BLICKWECHSEL 2019
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Ausgabe 7 mit dem Schwerpunktthema »Grenzenlos regional. Landschaft und Identität im östlichen Europa«
Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Ausgabe 7 mit dem Schwerpunktthema »Grenzenlos regional. Landschaft und Identität im östlichen Europa«
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EINE VON DIESEN KLEINEN WÖLFEN<br />
Am Marktplatz des Städtchens neben einem Laden. Ein<br />
gedeckter Lkw mit Waren kommt an.<br />
Die drei Jungen und Renate warten auf den passenden<br />
Moment.<br />
Der Lastwagen fährt am Laden vorbei, hupt und biegt in<br />
den Hinterhof ein, wo sich der Lieferanteneingang befindet.<br />
Die Verkäuferin Stasė und der Lkw-Fahrer. Die Verkäuferin<br />
unterschreibt die Lieferscheine, beide tragen je eine Palette<br />
mit nicht gerade gut aussehendem Kastenschwarzbrot aus<br />
dem Lkw.<br />
Das Brot ist jetzt überhaupt stets nur halb durchgebacken,<br />
seufzt die Verkäuferin Stasė.<br />
Die Verkäuferin und der Fahrer verschwinden im Warenlager<br />
des Ladens.<br />
Hinter einer Ecke des Gebäudes hervor verfolgen Kinder<br />
alles mit.<br />
Los … jetzt … ruft Rudolf.<br />
Renate zögert einen Augenblick, läuft dann aber doch mit<br />
den anderen zum Fahrzeug. Mit einem Satz sind sie beim<br />
Brot und packen, was immer sie in die Hände bekommen.<br />
Aus dem Laden erscheint laut rufend der Fahrer. Er schnallt<br />
im Gehen den Gürtel auf.<br />
Ich werde euch schon, ihr verfluchten Diebe … soll euch<br />
der Henker … ruft der Fahrer wütend.<br />
Die Kinder stieben, so schnell sie können, nach allen Seiten<br />
davon. Renate bleibt als Letzte zurück, offenbar ist sie<br />
durcheinander, drückt das Brötchen, das sie zu erhaschen<br />
vermochte, an die Brust, das Bein gleitet aus, sie fällt der<br />
Länge nach auf den Bauch.<br />
Der Fahrer packt das Mädchen wie einen kleinen Hund<br />
am Kragen und schüttelt es wütend, dann holt er aus und<br />
verdrischt es mit dem Gürtel. Renate schreit und verspürt<br />
Angst, Scham und Schmerz zur selben Zeit.<br />
Das Gesicht des Fahrers ist ganz rot vor Wut, er drischt und<br />
drischt auf das Mädchen ein, wo immer der Gürtel gerade<br />
trifft.<br />
Aus dem Warenlager kommt die Verkäuferin angelaufen,<br />
sie packt den Fahrer am Arm.<br />
Hör auf, Schluss jetzt, um Gottes willen …<br />
Diebin, verfluchte Diebin …<br />
Sie ist noch ein Kind … Lass sie los, schlag sie nicht, lass<br />
sie los …<br />
Wie die Läuse, die sind jetzt überall, wie die Läuse …<br />
Renate fällt zu Boden, das Brötchen gleitet ihr aus der<br />
Hand. Renate liegt auf dem Rücken und blickt die in einer<br />
unbekannten Sprache redende Frau aus von Wut und Angst<br />
erfüllten Augen an.<br />
Renate arbeitet sich auf dem Rücken vorwärts, es tut<br />
ihr weh, sie bemerkt das heruntergefallene Brötchen und<br />
ergreift es gierig, entschlossen, es sich von niemandem<br />
wegnehmen zu lassen.<br />
Man muss ihnen das Fell gerben, solange sie noch jung<br />
sind, danach ist es zu spät … Sieh nur, mit was für Augen<br />
sie uns anschaut, siehst du es?<br />
Die Verkäuferin Stasė fragt Renate, woher bist du, wer ist<br />
deine Mutter? Hab keine Angst vor mir, warum stiehlst du?<br />
Man darf nicht stehlen, man darf nicht stehlen …<br />
Der Fahrer trägt eine Palette mit Waren, sie ist doch eine<br />
Deutsche … eine Deutsche, eine von diesen kleinen Wölfen,<br />
jetzt sind die Waldränder voll von denen, wie von Läusen,<br />
sie stehlen alles, alles … betteln …<br />
Stasė fragt auf Deutsch, bist du Deutsche? Verstehst du<br />
mich?<br />
Renate nickt.<br />
Hab keine Angst, hab keine Angst vor mir, renn nur nicht<br />
davon, man darf nicht stehlen, das darf man nicht … Hast<br />
du Hunger?<br />
Renate nickt.<br />
Der Fahrer sieht sie an, lacht, als wollte er sagen: Was soll<br />
man mit diesen Weibern, spuckt drauf, steigt ein, ruft noch,<br />
der Lieferschein ist auf der Kiste …<br />
Alvydas Šlepikas<br />
Aus: Mein Name ist Marytė. Roman. Aus dem Litauischen<br />
von Markus Roduner. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2015,<br />
S. 142–144. Wir danken dem Mitteldeutschen Verlag für die<br />
Abdruckgenehmigung.<br />
Alvydas Šlepikas wurde 1966 in Videniškės (Litauen) geboren und lebt in Vilnius. Er inszenierte Theaterstücke,<br />
schrieb Drehbücher und ist Mitarbeiter der bedeutenden Wochenzeitung Literatūra ir menas (»Literatur und<br />
Kunst«). Sein Roman Mano vardas – Marytė (dt. Mein Name ist Marytė, 2015) über die sogenannten Wolfskinder<br />
aus Ostpreußen wurde 2013 vom litauischen Schriftstellerverband als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet. 2018<br />
erhielt er gemeinsam mit seinem Übersetzer Markus Roduner den Förderpreis des Georg Dehio-Buchpreises.<br />
Markus Roduner wurde 1967 in Rheinfelden/Aargau geboren. Er übersetzt litauische und lettische Literatur<br />
ins Deutsche, unter anderem den Roman Der Wald der Götter von Balys Sruoga, wofür er 2009 mit dem Hieronymus-Preis<br />
für Übersetzungen litauischer Literatur ausgezeichnet wurde. Er lebt und arbeitet als Lektor und<br />
freier Übersetzer in Vilnius.