Rundbrief der Emmausgemeinschaft - Ausgabe 01|19
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8 | Thema<br />
Der Erste bewusste Europäer<br />
Erasmus von Rotterdam<br />
Es wird uns weit ums Herz und frei um den Kopf, wenn wir uns in die Nähe des<br />
Desi<strong>der</strong>ius Erasmus von Rotterdam (um 1468–1536) begeben. Der uneheliche Sohn<br />
eines Priesters war <strong>der</strong> bedeutendste Humanist nördlich <strong>der</strong> Alpen und <strong>der</strong> erste<br />
„bewusste Europäer“.<br />
von Hubert Gaisbauer<br />
Als Bundespräsident Van <strong>der</strong> Bellen<br />
im November die Nie<strong>der</strong>lande<br />
besuchte, sagte er einen Satz, <strong>der</strong><br />
wörtlich von Erasmus sein könnte: Europa<br />
ist ein Kontinent des UND – und nicht des<br />
Entwe<strong>der</strong>/O<strong>der</strong>. Liebe zur Heimat und zur<br />
eigenen Gruppe dürfe nicht umschlagen<br />
in Hass und Aggression gegen an<strong>der</strong>e.<br />
Der Humanist und Theologe Erasmus von<br />
Rotterdam war mit seinem „Lob <strong>der</strong> Torheit“<br />
vor 500 Jahren ein Bestsellerautor.<br />
Heute liest man seine scharfzüngige Ironie<br />
mit ebenso großem Vergnügen wie<br />
damals in <strong>der</strong> muffigen Zeit <strong>der</strong> klerikalen<br />
Enge und des spießigen Bürgerdünkels.<br />
Erasmus schrieb 150 Bücher. Gelehrte,<br />
Könige und Kardinäle suchten seine<br />
Freundschaft. Erasmus schrieb in Latein.<br />
Er sah in <strong>der</strong> lateinischen Sprache eine<br />
über das Nationale hinauswirkende Gemeinsamkeit.<br />
Jede nationale und kleinstaatliche<br />
Abgrenzung war ihm fremd.<br />
Erasmus, <strong>der</strong> Zeitgenosse Martin Luthers,<br />
brachte es nie zu kirchlichen Ehren. Man<br />
hatte dem geweihten Priester sogar einen<br />
Bischofsstuhl angeboten, allerdings<br />
unter <strong>der</strong> Bedingung, dass er, <strong>der</strong> große<br />
Erasmus, gegen Luther schriebe. Er lehnte<br />
ab.<br />
Erasmus war sowohl die laszive Machtentfaltung<br />
<strong>der</strong> Päpste Roms als auch die unerbittlich<br />
strenge Lehre Luthers unerträglich.<br />
Erasmus lehnte jede Parteinahme ab,<br />
er verstand sich als Mensch <strong>der</strong> Mitte und<br />
<strong>der</strong> Vermittlung. Er riet dem Papst zum<br />
Einlenken im Reformationsstreit, wollte –<br />
wie viele Intellektuelle – eine Reform <strong>der</strong><br />
Kirche, aber nie eine Spaltung.<br />
Erasmus steht für die humanistische<br />
Grundüberzeugung von <strong>der</strong> Würde des<br />
Menschen. Der freie Wille, verbunden mit<br />
Gottes Gnade, das Vertrauen auf Vernunft<br />
und Ethos, das war seine Losung und eine<br />
Neubelebung eines Geistes urchristlichen<br />
Foto: Sergey Goryachev/shutterstock.com