BLICKWECHSEL 2019
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Ausgabe 7 mit dem Schwerpunktthema »Grenzenlos regional. Landschaft und Identität im östlichen Europa«
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Ausgabe 7 mit dem Schwerpunktthema »Grenzenlos regional. Landschaft und Identität im östlichen Europa«
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18 MENSCHEN <strong>BLICKWECHSEL</strong><br />
VOM HILFSLEHRER ZUM SCHACHMEISTER<br />
Adolf Anderssen im deutschen und polnischen Schachzentrum Breslau/Wrocław<br />
Das Breslauer Adressbuch von 1852 verzeichnet<br />
Adolf Anderssen, den späteren<br />
Sieger des ersten großen Schachturniers<br />
der Neuzeit, als Bewohner des<br />
Hauses »Zum grünen Kürbis«. 1868<br />
meldet das Adressbuch eine weitere<br />
Wohnung Anderssens in der östlichen<br />
Altstadt, die er wahrscheinlich zur Aufbesserung<br />
seines Beamtengehalts vermietete.<br />
Denn zu dieser Zeit und bis an<br />
sein Lebensende wohnte Anderssen<br />
im Lehrerhaus des Friedrichs-Gymnasiums.<br />
Die nach Friedrich II. benannte<br />
Lehranstalt diente vornehmlich der<br />
Ausbildung von Offizieren, Kaufleuten,<br />
Ökonomen und Künstlern; Anderssen<br />
wurde zunächst als Hilfslehrer angestellt.<br />
Schule und Lehrerhaus sind<br />
erhalten, einstige Treppenaufgänge<br />
und -geländer noch zu sehen.<br />
Der Aufschwung, den die Breslauer<br />
Schachkultur in Anderssens Jugend<br />
nahm, verlief parallel zum Aufstieg<br />
Breslaus zur zweitgrößten Stadt des<br />
Königreichs Preußen. Die Verbreitung<br />
des Spiels in der bürgerlichen<br />
Gesellschaft war jedoch von geeigneten<br />
Lokalitäten und Institutionen<br />
abhängig. Vor der Gründung des nach<br />
Anderssen benannten Schachklubs<br />
im Jahr 1877 blieben die Spieler auf<br />
die Gastwirtschaften der Breslauer<br />
Altstadt angewiesen. In der von ihm<br />
mitherausgegebenen Schachzeitung<br />
nennt Anderssen 1847 den zeitweilig<br />
einzigen Schachspielort:<br />
»Herr Häusler, Besitzer eines für Breslau<br />
bedeutenden Caffeehauses, eröffnete im<br />
Anfang unseres Decenniums den damals<br />
gänzlich heimatlosen Jüngern Philidors<br />
[Anspielung auf den Schachstrategen François-André<br />
Danican Philidor, Anm. d. Red.]<br />
ein Asyl in seinen gastlichen Räumen und<br />
liess es an keiner Art von Aufmerksamkeit<br />
fehlen, um dieselben zu regelmäßiger und<br />
möglichst zahlreicher Zusammenkunft zu<br />
bewegen.«<br />
Der Erfahrungsbericht seines Schülers<br />
Fritz Riemann zählt schon mehrere<br />
Lokalitäten auf, etwa die Gastwirtschaft<br />
Völkel am Mauritiusplatz, die<br />
»Alte Mamsell« in der Taschenstraße<br />
(heute ul. ks. Piotra Skargi), mehrere<br />
Kaffeehäuser sowie die Konditoreien<br />
Rudelius, Dittmann, Brunies, Fritsch<br />
und Orlandi & Steiner. Von Bedeutung<br />
waren im Sommer auch der Zwinger<br />
am Stadtgraben und im Winter die Alte<br />
Börse am Salzmarkt (heute Plac Solny).<br />
Auffällig ist die Bevorzugung von Konditoreien<br />
gegenüber Cafés. Dies scheint<br />
eine Besonderheit der Breslauer Szene<br />
gewesen zu sein. Eine Erklärung liefert<br />
womöglich der polnische Schriftsteller<br />
Adam Gorczyński im Journal der Pariser<br />
Moden 1847: »In dieser Hauptstadt des<br />
Kaffees gibt es keine normalen Cafés.<br />
Stattdessen gibt es Konditoreien, vielleicht<br />
weil Cafés laute Orte sind und die<br />
Bürger dieser Stadt ruhigere Unterhaltung<br />
bevorzugen.«<br />
Von den Spielern in Breslau näherte<br />
sich zunächst Daniel Harrwitz dem<br />
Niveau Anderssens an; er erwarb durch<br />
sein Blindspiel Ruhm in Paris und London.<br />
Später erlangten auch Dr. Eliasson,<br />
Jacques Mieses und Jacob Rosanes<br />
überregionale Geltung. Doch nach den<br />
Ereignissen des Vormärz verließen die<br />
meisten international renommierten<br />
Schachmeister, die aus Breslau stammten<br />
oder dort in einer wichtigen Phase<br />
ihrer Entwicklung gelebt hatten, die<br />
Stadt – so Johannes Hermann Zukertort,<br />
Anderssens Schüler Fritz Riemann<br />
und Samuel Mieses, später auch Siegbert<br />
Tarrasch.<br />
Anderssens Sieg im Londoner Turnier,<br />
das im Rahmen der Weltausstellung<br />
1851 stattfand, wurde zum Motor<br />
seines beruflichen Aufstiegs. Dass das<br />
anstaltsleitende Hochehrwürdige Presbyterium<br />
des Friedrichs-Gymnasiums<br />
ihn kurz darauf zum Nachfolger eines<br />
verstorbenen Oberlehrers wählte, war<br />
ungewöhnlich und sicherlich seiner<br />
jähen Berühmtheit als Schachmeister<br />
geschuldet. Der Schacherfolg führte<br />
gleichzeitig zur Wahl Anderssens zum<br />
Präsidenten des Breslauer Schachklubs,<br />
später zum Aufstieg in jenes Zehntel<br />
der Einwohner Breslaus, das um die<br />
Adolf Anderssen (* 1818 in Breslau, † 1879 ebenda) bei einer Schachpartie 1863 in Breslau,<br />
Foto: Wikimedia Commons