Der Burgbote 1972 (Jahrgang 52)

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133 neten, über Ihre Gelüste und Sehnsüchte, über Ihre Depressionen und Ekstasen, die sie In Ihrer Körperlichkeit erleben. Und darüber haben sie dann allmählich vergessen, wozu sie leiden und sich freuen, was sie werden wollen, wie sie werden wollen, was Ihr Ziel Ist. Gewiß wird der Mensch Immer freier, was seine Beweglichkeit In Zelt und Raum betrifft, was seine Unabhängigkeit von Sorge betrifft, die er um des reinen Fortlebens willen ständig hatte und noch hat: die Sorge um Nahrung, Wohnung — Schutz vor Hitze, Kälte, Natur katastrophen aller Art um Gesundheit, Fortbewegungsmittel usw. Wozu benutzt er aber diese ständig zunehmende Unabhängig keit? Er wird frei, wofür? Auch die Möglichkeit, daß sich bei zuneh mender Unabhängigkeit und ZIvlllslerthelt mehr als bisher Menschen aus freier Ent scheidung zusammenfinden, um Musik zu machen, ändert noch nichts an der allgemei nen Oberflächlichkeit, wenn man sich nicht über die wesentlichen Fragen Im klaren ist: Worüber singt der Mensch? Was singt der Mensch? Singt er von seiner Zukunft? Frage: Könnten Sie Ihre universellen Vor stellungen über vokale Musizierpraktiken hin sichtlich des zeitgenössischen Chorgesanges und seiner Entwicklungsmöglichkeiten auch für die Zukunft etwas präzisieren? Stockhausen: Die Vorstellung, daß es Tau sende von Chören, Insbesondere von Män nerchören In unserem Land gibt, läßt einen natürlich die Frage stellen: Glauben die Sin genden wirklich an das, was sie singen? Leben sie das, was sie singen? Wollen sie sich nur die Zelt vertreiben — zwischen Bier und Zigarette - mit etwas Singen, oder wollen sie wirklich singen, um diese Welt geistiger, um sie göttlicher zu machen? Ich stelle also die ganze Zelt schon die in direkte Frage nach der Zukunft des Chorslngens In den zivilisierten Ländern, wo der Nihilismus und eine nur noch schwache, kaum mehr wirklich gelebte kirchliche Religiösität das kulturelle Klima bestimmen. Es Ist höchste Zelt, daß Musik ein neues, überreligiöses Be wußtsein von der Einheit der Menschen familie, von der Bedeutung dieses Planeten Im ganzen Universum In den Menschen weckt. Die meisten Werke, die Ich selbst bisher realisiert habe, sind auch für Singstimmen — mehr für Chöre, als für Solisten — kompo niert; angefangen von den ersten Chören, die Ich noch als Student schrieb und die auch Laienchöre singen könnten. Das meiste aber Ist zu schwer für Laienchöre. Es muß von Berufschören gesungen werden. Und die sind ziemlich selten zu finden. Aber es gibt auch wunderbare Beispiele aus den letzten Jahren: Die „Stimmung" für 6 Vokallsten habe Ich für Studenten komponiert, die 6 Monate lang in den Abendstunden das Werk einstudiert haben, und die heute durch über 120 Aufführungen und die Schallplatte In der ganzen Welt als das Colleglum Vocale Köln berühmt geworden sind, das soeben für dieses Werk den Internationale Grammy-Prels (Hollywood) <strong>1972</strong> „für die beste Chor-Auf führung" bekam. Wir sind In einer Zelt unbeschreiblicher Er neuerungen, die erst In größerem Abstand ganz verstanden werden können. Ein neues Weltzeltalter hat um 1950 begonnen. In allen Lebensbereichen spürt man das. Für die menschliche Gesellschaft - vor allem In un serem Land — sehe ich eine sehr positive, geistige Zukunft für die Musik. Die Musik wird eine Funktion für das ganze Leben ha ben, wie nie zuvor. Das kann aber erst deutlich werden, wenn man sich allgemein dessen bewußter wird, daß der Mensch so wird, wie die Musik Ist, die er singt. Wenn man Immer mehr begreift, daß die Töne eine geistige Nahrung sind, die alle andere geistige Nahrung an Tiefenwir kung übertrifft, weil sie den Menschen bis In seine Atome hin elektrisch mit den Schwin gungsformen der Musik moduliert. Deshalb wird auch In meiner persönlichen Arbelt die Vokalmusik Immer wesentlicher, und Ich wer de mich mit strenger Disziplin daran geben, unnötige Kompliziertheit zu überwinden und Musik zu komponieren — und bei meinen Kompositionsschülern anzuregen -, die auch Laienchöre singen können. Frage: Sie haben durch Ihr kompositorisches Schaffen vielfach auch völlig neue Aspekte von Aufführungsmöglichkeiten und Arten ge schaffen. Sehen Sie hier auch für das Chor wesen in Gegenwart und mehr noch für die Zukunft Besonderheiten? Stockhausen: Das Ritual einer Chorauffüh rung, die Texte, die Haltung der Singenden, die Zusammensetzung der Choristen — man möge endlich die Gleichberechtigung der Frau durch die Gründung von mehr gemischten Chören beweisen und die merkwürdige Iso liertheit der „Männerchöre" überwinden -:
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