das ist ermutigend, denn unsere
Gegenwart sitzt in einer Falle: Zum
einen ahnen alle, dass der Kapitalismus
auf die Auslöschung der Gattung
Mensch hintreibt und auf dem
Weg dorthin Panik und Elend anrichtet.
Derzeit etwa die Demokratie
in Europa zerstört. Zum anderen ist
es den Besitzenden gelungen, ihre
kapitale Herrschaft als einzig mögliche
Form der Gesellschaft in die
Köpfe zu hämmern.
Furchtlos analysiert Mason diesen
Zustand und sucht für uns die
Werkplätze der neuen, werdenden
Ordnung auf. Viele davon sind in
den Entwicklungen des Kapitalismus
schon angelegt, der nun «an die
Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit
gestossen ist». Die digitale Revolution
legt diese Grenzen offen.
Und in ihr erkennt Mason die Werkzeuge
einer neuen Welt. Wer zündende
Gedanken sucht und ein
Buch mit kritischem Blick lesen
kann, sollte sich Postkapitalismus
unbedingt vornehmen.
Paul Mason: «Postkapitalismus.
Grundrisse einer kommenden Ökonomie.»
Suhrkamp, 2016. 400 Seiten, CHF 21.90
Auf der Flucht. Ein paar Orte,
wo es sich besser existiert
Wer in diesen Wochen nicht gen
Süden brettert, findet in der Nähe
Orte, wo sich das Leben entschleunigt
und man erleichtert entdeckt:
Jenseits von Facebook und despotischen
Bildschirmen sind wir selber
klug genug, Gedanken zu fassen
und die Welt in einen eigenen Blick
zu nehmen.
Etwa auf der Terrasse des Ethnograpischen
Museums Neuenburg
(MEN). Man schaut auf den See und
bruncht (22.7, 23.9.) und erfährt,
was Gesellschaften zusammenhält,
in Führungen durch die thematische
Ausstellung und die wirklich
aufregende Sammlung (50 000 Stücke
aus Afrika und Ozeanien, aus
der Arktik und dem industriellen
Europa). Auf Anmeldung: 032 717
85 60. Oder via reception.men@ne.
ch. Mehr Infos: men.ch.
Was wollen Fotos und was machen
sie mit uns in Zeiten des Selfie?
Abgesehen von seinen immer
erhellenden Ausstellungen ist das
das Fotomuseum Winterthur mit
seiner Sammlung und seinen Veranstaltungen
eines der grossen internationalen
Zentren für die Kultur
des Bildes. Derzeit stellt Jürgen Teller
aus. Die Wahrheit im Blick des
anderen. Infos, Fotostiftung, Fotoblog,
Newsletter: fotomuseum.ch.
Vor dem 16. September sollte
man den Weg ins Historische Museum
Bern gehen. Diesmal nicht für
den genialen Einstein, sondern für
einen heilsamen Gang: «Flucht»
heisst die Ausstellung, in der wir in
Film, Bild, Konferenz und direkt
Menschen begegnen, die vor Krieg
und Tod ins oft mörderische und
eiskalte Exil flüchten. Das rückt den
Kopf zurecht. Die Infos dazu holt
man sich am besten von der Agenda
der Internetseite von AllianceSud,
weil ein häufiger Besuch dieser Seite
sowieso lohnenswert ist.
alliancesud.ch
1000 Worte
Ruedi Widmer
27
28 Bisch im Bild Im Juni 2018 engagiert sich syndicom:
für eine Rückkehr unter den Schutz des GAV grafische Industrie, am nationalen
Frauentag vom 14. Juni, an der Seite der Eisenbahner der SBB im Protest gegen
die Sparmassnahmen.
2
1
3
4
5
1, 2 Mit einer roten Mütze auf dem Kopf fordern die Angestellten der grafischen Industrie, wieder einem GAV unterstellt zu sein
(im Bild die Druckzentren Bussigny und Zürich).
3 In Bern und in anderen Schweizer Städten protestierten am 18. Juni die SBB-Angestellten gegen die geplanten Sparmassnahmen.
4, 5 Mit dem Slogan «Lohngleichheit ist auch dein Bier!» wurde an den Veranstaltungen zur Lohngleichheit vom 14. Juni das Lohngleichheitsbier
ausgeschenkt. Im Casa del Popolo in Bellinzona fand ein Lohngleichheits-Apéro statt. (© Dominik Fitze et Lorena Gianolli)
6, 7, 8, 9 Am 9. Juni 2018 fand in Bern die Fortsetzung des syndicom-Kongresses vom November 2017 statt, an dem nicht alle Anträge behandelt werden
konnten. Nun sind alle Beschlüsse gefasst (syndicom.ch/kongress17). (© Sam Buchli)
10 Der Kongress unterstützte den Kampf der PostAuto-Chauffeure gegen Gratisarbeit. (© Sam Buchli)
11 Die Interessengruppe Migration feiert 40 Jahre Tätigkeit unseres Mitglieds Gerda Kern. (© Sam Buchli)
29
6
8
7
9
10 11
30
Aus dem
Leben von ...
Lionel Beuret
Die Arbeitszeit reicht nicht für alles aus
Lionel Beuret (1966) ist in Les Breuleux
(JU) aufgewachsen. Dort absolvierte er
eine Mechanikerlehre, bevor er in Walliser
Skigebieten tätig wurde. Nach der
Heirat 1988 trat er eine Stelle als Facharbeiter
und Lagerist in der Postgarage
an. Wegen einer Restrukturierung und
Schliessung ergriff er zehn Jahre
später die Gelegenheit, Chauffeur zu
werden. Er absolvierte die Ausbildung
zum Lastwagen- und zum Postautofahrer.
Seit dieser beruflichen Neuorientierung
ist er als Chauffeur in der
Regie Le Locle tätig.
Seit 30 Jahren ist Lionel Beuret Gewerkschaftsmitglied,
zuerst bei der
PTT-Union, dann bei syndicom. Seit
dem 1. Januar 2018 ist er Präsident der
Betriebskommission von PostAuto.
Text: Sylvie Fischer
Bild: Yves Leresche
Ich liebe meinen Beruf.
Deshalb erledige ich
die nötigen Arbeiten in
jedem Fall
Als Postautochauffeur hatte man
schon immer viele verschiedene Aufgaben
zu erledigen. Die dafür vorgesehene
Arbeitszeit reicht aber nicht
immer. Vor zwanzig Jahren gab es
noch Angestellte in der Garage, die
uns bei der Kontrolle der Fahrzeuge
halfen. Auch unter Kolleginnen und
Kollegen unterstützte man sich gegenseitig.
Heute ist man meistens
allein.
Wie über 1300 andere Fahrerinnen
und Fahrer habe ich die Petition
«Keine Gratisarbeit bei PostAuto» unterschrieben.
Sie fordert, dass alle
Arbeiten für PostAuto (auch jene, die
nicht im Dienstplan abgebildet sind)
als Arbeitszeit erfasst und nicht in
die Freizeit verlagert werden. Wir
fordern auch, dass die Arbeitsleistungen
im Personalstundennachweis
nachvollziehbar ausgewiesen werden.
Die gute Nachricht: PostAuto geht
auf die Petition ein und will über
diese heiklen Punkte verhandeln.
Wir haben immer mehr Elektronik,
die bei Dienstantritt eingerichtet
werden muss. Die neuen ISA-Kassen
für den Verkauf elektronischer
Billette müssen aufgestartet werden.
Ebenso das PA 700 für das Scannen
der Fahrausweise und der im
Strassenverkehrsgesetz (SVG) vorgeschriebene
digitale Fahrtschreiber.
Er kontrolliert die Geschwindigkeit
und die Arbeitszeit und liefert bei
Unfällen wichtige Informationen.
Dann gilt es auch, den Wasser- und
Ölstand zu prüfen und eine technische
Kontrolle des Fahrzeugs innen
und aussen vorzunehmen.
Die Zeit, um alle diese Aufgaben
zu erledigen, ist zu knapp bemessen.
Deshalb müssen wir früher zur Arbeit
kommen, damit wir es schaffen.
Mein Dienstchef weiss das. Aber
regio nal sind die Unterschiede bei
der Zeit, die für diese Aufgaben angerechnet
wird, beträchtlich.
Bei Dienstende muss noch vollgetankt,
Additiv nachgefüllt und das
Fahrzeuginnere gewischt werden.
Alle elektronischen Systeme müssen
abgestellt, die Frontscheibe und die
Karosserie geputzt, die Kasse weggeräumt
werden. Auch hier muss man
Freizeit dafür opfern.
Was nicht erfasst wird, sind die
Buchhaltung am Monatsende und
die Zahlungen an PostAuto. Das
mache ich in den Pausen. Ich liebe
meinen Beruf. Deshalb nehme ich
– aus beruflicher Gewissenhaftigkeit
– es auf mich, auf jeden Fall alle nötigen
Arbeiten zu erledigen.
Manchmal geraten wir in Staus.
Oder wir werden durch den Schnee
aufgehalten. Nur wenn diese Verspätungen
länger als eine Viertelstunde
dauern, fülle ich dafür einen Rapport
aus. Wenn es weniger lange dauert,
verzichte ich darauf.
PostAuto ist für mich kein Unternehmen
wie jedes andere. Man hängt
an ihm, wie an den Erinnerungen an
Schulreisen – die man mit Postauto
machte. Ich hoffe auf erfolgreiche
Verhandlungen.
https://bit.ly/2HFXaKr
Impressum
Redaktion: Sylvie Fischer, Giovanni Valerio,
Marc Rezzonico, Marie Chevalley
Tel. 058 817 18 18, redaktion@syndicom.ch
Porträts, Zeichnungen: Katja Leudolph
Fotos ohne ©Copyright-Vermerk: zVg
Layout und Korrektorat: Stämpfli AG, Bern
Druck: Stämpfli AG, Wölflistrasse 1, 3001 Bern
Adressänderungen: syndicom, Adressverwaltung,
Monbijoustrasse 33, Postfach, 3001 Bern
Tel. 058 817 18 18, Fax 058 817 18 17
Inserate: priska.zuercher@syndicom.ch
Abobestellung: info@syndicom.ch
Abopreis ist im Mitgliederbeitrag inbegriffen. Für
Nichtmitglieder: Fr. 50.– (Inland), Fr. 70.– (Ausland)
Verlegerin: syndicom – Gewerkschaft
Medien und Kommunikation, Monbijoustr. 33,
Postfach, 3001 Bern
Das syndicom-Magazin erscheint sechsmal im Jahr.
Ausgabe Nr. 7 erscheint am 7. September 2018
Redaktionsschluss: 30. Juli 2018.
31
Das syndicom-Kreuzworträtsel
Zu gewinnen gibt es eine Geschenkkarte
im Wert von 40 Franken, gespendet von
unserer Dienstleistungspartnerin Coop.
Das Lösungswort wird in der nächsten
Ausgabe zusammen mit dem Namen
der Gewinnerin oder des Gewinners veröffentlicht.
Lösungswort und Absender auf einer
A6-Postkarte senden an: syndicom-
Magazin, Monbijoustrasse 33, Postfach,
3001 Bern. Einsendeschluss: 14.8.18
Der Gewinner
Die Lösung des syndicom-Kreuzworträtsels
aus dem syndicom-Magazin
Nr. 5/2018 lautet: BILDUNG. Gewonnen
hat Hans Bader aus Märstetten.
Er erhält Reka-Checks im Wert von
50 Franken von unserer Dienstleistungspartnerin
Reka. Wir gratulieren
herzlich!
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32 Inter-aktiv
syndicom social
Le Matin wird digital.
Ein Zeichen der Zeit? 7.6.2018
Am 22. Juli 2018 erscheint die orange Tageszeitung
zum letzten Mal in gedruckter
Version. Damit verbunden sind rund 40 Entlassungen.
24 Journalistinnen und Journalisten
verlieren ihre Stelle. Dieser Entscheid
von Tamedia ist tatsächlich allein
durch die Verluste des Titels 2017 in Höhe
von 6,3 Mio. Franken begründet.
UNI Global Union 10.6.2018
Der von Christina Colclough ver fasste
neue Bericht von UNI Global Union
fokussiert auf die Online-Talentplattformen
und die Arbeitsmarktintermediäre.
Er ist in französischer und eng lischer
Sprache erhältlich unter
http://www.thefutureworldofwork.org
Inside SDA/ATS @inside_sda 10.6.2018
Einige Beispiele: Der Personalbestand sinkt, aber neu
gibt es einen HR-Verantwortlichen, einen Generalsekretär
und einen Head Executive Sales bei der SDA.
#ENOUGH 18 13.6.2018
Reserviere Dir bereits das Datum vom 22. September
2018. An diesem Tag findet in Bern die grosse Kundgebung
für die Lohngleichheit statt! Als syndicom-Mitglied kannst
Du mit dem öV gratis anreisen.
syndicom bereitet sich auf die
neuen Herausforderungen vor 9.6.2018
syndicom-Kongress: Wie wollen wir als
Gewerkschaft die Herausforderungen der
Digitalisierung angehen?
GAV Swisscom 2018 ist
unterzeichnet! 4.6.2018
Unter anderem enthält er das Recht auf
Nichterreichbarkeit während der Freizeit,
den Anspruch auf fünf bezahlte Weiterbildungstage
pro Jahr und den Schutz
der Daten der Mitarbeitenden am
Arbeitsplatz.
Adèle Thorens @adelethorens 7.6.2018
@Le Matin wird verschwinden, die Zeitung, die im Bistrot
alle lasen. Aber wie der Bundesrat in seiner Antwort auf
meine Frage von letzter Woche schrieb, gibt es (fast)
keine Möglichkeiten, die Informationsvielfalt zu schützen.
Die Post – Lohnrechner 2018 19.6.2018
Seit der Lohnrechner der Post 2018 auf unserer Website
online ist, wurde er fast 17 000-mal benutzt.
Danke für Euer Vertrauen!
Vegane Emojis 6.6.2018
Die Digitalisierung beschleunigt
sich – 500 Stellen gefährdet
29.5.2018
Nestlé hat die Restrukturierung
ihrer Informatik und die Verlagerung
ins Technologiezentrum in Spanien
angekündigt. Rund 500 Stellen
könnten verschwinden. Gibt es in
der Schweiz kein geeignetes qualifiziertes
Personal? Oder geht es nur
ums Geld?
Bei den Emojis hat sich ein kleines Detail geändert.
Habt Ihr es schon bemerkt? Im Salat fehlt seit Anfang Juni
das gekochte Ei. Denn Google ist darum besorgt, alle Internetnutzer
zufriedenzustellen, auch Veganer.
Künstliche Intelligenz und
Fussball-WM 13.6.2018
Nicht fehlen darf natürlich eine Bemerkung
zur Fussball-WM! Goldman Sachs hat künstliche
Intelligenz – basierend auf Machine
Learning – den Ausgang der Fussball-WM
2018 berechnen lassen. Der Sieger wird –
Spoiler Alert – Brasilien heissen!