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BLICKWECHSEL 2019

Journal für deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa. Ausgabe 7 mit dem Schwerpunktthema »Grenzenlos regional. Landschaft und Identität im östlichen Europa«

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Ausgabe 7 • <strong>2019</strong><br />

<strong>BLICKWECHSEL</strong><br />

WERKE<br />

37<br />

regio nal<br />

grenzenlos<br />

ENTDECKERLUST IM STUDIERZIMMER<br />

Das bürgerliche Bild der Region Siebenbürgen zwischen Mythos, Ideal und Wirklichkeit<br />

Mit der Herausbildung einer breiten bürgerlichen Mittelschicht<br />

begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

der Tourismus im heutigen Sinne. Dieser war einerseits getragen<br />

vom Interesse an zeitlich wie räumlich fernen Kulturen.<br />

Andererseits entstanden durch die zunehmende Verstädterung<br />

ein Bewusstsein für die Natur und eine teils verklärende<br />

Sehnsucht nach ihr. Sie fanden im beginnenden Naturtourismus<br />

und in den Anfängen des Naturschutzes ihren Widerhall.<br />

Diese Phänomene sind auch am Beispiel Siebenbürgens<br />

zu beobachten und führten unter anderem zur Gründung<br />

des Siebenbürgischen Karpatenvereins (SKV) im Jahr 1880.<br />

Jene, die nicht reisen konnten, stillten ihren Hunger nach<br />

»exotischen« Ländern durch den Besuch folkloristischer<br />

Inszenierungen bei Weltausstellungen<br />

oder sogenannten Völkerschauen sowie<br />

durch das Lesen von Reiseberichten und<br />

-romanen. Hierdurch wurde auch die<br />

als so urwüchsig und fern angesehene<br />

Region Siebenbürgen, in diesem Kontext<br />

oft unter dem Synonym Transsilvanien,<br />

vom Stadtbürgertum Mittel- und Westeuropas<br />

entdeckt – als Forschungsfeld,<br />

mehr jedoch noch als Projektionsfläche<br />

spätromantischer und teils exotistischer<br />

Ideen.<br />

Das berühmteste und bis heute einflussreichste<br />

literarische Beispiel ist der<br />

1897 erschienene Roman Dracula des Iren<br />

Bram Stoker (1847–1912), der, wie die meisten<br />

seiner Leser, nie selbst in Siebenbürgen<br />

war. Eine der Quellen Stokers war der 1888 in Edinburgh<br />

erschienene Reisebericht The Land Beyond the Forest.<br />

Facts, Figures, and Fancies from Transylvania von Emily Gerard<br />

(1849–1905). Die Schriftstellerin hatte dazu zwischen 1883<br />

und 1885 in dem für sie so exotischen Land allerlei Anekdoten<br />

und Mythen gesammelt, die das Blut ihres puritanischen<br />

Publikums im fernen Großbritannien in Wallung versetzen<br />

sollten. Mit der Wahrheit nahm sie es dabei allerdings nicht<br />

allzu genau. Siebenbürgen war für sie »eine [Robinson-]Insel<br />

bevölkert mit seltsamen und ungewöhnlichen Zeitgenossen,<br />

von denen ich [Emily Gerard] mit einer Mischung aus<br />

Bedauern und Erleichterung Abschied nehme«. Die wirklichen<br />

Fakten zur Region entnahm Stoker wahrscheinlich, wie<br />

viele andere auch, zu einem Großteil Karl Baedekers damals<br />

bereits in 24. Auflage erschienenem Handbuch für Reisende.<br />

Österreich-Ungarn.<br />

Während Gerards Fiktionen Unterhaltung für die britische<br />

Upperclass boten und »der Baedeker« Basisinformationen<br />

für die ersten Touristen lieferte, nahm in dieser Zeit noch<br />

eine dritte Gattung der Reiseliteratur ihren Aufschwung<br />

– der Bildband. Diese Bücher, eine Mischung aus genauer<br />

Schilderung und künstlerischem Ausdruck, dienten meist<br />

nicht als Reiselektüre, sondern eher dem Augenschmaus<br />

und eben jener »Entdeckerlust« im heimischen Wohn- oder<br />

Studierzimmer.<br />

Ein besonders schönes und umfangreiches Coffee Table<br />

Book aus dieser Zeit ist das 1857 bis 1864 vom Darmstädter<br />

Verlag G. G. Lange herausgegebene mehrbändige Werk<br />

Ungarn und Siebenbürgen in malerischen Original-Ansichten.<br />

Zur Vervielfältigung in hoher Auflage wurden<br />

dessen 204 Abbildungen, darunter 56<br />

Ansichten aus Siebenbürgen, in der Drucktechnik<br />

des Stahlstichs reproduziert. Die<br />

Vorlagen hierzu lieferte der in Nürnberg<br />

und München tätige Grafiker und Landschaftsmaler<br />

Ludwig Rohbock (1824–1893).<br />

Seine Motive, die er in Zeichnungen festhielt,<br />

fand er vor Ort auf Reisen durch Siebenbürgen.<br />

Ergänzt wurde der Bildband<br />

durch »historisch-topographische« Texte<br />

des aus der Zips stammenden Geografen<br />

Johann Hunfalvy (1820–1888). Der ergänzende<br />

Text zeigt, dass die Publikation um<br />

wissenschaftliche Korrektheit bemüht war.<br />

Jedoch findet sich in den Grafiken auch<br />

der künstlerische Zeitgeschmack wieder.<br />

So umrahmt Rohbock etwa die Ansicht von<br />

Michelsberg/Cisnădioara mit einer romantisch zerklüfteten<br />

Felsenlandschaft und fügt ein Reh als Staffage ein. Den Blick<br />

auf die Festung Fogarasch/Făgăraș begrenzt er durch knorrige<br />

Bäume und einen Stallknecht mit Pferden.<br />

Trotz dieser künstlerischen Freiheiten hat Ungarn und<br />

Siebenbürgen in malerischen Original-Ansichten dem städtischen<br />

Bildungsbürgertum jener Zeit ein wirklichkeitsnahes<br />

Bild der Region vermittelt. Es bildete damit schon damals<br />

einen Gegenpol zum »Mythos Transsilvanien«, der jedoch<br />

bis heute nicht totzukriegen ist – genau wie Graf Dracula,<br />

sein wichtigster Protagonist.<br />

Markus Lörz<br />

Dr. Markus Lörz ist Kurator des Siebenbürgischen Museums in Gundelsheim<br />

( S. 56–58).

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