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BLICKWECHSEL 2019

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Ausgabe 7 mit dem Schwerpunktthema »Grenzenlos regional. Landschaft und Identität im östlichen Europa«

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ROSA TAHEDL UND DER TROST DES WALDES<br />

Die Natur als Gleichnis und Sinnfindung im Werk der Autorin aus dem Böhmerwald<br />

regio nal<br />

grenzenlos<br />

»Waldwoge steht hinter Waldwoge,<br />

bis eine die letzte ist und den Himmel<br />

schneidet«, schrieb Adalbert Stifter<br />

einst über seine Heimat. Der Böhmerwald<br />

hat eine eigene Literatur hervorgebracht,<br />

zu deren Vertretern neben<br />

Autoren wie Josef Rank (1816–1896),<br />

Karl Franz Leppa (1893–1986) oder<br />

Leo Hans Mally (1901–1987) auch eine<br />

»jüngere« Schriftstellerin gehört: Rosa<br />

Tahedl. Sie hat nicht nur auf herausragende<br />

Weise die Landschaft dargestellt,<br />

sondern widerlegt mit ihrem Werk auch<br />

die häufig geäußerte Ansicht, mit 1945,<br />

dem Jahr der Vertreibung der deutschen<br />

Bevölkerung des Böhmerwalds,<br />

sei auch die deutsche Böhmerwaldliteratur<br />

an ihr Ende gekommen.<br />

Rosa Tahedl kam am 10. August 1917 in<br />

Guthausen/Dobrá na Šumavě im Bezirk<br />

Prachatitz/Prachatice auf die Welt und<br />

durchlebte die nationalen Spannungen,<br />

politischen Versuchungen und bitteren<br />

Konsequenzen der wechselhaften<br />

Zeit, in die sie geboren war. Nach<br />

ihrer Lehramtsprüfung 1936 konnte<br />

sie ihren Beruf erst ausüben, nachdem<br />

die Grenzgebiete der Tschechoslowakei<br />

aufgrund des Münchner Abkommens<br />

dem Deutschen Reich angeschlossen<br />

wurden. Als mit dem Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs die deutschen Böhmerwäldler<br />

ihre Bürgerrechte verloren und bis<br />

auf wenige Ausnahmen unter Zurücklassen<br />

ihrer Habe das Land verlassen<br />

mussten, blieb Rosa Tahedl davon ausgenommen.<br />

Jedoch durfte sie ihrem<br />

erlernten Beruf nicht nachgehen und<br />

musste als Holzfällerin und Waldarbeiterin<br />

18 Jahre lang schwere körperliche<br />

Arbeit leisten. Im Zuge der Liberalisierung<br />

des politischen Systems erreichte<br />

sie 1964 ihre Ausreise nach Deutschland,<br />

wo sie im bayerischen Runding<br />

bis 1980 als Lehrerin wirkte. Im Ruhestand<br />

begann sie zu schreiben und veröffentlichte<br />

ihr autobiografisch geprägtes<br />

Werk ab Ende des 20. Jahrhunderts.<br />

Sie starb am 14. Juni 2006.<br />

Neben Kurzerzählungen, die in den<br />

Publikationsorganen der vertriebenen<br />

Böhmerwäldler wie Böhmerwäldler Heimatbrief<br />

oder Hoam! erschienen, verfasste<br />

sie sieben Bücher. Während ihr<br />

Erstling Sternreischtn (1987) als Dorfchronik<br />

die Entstehung des Dorfes<br />

Guthausen und die Lebensweise seiner<br />

Bewohner bis 1945 schildert, hat Die<br />

Mali (2003), ein Denkmal für ihre Großmutter,<br />

ein von harter Arbeit geprägtes<br />

Frauenleben zum Inhalt. Abenteuer<br />

unter dem Roten Stern (1990 bzw. 2017<br />

als Die Holzfällerin im Schatten des<br />

Roten Sterns) vermittelt ihre persönlichen<br />

Erfahrungen nach dem Krieg als<br />

deutscher »Underdog«. Schilderungen<br />

von Unterdrückung der Meinungsfreiheit,<br />

Denunziationen, landwirtschaftlicher<br />

Kollektivierung, Niedergang des<br />

Ökosystems, Warenmangel aufgrund<br />

der Planwirtschaft, Errichtung von<br />

Grenzanlagen und Todesstreifen, mitunter<br />

tödlich endenden Fluchtversuchen<br />

oder Sprengung ganzer Dörfer im<br />

Grenzgebiet fügen sich dabei zu einem<br />

Lehrstück über die tschechoslowakische<br />

Realität nach dem kommunistischen<br />

Umsturz im Februar 1948.<br />

Trost, Katharsis und Aussöhnung mit<br />

ihrem Schicksal werden ihr schließlich<br />

durch die Arbeit im Wald zuteil. Die<br />

Beobachtung der lebendigen Natur<br />

gerät in ihren Werken poetisch gestaltet<br />

zu Gleichnissen des menschlichen<br />

Lebens.<br />

Historische Informationen und ethnografisches<br />

Sachwissen über den Alltag<br />

der Waldbewohner hat Rosa Tahedl<br />

ebenfalls für die Nachwelt erhalten. Das<br />

wissen auch die heutigen tschechischen<br />

Bewohner der Region zu schätzen,<br />

wie etwa Jan Mareš in seiner Studie<br />

Co je to šumavská literatura? [»Was ist<br />

Böhmerwaldliteratur?«] auf der illustren<br />

Internetseite Kohoutí kříž /'s Hohnakreiz<br />

bekennt.<br />

Anna Knechtel<br />

Anna Knechtel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

beim Adalbert Stifter Verein in München<br />

( S. 56–58).<br />

Rosa Tahedl als Holzfällerin, zwischen<br />

1961 und 1963, © Hans Schmeller<br />

Bild im Hintergrund: Böhmerwald bei<br />

Glöckelberg/Zvonková, © Vera Schneider<br />

Anlässlich des 100. Geburtstags von Rosa<br />

Tahedl im Jahr 2017 erstellten das Wiener Böhmerwaldmuseum<br />

und der Böhmerwaldbund<br />

Wien die zweisprachige Ausstellung Rosa<br />

Tahedl 1917–2006. Die Ausstellung kann entliehen<br />

werden und war bereits in Österreich,<br />

Deutschland und der Tschechischen Republik<br />

zu sehen.<br />

& Ein ausführlicher Beitrag von Anna Knechtel<br />

über Rosa Tahedl erscheint auf Tschechisch<br />

in der Revue Šumava v proměnách<br />

času (»Der Böhmerwald im Wandel der Zeit«),<br />

Heft Nr. III/<strong>2019</strong>, herausgegeben in Oberplan/<br />

Horní Planá.<br />

: Unter www.kohoutikriz.org finden sich<br />

Texte von Rosa Tahedl in Mundart mit tschechischer<br />

Übersetzung.

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