ERZFREUNDE – Das Sachsen-Sonderheft zum Welterbe Erzgebirge
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<strong>ERZFREUNDE</strong><br />
WIR SIND<br />
WELTERBE !<br />
DICHTER<br />
Eine Hommage<br />
an Carlfriedrich<br />
Claus<br />
DENKER<br />
Mit Humboldt<br />
unter Tage<br />
MIME<br />
Thomas Arnold<br />
in Freiberg
BOMFORZIONÖS = SÄCHSISCH FÜR „GROSSARTIG“,<br />
VOM FRANZÖSISCHEN BONNE FORCE („HERVORRAGEND“)<br />
Groß, größer, bomforzionös. So kann man die 40-tägige Hochzeitsparty beschreiben, die Kurfürst August der Starke<br />
vor 300 Jahren für seinen Sohn Friedrich August II. und seine Gemahlin Maria Josepha von Österreich schmiss. <strong>Sachsen</strong><br />
öffnete sich Europa und blühte auf. Der Kontinent erlebte eines der prunkvollsten Feste der Epoche mit Opern,<br />
Festumzügen, Maskeraden und Planetenfesten. Bauwerke wie der Dresdner Zwinger und das Schloss Hubertusburg<br />
entstanden <strong>–</strong> Orte, an denen die Traumhochzeit des Jahrhunderts 2019 erneut gefeiert wird. Feiern Sie mit!<br />
www.so-geht-sächsisch.de/1719<br />
sogehtsaechsisch @sogehtsaechsi @simplysaxony sogehtsaechsisch
3<br />
EDITORIAL<br />
Titel: Christoph Busse. Illustration: Anja Stiehler-Patschan/Jutta Fricke Illustrators<br />
Glück auf!<br />
Grüßen lässt es sich auf vielerlei<br />
Weise. Was dem einen ein rechtgläubiges<br />
„Grüß Gott!“, das ist dem anderen<br />
ein eher lasches „Moinsen!“; es gibt<br />
„Hallöchen!“, „High Five!“, „Pfiat di!“,<br />
sogar das kräftige „Ave!“ der Lateiner.<br />
Doch was sind all diese flotten Sprüche<br />
gegen jenen altehrwürdigen Gruß, der<br />
<strong>zum</strong> ersten Mal im 16. Jahrhundert<br />
unter Bergleuten des <strong>Erzgebirge</strong>s erklungen<br />
ist: „Glück auf!“ Eine rundheraus<br />
positive Wortkombi, die wie ein<br />
Pfeil nach oben schießt. Dabei sollte der<br />
Gruß zunächst gar nichts anderes bedeuten,<br />
als dass ein Bergmann dem je<br />
anderen das Beste wünschte. Oder in<br />
der Langversion der alten Formel:<br />
„Bergmann! Ich wünsche dir Glück, der<br />
Gang tue sich dir auf und du mögest<br />
auf reiche Erze stoßen!“ Reichtum für<br />
alle <strong>–</strong> da dauerte es natürlich nicht<br />
lange, und das zupackende „Glück auf!“<br />
entwickelte sich <strong>zum</strong> idealen Lückenfüller<br />
für jede Lebenslage. Heute gibt es<br />
daher „Glück auf!“ beim Bäcker, „Glück<br />
auf!“ im Supermarkt, sogar von Glückauf-Plätzen<br />
und -Straßen hat man schon<br />
gehört.<br />
Der <strong>Erzgebirge</strong>r gönnt sich halt was.<br />
Und so steht sein gut gemeinter Gruß<br />
heute fast ein wenig quer <strong>zum</strong> Zeitgeist.<br />
Denn mal ehrlich: wer in der Neidgesellschaft<br />
würde seinem Nachbarn noch<br />
eine Ader prall gefüllten Silbers wünschen?<br />
Eher hält man es doch mit Martin<br />
Luther. Der soll einst, nachdem ihm<br />
zwei Brüder aus Sankt Joachimsthal von<br />
ihrer drückenden Schuldenlast erzählten,<br />
das Hohelied der Armut gesungen<br />
haben: „Ihr lieben Bergleute / euer<br />
Ralf Hanselle,<br />
Kulturjournalist und<br />
Redakteur der <strong>ERZFREUNDE</strong><br />
Glück / das jhr jimmer ausschreit /<br />
blühet am besten, wenn jhr am ärmsten<br />
seys …“<br />
Geiz und Missgunst also, wo immer<br />
man hinschaut; und das schon 1542.<br />
Nur gut, dass sich die <strong>Erzgebirge</strong>r an<br />
den gut gemeinten Rat des Reformators<br />
nicht gehalten haben. Denn <strong>zum</strong>indest<br />
kulturhistorisch ist das <strong>Erzgebirge</strong> nach<br />
wie vor ein wohlhabender Landstrich.<br />
Und weil seine Bewohner darum<br />
wissen, haben sie 20 Jahre lang darum<br />
gekämpft, dass insgesamt 22 Bestandteile<br />
der Montanregion <strong>Erzgebirge</strong>/<br />
Krušnohoří <strong>–</strong> davon 17 auf deutscher<br />
und fünf auf tschechischer<br />
Seite <strong>–</strong> in die <strong>Welterbe</strong>liste<br />
der UNESCO aufgenommen<br />
werden. Am 6. Juli um<br />
14.40 Uhr Erzgebirgszeit<br />
war es dann endlich so weit:<br />
Im aserbaidschanischen<br />
Baku erkannte das <strong>Welterbe</strong>komitee<br />
den einmaligen<br />
Abbaugebieten des sächsischböhmischen<br />
Erzbergbaus<br />
den <strong>Welterbe</strong>titel zu.<br />
Wieder einmal also hat sich das<br />
Glück aufgetan; vielleicht weil schon<br />
der sächsische Dichter Theodor Körner<br />
vor über 200 Jahren erkannte, dass<br />
sich hinter dem alten Bergmannsgruß<br />
nicht weniger als des Bergs „uralt Zauberwort“<br />
verbergen würde. Man könnte<br />
Körners Gedanken im Nachhinein natürlich<br />
für romantische Versponnenheit<br />
halten; doch wer sich intensiver mit<br />
dem <strong>Erzgebirge</strong> befasst, der wird erkennen,<br />
dass Romantik und Zauber in<br />
dieser abgelegenen Weltengegend seit<br />
jeher einen festen Platz haben. Wenn<br />
wir mit diesem Magazin also Geschichte<br />
und Gegenwart des <strong>Erzgebirge</strong>s vorstellen,<br />
dann kommen wir an den alten<br />
Mythen (S. 38) ebenso wenig vorbei wie<br />
an der Romantik (S. 20). Darüber hinaus<br />
aber wird es auch ganz Gegenwärtiges<br />
geben: eine Reportage über die Festspiele<br />
Greifen steine (S. 30) oder über<br />
ein Schneeberger Festival für junges<br />
Design (S. 45). Vielleicht wird sich bei<br />
der Lektüre noch keine Erzader auftun,<br />
aber ein Stück Bergmannsglück, das<br />
wünschen wir Ihnen! •<br />
Covermotiv:<br />
<strong>Das</strong> <strong>Erzgebirge</strong> ist Natur,<br />
Weite und ein guter<br />
Schuss Ironie. Ganz so<br />
zeigt es auch unser<br />
Coverfoto, für das sich der<br />
Landesbergmusikdirektor<br />
Jens Bretschneider auf<br />
einer Wiese nahe der alten<br />
Bergstadt Schneeberg<br />
fotografieren ließ<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
4<br />
INHALT<br />
Tief im Osten<br />
Im <strong>Erzgebirge</strong> verschmelzen<br />
einmalige Industriedenkmäler mit<br />
einer idyllischen Landschaft<br />
Seite 6<br />
Ungläubiger<br />
Thomas<br />
Mit Schauspieler<br />
Thomas Arnold<br />
unterwegs in Freiberg<br />
Seite 24<br />
Der lange Weg <strong>zum</strong> Titel<br />
Helmuth Albrecht erklärt,<br />
wie das <strong>Erzgebirge</strong> UNESCO-<br />
<strong>Welterbe</strong> wurde<br />
Seite 14<br />
Zwei Farben Blau<br />
Im Schindlerswerk wurde einst<br />
Kobaltblau und Ultramarin<br />
produziert<br />
Seite 16<br />
Tiefe Romantik<br />
Die Bergakademie Freiberg<br />
als Studienort von Alexander<br />
von Humboldt und Novalis<br />
Seite 20<br />
ILLUSTRATION Holly Wales<br />
Bergmännisch für<br />
Einsteiger<br />
Ein Glossar erklärt die<br />
wichtigsten Vokabeln der<br />
Kumpel und Bergleute<br />
Seite 28
5<br />
Vornehme<br />
Phoneme<br />
Der Grafiker und Extrempoet<br />
Carlfriedrich Claus<br />
hat in Annaberg Kunstgeschichte<br />
geschrieben.<br />
Eine Hommage<br />
Seite 34<br />
Ein Erz und eine Seele<br />
Unzählige Bergmannsvereine im<br />
gesamten <strong>Erzgebirge</strong> bewahren<br />
heute die Tradition ihrer Väter<br />
und Großväter<br />
Seite 40<br />
Trubel im Pochwerk<br />
Vier Schneeberger Designer<br />
planen ein Festival für Handwerk<br />
und angewandte Kunst<br />
Seite 45<br />
Kulturkalender 2019<br />
Die wichtigsten Termine und<br />
die spannendsten Kulturhighlights<br />
für Sommer, Herbst und Winter<br />
Seite 48<br />
Gespür für Steine<br />
Ein Besuch der Freilichtbühne<br />
Greifensteine bei<br />
Annaberg-Buchholz<br />
Seite 30<br />
Märchenland<br />
In den düsteren Wäldern<br />
des <strong>Erzgebirge</strong>s entstehen seit<br />
Jahrhunderten die abenteuerlichsten<br />
Sagen und Legenden<br />
Seite 38<br />
Erfolgreiche Menschen<br />
<strong>Sachsen</strong>s Ministerpräsident<br />
Michael Kretschmer spricht über<br />
den Weg <strong>zum</strong> <strong>Welterbe</strong>titel und<br />
die Tage in Baku<br />
Seite 50<br />
IMPRESSUM<br />
Herausgeber Freistaat <strong>Sachsen</strong><br />
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Fasanenstraße 7<strong>–</strong>8, 10623 Berlin<br />
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Herstellung/Vertrieb Erwin Böck<br />
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Diese Drucksache wird auf der Grundlage<br />
des von den Abgeordneten des Sächsischen<br />
Landtags beschlossenen Haushaltes zur<br />
Verfügung gestellt.<br />
Gedruckt auf UPM-Papier mit dem<br />
EU-Umweltzeichen Registriernummer FI/11/001
Förderturm im Schachtkomplex 371<br />
Der Schacht des 1990 stillgelegten<br />
Bergbaus Aue war mit 1800 Metern das<br />
einst tiefste Bergwerk Deutschlands.<br />
Seine Geschichte war eng verbunden<br />
mit der Geschichte des sowjetischen<br />
Atomprogramms.
BILDERBOGEN<br />
Tief im Osten<br />
Von Arbeit ganz grau und von Natur aus grün:<br />
Im <strong>Welterbe</strong> <strong>Erzgebirge</strong> vereinen sich Gegensätze<br />
FOTOS Marcus Glahn
Grubengang im Silberbergwerk<br />
„Reiche Zeche“<br />
Die „Reiche Zeche“ in Freiberg zählt<br />
zu den ältesten Bergbauanlagen<br />
der Region. Bereits 1384 wird<br />
sie erstmals urkundlich erwähnt.<br />
<strong>Das</strong> Bild zeigt die erste Sohle in gut<br />
150 Meter Tiefe.
St.-Christoph-Stollen in<br />
Breitenbrunn<br />
Mit der ersten urkundlichen<br />
Erwähnung des Stollen im Jahr 1558<br />
begann ein fast 400 Jahre währender<br />
Bergbau. Über das Mundloch in<br />
Breitenbrunn wurden Eisenerze<br />
und Komplexerze gefördert.
Märchenhafte Moderne<br />
In Bräunsdorf bei Freiberg steht ein<br />
1913 vollendeter Wasserturm, der<br />
der alten Bergmannsstadt etwas<br />
Märchenhaftes gibt. Von der Spitze<br />
des 29 Meter hohen und heute unter<br />
Denkmalschutz stehenden Turms<br />
kann man bei guter Sicht bis <strong>zum</strong><br />
Keil- und Fichtelberg schauen.
Kalkwerk Lengefeld<br />
Erstmals wurde im Jahr 1528 der<br />
Abbau und die Lagerung von Kalk<br />
in Lengefeld erwähnt. <strong>Das</strong> heutige<br />
Industriedenkmal gibt mit seinen<br />
vier Kalkbrennöfen einen guten<br />
Überblick über die Geschichte der<br />
Kalk verarbeitung in <strong>Sachsen</strong>.
Förderturm des Silberbergwerks<br />
„Reiche Zeche“<br />
Die „Himmelfahrt Fundgrube“ mit<br />
der „Reichen Zeche“ zählte einst zu<br />
den fortschrittlichsten Bergwerken<br />
in Europa. <strong>Das</strong> 1953 neu errichtete<br />
eiserne Fördergerüst gilt als Wahrzeichen<br />
der Silberstadt Freiberg.
14 INTERVIEW<br />
„<strong>Welterbe</strong> schafft<br />
Weltoffenheit!“<br />
Der Freiberger Industriearchäologe Helmuth Albrecht<br />
gilt als der eigentliche Kopf hinter der Bewerbung<br />
des <strong>Erzgebirge</strong>s um den <strong>Welterbe</strong>titel. Hier spricht er<br />
über Zukunft und Tradition der Region<br />
INTERVIEW Michael Bartsch<br />
FOTO Sven Döring<br />
Erzfreunde: Herr Albrecht, Sie gelten als<br />
der wichtigste Strippenzieher, wenn<br />
es um das 20-jährige Ringen um den<br />
<strong>Welterbe</strong> titel für das <strong>Erzgebirge</strong> geht.<br />
Wie ist es eigentlich dazu gekommen?<br />
Helmuth Albrecht: Ich erhielt 1995 einen<br />
Lehrauftrag an der TU Bergakademie<br />
Freiberg. Damals bin ich mit meinem<br />
Vorgänger Otfried Wagenbreth, einem<br />
ausgesprochenen Experten für Technikgeschichte,<br />
durch die gesamte Region<br />
gefahren. Er hat mir gezeigt, dass hier<br />
eine Wiege der deutschen Industrialisierung<br />
stand. Diese Relikte wollte ich<br />
<strong>zum</strong> Sprechen bringen und in den<br />
gesellschaftlichen Kontext einordnen.<br />
Daher mein Engagement für die<br />
Bewerbung.<br />
Die Anfänge der Titelbewerbung fielen<br />
in eine Zeit, in der die Industriekultur<br />
in <strong>Sachsen</strong> noch relativ stiefmütterlich<br />
behandelt wurde.<br />
Ja, wir haben damals eine Studie<br />
erstellt, die in Dresden in der Schublade<br />
verschwunden ist. Ich habe daher bei<br />
der damaligen Regierung nachgefragt.<br />
Die Region, so hieß es dort, solle erst<br />
einmal zeigen, dass sie die Bewerbung<br />
auch wirklich wolle. Daraufhin haben<br />
wir 2003 einen Förderverein gegründet<br />
und 35 Kommunen, drei deutsche<br />
Landkreise und die tschechische Seite<br />
mit ins Boot geholt. So ist dann Stück<br />
für Stück ein Graswurzelprojekt entstanden.<br />
Diese Bewegung von unten<br />
erklärt auch den langen Bewerbungszeitraum.<br />
Sie haben damals die Leitung einer<br />
wissenschaftlichen Projektgruppe übernommen.<br />
Hatte Ihr großes Engagement<br />
auch persönliche Gründe?<br />
„Schon der Gruß<br />
‚Glück auf!‘ bezeugt,<br />
dass die <strong>Erzgebirge</strong>r<br />
ihre Geschichte im<br />
Herzen tragen“<br />
Ich komme aus einer alten Bergmannsfamilie,<br />
wollte selbst aber keinen Bergbau<br />
studieren. Zunächst habe ich mit<br />
Elektrotechnik begonnen, aber das Studium<br />
gefiel mir nicht. Über einen<br />
Klassenkameraden bin ich dann zur<br />
Geschichte gelangt und habe das Studium<br />
mit Physik kombiniert. Irgendwann<br />
habe ich dann über Wissenschaftsund<br />
Technikgeschichte promoviert.<br />
<strong>Das</strong> ist die akademische Seite. Haben<br />
Sie sich aber nicht auch ein bisschen<br />
verliebt in die Erzgebirgsregion, so<br />
leidenschaftlich, wie Sie diese dann<br />
später vertreten haben?<br />
Für mich war bei meiner Ankunft in<br />
Freiberg klar, dass ich in dieser Stadt<br />
nicht nur lehren, sondern auch wohnen<br />
möchte. Ich habe ein altes Haus aus<br />
dem 16. Jahrhundert in der Freiberger<br />
Innenstadt gekauft und renoviert. Eine<br />
Rolle spielte auch, dass ich als Student in<br />
den Semesterferien immer wieder für<br />
Bergbaufirmen unter Tage gejobt habe.<br />
Reden wir über die Montangeschichte<br />
in Freiberg. Die begann mit den ersten<br />
Erzfunden im Jahr 1168.<br />
<strong>Das</strong> waren die Anfänge. Im 16. Jahrhundert<br />
dann wird das <strong>Erzgebirge</strong> <strong>zum</strong><br />
Motor der technischen Entwicklung,<br />
vor allem in der Wasserwirtschaft, aber<br />
auch in der Aufbereitung und im Hüttenwesen.<br />
<strong>Das</strong> strahlte auf ganz Europa<br />
aus, und das ist auch mit ein Grund<br />
für unseren <strong>Welterbe</strong>antrag. Hier sind<br />
Fachleute aus Europa und anderen<br />
Kontinenten ausgebildet worden. Um<br />
1800 hatte die Bergakademie unter<br />
Abraham Gottlob Werner eine riesige<br />
Strahlkraft nach außen.<br />
Sind es also vor allem die histo rischen<br />
technischen Anlagen, die die Region<br />
so besonders machen?<br />
<strong>Das</strong> Entscheidende beim <strong>Welterbe</strong><br />
ist, dass sie es an materielle Dinge<br />
knüpfen müssen <strong>–</strong> anders als etwa<br />
beim immateriellen Kulturerbe wie<br />
dem Tango oder der französischen<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
Foto: Sven Döring/Agentur Focus<br />
Küche. Relevante immaterielle Werte<br />
müssen sich in Gebäuden oder Strukturen<br />
spiegeln. Gott sei Dank haben wir<br />
das Original gebäude der Bergakademie.<br />
Die Traditionspflege <strong>–</strong> wie <strong>zum</strong> Beispiel<br />
die Berg paraden <strong>–</strong> ist eng mit der<br />
Religion, also mit den Kirchenbauten<br />
und ihren Bergaltären oder Knappschaftsgestühlen<br />
verbunden. Darin ist<br />
das <strong>Erzgebirge</strong> einmalig.<br />
Sie haben für die Bewerbung nicht das<br />
gesamte <strong>Erzgebirge</strong> vorgeschlagen, sondern<br />
haben 22 Bestandteile ausgewählt.<br />
Nach welchen Kriterien sind Sie<br />
vorgegangen?<br />
Die 22 Bestandteile sind mit dem Abbau<br />
der Hauptmetallarten Zinn, Silber,<br />
Kobalt, Eisen und Uran verbunden, letzteres<br />
ein Alleinstellungsmerkmal im<br />
<strong>Welterbe</strong>kontext. Neben den Bergwerken<br />
gehören besonders die Städte Freiberg,<br />
Annaberg, Marienberg, Schneeberg,<br />
auf tschechischer Seite Krupka, Jáchymov<br />
und BoŽí Dar dazu. Über 50 Bergstädte<br />
sind hier einst in einmaliger Dichte<br />
entstanden. Schließlich kommen noch<br />
die Landschaften hinzu, die Halden,<br />
aber auch die Wasserversorgungssysteme.<br />
Alle 22 Bestandteile sind unterirdisch<br />
durch ein Wasserversorgungssysteme verbunden.<br />
Touristisch werden wir aber<br />
die Gesamtregion vermarkten und nicht<br />
nur die einzelnen <strong>Welterbe</strong>stätten.<br />
Wie kann der neue <strong>Welterbe</strong>titel bei<br />
dieser Vermarktung helfen?<br />
Alle Untersuchungen zu den Effekten<br />
zeigen, dass so ein Titel nur dann<br />
etwas bringt, wenn man auch etwas daraus<br />
macht. Dann kann <strong>Welterbe</strong> <strong>zum</strong><br />
Image einer Region beitragen. Es stärkt<br />
das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein.<br />
Wenn sie heute <strong>Welterbe</strong><br />
werden wollen, dann übernehmen sie<br />
aber auch einen Vermittlungsauftrag<br />
nach innen; sie müssen den <strong>Welterbe</strong>gedanken<br />
in der Region verankern. <strong>Welterbe</strong><br />
bedeutet kultureller Austausch,<br />
Weltoffenheit und Einsatz für den<br />
Frieden.<br />
Es geht also nicht nur um Vergangenheitsbeschwörung<br />
angesichts einer verbreiteten<br />
Skepsis gegenüber der<br />
Zukunft?<br />
Wer die Vergangenheit nicht kennt,<br />
kann die Gegenwart nicht verstehen<br />
und die Zukunft nicht richtig gestalten.<br />
Die Menschen hier tragen die<br />
Tradition in ihrem Herzen. <strong>Das</strong> zeigt<br />
schon der verbreitete Gruß „Glück<br />
auf!“. Mit dem Stolz vermitteln wir<br />
Selbstbewusstsein <strong>–</strong> der Treibstoff für<br />
künftige Entwicklungen. •<br />
Nach einem 20-jährigen<br />
Ringen um den <strong>Welterbe</strong>titel<br />
kann Helmuth Albrecht<br />
mit großem Stolz auf die<br />
einmalige Industrielandschaft<br />
zu seinen Füßen schauen<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
TEXT Susanne Magister<br />
FOTOS Amac Garbe<br />
Herr Bochmann<br />
macht Blau
RUNDGANG<br />
17<br />
Tief drinnen, mitten im sächsischen<br />
<strong>Erzgebirge</strong>, fließt die<br />
Zwickauer Mulde durch ein<br />
malerisches Tal. Der erhöhten Bundesstraße<br />
283 durch die Gemeinde Zschorlau<br />
folgend, kann man sich in dieser<br />
abgeschiedenen Gegend auf eine sprichwörtliche<br />
Fahrt ins Blaue begeben.<br />
Denn fernab jeder größeren Stadt liegt<br />
in dieser Idylle das älteste Blaufarbenwerk<br />
der Welt <strong>–</strong> eine Fabrik, in der über<br />
vier Jahrhunderte hinweg Pigmente für<br />
Kobaltblau und Ultramarin gefertigt<br />
worden sind. Folgt man bei Albernau<br />
einer weiten Kurve, in der die verlassenen<br />
Gebäude der einstmals über 100<br />
Arbeiter der Anlage stehen, dann tut<br />
sich nach einigen weiteren Metern das<br />
eigentliche Werksensemble auf <strong>–</strong> ein<br />
Gebäudekomplex mit fast mediterran<br />
anmutender weißer Fassade und mit<br />
dunkelblauen Fensterumrahmungen.<br />
Diese Bauten also, sie beherbergen das<br />
weltweit einzige Blaufarbenwerk, in<br />
dem noch immer produziert wird: das<br />
sogenannte Schindlerswerk.<br />
Es geht an einem langgestreckten<br />
Gebäuderiegel vorbei, daneben reihen<br />
sich große blaue Plastikfässer auf. Vor<br />
dem Haus parken Autos <strong>–</strong> ausschließlich<br />
blaue. Und irgendwann kommt einem<br />
ein resolut erscheinender älterer Herr<br />
Seit vier Jahrhunderten<br />
wird im Schindler’schen<br />
Blau farbenwerk in der<br />
Zwi ckauer Mulde Kobaltblau<br />
und Ultramarin<br />
produziert
18 RUNDGANG<br />
Im 17. Jahrhundert<br />
übernahm man<br />
im <strong>Erzgebirge</strong> das<br />
Weltmonopol für<br />
Kobalterze<br />
entgegen <strong>–</strong> blaues Hemd, leicht blau<br />
besprenkelte Schuhe. Gerd Bochmann,<br />
seines Zeichens Zweiter Vorsitzender<br />
des 2017 gegründeten Fördervereins<br />
Schindlers Blaufarbenwerk, begrüßt<br />
einen freundlich, hält sich dann aber<br />
nicht mehr lange mit Floskeln auf.<br />
Zügigen Schrittes führt Bochmann<br />
seine Besucher am einstigen Kutscherhaus,<br />
am Casino und an der Direktorenvilla<br />
des Werks vorbei und gelangt<br />
schließlich zu der eigentlichen<br />
Produktionsstätte für die blauen Pigmente.<br />
Wo sich bis heute das gut erhaltene,<br />
blau-weiß gestrichene Gebäudeensemble<br />
erstreckt, hatte sich im Jahr<br />
1649 der aus Böhmen stammende<br />
Unternehmer Erasmus Schindler mit<br />
seiner Familie niedergelassen, um das<br />
letzte der vier großen sächsischen Blaufarbenwerke<br />
zu erbauen. Es dauerte<br />
nicht lange, und Schindler erhielt die<br />
Konzession zur Errichtung einer Blaufarbenmühle.<br />
Laut kurfürstlicher Verordnung<br />
konnte bereits im darauffolgenden<br />
Jahr mit der Produktion begonnen<br />
werden. Die scheinbar ungünstige Abgeschiedenheit<br />
des Schindlerswerks<br />
sollte sich dabei als Vorteil erweisen.<br />
Nicht nur die Lage am Fluss, dessen<br />
Wasserkraft noch bis ins 20. Jahrhundert<br />
hinein allen Ansprüchen Genüge tat,<br />
erwies sich als günstiger Standortvorteil.<br />
Auch die Nähe zu den Schneeberger<br />
Kobaltgruben sicherte günstige Konditionen<br />
beim Einkauf des für die Produktion<br />
so dringend benötigten Erzes. Und<br />
nicht zuletzt sorgte die abgeschiedene<br />
Lage dafür, dass über die Jahrhunderte<br />
hinweg keine Begehrlichkeiten auf das<br />
gut 15 Hektar große Gelände geweckt<br />
wurden und das Gros der Gebäude<br />
somit bis heute erhalten blieb.<br />
Alles war also bestens präpariert für<br />
einen ganz großen Coup: Im 17. Jahrhundert<br />
nämlich gelang es den vier<br />
<strong>Das</strong> Blau aus Zschorlau<br />
fand seinen Weg auch in<br />
die Waschmaschine<br />
erzgebirgischen Blaufarbenwerken den<br />
Erzeinkauf gemeinsam zu kontrollieren<br />
und somit das Weltmonopol für Kobalterze<br />
zu übernehmen. Durch Röstung der<br />
grauen Gesteine und unter Zugabe von<br />
Pottasche und Quarzsand ließen sich die<br />
typischen kobaltblauen Gläser schmelzen;<br />
und mittels ihrer Pulverisierung entstand<br />
schließlich ein hitzebeständiges<br />
Blaupigment namens Smalte. Eine Weltsensation!<br />
Aus der Abgeschiedenheit<br />
des <strong>Erzgebirge</strong>s heraus nämlich fand<br />
Smalte bald seinen Weg auf Delfter<br />
Kacheln oder venezianische Glasmalerei.<br />
Alles hätte also so weitergehen können,<br />
wären nicht genau 200 Jahre später<br />
die Erzvorräte zur Neige gegangen.<br />
Wo einst nur Blautöne<br />
hergestellt wurden,<br />
leuchtet es heute in<br />
allen Farben
Im 19. Jahrhundert<br />
stellte man im <strong>Erzgebirge</strong><br />
auf die Produktion von<br />
Ultramarin um<br />
<strong>Das</strong> gesamte sächsische Blaufarbenwesen<br />
geriet plötzlich in eine tiefe Krise. Und<br />
auch die Schließung des Schindlerswerks<br />
wurde diskutiert. Doch dann, in<br />
buchstäblich letzter Minute, entschied<br />
man sich 1855 dazu, das Werk zu einer<br />
Fabrik für künstlich erzeugtes Ultramarinblau<br />
umzubauen. Herzstück des<br />
neuen Produktionsprozesses wurde ein<br />
Hüttengebäude mit zwölf Reihenöfen<br />
samt Schamotttiegeln. Sie konnten<br />
aus Schwefel, Soda und Kaolin in langwierigen<br />
Oxidationsprozessen das<br />
neue Blaupigment erzeugen.<br />
Bei der Beschreibung der einzelnen<br />
Arbeitsschritte ist Gerd Bochmann ganz<br />
in seinem Element. Schließlich hat der<br />
Chemiker sein gesamtes DDR-Arbeitsleben<br />
im Schindlerswerk, dem damaligen<br />
„Kombinat Lacke und Farben“,<br />
verbracht. Er kennt also jeden Arbeitsschritt<br />
haargenau. Wo heute ein<br />
ultramarinblauer Farbbrocken als Anschauungsmaterial<br />
einen der historischen<br />
Brennöfen ziert, da hat er das<br />
<strong>Das</strong> Blau aus <strong>Sachsen</strong><br />
fand seinen Weg<br />
auf Delfter Kacheln<br />
und venezianische<br />
Glasmalerei<br />
„empirische System“, wie Bochmann es<br />
nennt, jahrzehntelang gepflegt, gewartet<br />
und betreut. Bochmann war der Herr<br />
über das leuchtend blaue Pulver.<br />
Und wäre er damals nicht gewesen, am<br />
Ende des Produktionsprozesses wäre<br />
oft wohl nur ein gräulicher Klumpen<br />
heraus gekommen. Bei diesem Gedanken<br />
muss Bochmann schmunzeln.<br />
Er scheint sich gern an die alten Zeiten<br />
zurückzuerinnern.<br />
Dann geht er weiter, um in anderen<br />
Gebäudeteilen die historische Trockenmühle<br />
oder die sanierungsbedürftige<br />
Schlämmerei <strong>–</strong> „das Enfant terrible des<br />
schönen Ensembles“ <strong>–</strong> zu erklären.<br />
Schließlich kommt Bochmann auf die<br />
jüngere Vergangenheit der Fabrik zu<br />
sprechen: auf die „kaum zu erfüllenden<br />
Treuhandauflagen“, die neue gesamtdeutsche<br />
Abgasnorm oder die unübersichtliche<br />
Weltmarktstruktur. All das<br />
habe Anfang der 90er-Jahre fast <strong>zum</strong> Aus<br />
des Traditionswerks aus <strong>Sachsen</strong> geführt.<br />
Einige wacklige Monate und viele<br />
mutige Investitionen später werden im<br />
Schindlerswerk keine Pigmente mehr<br />
hergestellt. Man hat sich heute auf die<br />
Veredelung und die Präparierung von<br />
unterschiedlichsten Pigmenten spezialisiert.<br />
Daher birgt das dreigeschossige<br />
Magazin an der Stirnseite des Werks<br />
auch die einzigen Räume, die nicht mehr<br />
vom Leuchten der zauberhaften Blautöne<br />
dominiert werden. Hier, unter einem<br />
alten Tonnengewölbe, befindet sich das<br />
vor bunten Farben nur so strotzende<br />
Pigmentlager. Gelb, Rot, Grün, Orange.<br />
Wie ein Aufbegehren gegen die blauen<br />
Stunden aus der Frühzeit der alten Fabrik.<br />
Ein Besuch des Schindler’schen Blaufarbenwerk<br />
hinterlässt also Spuren:<br />
Blau funkeln diese am Ende an den Händen<br />
und Schuhen, und farbenfroh<br />
bleibt die Stippvisite im Gedächtnis der<br />
vielen Besucher hängen. •<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
20<br />
UNTERGRUND-<br />
BEWEGUNG<br />
Mit Studenten wie<br />
Humboldt oder Novalis<br />
war die Bergakademie<br />
in Freiberg einst<br />
ein Thinktank der<br />
deutschen Romantik<br />
TEXT Ralf Hanselle<br />
Der Alte war vorangekrochen.<br />
Unter höchsten Gefahren und<br />
verbunden mit extremen körperlichen<br />
Anstrengungen war er über unzählige<br />
Leitern hinweg in schmale und<br />
nasse Schächte hineingestiegen und<br />
hatte sich gehend und später kriechend<br />
in die Abgeschiedenheit der Berge vorgegraben.<br />
Sein Ziel: „In engsten Stollen<br />
wie in tiefsten Schluchten / ein Licht<br />
zu suchen, das den Geist entzünde.“<br />
Erfolg hatte er indes nicht: Als<br />
Johann Wolfgang von Goethe im Alter<br />
von 64 Jahren aus der „Bergwercks-<br />
Commission“ des Herzogtums <strong>Sachsen</strong>-<br />
Weimar Eisenach ausschied, musste er<br />
schweren Herzens erkennen, dass sein<br />
Ringen um den Bergbau aus finanzieller<br />
Sicht eine Enttäuschung, vielleicht<br />
sogar eine Katastrophe war. Und doch:<br />
In seinem Engagement um die Montanunternehmungen<br />
im Thüringer Wald<br />
<strong>–</strong> vor allem im damaligen Bergwerk<br />
Ilmenau <strong>–</strong> war der Geheimrat und<br />
„Director über alle Bergwerks-Angelegenheiten“<br />
über fast 30 Jahre hinweg<br />
<strong>zum</strong> role model für die nachwachsende<br />
Generation geworden.
Alexander von Humboldt<br />
und Aimé Bonpland in der<br />
Urwaldhütte in Südamerika
22<br />
TIEFENRAUSCH<br />
<strong>Das</strong> Bild vom Schöngeist unter Tage<br />
nämlich hatte die Fantasie entfacht, und<br />
angetrieben vom Tiefenrausch Goethes<br />
ließen sich jetzt jüngere Dichter <strong>–</strong> etwa<br />
E.T.A. Hoffmann oder Novalis <strong>–</strong> in<br />
die mystischen Abgründe der Berge hineinziehen:<br />
Hunderte Meter unter der<br />
Rasenkante drangen sie in eine Welt vor,<br />
die an Zauber und Magie kaum zu<br />
überbieten war. Überall ein Funkeln<br />
und Glitzern. Da standen Romanhelden<br />
mit einem Mal vor Abbruchkanten,<br />
sahen in tiefste Abgründe hinein oder<br />
stiegen hinab bis in die letzten Berginnereien.<br />
Denn: „Nach innen geht der<br />
geheimnisvolle Weg“ <strong>–</strong> so wollte es <strong>zum</strong>indest<br />
die Parole der durch Bergbau<br />
und Montanindustrie beeinflussten<br />
jungen Romantiker.<br />
Dreh- und Angelpunkt der kulturellen<br />
Tiefenbohrung: die Bergakademie Freiberg,<br />
eine damals noch junge Hochschule<br />
im <strong>Erzgebirge</strong>. 1765 unter dem Namen<br />
Kurfürstlich-Sächsische Bergakademie<br />
von Prinz Xaver von <strong>Sachsen</strong> und dem<br />
preußischen Staatswirt Friedrich Anton<br />
von Heynitz gegründet, bestand ihr<br />
vornehmstes Ziel in der Förderung der<br />
angeschlagenen sächsischen Wirtschaft:<br />
Nach der Niederlage des Kurfürstentums<br />
im Siebenjährigen Krieg nämlich mussten<br />
Wege gefunden werden, um aus Erzen<br />
Geld und Gold zu machen. In Freiberg<br />
sollten für diese Herausforderung<br />
emsige Jung-Bergleute im Alter zwischen<br />
16 und 26 ausge bildet werden.<br />
Eine Erfolgsgeschichte; heute ist die<br />
Technische Universität Bergakademie<br />
Freiberg die älteste montan wissenschaftliche<br />
Hochschule der Welt, und<br />
auch schon Ende des 18. Jahrhunderts,<br />
gerade einmal 20 Jahre nach ihrer<br />
Gründung, lobte man die neue Ausbildungsstätte<br />
in den höchsten Tönen.<br />
So schrieb der sächsische Chronist und<br />
Lokaldichter Heinrich Keller über den<br />
neuen Wissenschaftsstandort südwestlich<br />
von Dresden: „Die Churfürstlich<br />
Sächsische schriftsäßige Hauptbergstadt<br />
Freyberg ist als die dritte vorzügliche<br />
Für Novalis war der<br />
Gang ins Dunkel der<br />
Berge Sinnbild für<br />
die Verinnerlichung<br />
des Menschen<br />
Stadt des Churfürstenthums <strong>Sachsen</strong><br />
und als die erste in Rücksicht auf<br />
die hier blühenden Bergwissenschaften<br />
in ganz Deutschland zu betrachten.“<br />
Ausgerechnet hier also, wo junge<br />
Menschen in Mineralogie, Mechanik,<br />
Physik oder reiner Mathematik aus gebildet<br />
wurden, blühten mit einem Mal<br />
Poesie und blaue Blumen auf. Hauptverantwortlich<br />
für den träumerischen<br />
shift war ein damals 25-jäh riger Student,<br />
der im Dezember 1797<br />
zur Ausbildung in die<br />
alte sächsische Bergstadt<br />
gekommen war:<br />
der aus einer norddeutschen<br />
Adelsfamilie<br />
stammende Friedrich<br />
von Hardenberg, der<br />
Nachwelt besser bekannt<br />
unter seinem später<br />
zu gelegten Pseudonym<br />
Novalis. Nicht,<br />
dass dieser junge Mann<br />
kein Interesse an dem<br />
kalten Fachwissen des<br />
vorzüglichen Freiberger<br />
Lehrkörpers gehabt<br />
hätte; doch der ausgebildete<br />
Jurist betrieb<br />
sein neues Studium<br />
Ein Freiberger<br />
Bergakademist in<br />
seiner Uniform im<br />
Jahr 1791<br />
nicht ausschließlich für montanwissenschaftliche<br />
Zwecke. Der Gang in die<br />
Tiefe wurde für Novalis <strong>zum</strong> Sinnbild<br />
für die Verinnerlichung des Menschen<br />
an sich. Denn, so das bis heute sicherlich<br />
berühmteste Credo von Novalis: die<br />
Welt wartete darauf, romantisiert zu<br />
werden. In Anlehnung an die deutsche<br />
Mystik, an Johannes Tauler oder Jakob<br />
Böhme, glaubte der Jungromantiker<br />
wild entschlossen daran, dass die Mineralien<br />
und Erze, die dunklen Stollen<br />
und funkelnden Steine nur Schatten<br />
einer ewigen, inneren Wahrheit seien;<br />
das Freiberger Bergwerk mit dem fast<br />
sprichwört lichen Namen „Himmelfahrt<br />
Fundgrube“ ein Spiegelbild<br />
eines unendlichen Bergwerks der Seele:<br />
„Die Tiefen unseres Geistes kennen wir<br />
nicht […]. In uns oder nirgends ist die<br />
Ewigkeit.“<br />
Fotos: © TU Bergakademie Freiberg (vorherige Doppelseite). © TU Bergakademie Freiberg Universitätsbibliothek<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
TIEFENRAUSCH<br />
23<br />
Foto: ddp images<br />
Geradezu versessen war Novalis<br />
jetzt auf den Weg nach innen. Sprachgewaltig<br />
begeht er ihn schließlich in<br />
seinem in Freiberg begonnenen Romanfragment<br />
„Heinrich von Ofterdingen“,<br />
der geradezu traumverlorenen Geschichte<br />
um einen mittelalterlichen Sänger,<br />
der auf einer seiner Abenteuerreisen<br />
in das Innere eines Berges verschlagen<br />
wird. Hier, in irgendeinem der zahlreichen<br />
Stollen, trifft er auf einen Einsiedler,<br />
der Heinrich nicht nur von vergangenen<br />
Epochen der Menschheit erzählt, er<br />
hütet zudem eine alte Chronik, die<br />
Heinrichs eigene Lebens geschichte enthält<br />
<strong>–</strong> darin die längst vergangenen, aber<br />
auch die noch kommenden Kapitel.<br />
In Freiberg<br />
wurde Humboldt<br />
<strong>zum</strong> letzten<br />
Universalgelehrt en<br />
Europas<br />
Dem Leser des „Heinrich von Ofterdingen“<br />
ist es, als würde die Zeit still stehen<br />
im Inneren dieser Berge. Zwischen<br />
Grotten und Felskathedralen träumt die<br />
Menschheit den Traum ihrer eigenen<br />
Unsterblichkeit. Vom Bergwerk zu<br />
Falun über die Sage vom Weiterleben<br />
Barbarossas im Kyffhäuser bis <strong>zum</strong><br />
Venusberg im Tannhäuser reichen später<br />
noch die romantischen Variationen zur<br />
spelunca aevi <strong>–</strong> zur Grotte des ewigen<br />
Lebens. So wurden Stollen und Gruben<br />
zu Orten, in denen sich neben Fossilien<br />
und Gesteinen auch Wissen, Weisheit<br />
und Geschichte ablagern konnten.<br />
Die neue deutsche Innerlichkeit floh<br />
so aus der politisch brisanten Wirklichkeit<br />
ihrer Epoche und nahm Platz im<br />
Innern der Erde.<br />
<strong>Das</strong>s dies nicht notgedrungen nur<br />
Rückzug und Regression bedeuten<br />
musste, bewies um dieselbe<br />
Zeit ein anderer<br />
Studiosus in Freiberg.<br />
Sechs Jahre vor Novalis,<br />
im Juni 1791 nämlich,<br />
sollte sich an der damals<br />
noch jungen<br />
Hochschule ein<br />
kommender Genius<br />
immatrikulieren: der<br />
damals 21-jährige<br />
Alexander von Humboldt.<br />
Eigentlich wollte<br />
der in den historischen<br />
Gemäuern an der heutigen<br />
Akademiestraße nur sein Interesse<br />
an Geologie und Naturwissenschaften<br />
vertiefen. Doch Freiberg prägte<br />
nachhaltiger. In der Stadt an der östlichen<br />
Mulde bereitete sich Humboldt<br />
das Fundament für seine Karriere als<br />
letzter Universalgelehrter Europas.<br />
In nur acht Monaten absolvierte der<br />
rastlose und stets etwas einsame Humboldt<br />
ein Studium, das eigentlich auf<br />
drei Jahre angelegt war. Während er<br />
tagsüber in die Dunkelheit der vielen<br />
Stollen und Bergwerke kroch, verbrachte<br />
er die Abendstunden mit Messungen,<br />
empirischen Beschreibungen, Klassifizierungen.<br />
Besonders die Frage, wie das<br />
Licht das Wachstum von Pflanzen beeinflussen<br />
könne, trieb ihn in seiner<br />
Freizeit um. So schaffte er es in der damals<br />
gerade einmal 8000 Einwohner<br />
zählenden jungen Universitätsstadt in<br />
kürzester Zeit <strong>zum</strong> Bergassessor und<br />
hatte darüber hinaus auch noch Zeit,<br />
um seine ein Jahr später erscheinenden<br />
ersten Bücher vorzubereiten; darunter<br />
ein Aufsatz über das Basaltgestein am<br />
Rhein und eine Abhandlung über die<br />
unterirdische Flora in Freiberg. Unter<br />
dem Titel „Flora Fribergensis“ beschreibt<br />
er in dem kleinen Bändchen<br />
ungewöhnliche pilz- und schwammartige<br />
Pflanzen, die auf den feuchten<br />
Holzbauten im Erdinneren wachsen.<br />
Und als wäre die Publikation eine<br />
erste Fingerübung für den späteren<br />
Georg Friedrich Philipp<br />
Freiherr von Hardenberg,<br />
genannt Novalis<br />
Weltruhm, nutzt er sie, um als erster<br />
Forscher überhaupt Gewächse und<br />
Pflanzen zu beschreiben, die vor ihm<br />
von kaum einem Auge gesehen wurden.<br />
Eine blaue Blume, wie sie später<br />
Novalis in seinem „Heinrich von Ofterdingen“<br />
vorschwebt, ist indes nicht<br />
unter diesen Entdeckungen. Noch ist<br />
Humboldts Blick auf den Untergrund<br />
des Weltganzen von eher prosaischer<br />
Natur. Der Mann, der später einmal<br />
ganz im Geiste der Romantik erkennen<br />
wird, dass in der Welt alles mit allem<br />
zusammenhängt, benötigt noch einige<br />
Jahre Zeit, um der vermeintlich toten<br />
Natur eine lebendige Seele einzuhauchen.<br />
„Es sind aber die Einzelheiten<br />
ihrem inneren Wesen nach fähig wie<br />
durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig<br />
zu befruchten“, wird Humboldt<br />
gut 50 Jahre nach seinem wissenschaftlichen<br />
Einstand in Freiberg im Lebenswerk<br />
„Kosmos“ niederschreiben. Für<br />
ihn selbst wie für viele andere Köpfe<br />
seiner Zeit war die Ausbildung an der<br />
Bergakademie ganz sicher eine solch<br />
„aneignende Kraft“. Freiberg, das war<br />
für viele Baustein im „belebten Ganzen“<br />
der deutschen Romantik. •<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
Ungläubiger Thomas<br />
ERZGEBIRGE
STADTSPAZIERGANG<br />
25<br />
In Freiberg wurde<br />
Thomas Arnold <strong>zum</strong><br />
Bösewicht des deutschen<br />
Fernsehens. Ein Spaziergang<br />
durch die Landschaft<br />
der Kindheit<br />
TEXT Marlen Hobrack<br />
FOTOS Sven Döring<br />
Wenn ich es nicht besser wüsste,<br />
ich müsste Schauspieler<br />
Thomas Arnold für einen<br />
Regisseur halten. Ich habe mich mit<br />
dem 48-Jährigen zu einem Spaziergang<br />
in seiner Geburtsstadt Freiberg verabredet.<br />
Doch es dauert nicht lange, und<br />
Arnold übernimmt die Regie. Mir soll<br />
es recht sein; ich kenne mich in der<br />
Stadt nur mäßig aus. Arnold hingegen,<br />
bekannt aus unzähligen TV-Krimis sowie<br />
aus preisgekrönten Filmen wie „<strong>Das</strong><br />
Leben der Anderen“, kennt die Stadt<br />
wie seine Westentasche.<br />
Nach kurzer Zeit schießen seine Zeigefinger<br />
einem Dirigenten gleich, der<br />
einen zackigen Marsch dirigiert, nach<br />
links und nach rechts: hier seine alte<br />
Schule, dort seine Bibliothek, drüben<br />
die Werkstatt des Vaters, der einst als<br />
Feinmechaniker tätig war. Der Kern der<br />
Bergstadt, der von alten Ringanlagen<br />
begrenzt wird und in einer Stunde<br />
mehrfach abgelaufen werden kann,<br />
scheint für Arnold eine Art Landkarte<br />
der Seele zu sein. Jedes Haus, jeder<br />
Hinter hof hat in sich Geschichten gespeichert.<br />
Geschichten, die in kürzester<br />
Zeit noch einmal aus dem Schauspieler<br />
heraussprudeln werden.<br />
Dabei sind nicht nur Arnolds Hände<br />
ständig in Bewegung. Seine Augen<br />
Ein Blick durch das<br />
Stadttor von Freiberg<br />
fokussieren das Gegenüber wach, die<br />
Mundwinkel verziehen sich zu einem<br />
schelmischen Grinsen. <strong>Das</strong> Gesicht,<br />
sagt man, sei so etwas wie die Visitenkarte<br />
eines Schauspielers. Arnolds Gesicht<br />
scheint ihn für das ernste Fach zu<br />
prä des tinieren. Ärzte, Anwälte <strong>–</strong> auch<br />
mal ein Mörder kann sich darunter verbergen.<br />
„Wenn de so ’ne Hackfresse<br />
hast, was willste machen?“ Ich würde<br />
eher von einem Charaktergesicht<br />
sprechen.<br />
Während unseres Gesprächs bittet<br />
der Fotograf Arnold mehrmals zu posieren.<br />
In solchen Momenten geschieht<br />
Erstaunliches mit dem Mimen. Die bewegten<br />
Züge verfestigen sich, während<br />
die Augen den Betrachter durchbohren<br />
<strong>–</strong> nur, um dann Sekunden später wieder<br />
aufgebrochen zu werden; <strong>zum</strong> Beispiel,<br />
wenn Arnold im Albertpark die Sandsteinstufen<br />
der großen Treppe hinuntertanzt<br />
wie Fred Astaire. <strong>Das</strong> Heitere<br />
liegt ihm. Angefangen hat er genau damit:<br />
eine frühe Karl-Valentin-Aufführung<br />
inmitten der Straßen von Freiberg.<br />
Doch nimmt man es ganz genau,<br />
dann war das schauspielerische Talent<br />
schon in dem ganz kleinen Jungen<br />
angelegt. Arnold packt den Beginn seiner<br />
Karriere in eine Anekdote: Wir laufen<br />
gerade um den Dom St. Marien,<br />
der das Herzstück des Freiberger Innenstadt<br />
ensembles bildet, da fällt ihm diese<br />
alte Geschichte wieder ein: Sie fällt in<br />
die Zeit, als er, wie vermutlich die meisten<br />
Jungen seines Jahrgangs, mit großer<br />
Leidenschaft die Indianerfilme mit<br />
DDR-Star Gojko Mitić guckte. Jedenfalls<br />
betrat der kleine Thomas damals an<br />
der Hand seiner Mutter die Marienkirche,<br />
wurde einer Jesusplastik gewahr und<br />
war perplex: „Guck mal, Mutti, da hängt<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
26 STADTSPAZIERGANG<br />
der Gojko Mitić!“ Ein Kerl mit nacktem<br />
Oberkörper und langem Haar <strong>–</strong><br />
Wunder kindlicher Kategorienbildung.<br />
Ob die Gemeinde daraufhin mit einem<br />
herzlichen Gelächter auf den ungläubigen<br />
Thomas reagiert hat, das weiß dieser<br />
heute leider nicht mehr. Mutter Arnold<br />
aber soll sich, so wird berichtet, mit<br />
dem Knaben an der Hand in Grund<br />
und Boden geschämt haben.<br />
Ein paar Schritte weiter, eine neue<br />
Geschichte: In dieser durfte der junge<br />
Thomas Arnold einst dem Helden<br />
des DDR-Raumfahrtprogramms<br />
Sigmund Jähn die Hand schütteln.<br />
Doch <strong>zum</strong> Unglück der Mutter trug<br />
er in diesem großen Moment seines<br />
noch kleinen Lebens alte und billige<br />
Gummistiefel. „Wie kann man denn<br />
der Leipziger und Chemnitzer, auch ist<br />
jeder Sachse davon überzeugt, dass der<br />
Dialekt der <strong>Sachsen</strong> aus einer je anderen<br />
Region eigentlich vollkommen grauenhaft<br />
klingt.<br />
Der nachgemachte Dialekt von<br />
Arnolds Mutter klingt niedlich. Und<br />
Arnold selbst hat ohnehin ein interessantes<br />
Verhältnis zu den regionalen Eigenarten<br />
deutscher Sprache. Er nimmt<br />
Dialekte auf, spielt sie ab und wirkt<br />
darin ungemein überzeugend. Bei unserer<br />
ersten Begegnung etwa legt er mit<br />
einem schnoddrigen brandenburgischberlinerischen<br />
Einschlag los. Von dort<br />
steigert er sich in ein nuschelnd-nöliges<br />
Freibergerisch <strong>–</strong> und zwar immer dann,<br />
wenn er Familie und Freunde zitiert.<br />
„Da, wo ich gerade bin, färbe ich ein.“<br />
Thomas Arnold<br />
als Fred Astaire im<br />
Albertpark<br />
Im Kaffee Hartmann<br />
hat Arnold einst eine<br />
Ausbildung gemacht<br />
zu Sigmund Jähn in Gummistiefeln<br />
geh’n, das gibt’s doch ni!“<br />
Thomas Arnold ahmt die Mutter im<br />
schönsten Freiberger Sächsisch nach.<br />
Den Nicht-<strong>Sachsen</strong> muss an dieser<br />
Stelle erklärt werden, dass der sächsische<br />
Dialekt enorm variantenreich sein kann.<br />
Nicht nur unterscheidet er sich im<br />
Vokabular der Bautzener und Dresdener,<br />
Auch Plattdeutsch und Wienerisch hat<br />
er drauf. Die Anverwandlung sei immer<br />
auch Teil seines Handwerks. „Man lebt<br />
als Schauspieler in den Figuren. <strong>Das</strong><br />
ist wie eine Verwandlung … Guck mal,<br />
auf dem Löwen da bin ich immer<br />
geritten!“ Wieder schnellt seine Hand<br />
in die Höhe. Sie zeigt auf den Löwen<br />
im Brunnen auf dem Rathausplatz.<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
27<br />
Fotos: Sven Döring/Agentur Focus<br />
„Die Geschichte der<br />
Stadt hat sich in die<br />
Körper der Menschen<br />
eingeschrieben“<br />
Arnold läuft schnurstracks los wie ein<br />
kleiner Junge.<br />
Mit diesem Showtalent hat er schon<br />
mehrmals seinen Hals aus der Schlinge<br />
gezogen. Etwa als der junge Mann<br />
schwarzfahrend in der Bahn ertappt<br />
wurde: „Da habe ich mir den Speichel<br />
aus dem Mundwinkel laufen lassen und<br />
so gesabbert.“ Er deutet einen langen<br />
Speichelfaden an. „Da haben die Kontrolleure<br />
sofort abgewunken.“ Oder<br />
ein anderes Mal, als er beinahe von<br />
Neo nazis vermöbelt wurde. „Da habe<br />
ich angefangen zu bellen. Ich bin auf<br />
alle Viere gegangen.“ Die Nazis nahmen<br />
vor Schreck Reißaus.<br />
Verblüffend bürokratisch war hingegen<br />
sein Weg zur Schauspielerei. Eines<br />
Tages marschierte Arnold einfach in<br />
die örtliche Berufsberatung in einer der<br />
vielen engen Gässchen des Freiberger<br />
Innenstadtrings und erkundigte sich<br />
nach der Zukunft: „Wenn man Schauspieler<br />
werden will, was muss man ’n<br />
da machen?“ Die patente Dame vom<br />
Amt schlug ihr dickes Buch auf, schrieb<br />
die Adressen der drei Schauspielschulen<br />
im Land auf und überreichte ihm das<br />
ganze Wissen auf einem Zettel. Suchmaschine<br />
á la DDR.<br />
<strong>Das</strong>s unter Tausenden Bewerbern<br />
nur 20 ausgewählt werden würden, das<br />
kümmerte Arnold beim Vorsprechen<br />
nicht. <strong>Das</strong> sagt er <strong>zum</strong>indest, während<br />
ich noch überlege, ob er wirklich so<br />
viel Chuzpe hatte oder ob er die ganze<br />
Geschichte nur wunderbar spielt. Übrigens<br />
schrieb sich der angehende Schauspieler<br />
seinen Monolog fürs Vorsprechen<br />
damals selbst <strong>–</strong> kurzerhand auf der Zugfahrt<br />
nach Rostock. „Ich hab irgend<br />
’nen Quatsch zusammengeschrieben; in<br />
Passantin in den vielen<br />
Gassen der Freiberger<br />
Innenstadt<br />
acht Stunden von Karl-Marx-Stadt bis<br />
Rostock. Ich hab einfach keinen Monolog<br />
gefunden, der mir gefiel. Da habe<br />
ich eben selber was erfunden. Etwas,<br />
das genau zu mir passte.“<br />
Allerdings führte der Weg zur Schauspielerei<br />
am Ende nicht über die Schauspielschule,<br />
sondern über eine Berufsausbildung<br />
als Konditor im legendären<br />
Café Hartmann <strong>–</strong> noch heute eine Institution<br />
der Stadt, die seit Generationen<br />
für ihre unnachahmliche Freiberger Eierschecke<br />
berühmt ist. Zwar gibt es das<br />
typische Hefeteiggebäck auch in anderen<br />
Städten <strong>Sachsen</strong>s, die Freiberger<br />
Schecke aber ist besonders, kommt sie<br />
doch seit Jahrhunderten ohne den sonst<br />
Arnold vor dem<br />
Bronzemodell der Stadt<br />
Freiberg auf dem<br />
Schlossvorplatz<br />
üblichen Quarkbelag aus und wird<br />
warm gegessen.<br />
Wir wollen einen Test machen, doch<br />
leider hat das Hartmann an diesem<br />
Tag zu. Kein Beinbruch angesichts der<br />
Bäckerdichte in der Innenstadt. Die<br />
<strong>Sachsen</strong> sind eben ein Kuchenvolk, und<br />
so würde gerade das Hartmann jedem<br />
x-beliebigen Wiener Kaffee haus in<br />
nichts nachstehen. Freiberg also, ein<br />
kleineres Wien?<br />
Die Geschichte der Stadt ist eine<br />
andere. Hier wurden, wie überall in<br />
der Region, Silbererze aus der Tiefe<br />
des Berges gegraben. Arnold ist überzeugt,<br />
dass sich diese Geschichte in die<br />
Körper der Bewohner <strong>–</strong> auch<br />
in seinen eigenen <strong>–</strong> eingegraben habe.<br />
<strong>Das</strong>s die Männer hier von kleinem<br />
Wuchs sind, sei ein schönes Indiz für<br />
diese These. Die „Langen Kerls“<br />
brauchte Friedrich der Große, die sächsischen<br />
Kurfürsten aber kurze Kerle<br />
mit kräftigen Händen. Hände wie<br />
Schraubstöcke, meint Arnold und<br />
streckt seine eigenen vor.<br />
Zum Schluss schlendern wir zu<br />
Schloss Freudenstein hinauf. Auf dem<br />
Vorplatz steht ein großes Bronzemodell<br />
der Stadt. Arnold beugt sich darüber<br />
und streckt die Schraubstockhände aus.<br />
Sein Haus, seine Schule, seine hood.<br />
„Die Szene erinnert mich an ,Shining‘“,<br />
lacht er. „Ich bin der Jack Nicholson<br />
von Freiberg.“ Irgendwie hat er damit<br />
wohl recht. •<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
28 GLOSSAR<br />
Im Berg ruft’s<br />
Alles außer Hochdeutsch: Die kuriosesten<br />
Vokabeln der einstigen Bergleute zwischen<br />
Oberwiesenthal und Altenberg<br />
TEXT Wolfgang Ranft<br />
ILLUSTRATIONEN Elena Xausa<br />
02 BERGMAGAZIN<br />
Lager für Materialien, die für das<br />
Bergwesen benötigt wurden, aber auch<br />
Lager von Getreide, das zur Überwindung<br />
von Notzeiten angelegt wurde.<br />
Bergregal<br />
01 ARSCHLEDER<br />
Als Bestandteil der Bergmannskleidung<br />
diente das Arschleder dazu, den<br />
Hosenboden vor dem Durchwetzen<br />
zu schützen, vor allem bei der Einfahrt<br />
in schräg liegende Stollen. Zudem<br />
schützte es im Schacht beim Sitzen vor<br />
Nässe. Um 1500 erstmalig in der<br />
Slowakei nachzuweisen, ab 1516 im<br />
<strong>Erzgebirge</strong> gebräuchlich.<br />
03 BLINDSCHACHT<br />
Ein Schacht, der zwei oder mehr<br />
Sohlen verbindet und nicht bis zur<br />
Tagesoberfläche führt, also „blind“ ist.<br />
04 DURCHSCHLAG<br />
Wenn Strecken, Stollen oder Schächte<br />
zur Herstellung von Verbindungen<br />
zwischen Grubenbauten aufgefahren<br />
wurden, spricht man vom „Durchschlag“,<br />
wenn der angezielte Grubenbereich<br />
erreicht wurde. Zur Beschleunigung<br />
des Vortriebs langer Strecken<br />
wurde oft im „Gegenortbetrieb“ vorgegangen,<br />
dann waren die einzelnen<br />
Abschnitte „durchgeschlagen“, wenn<br />
die Verbindung untereinander hergestellt<br />
war.<br />
05 FAHRT<br />
Bergmännische Bezeichnung für<br />
eine Leiter.<br />
06 FAHRUNG<br />
Fortbewegung von Menschen unter<br />
Tage zu Fuß, mit Personenzügen,<br />
mit Einschienenhängebahnen, Flurförderbahnen,<br />
Bandförderern oder<br />
Sesselliften.<br />
Blindschacht<br />
07 GEDINGE<br />
Lohnvereinbarung über eine für<br />
ein bestimmtes Entgelt zu erbringende<br />
Arbeitsleistung (Akkord)<br />
und nicht nach vereinbarter Zeit<br />
(Schichtlohn).<br />
08 HABIT<br />
Bergmännische Kleidung in einer<br />
der Rangordnung entsprechenden<br />
Ausstattung.<br />
09 KAUE<br />
Als Kaue bezeichnet man ein Grubengebäude<br />
über Tage, in dem sich die<br />
Bergmänner umkleiden und waschen<br />
können.<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
GLOSSAR<br />
29<br />
10 MUNDLOCH<br />
Ausgang eines Stollens an der<br />
Erdoberfläche, der häufig gemauert<br />
und mit dekorativen Elementen<br />
versehen ist.<br />
11 NIEDERLAGE<br />
Die Niederlage ist ein Zwischenlager<br />
für Kohlen, Erze und andere Rohstoffe,<br />
von wo aus der Weitertransport bzw.<br />
die Verladung durchgeführt wurde.<br />
12 PINGE<br />
Trichter- oder muldenförmige Vertiefungen<br />
an der Erdoberfläche, die durch<br />
das Einbrechen von Hohlräumen, alter,<br />
oberflächennaher Abbaue, Förderschächte<br />
oder Lichtlöcher entstehen.<br />
13 REGAL, BERGREGAL<br />
<strong>Das</strong> dem Landesherren zukommende<br />
Recht, alle in seinem Lande vorkommenden<br />
Metalle, Erze und andere<br />
nützliche Fossilien abzubauen.<br />
Mundloch<br />
14 SEILFAHRT<br />
Begriff aus der Bergmannssprache<br />
für das Transportieren von Personen<br />
im Schacht mittels Förderkorb.<br />
Niederlage<br />
15 STROSSENBAU<br />
Älteste Abbaumethode für den<br />
Gangerzbergbau und das typische<br />
Abbauverfahren vor dem 16. Jahrhundert,<br />
bei dem von oben nach unten<br />
stufenförmig abgebaut wird.<br />
16 TÜRSTOCK<br />
Aus Rundholz gezimmerter Unterstützungsbau<br />
in Stollen und Strecken<br />
gegen Verbrüche und Steinfall. Ein<br />
Türstock besteht in der Regel aus zwei<br />
Stempeln und einer Kappe.<br />
17 WASSERKUNST<br />
Gesamtheit mittelalterlicher, technischer<br />
Anlagen zur Hebung des<br />
Grundwassers aus dem Bergwerk, seit<br />
dem 16. Jahrhundert meist in der Form<br />
des „Kunstgezeuges“, eingerichtet<br />
und instand gehalten von den „Kunstmeistern“,<br />
den frühesten Ingenieuren<br />
im Bergbau.<br />
18 WETTER<br />
Bergmännischer Ausdruck für die<br />
in einem Bergwerk vorliegenden<br />
(Atem-)Luftbedingungen (Luft-Gas-<br />
Gemisch). Man unterscheidet gute<br />
bzw. frische Wetter und im Gegensatz<br />
hierzu matte, böse oder <strong>–</strong> insbesondere<br />
im Steinkohlenbergbau bei<br />
entsprechend starker Staub- oder<br />
Gaskonzentration <strong>–</strong> schlagende<br />
Wetter.<br />
19 XENOLITH<br />
Einschluss von Fremdgesteinen in<br />
magmatischen Schmelzen bzw.<br />
Gesteinen.<br />
20 YELLOW CAKE<br />
Endprodukt des chemisch aufbereiteten<br />
Uranerzes. In dieser Form<br />
wurde das Uran von der SDAG<br />
Wismut in die damalige Sowjetunion<br />
geliefert, wo es für das dortige<br />
Atomprogramm genutzt wurde.<br />
21 ZEHNTNER<br />
Bergbeamter, der mit der Erhebung<br />
und Einkassierung der Abgaben<br />
für den Regalherren, dem Zehnten der<br />
ausgebrachten Metalle, betreut war.<br />
Wetter<br />
Die Texte folgen dem<br />
„Berg(er)baulichen Wörterbuch“<br />
von Wolfgang Ranft.<br />
Quelle: <strong>Welterbe</strong> Montanregion<br />
<strong>Erzgebirge</strong> e. V.<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
Ab ins Grüne!
OUTDOOR<br />
31<br />
Auf der Naturbühne Greifensteine<br />
bei Annaberg-Buchholz gibt es Theater und<br />
Konzerte unter freiem Himmel und zwischen<br />
echten Erzgebirgsfelsen<br />
Regisseurin Tamara<br />
Korber und Intendant<br />
Ingolf Huhn im<br />
Zuschauerraum<br />
<strong>Das</strong> Stück „Elfen-Feuer<br />
zwischen Felsen“ ist<br />
ein flirrendes und<br />
funkelndes Spektakel<br />
TEXT Irene Bazinger<br />
FOTOS Marko Seifert<br />
<strong>Das</strong> Theater ist ein ausgesprochener<br />
Hallensport, wenigstens<br />
hierzulande: Es gedeiht am<br />
besten in dunklen, trockenen Räumen<br />
und akustisch abgeschottet gegen alles,<br />
was draußen vor der Tür geschieht.<br />
Im Sommer freilich, wenn die Nächte<br />
kurz, die Ferien lang und die Gewitter<br />
hoffentlich knapp sind, zieht es selbst<br />
die härtesten Nachtschattengewächse<br />
der Hochkultur hinaus an die frische<br />
Luft. <strong>Das</strong> kann in renommierten<br />
Orten wie Salzburg, Verona oder Bad<br />
Segeberg der Fall sein. Es sind allerdings<br />
immer noch Geheimtipps<br />
zu entdecken, wie <strong>zum</strong> Beispiel die<br />
Naturbühne Greifensteine.<br />
Dieses einzigartige Freilufttheater bei<br />
Annaberg-Buchholz wirkt wie aus einem<br />
Märchen: In einem dicht bewachsenen<br />
Wald ragen ein paar pittoresk übereinandergeschichtete<br />
Steinfinger in den<br />
Himmel. Früher befand sich an dieser<br />
Stelle ein Granitsteinbruch, und weil<br />
dessen Material sehr begehrt war, mussten<br />
einige der historischen Säulen dran<br />
glauben. Die übrig gebliebenen stehen<br />
in einem Halbkreis und bilden eine<br />
Art urwüchsiger Bühnenraum. Diese<br />
hochromantische Kulisse regte Künstler<br />
schon Mitte des 19. Jahrhunderts an,<br />
darin Theaterstücke aufzuführen. 1931<br />
dann begann das Stadttheater Annaberg<br />
einen kontinuierlichen sommerlichen<br />
Gastierbetrieb einzurichten. Der wurde<br />
auch im Zweiten Weltkrieg beibehalten<br />
und von der „Spielgemeinschaft für<br />
Nationale Festgestaltung“ in Zusammenarbeit<br />
mit dem Waldtheater Oybin<br />
fortgesetzt.<br />
Seit 1952 bespielt das Eduard-von-<br />
Winterstein-Theater aus Annaberg-<br />
Buchholz die Naturbühne und gibt<br />
in diesem Jahr von Juni bis in die erste<br />
Septemberwoche insgesamt rund<br />
60 Vorstellungen für Kinder wie für<br />
Erwachsene. Damit das möglich ist,<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
32<br />
werden die üblichen Theaterferien vorverlegt<br />
und die Mitarbeiter können<br />
die Festspiele ausgeruht bestreiten. <strong>Das</strong><br />
Programm reicht von Kinderstücken<br />
wie „Ronja Räubertochter“ oder „Der<br />
Zauberer von Oz“ über „Blues Brothers“<br />
als „Rhythm-and-Blues-Night“<br />
bis hin zu Operetten wie „Der Zigeunerbaron“.<br />
<strong>Das</strong> breit gefächerte Angebot hat<br />
Methode, wie Ingolf Huhn, seit 2010<br />
Geschäftsführender Intendant, erläutert:<br />
„Wir versuchen, möglichst viele Menschen<br />
mit unserem Sommerprogramm<br />
anzusprechen. Die Produktionen sind<br />
niedrigschwellig, und die Naturbühne<br />
ist so stimmungsvoll, dass sich selbst<br />
Leute, die sonst nicht unbedingt ins<br />
Theater gehen, wohlfühlen können.“<br />
Die 1200 Plätze in den sanft ansteigenden<br />
Reihen sind nicht nummeriert.<br />
Wer zuerst da ist, sitzt zuerst <strong>–</strong> auch bei<br />
dem regelmäßig stattfindenden großen<br />
Country-Musikfestival. Die Zuschauer<br />
treffen oft spontan ein, darüber hinaus<br />
haben aber auch Busunternehmen die<br />
„Greifensteine“ längst im Sortiment.<br />
Viele Besucher bringen Picknickkörbe<br />
und Decken mit, andere verpflegen<br />
sich mit Bratwurst, Eis und Bier oder<br />
Limonade am hauseigenen Kiosk.<br />
Die Wege sind kurz und naturbelassen,<br />
zwischen den Steinen lugt Gras<br />
hervor. Ein Dach gibt es nicht, weshalb<br />
bei Regen die eine oder andere Aufführung<br />
ausfallen muss. Die Unstetigkeit<br />
der Witterung fordert dem Ensemble<br />
wie dem Publikum mitunter einiges ab,<br />
aber wer hierherkommt, ist prinzipiell<br />
wetterfest.<br />
Ingolf Huhn betont den Charakter<br />
einer offenen Gesellschaft und meint<br />
damit neben der kreativen Transparenz<br />
eben auch die meteorologische Durchlässigkeit<br />
in sämtliche Himmelsrichtungen.<br />
Recht hat er, denn es ist wirklich<br />
zu schön, zwischen den hohen Felsgebilden<br />
den Vorstellungen zuzusehen<br />
<strong>–</strong> sowie dem Einbruch der Dämmerung,<br />
bis schließlich die Nacht eine vertraute<br />
Theatersituation schafft, in der Scheinwerfer<br />
für Licht und Schatten, für<br />
kunstvolle Effekte und bunte Akzente<br />
sorgen. Etwa immer dann, wenn sich<br />
Kletterer von den Greifensteinen<br />
abseilen, sich Akteure hoch zu Ross<br />
ins Geschehen einmengen oder wenn<br />
von irgendwo oben ein Tenor durch<br />
die Abendröte singt.<br />
„Ich liebe die Arbeit unter freiem<br />
Himmel“, sagt die Regisseurin Tamara<br />
Korber, die in diesem Ambiente bereits<br />
mehrere Produktionen realisiert hat:<br />
„Ich liebe die frische Luft, die Weite<br />
des Horizonts, die Dimensionen dieser<br />
Bühne! Ich mag es sogar, wenn die Leute<br />
mit einem Bier oder einer Tüte Popcorn<br />
hereinschlendern, sich auf ihre Kissen<br />
Einzig Garderobe,<br />
Requisite und Kasse sind<br />
an den Greifensteinen<br />
überdacht<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
OUTDOOR<br />
33<br />
Fotos: Marko Seifert (2). Dirk Rückschlo./BUR-Werbung (vorherige Doppelseite). Marko Seifert<br />
Im Jahr 1846 wurde<br />
an den Greifensteinen<br />
erstmals Theater<br />
gespielt<br />
Im Sommer drängen<br />
bis zu 1200 Besucher<br />
am Tag <strong>zum</strong> Eingang<br />
der Felsenbühne<br />
fläzen und die Dinge ganz entspannt<br />
auf sich zukommen lassen. Die Schauspieler<br />
müssen sich die Aufmerksamkeit<br />
ihres Publikums erobern können, das<br />
ist eine prima Übung!“<br />
Tamara Korber absolvierte die Schauspielschule<br />
in Rostock und konzentriert<br />
sich mittlerweile auf die Regie. Zusammen<br />
mit der Dramaturgin Annelen<br />
Hasselwander hat sie das erfolgreiche<br />
Fantasy-Stück „Elfen-Feuer zwischen<br />
Felsen“ geschrieben und selbst inszeniert.<br />
In diesem „flirrenden, funkelnden,<br />
glitzernden Nachtspektakel“ mit vielen<br />
live dargebotenen Hits von Udo Lindenberg<br />
bis zu Nirvana geht es vergnüglich-versponnen<br />
um Trolle und Elfen,<br />
um den Verlust von Kraft und Tradition,<br />
um den Gewinn von Freundschaft<br />
und Identität. Die Zeiten und Welten<br />
Wer im Sommer in<br />
das Naturtheater<br />
Greifensteine kommt,<br />
der ist prinzipiell<br />
wetterfest<br />
vermischen sich, und geheimnisvolle<br />
Fabelwesen begegnen Radwanderern aus<br />
der Gegenwart.<br />
Tamara Korber, die mit ihren langen<br />
roten Haaren und den fließenden<br />
Bewegungen fast wie eine Figur aus<br />
ihrem eigenen Stück erscheint, kennt<br />
das atmosphärische Kolorit und die<br />
technischen Gegebenheiten der Naturbühne<br />
genau. Sie kann die Greifensteine<br />
wirkungsvoll in die Handlung integrieren<br />
und die Geschichte auf packende<br />
Weise mit Tanz und Akrobatik erzählen.<br />
Da stimmt die Ökonomie der Inszenierung<br />
ebenso wie die Umsetzung über<br />
Stock und Stein. Wenn sich am Schluss<br />
alles verbeugt, die Musiker noch einmal<br />
gehörig Rabatz gemacht haben und<br />
gegen Mitternacht ein Feuerwerk abbrennt,<br />
wird die Naturbühne mit den<br />
markanten Greifensteinen wahrhaftig<br />
zu einem magischen Ort, an dem nichts<br />
unmöglich ist: auf der Spur der Steine<br />
dem Himmel so nah.<br />
Wer davon fasziniert ist, taucht<br />
vielleicht bald auch im Eduard-von-<br />
Winterstein-Theater im Zentrum von<br />
Annaberg-Buchholz auf und will in<br />
Erfahrung bringen, wie sich die Schauspieler,<br />
die Open Air so toll waren,<br />
unter einem festen Dach präsentieren.<br />
Es würde sich lohnen, denn Intendant<br />
Ingolf Huhn stellt hier nicht nur Jahr<br />
für Jahr einen abwechslungsreichen<br />
Spielplan für das Zwei-Sparten-Haus<br />
zusammen, er bringt es auch regelmäßig<br />
in die überregionalen Feuilletons: 2014<br />
mit „Tanhäuser“ von Carl Amand<br />
Mangold, im April mit „Der Grossadmiral“<br />
von Albert Lortzing und nächste<br />
Saison hoffentlich mit „Die Hochzeit<br />
des Jobs“ von Joseph Haas. Und dafür<br />
findet sich ein Publikum in einer kleinen<br />
Stadt tief im <strong>Erzgebirge</strong>? „Da werde<br />
ich durchaus auf der Straße angesprochen<br />
und gelobt <strong>–</strong> oder kritisiert“, sagt<br />
Huhn, der zuvor Operndirektor in<br />
Meiningen und Intendant in Freiberg-<br />
Döbeln sowie Plauen-Zwickau war.<br />
Durch das Vertrauensverhältnis, das<br />
er zu seinem Publikum aufbauen<br />
konnte, werden auch weniger bekannte<br />
Werke angenommen: „Am besten ist<br />
es, wenn die Menschen sagen, das war<br />
unsere Ausgrabung. Dann haben sie<br />
sich auf das künstlerische Abenteuer eingelassen<br />
und tragen es mit.“ Der eloquente<br />
Primus inter Pares war fünf<br />
Jahre lang Assistent der Regie-Legende<br />
Ruth Berghaus. Von ihr hat er gelernt,<br />
dass sich ein Regisseur am jeweiligen<br />
Werk beweisen muss, nicht umgekehrt.<br />
„<strong>Das</strong> Werk hat immer recht!“, erklärt<br />
Huhn und entwickelt aus dieser Haltung<br />
seine Ästhetik. „Rein geografisch<br />
mögen wir hinter den sieben<br />
Bergen bei den sieben Zwergen liegen,<br />
doch was das Theater betrifft, da<br />
macht uns so leicht niemand etwas<br />
vor.“ •<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
35<br />
Vornehme<br />
Phoneme<br />
Der aus Annaberg-<br />
Buchholz stammende<br />
Dichter und Grafiker<br />
Carlfriedrich Claus war<br />
Dickkopf, Schriftbildner<br />
und Extrempoet.<br />
Eine Hommage<br />
TEXT Teresa Ende<br />
Daheim im Sprachgewebe:<br />
Carlfriedrich Claus in seinem<br />
Studienraum in Annaberg-<br />
Buchholz im Jahr 1982<br />
Man muss das Gedankenensemble<br />
durch sein Nichts schicken“,<br />
entfuhr es Carlfriedrich Claus<br />
einmal bei einem Ateliergespräch mit<br />
dem Kunsthistoriker Henry Schumann<br />
im Jahr 1976. <strong>Das</strong> klingt lässig, provokant<br />
und irgendwie verschroben. Doch<br />
es trifft ins Herz der poetischen, schriftbildnerischen<br />
und klanglichen Experimente<br />
dieses eigenbrödlerischen Kreativen,<br />
der zu den herausragenden und<br />
doch oft übersehenen deutschen Künstlerpersönlichkeiten<br />
des 20. Jahrhunderts<br />
zählt.<br />
Dabei sah sich der 1930 in Annaberg<br />
geborene Claus lange Zeit selbst überhaupt<br />
nicht in dieser Rolle. Aufgewachsen<br />
in einer die Nationalsozialisten<br />
offen ablehnenden, progressiven Familie,<br />
interessierte er sich zwar früh für<br />
die „entarteten“ Künstler <strong>–</strong> für George
Carlfriedrich Claus<br />
brach Sprache in<br />
ihre Bestandteile<br />
auf <strong>–</strong> in Laute und<br />
Buchstaben<br />
Grosz, Paul Klee, Wassily Kandinsky,<br />
El Lissitzky, Pablo Picasso. Doch eigentlich<br />
zählte die Literatur zu seinem<br />
Hauptinteresse. Claus las Heinrich Heine,<br />
Carl Einstein, Ernst Bloch, Daniel-<br />
Henry Kahnweiler. Zur Schule ging er<br />
ungern, und ebenso wenig sagte ihm<br />
die spätere Lehre als Einzelhandelskaufmann<br />
zu. Den von den Eltern übernommenen<br />
Schreibwarenhandel in<br />
Annaberg gab er daher früh an den Volksbuchhandel<br />
der DDR ab.<br />
Ihm lag halt mehr das Kreative: Bereits<br />
mit Anfang 20 begann Claus,<br />
experimentelle Literatur zu erzeugen; es<br />
entstanden theoretische Texte, aber<br />
auch Klangarbeiten und Lautprozesse.<br />
Claus unternahm Sprechversuche in<br />
Wechselbeziehung zu Naturvorgängen<br />
oder zur Neuen Musik, und er versuchte,<br />
Sprache in einzelne Laute und<br />
Buchstaben aufzubrechen. Dabei war er<br />
beileibe kein L’art-pour-l’art-Wiedergänger:<br />
Für ihn war Sprache <strong>–</strong> sei es in<br />
Form von Literatur, als gesprochenes<br />
Wort oder visuell als bildende Kunst <strong>–</strong><br />
nicht selbstreferenzielles Experimentierfeld,<br />
sondern politisches Analyseinstrument<br />
und Werkzeug im Dienste der<br />
höheren, und das hieß für ihn: kommunistischen<br />
Sache.<br />
Mit seinen sogenannten Sprachblättern<br />
entwickelte er seit 1961 eine<br />
grafisch-visuelle Form von Schrift-<br />
Linea turen, die, doppelhändig ausgeführt,<br />
auf transparentem Papier zu<br />
flirrend-rhythmischen Strukturen anwachsen<br />
<strong>–</strong> eine Art visueller Stream<br />
of Consciousness, dessen Aufzeichnung<br />
ihn nächtelang fesseln und worüber er<br />
sogar alles andere vergessen konnte.<br />
Blätter mit oft kryptischen Titeln wie<br />
„Geschichtsphilosophisches Kombinat“<br />
sind ein Neben- und Ineinander von<br />
Oben: „Geschichtsphilosophisches<br />
Kombinat,<br />
Blatt 18“, 1963<br />
Unten: „Aurora-Mappe,<br />
Blatt 11“, 1976/1977<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
KUNSTKOPF<br />
37<br />
Fotos: Rudi Meisel/VISUM (vorherige Doppelseite). bpk/Kunstsammlungen Chemnitz/László Tóth, © Carlfriedrich Claus, VG Bild-Kunst, Bonn 2019<br />
Grafik, Schrift, autonomen Zeichen<br />
und Leerstelle. Claus löste Kompositionskategorien<br />
wie vorn und hinten, Figur,<br />
Form und Grund, Gegenstand und Abstraktion<br />
auf; Phonetik, Semantik,<br />
Bewusstsein und Unbewusstsein scheinen<br />
zu verschwimmen. Die grandiose<br />
Mappe „Aurora“ vereint das labyrinthische<br />
Wabern des Informel mit der großen<br />
reduzierten Form und liefert damit<br />
Bilder für die Befreiung des Einzelnen<br />
aus gesellschaftlichen Zwängen.<br />
All diese Experimente aber machten<br />
dem Extremdichter nicht nur Freunde.<br />
Claus, eigentlich überzeugter Marxist,<br />
wurde von der DDR-Staatssicherheit<br />
und von anderen Behörden derart misstrauisch<br />
beäugt, dass man ihm die Ausreise<br />
nahelegte. Doch er blieb standhaft.<br />
Ein Außenseiter in Annaberg <strong>–</strong> „kein<br />
Geld, keine Frau, kein Diplom, nicht mal<br />
einen Bauch“, wie er selbst die eigene<br />
Existenz lakonisch auf den Punkt zu<br />
bringen verstand. Dabei erhielt er in der<br />
reglementierten Kunstszene der DDR<br />
auch Unterstützung. So wurde er früh<br />
von dem Leiter des Dresdner Kupferstich-Kabinetts,<br />
Werner Schmidt, sowie<br />
dem Galeristen Klaus Werner ge fördert.<br />
Die experimentelle Galerie und Künstlergruppe<br />
„Clara Mosch“ um Thomas<br />
Ranft und Michael Morgner erleichterte<br />
<strong>zum</strong>indest zeitweise die Präsentation<br />
und den Verkauf seiner Werke.<br />
Erst mit dem Ende der DDR kam<br />
für Claus die breitere Anerkennung.<br />
In kurzer Folge erhielt er Kunstpreise<br />
und wurde in die Berliner Akademie<br />
der Künste aufgenommen. Es war ein<br />
kurzer Ruhm. Claus starb mit nur 67<br />
Jahren, am 22. Mai 1998. Er hinterließ<br />
Hunderte Handzeichnungen und<br />
Druckgrafiken, Fotografien, Manuskripte,<br />
Tagebücher und eine 22 000 Briefe<br />
umfassende Korrespondenz <strong>–</strong> unter<br />
anderem mit Hans Arp, Ernst Bloch,<br />
Will Grohmann, Raoul Hausmann,<br />
Lothar Lang, Fritz Winter, allein 1000<br />
Briefe und Postkarten mit Christa<br />
und Gerhard Wolf. Der Vielleser Claus<br />
besaß mehr als 10 000 Bücher, die heute<br />
für das Verständnis seiner Werke unverzichtbar<br />
sind. Schließlich existieren bei<br />
Claus Bild, Klang, Sprache, Schrift,<br />
Körper, Individuum und Gesellschaft<br />
nie losgelöst voneinander. Dieses<br />
dialogische Grundprinzip machte ihn<br />
in der DDR zwangsläufig <strong>zum</strong> Isolierten<br />
<strong>–</strong> und vielleicht erst nach seinem<br />
Tod <strong>zum</strong> hochgeschätzten Denker<br />
und Diskutanten. •<br />
„Typoskript“, 1958<br />
Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv<br />
Obwohl sich Carlfriedrich Claus<br />
selbst immer als Schriftsteller<br />
verstanden hat, werden seine Werke<br />
heute in Museen gesammelt. Allein<br />
575 Handzeichnungen und 711<br />
Druckgrafiken des Künstlers sowie<br />
Arbeiten von Zeitgenossen, die mit<br />
Claus befreundet waren, lagern heute<br />
in der Stiftung Carlfriedrich Claus der<br />
Kunstsammlungen Chemnitz<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
38 SPUKGESCHICHTEN<br />
Im Wald da<br />
sind die Räuber<br />
Im Unterholz der grünen Bergkämme<br />
gedeihen nicht nur Moose und Farne,<br />
auch Märchen, Mythen und düstere Sagen<br />
fallen im <strong>Erzgebirge</strong> auf fruchtbaren Boden<br />
TEXT Josefine Gottwald und Ralf Günther<br />
FOTO Marcus Glahn<br />
Als der ostfränkische König<br />
Heinrich im 11. Jahrhundert<br />
auf einem Feldzug das <strong>Erzgebirge</strong><br />
durchquerte, nannte er die Gegend<br />
„Miriquidi“ <strong>–</strong> Finsterwald. Denn<br />
dem undurchdringlichen Urgehölz<br />
haftete etwas Düsteres an. Und so ist es<br />
eigentlich kein Wunder, dass dort, wo<br />
<strong>Sachsen</strong> noch immer am dünnsten<br />
besiedelt ist, Sagengestalten und märchenhafte<br />
Naturwesen seit Urzeiten ihr<br />
Unwesen treiben.<br />
Vielleicht sogar stand hier so etwas<br />
wie ein Märchen ganz am Anfang der<br />
Entwicklung. Denn die Städte am Berg<br />
<strong>–</strong> Annaberg, Altenberg, Freiberg <strong>–</strong> sind<br />
einst durch geradewegs märchenhafte<br />
Erzfunde entstanden. Silber und Zinn<br />
hat man hier abgebaut, später Blei,<br />
Lithium, Uran. Der lockende Reichtum<br />
zog Bergleute an; um ihre Hütten<br />
herum wuchsen Höfe, Mühlen,<br />
Schmieden. Doch das Glück der Menschen<br />
war stets auch der Willkür höherer<br />
Mächte unterworfen: Im Wald waren<br />
eben nicht nur die Räuber, es gab<br />
auch Unwetter und wilde Tiere. Und<br />
im Inneren des Berges …, da begibt<br />
man sich ohnehin in Gottes Hand.<br />
Die späte Christianisierung überformte<br />
die oft aus Angst geborenen alten<br />
Sagen mit christlicher Moral. Da<br />
versiegten plötzlich Erzadern, weil die<br />
Menschen die Gaben nicht gewürdigt<br />
hatten; und einen grausamen Tod im<br />
Berg fand, wer den Herrgott nicht recht<br />
gefürchtet hatte. So soll etwa einst ein<br />
Berggeist, erzürnt vom gottlosen Leben<br />
der Menschen im Ort Bärenstein, mit<br />
seinem Karren ausgezogen sein, um<br />
seine Schätze „lieber in Altenberg auszubreiten“.<br />
Und auch im Dreikönigsschacht<br />
im Westerzgebirge versiegte mit<br />
einem Mal die Erzader als Strafe für<br />
die Verschwendung der Menschen. Im<br />
Dunkel der Berge ist eben nichts ausschließlich<br />
rational; überall treiben<br />
geheimnisvolle Mächte ihr Spiel.<br />
Da wäre etwa der schwarze Pudel<br />
von Hirschsprung: Mit seinen glühenden<br />
Augen soll er des Nachts die Zecher<br />
erschreckt haben. Und diesen Spuk<br />
beherrschte er derart glaubhaft, dass er<br />
später Eingang in die höchste Literatur<br />
finden sollte. In Goethes „Faust“ taucht<br />
der erzgebirgische Kläffer nämlich<br />
als teuflischer Mephisto wieder auf und<br />
prägte dort das Wort von „des Pudels<br />
Kern“. Kein Wunder, kannte doch der<br />
Geheimrat Goethe das <strong>Erzgebirge</strong> wie<br />
seine Westentasche. Auf dem Weg in<br />
die böhmischen Bäder hatte er oft den<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
SPUKGESCHICHTEN<br />
39<br />
Einst nannte man das<br />
<strong>Erzgebirge</strong> Finsterwald.<br />
Damals war die Region<br />
wohl ähnlich verwachsen<br />
wie in diesem Wald in<br />
Lengefeld<br />
Kamm der dunklen Hügel gekreuzt.<br />
Und als Inspektor der Bergwerke <strong>–</strong> eines<br />
seiner vielen Weimarer Hofämter <strong>–</strong><br />
fuhr er regelmäßig selbst in die tiefen<br />
Abgründe der Bergwelt des Thüringer<br />
Waldes ein.<br />
Die Menschen im<br />
<strong>Erzgebirge</strong> glauben<br />
an die Existenz einer<br />
„Grünen Frau“ oder<br />
an „Moosmännchen“<br />
Doch es gab im <strong>Erzgebirge</strong> eben<br />
nicht nur Mephisto, schließlich waren<br />
die Leute hier eigentlich brave Kirchgänger.<br />
<strong>Das</strong> hielt sie aber nicht davon<br />
ab, an Zwerge oder ähnliche kleine Gestalten<br />
zu glauben. In den Bergen gilt:<br />
Sicher ist sicher! Bis heute gewährt daher<br />
manch <strong>Erzgebirge</strong>r den mystischen<br />
Figuren einen Unterschlupf im Hinterkopf;<br />
vielleicht mit ein Grund dafür,<br />
warum man die Menschen in dieser<br />
Region zuweilen für verschroben hält.<br />
Aber es ist eben zu verlockend, den<br />
Gottesglauben neben den Aberglauben<br />
zu platzieren. Man muss ja nur einmal<br />
durch die einsamen Wälder in diesem<br />
Landstrich streifen, um bereit zu<br />
sein, an eine „Grüne Frau“ oder an das<br />
runzelige „Moosmännchen“ zu glauben.<br />
Letzteres kann der listige Wanderer<br />
übrigens nur erblicken, wenn er es aus<br />
dem Augenwinkel betrachtet.<br />
Dann wäre da noch das „Mätzel“,<br />
ein Teufel in Tiergestalt. Dieses, heißt es,<br />
könne Wohlstand verschaffen, wenn<br />
man es heimlich füttert. <strong>Das</strong> „Jüdel“<br />
wiederum, ein spaßiges Kindergespenst,<br />
soll Neugeborenen ein Lächeln auf<br />
die Lippen zaubern. Wer könnte behaupten,<br />
es nicht zu kennen?<br />
Abgeschiedenheit wirft den Menschen<br />
eben auf sein verlorenes Selbst<br />
zurück und lässt Einbildungen für wahr<br />
erscheinen. Da ist es eigentlich nicht<br />
verwunderlich, dass die Montanregion<br />
<strong>Erzgebirge</strong> bis in die Neuzeit hinein<br />
als ein Ort erscheint, an dem Wunder<br />
prinzipiell möglich sind.<br />
Von einem solchen Wunder erzählte<br />
auch der Schriftsteller Stefan Heym<br />
in seinem 1984 erschienenen Roman<br />
„Schwarzenberg“. Es ist die Geschichte<br />
eines Machtvakuums, das am Ende<br />
des Zweiten Weltkriegs an einer Schnittstelle<br />
des US-amerikanischen und des<br />
sowjetischen Einmarschgebietes entstanden<br />
sein soll. Weder die Amerikaner noch<br />
die Russen, so heißt es, wollten von<br />
dem abgelegenen und offenbar von einem<br />
mysteriösen Völkchen bewohnten<br />
Landstrich am südlichen Gebirgsrand<br />
Besitz ergreifen. Die Geschichte ist eigentlich<br />
historisch verbürgt, und doch<br />
wird sie bis heute auf immer neue Weise<br />
erzählt. Angeblich sollen die Schwarzenberger<br />
ihre Chance genutzt und die<br />
Regierung durch sogenannte Aktionsausschüsse<br />
selbst ausgeübt haben.<br />
Die „Freie Republik Schwarzenberg“<br />
existierte ganze 42 Tage lang <strong>–</strong> und fügt<br />
sich wunderbar in diese sagenumwobene<br />
Welt aus Fabel, Fakt und Fantasie.<br />
Mit der wiederentdeckten Identität<br />
als Grenzregion nach dem Fall des<br />
Eisernen Vorhangs erwachten Märchen<br />
und Hokuspokus <strong>zum</strong> vorerst vielleicht<br />
letzten Mal. Denn abergläubisch sind<br />
die Menschen im <strong>Erzgebirge</strong> aus Tradition.<br />
So ist seit geraumer Zeit wieder<br />
ein sogenanntes Liebstöckelkraut in<br />
Mode. Einstmals, sagt man, soll das Gesöff<br />
Flüche gebrochen haben, heute<br />
genießt man es eher als Kräuterschnaps.<br />
„Miriquidi“ wiederum, jener Finsterwald<br />
aus dem 11. Jahrhundert, ist längst<br />
<strong>zum</strong> Namen einer Rehaklinik geworden,<br />
und ein Weihnachtsschmaus<br />
namens „Neinerlaa“ verspricht noch immer<br />
kleine Wunder <strong>–</strong> und das mitten<br />
in einer Landschaft, in der man die<br />
mystische Allgewalt der Natur ganz gegenwärtig<br />
spüren kann. •<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
40<br />
Jens Bretschneider im<br />
traditionellen Habit der<br />
Bergleute. Im Hintergrund<br />
Schneeberg mit seiner<br />
St.-Wolfgangs-Kirche
VEREINSLEBEN<br />
41<br />
Ein Erz<br />
und eine Seele<br />
Auch wenn der Bergbau längst beerdigt<br />
worden ist, die Tradition lebt in den stetig<br />
wachsenden Bergmannsvereinen fort<br />
TEXT Jens Wiesner<br />
FOTOS Christoph Busse<br />
Glück auf!“ Die freundliche<br />
Bäckersfrau im Freiberger Bio-<br />
Supermarkt trägt keinen<br />
Grubenhelm, keinen Bergkittel und<br />
sieht auch sonst nicht aus, als sei sie jemals<br />
unter Tage gewesen. Trotzdem<br />
empfängt sie ihre Kunden mit jenem<br />
traditionellen Bergmannsgruß, der im<br />
16. Jahrhundert im <strong>Erzgebirge</strong> seinen<br />
Ausgang nahm und schnell deutschlandweite<br />
Verbreitung fand.<br />
Dem ungeübten Ohr mag das durchaus<br />
komisch vorkommen; der Untertagebergbau<br />
im <strong>Erzgebirge</strong> liegt schließlich<br />
seit 30 Jahren größtenteils brach.<br />
Früher, ja früher, sah das anders aus:<br />
500 Jahre lang waren Bergmänner in die<br />
Fundgruben von Freiberg, Schneeberg<br />
Annaberg, Joachimsthal und Marienberg<br />
eingefahren und hatten Silber, Kobalt,<br />
Zinn, Blei, Nickel und Uran aus<br />
dem Gestein geschlagen. Doch mit der<br />
Wende 89/90 war damit vorerst Schluss:<br />
Es lohnte sich einfach nicht mehr, die<br />
restlichen Erze aus dem Berg „zu<br />
kratzen“.<br />
Und es stimmt ja: Der Berg hat<br />
seine Reichtümer zu keiner Zeit verschenkt,<br />
nicht einmal während des<br />
„Großen Berggeschreys“ am Ende des<br />
15. Jahrhunderts. <strong>Das</strong> Erz musste ihm<br />
immer abgetrotzt werden <strong>–</strong> mit Blut,<br />
Schweiß, Muskelkraft und Menschenleben.<br />
Und dass so ein Knochenjob auf<br />
lange Sicht krank machte, war seit Jahrhunderten<br />
bekannt. Gearbeitet wurde<br />
trotzdem <strong>–</strong> unter Bedingungen, die sich<br />
heute kaum noch ein Mensch vorstellen<br />
kann.<br />
Der Stolz auf diese entbehrungs reiche<br />
Arbeitsleistung der Altvorderen hat<br />
sich tief in die DNA der Menschen im<br />
<strong>Erzgebirge</strong> gebrannt. „Alles kommt<br />
vom Bergwerk her“ sagt man hier und<br />
meint es so. Franz-Peter Kolmschlag<br />
indes, Geschäftsführer des Sächsischen<br />
Landesverbands der Bergmanns-,<br />
Hütten- und Knappenvereine, hört diesen<br />
Spruch gar nicht gern. Und das<br />
hat mit seinem Titel zu tun: Der Ruheständler<br />
ist nämlich nicht Berg-, sondern<br />
Hüttenmann. Als solcher war<br />
er für die Veredelung jenes Rohstoffs<br />
zuständig, den die Bergmänner gefördert<br />
haben.<br />
Doch bei der Bewahrung der Traditionen<br />
ziehen Hütten- und Bergleute<br />
längst an einem Strang. 64 örtliche<br />
Vereine mit insgesamt 3500 Mitgliedern<br />
umfasst der Dachverband <strong>–</strong> Tendenz<br />
steigend. Bei den meisten von ihnen<br />
beginnt die Begeisterung für den Bergbau<br />
bereits im Kindesalter <strong>–</strong> so wie<br />
bei Ray Lätzsch, seit über 20 Jahren<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
42<br />
Vorsitzender der Bergbrüderschaft<br />
„Schneeberger Bergparade“ und fast genauso<br />
lange im Landesverband aktiv.<br />
„Wir dürfen nicht nur die kalte Asche<br />
bewahren, sondern müssen auch das<br />
Feuer bei der jüngeren Generation<br />
wecken“, ist sich der 49-jährige Direktor<br />
eines Pflegeheims sicher, der<br />
bereits mit 14 Jahren der Bergbrüderschaft<br />
beitrat und dessen Großvater<br />
noch selbst unter Tage „malocht“ hat.<br />
Bei Jens Bretschneider sieht es ähnlich<br />
aus: „Der Opa im Berg“, diese<br />
Erzählung ist in den Familien im <strong>Erzgebirge</strong><br />
allgegenwärtig. Bei Bretschneider<br />
aber war es die Musik, die den heutigen<br />
Landesbergmusikdirektor und Chefdirigenten<br />
des Schneeberger Musikkorps<br />
zur Tradition gebracht hat. Freilich,<br />
in seinem 60-köpfigen Orchester<br />
werden nicht ausschließlich Bergmannslieder<br />
gespielt. Aber wenn <strong>zum</strong> Ende<br />
eines Konzerts das Steigerlied geschmettert<br />
wird, dann hält es hier im <strong>Erzgebirge</strong><br />
niemanden mehr auf seinem<br />
Stuhl: „Dann stehen alle auf, egal ob<br />
jung oder alt, ob Mann oder Frau,<br />
und singen aus vollster Kehle mit.“<br />
Festzuhalten bleibt aber auch: Die<br />
wenigsten Menschen, die sich im<br />
Erz gebirge für die Pflege der Bergbautraditionen<br />
engagieren, haben selbst<br />
Bernd Schöhnerr von<br />
der Bergsicherung<br />
Schneeberg klettert<br />
hinab in die Tiefe<br />
Historisches Foto von<br />
Hüttenarbeitern, die<br />
das gewonnene Metall<br />
weiterverarbeiten<br />
noch im Berg gearbeitet; da bleibt eine<br />
gewisse Verklärung der Knochenarbeit<br />
nicht aus. „Die Zechen mussten<br />
wohl erst geschlossen werden, damit<br />
die Menschen sich auf ihre Tradition<br />
besinnen“, versucht Bernd Schönherr<br />
vom Besucherbergwerk „Fundgrube<br />
Weißer Hirsch“ in Schneeberg eine Erklärung<br />
zu finden.<br />
Schönherr ist Technischer Geschäftsführer<br />
der Steiger der Bergsicherung.<br />
<strong>Das</strong> Besucherbergwerk „Weißer Hirsch“<br />
befindet sich direkt auf dem<br />
Fotos: © Christoph Busse. Sammlung Kolmschlag<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
VEREINSLEBEN<br />
43<br />
Fotos: Sammlung Kolmschlag. © Christoph Busse<br />
Firmen gelände der Bergsicherung, die<br />
1957 gegründet wurde, um Bergschäden<br />
in der Region zu bereinigen, nachdem<br />
der aktive Abbau eingestellt worden war.<br />
Hier, in der Kobaltstraße 42, verschmelzen<br />
beide Welten miteinander: die der<br />
Traditionspflege und die der modernen<br />
Bergarbeit <strong>–</strong> auch wenn die Schneeberger<br />
längst nichts mehr „aus dem Berg<br />
holen“. Im Gegenteil: Seit vielen Jahren<br />
bringen sie jetzt etwas in den Berg<br />
hinein: Besucher und Touristen.<br />
Am besten also, wir steigen einfach<br />
mit in den Berg und machen uns in<br />
der Tiefe ein eigenes Bild: Sprosse für<br />
Sprosse geht es abwärts, 70 Meter den<br />
ursprünglich 405 Meter tiefen Schacht<br />
vom restaurierten Hut- und Treibehaus<br />
hinunter, mit Grubenhelm und -lampe<br />
auf dem Kopf, Gummistiefeln an den<br />
Füßen und einer dicken Wattejacke über<br />
den Alltagskleidern. Denn schmutzig<br />
geht es hier unten noch immer zu.<br />
Vor allem aber ist es eng: Dort, wo<br />
bereits Sprengmittel eingesetzt wurden,<br />
um die Stollen in den Berg zu<br />
treiben, lässt sich recht bequem vorankommen.<br />
An den Stellen aber, wo<br />
das Gestein noch mit Schlägel und<br />
Eisen geschlagen wurde, helfen nur<br />
Seitwärtsgang und ein in Ehrfurcht<br />
geneigter Buckel, um nicht stecken zu<br />
bleiben.<br />
Dann plötzlich tauchen drei krakelige<br />
Strichmännchen im Lichtkegel<br />
der Grubenlampe auf. Graffiti? Weit<br />
gefehlt! „An dieser Stelle sind drei<br />
Bergknappen in bösen Wettern gestorben“,<br />
erklärt Schönherr.<br />
Just an diesem Ort nimmt auch<br />
einmal im Jahr die traditionelle Mettenschicht<br />
ihren Anfang <strong>–</strong> ein uralter<br />
bergmännischer Brauch, der sich auf<br />
die letzte Schicht vor Heiligabend<br />
bezieht. Während in anderen Besucherberg<br />
werken die Mettenschicht touristischen<br />
Charakter hat, bleibt die<br />
Feier in Schneeberg den Mitarbeitern<br />
und Freunden der Bergsicherung<br />
vorbehalten.<br />
Bergmänner in einer<br />
Grube bei Freiberg<br />
Eine historische<br />
Markierung erinnert an<br />
den Tod dreier<br />
Bergmänner<br />
Die vielen Geschichten<br />
vom eigenen<br />
Großvater im Berg<br />
sind noch überall<br />
lebendig<br />
Die in traditioneller Form abgehaltene<br />
Mettenschicht beginnt mit einer<br />
untertägigen Andacht der Steiger und<br />
Bergleute. Übertage im Treibehaus wird<br />
dann der jährliche Grubenbericht<br />
ver lesen, der Pfarrer spricht das Mettengebet<br />
und natürlich spielt Bretschneiders<br />
Musikkorps am Ende wieder das<br />
Steigerlied. Dann kommt der gemütliche<br />
Teil <strong>–</strong> mit Bergschmaus und Bergbier.<br />
Dabei werden mit Sicherheit<br />
et liche Grubenfeuer, Wismutfusel und<br />
Lauterbacher Tropfen die sangesfreudigen<br />
Kehlen hinunterfließen.<br />
Und wer es sich verdient hat, der<br />
wird an diesem Abend noch über<br />
das Arschleder springen <strong>–</strong> ein festes<br />
dreieckiges Lederstück, das sich der<br />
Bergmann umbindet, um seinen Allerwertesten<br />
vor Nässe, Schmutz und<br />
sonstigem Ungemach zu schützen. Auch<br />
heute noch zeigt der beherzte Sprung<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
44<br />
VEREINSLEBEN<br />
Es geht um die Seele.<br />
Niemand braucht<br />
ein bergmännisches<br />
Disneyland<br />
die Aufnahme in den Bergmannsstand<br />
an <strong>–</strong> oder dient als Ehrung für Menschen,<br />
die sich um die Tradition verdient<br />
gemacht haben. Selbst der einstige<br />
sächsische Ministerpräsident Stanislaw<br />
Tillich durfte im „Weißen Hirsch“ schon<br />
einmal springen. Was weiter an diesem<br />
trinkseligen Abend geschah, darüber<br />
schweigt sich Schönherr aus.<br />
Ordentlich gefeiert wurde freilich<br />
auch an jenem ersten Samstag im Juli,<br />
als das Ergebnis des Weltkulturerbekomitees<br />
verkündet wurde. Wie Arsch<br />
auf Leder passte es, dass auf dem Gelände<br />
der Bergsicherung zugleich der Tag<br />
des Bergmanns gefeiert wurde. Nicht<br />
nur in Schneeberg, im ganzen <strong>Erzgebirge</strong><br />
ist die Hoffnung groß, dass der<br />
Titel den Tourismus weiter ankurbeln<br />
wird. „In den letzten Jahrzehnten ist hier<br />
so viel weggebrochen; das Erz gebirge<br />
braucht Touristen“, sagt Schönherr,<br />
warnt aber auch davor, die Seele an den<br />
Tourismus zu verkaufen. Ein bergmännisches<br />
Disneyland brauche niemand.<br />
„Wir müssen es so gestalten, dass die<br />
Leute nicht nur in der Weihnachtszeit<br />
kommen, wenn die Bergbrüderschaften<br />
und Bergkapellen ihre großen Aufzüge<br />
und Paraden abhalten.“<br />
Aber man kann sie natürlich verstehen<br />
<strong>–</strong> die Liebhaber des Weihnachtslandes:<br />
Es ist eben ein Gänsehautmoment,<br />
wenn die Knappschaften in<br />
Reih und Glied musizierend durch die<br />
weihnachtlich geschmückten Straßen<br />
ziehen und stolz ihre Uniformen und<br />
Habite präsentieren. <strong>Das</strong> berg- und hüttenmännische<br />
Habit nimmt dabei einen<br />
besonderen Platz in der Traditionspflege<br />
ein: Jedes Revier besaß einst ein eigenes<br />
Habit <strong>–</strong> und das war noch einmal in<br />
Arbeits- und Festkleidung unterteilt.<br />
Auf historische Korrektheit wird bei<br />
den Paraden besonderer Wert gelegt.<br />
Wer es wagt, einen dicken Kapuzenpulli<br />
unter der Uniform hervorlugen zu lassen,<br />
oder den Regenschirm <strong>zum</strong> Gruße<br />
schwingt, kann mit verständnislosem<br />
Kopfschütteln rechnen. Und dann gibt<br />
es noch jene Paradenteilnehmer, die<br />
ihre Uniform gern etwas „aufpimpen“:<br />
„Bei dem einen oder anderen hängt ein<br />
bisschen mehr Gold mit dran, als historisch<br />
verbürgt ist“, weiß Bretschneider.<br />
Seitdem die sächsischen Bergparaden<br />
2017 als immaterielles Kulturerbe anerkannt<br />
wurden, pocht der Landesverband<br />
noch einmal mehr auf die Einhaltung<br />
der Paradenordnung.<br />
<strong>Das</strong>s der Bergbau zunehmend in den<br />
Fokus des Tourismus gerät, hat noch<br />
einen weiteren Nebeneffekt: Die alten<br />
Berufe werden wieder gebraucht <strong>–</strong> vornehmlich<br />
für die Traditionspflege.<br />
„Werde Fördermaschinist, Lokfahrer,<br />
Anschläger oder Untertage-Führer!“<br />
wirbt ein moderner Flyer im Silberbergwerk<br />
Freiberg. Einer, der das kostenfreie<br />
Ausbildungsangebot angenommen hat,<br />
ist Maximilian Schneider. Der junge<br />
Mann studiert an der TU Bergakademie<br />
Freiberg Lagerstättenlehre und bildet<br />
sich bei der studentischen Grubenwehr<br />
fort. Bald wird er <strong>zum</strong> ersten Mal eine<br />
Schülergruppe durch die matschigen<br />
Stollen der ehemaligen Silbermine<br />
führen. „Ich finde es einfach schön, das<br />
aufrechtzuerhalten“, sagt er.<br />
Ja, es ist schon etwas paradox im<br />
<strong>Erzgebirge</strong>: Seit 30 Jahren liegt hier der<br />
Untertagebergbau brach <strong>–</strong> und<br />
doch ist längst noch nicht Schicht im<br />
Schacht. •<br />
So wird das <strong>Welterbe</strong><br />
gefeiert: Blechbläserquintett<br />
des Musikkorps der Bergstadt<br />
Schneeberg spielt in der<br />
Altstadt von Baku vor dem<br />
Jungfrauenturm<br />
Foto: Pawel Sosnowski<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
<strong>Das</strong> alte Pochwerk<br />
in Schneeberg verbindet<br />
Zukunft und<br />
Vergangenheit<br />
TEXT Ralf Hanselle<br />
FOTO S Marcus Glahn<br />
Vier Freunde<br />
und das<br />
alte Pochwerk<br />
Schneeberger Designer entdecken das<br />
<strong>Erzgebirge</strong> als Hotspot für die junge<br />
Kreativszene<br />
In Schneeberg scheint sich die Zeit zu<br />
entschleunigen. Immer langsamer<br />
wird sie, nähert man sich etwa von<br />
einer großen Metropole wie Berlin oder<br />
Leipzig der alten Bergmannsstadt auf<br />
ihrer 470 Meter hohen Erhebung im<br />
Westerzgebirge, nimmt dann die<br />
S-Bahn bis nach Zwickau und wechselt<br />
für die letzten Kilometer in einen<br />
Linien bus, der über kurvige Landstraßen<br />
hinweg in die historische Silberstadt<br />
im Schatten der spätgotischen<br />
St.-Wolfgangs-Kirche fährt. Selbst die<br />
benachbarten Gipfel von Keils- und<br />
Gleesberg scheinen hier in fast mystischer<br />
Stille zu verharren, und die letzten<br />
Spuren gehetzter Zeit entflirren hell in<br />
der gleißenden Mittagssonne.<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
46<br />
KREATIVSZENE<br />
Wer Glück hat, der wird von irgendwoher<br />
mitgenommen: Franziska Heinze,<br />
eine 30-jährige Modedesignerin, die<br />
seit gut neun Jahren in der 15 000 Einwohner<br />
zählenden Stadt im oberen<br />
Erzgebirgskreis lebt, holt mich in Zwickau<br />
mit dem Auto ab. Wir haben uns hier<br />
verabredet. In Schneeberg will mir die<br />
junge Designerin Einblicke in eine Welt<br />
eröffnen, von der ich vorher noch nie<br />
Der Holzgestalter Markus<br />
Weber ist der einzige „echte“<br />
<strong>Erzgebirge</strong>r in dem kleinen<br />
Freundeskreis<br />
„Die ganze Region ist heute durchlöchert<br />
wie ein Schweizer Käse.“ Franziska<br />
Heinze lacht. Man merkt es<br />
der eigentlich aus der Nähe von Dresden<br />
stammenden Modemacherin an: Sie<br />
lebt gern in der historischen Stadt der<br />
einstigen Steiger und Bergbeamten. An<br />
der kleinen Schneeberger Fakultät für<br />
Angewandte Kunst hat sie vor einigen<br />
Jahren ihren Bachelor in Modedesign<br />
gemacht; in den alten Häusern rund<br />
um den Kirchplatz wohnen ihre Freunde.<br />
Wegziehen? Warum? „Man lernt in<br />
dieser anregenden Abgeschiedenheit zu<br />
improvisieren. Wenn man in Schneeberg<br />
etwas vermisst, dann muss man aus<br />
dem Knick kommen und die Dinge<br />
selbst in die Hand nehmen.“<br />
Die 30-Jährige vermisst ohnehin nur<br />
wenig: einen guten Studentenkeller<br />
vielleicht, ein größeres Atelier für ihre<br />
selbst entwickelte Upcycling-Mode,<br />
vor allem aber ein junges Festival für<br />
Design und Kunsthandwerk. So etwas<br />
wäre wirklich ein Traum. Nur müsste<br />
es etwas ganz Besonderes sein: etwas<br />
Frisches, Buntes <strong>–</strong> eine Art culture clash<br />
in der Provinz. Und da dies in der Stadt<br />
Design ist Feinarbeit.<br />
Die Fakultät in Schneeberg<br />
ist für alle Gestaltungsideen<br />
bestens<br />
ausgestattet<br />
Thekla Nowak hat einst in<br />
Schneeberg Textildesign<br />
studiert. Ihre Vorliebe gilt der<br />
Arbeit am Webstuhl<br />
gehört habe <strong>–</strong> ein Eldorado für Kreative<br />
nämlich soll diese einstige Bergmannsstadt<br />
sein; vielleicht sogar eine Art Bauhaus<br />
auf dem Lande?<br />
Die Straßen jedenfalls werden zu sehends<br />
schmaler; die Menschen am<br />
Wegesrand langsamer. „Schneeberg liegt<br />
wirklich weit vom Schuss“, sagt Heinze,<br />
drückt das Gaspedal ihres Kleinwagens<br />
noch einmal durch und nimmt Kurs<br />
auf ein altes Pochwerk im sogenannten<br />
Neustädtler Revier <strong>–</strong> einem lang gezogenen<br />
Quartier am südlichen Ende<br />
der Stadt, wo einst fleißige Bergleute<br />
über 400 Jahre hinweg Silber- und<br />
Kobalterze abgebaut haben. Ganze<br />
270 Kilo Silber hätten sie während des<br />
15. Jahrhunderts aus dem kalten Berg<br />
geschürft.
Franziska Heinze arbeitet<br />
auch nach ihrem Bachelor<br />
weiter an der Hochschule<br />
mit den vielen traditionellen Handwerksberufen<br />
und der längst weit über<br />
die Grenzen hinaus etablierten Design-<br />
Fakultät noch niemand auf die Beine<br />
stellen wollte, hat Heinze selbst die<br />
Initiative ergriffen. Zusammen mit drei<br />
ehemaligen Kommilitonen von der<br />
Fakultät <strong>–</strong> einem kleinen Ableger der<br />
Westsächsischen Hochschule Zwickau<br />
<strong>–</strong> hat sich die hochgewachsene junge<br />
Frau Gedanken darüber gemacht, wie<br />
ein optimales Kreativ-Event auf dem<br />
Lande aussehen müsste; ein Festival, auf<br />
dem sich das entlegene Schneeberg<br />
als das präsentieren könnte, was es nicht<br />
nur nach Meinung Heinzes lange ist:<br />
ein kreativer Geheimtipp weit ab von<br />
den großen Metropolen.<br />
Wir treffen Heinzes Mitstreiter <strong>–</strong> die<br />
Textildesignerin Thekla Nowak, den<br />
Produktdesigner Lars Dahlitz und den<br />
Holzgestalter Markus Weber <strong>–</strong> am<br />
Rande des alten Schneeberger Pochwerks.<br />
Bis kurz nach Ende des Zweiten<br />
Weltkriegs wurden hier Gesteine und<br />
Erze zerkleinert: Silber, Nickel, am<br />
Ende sogar das legendäre Wismut-Uran.<br />
Hier also, wo man die Geschichte der<br />
mehr als 500 Jahre alten Stadt mit Händen<br />
greifen kann, soll ab dem nächsten<br />
Lars Dahlitz kam einst aus<br />
Lübben <strong>zum</strong> Studium nach<br />
Schneeberg. Heute arbeitet<br />
er als Produktdesigner<br />
Sommer das neue Festival steigen <strong>–</strong><br />
mitten in einer Industrie-Idylle, zwischen<br />
wassergetriebenen Radanlagen und<br />
hölzernen Erzsieben; auf Wiesen, in Ausschlagstuben,<br />
in Kobaltkammern.<br />
<strong>Das</strong> Wort „Creative Industries“ könnte<br />
so einen ganz neuen Geschmack<br />
bekommen.<br />
„Unser Konzept ist offen für alle“,<br />
erklärt Thekla Nowak, die Jüngste in<br />
dem Organisationsteam. Ein Familienfest<br />
solle es werden; ein Mix aus hippen<br />
Designern, DJs und traditionellen<br />
Handwerkern. Da wären die Holzschnitzer<br />
und Spielzeugbauer, die Handschuhmacher<br />
und Klöpplerinnen. Letztere<br />
bildeten einst auch den Nukleus der<br />
1962 gegründeten Fachschule für angewandte<br />
Kunst: Es war im Jahr 1882,<br />
als in Schneeberg die sogenannte Königliche<br />
Spitzenklöppelmusterschule eröffnete.<br />
Während von Frankreich aus<br />
eine Welle an Spitzenmoden über<br />
Europa schwappte, sollten in der Abgeschiedenheit<br />
des <strong>Erzgebirge</strong>s Klöppellehrerinnen<br />
ausgebildet werden, die<br />
den neuen Chic wie Mode-Influencer<br />
im gesamten Land verbreiten sollten.<br />
In gewisser Weise war man in<br />
Schneeberg also immer schon am Puls<br />
In Schneeberg<br />
bekommt das Wort<br />
„Creative Industries“<br />
eine ganz neue<br />
Bedeutung<br />
der Entwicklung <strong>–</strong> und das trotz all der<br />
Ruhe und der fast verloren geglaubten<br />
Zeit. Nun wollen die vier die Traditionen<br />
also wiederbeleben: „Wir wollen das<br />
Alte mit dem Verschränken, was über<br />
Jahrzehnte daraus entstanden ist: angesagtes<br />
Möbel- und Produktdesign, Instrumentenbau,<br />
Mode- und Textilgestaltung.“<br />
Der Titel ihres Festivals, für das<br />
bis zu 2000 Gäste erwartet werden,<br />
stehe schon fest: „Trubel in der Poche“.<br />
Es kann also losgehen. Fehlen nur<br />
noch die Gäste. Bis nach Berlin herüber<br />
soll das neue Festival strahlen. Schon<br />
jetzt entwerfen die vier emsig Flyer und<br />
Plakate. Denn wer nach Schneeberg will,<br />
benötigt Zeit. Er muss die kurvigen<br />
Straßen entlang und die Hügel hinauf.<br />
Im Gegenzug bekommt er aber auch viel<br />
Zeit geschenkt. Einen ganzen Nachmittag<br />
lang haben sich Franziska Heinze<br />
und ihre Freunde Zeit genommen, um<br />
durch eine der entlegensten Kreativschmieden<br />
der Republik zu führen. •<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
48<br />
SERVICE<br />
SO GEHT<br />
WELTKULTUR!<br />
Die Kulturhighlights im <strong>Erzgebirge</strong><br />
sind ab sofort auch Weltkulturhighlights.<br />
Eine Übersicht über Sommer und<br />
Herbst 2019<br />
FABULIX MÄRCHENFILMFESTIVAL<br />
Ein Festival mit Schauspielern,<br />
Filmemachern und Prominenten<br />
Für fünf Tage verwandelt sich Annaberg-<br />
Buchholz in eine traumhafte Kulisse.<br />
Im Mittelpunkt stehen nationale und<br />
internationale Produktionen sowie Neuverfilmungen.<br />
Ein umfangreiches<br />
Programm, Lesungen und Workshops<br />
und mehrere Veranstaltungshöhepunkte<br />
bilden den Rahmen.<br />
28. August <strong>–</strong> 1. September 2019<br />
FREIBERGER SOMMERNÄCHTE<br />
Fantastische Open-Air-Erlebnisse im<br />
Innenhof von Schloss Freudenstein<br />
Den ganzen Sommer über findet in<br />
einer einmaligen historischen Kulisse<br />
ein Mix aus Filmnacht, Fußball,<br />
Konzert, Party und Theater statt. Egal<br />
ob Pop oder Hochkultur, im Freiberger<br />
Sommer ist für jeden was dabei.<br />
Bis <strong>zum</strong> 31. August 2019<br />
Marionettentheater Dombrowsky unter Tage<br />
DEUTSCHES UHRENMUSEUM<br />
Glashütte ist seit 170 Jahren<br />
Synonym für höchste Qualität und<br />
Präzision im Uhrmachen<br />
Unter dem Motto „Faszination Zeit <strong>–</strong><br />
Zeit erleben“ zeigt das Deutsche Uhrenmuseum<br />
Glashütte nicht nur die Tradition<br />
der Uhrmacherkunst in <strong>Sachsen</strong>,<br />
sondern verschafft auch einen emotionalen<br />
Zugang <strong>zum</strong> Phänomen Zeit. Zudem<br />
bekommt man Einblicke in die<br />
Geschichte der alten Uhrmacherstadt.<br />
Ganzjährig. Mo<strong>–</strong>So 10<strong>–</strong>17 Uhr<br />
GRÜNTHALER SOMMER<br />
Mehr als zwei Monate lang feiert<br />
man in Grünthal Sonne und<br />
Sommerfrische<br />
Im Areal der Saigerhütte Olbernhau<br />
findet ein einzigartiges Sommerfest<br />
bestehend aus Weinfest, Theater, Jazz<br />
am Hammer, Bowlingmeisterschaften,<br />
Naturmarkt und vielen weiteren<br />
Veranstaltungshöhepunkten in historischer<br />
Kulisse statt.<br />
Bis <strong>zum</strong> 24. August 2019<br />
MARIONETTENTHEATER<br />
DOMBROWSKY<br />
Eine märchenhafte<br />
Puppenbühne unter Tage<br />
Erfrischend versprechen die Vorstellungen<br />
des Sommertheaters in der<br />
Quarzhöhle des Besucherbergwerkes<br />
Zschorlau zu werden! Einen Monat lang<br />
gastiert hier das Marionettentheater<br />
Dombrowsky und präsentiert beliebte<br />
Klassiker der Märchenwelt.<br />
Noch bis Ende August 2019<br />
Pobershauer Bergfest<br />
Fotos: © Marionettentheater Dombrowsky. TVE/Kristian Hahn
49<br />
SILBERMANN-TAGE<br />
Ihr Erbauer ist weltberühmt, ihr silberner Klang unerreicht. Vor 300 Jahren<br />
schuf Gottfried Silbermann in der Region rund um Freiberg eine einzigartige<br />
Orgellandschaft, die bis heute Musikliebhaber und Orgelfreunde aus aller<br />
Welt in ihren Bann zieht. Silbermanns wichtigstes Werk, die große Freiberger<br />
Domorgel, ist zugleich sein am besten erhaltenes. Als unangefochtene<br />
Königin steht sie im Mittelpunkt der seit 1978 veranstalteten Silbermann-<br />
Tage. In diesem Jahr finden sie vom 4. bis <strong>zum</strong> 15. September statt.<br />
Markt während des Grünthaler Sommers<br />
MITTWOCH, 4.9.2019, 20 UHR<br />
ERÖFFNUNGSKONZERT<br />
Dom zu Freiberg<br />
POBERSHAUER BERGFEST<br />
Bergmannstage und Bergfest <strong>zum</strong><br />
Ende des Sommers<br />
Hier können Gäste eine lebendige Bergbautradition<br />
erleben. Alle fünf Jahre<br />
erstrahlt der Marienberger Ortsteil<br />
Pobershau auch außerhalb der Weihnachtszeit<br />
im Lichterglanz. Zahlreiche<br />
museale Einrichtungen im ganzen<br />
Stadtgebiet laden <strong>zum</strong> Entdecken und<br />
Erleben der Geschichte ein. Verschiedene<br />
Sonderausstellungen geben<br />
Einblicke in die Industriegeschichte<br />
der Region.<br />
13. <strong>–</strong> 22. September 2019<br />
DONNERSTAG, 5.9.2019, 20 UHR<br />
KRIEG UND FRIEDEN<br />
Petrikirche Freiberg<br />
Die Kirche in Reinhardtsgrimma,<br />
Spielort<br />
der Silbermann-Tage<br />
SONNTAG, 8.9.2019, 10 UHR<br />
FESTGOTTESDIENST<br />
Dom zu Freiberg<br />
Fotos: Udo Brückner. Gottfried-Silbermann-Gesellschaft/Detlev Müller (2)<br />
HUSKYCUP<br />
KETTENSAEGENKUNST<br />
Ein einzigartiger Wettstreit im<br />
Schnitzen von Großskulpturen im<br />
Walderlebnisdorf Blockhausen<br />
Jedes Jahr zu Pfingsten kommen die<br />
besten Kettensägenschnitzer nach<br />
Blockhausen, dem Austragungsort der<br />
Weltmeisterschaften in Kettensägenkunst.<br />
Besonderheit: <strong>Das</strong> Hauptstück<br />
jedes Künstlers, das während der<br />
WM entsteht, bleibt vor Ort. So ziehen<br />
inzwischen mehr als 120 Skulpturen<br />
die Blicke der Besucher auf sich.<br />
Die nächste WM findet am<br />
30. Mai 2020 statt<br />
Konzert mit dem Gesualdo<br />
Consort in Zöblitz bei<br />
den Silbermann-Tagen 2013<br />
FREITAG, 6.9.2019, 19.30 UHR<br />
ZUM GIPFEL!<br />
Kirche Cämmerswalde<br />
SAMSTAG, 7.9.2019, 9.30 UHR<br />
ORGELWETTBEWERB 1. PRÜFUNG<br />
Jakobikirche Freiberg<br />
SAMSTAG, 7.9.2019, 14 UHR<br />
MACHT MUSIK!<br />
Innenstadt Freiberg<br />
MONTAG, 9.9.2019, 9.30 UHR<br />
ORGELWETTBEWERB 1. PRÜFUNG<br />
Jakobikirche Freiberg<br />
DIENSTAG, 10.9.2019, 19.30 UHR<br />
MACHT UND MUSIK<br />
Kirche Forchheim<br />
MITTWOCH, 11.9.2019, 9.30 UHR<br />
ORGELWETTBEWERB 2. PRÜFUNG<br />
Kirche Langhennersdorf<br />
FREITAG, 13.9.2019, 19.30 UHR<br />
KÖNIGSTHEMA AUF SILBERMANN<br />
Schloss Bieberstein<br />
SONNTAG, 15.9.2019, 17 UHR<br />
ABSCHLUSSKONZERT<br />
Dom zu Freiberg<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
50<br />
ZU GUTER LETZT<br />
EIN ERFOLG<br />
DER MENSCHEN<br />
IN DER ERZGE-<br />
BIRGSREGION<br />
<strong>Sachsen</strong>s Ministerpräsident<br />
Michael<br />
Kretschmer (CDU)<br />
nach der positiven<br />
<strong>Welterbe</strong>-Entscheidung<br />
in Baku<br />
INTERVIEW Michael Bartsch<br />
Erzfreunde: Wie war die Stimmung in<br />
Baku? Wie haben Sie die Entscheidung<br />
für den <strong>Welterbe</strong>titel empfunden?<br />
Michael Kretschmer: Wir waren alle sehr<br />
aufgeregt. Im Konferenzraum war praktisch<br />
die ganze Welt versammelt, das<br />
beeindruckte mich. Über einzelne<br />
Vorhaben wurde heftig diskutiert, man<br />
hat sich nichts geschenkt. An unserer<br />
Bewerbung wurde 21 Jahre gearbeitet,<br />
uns wurde nun signalisiert, dass es<br />
klappen kann. Die Menschen aus der<br />
Region haben sie vorangetrieben.<br />
Diesen Erfolg nun gemeinsam nach<br />
Hause zu holen war sehr bewegend.<br />
Haben nicht <strong>zum</strong>indest Ihre Vorgängerregierungen,<br />
namentlich das Innenministerium,<br />
auch Grund zur Demut?<br />
Denn der Bewerbung begegnete man<br />
anfangs sehr zurückhaltend, und<br />
ohne den Förderverein hätte sie wohl<br />
kaum Erfolg gehabt.<br />
Es sind die Menschen im <strong>Erzgebirge</strong>,<br />
die sich diesen Titel erarbeitet haben.<br />
Michael Kretschmer (l.) und UNESCO-Botschafter Stefan Krawielicki in Baku<br />
Sie haben Jahrhunderte ihrer Geschichte<br />
im Rücken, haben zwei Jahrzehnte<br />
lang gekämpft und dabei auch kritische<br />
Punkte berücksichtigt. Wir hatten unsere<br />
Erfahrungen mit der Dresdner<br />
Waldschlösschenbrücke und wollten<br />
nicht noch einmal in diese Situation geraten.<br />
Es war ein kluges Verfahren, sich<br />
auf ausgewählte Orte zu beschränken<br />
und wirtschaftliche Entwicklungen weiterhin<br />
zu ermöglichen.<br />
<strong>Das</strong> macht den Unterschied aus, um es<br />
neudeutsch zu sagen, zwischen einem<br />
Bottom-up- und einem Top-down-<br />
Projekt.<br />
Der Erfolg liegt darin, dass die <strong>Welterbe</strong>idee<br />
von den Menschen in der Region<br />
auch wirklich gelebt wird. Der Antrag<br />
ist, wenn man so will, in den in den vielen<br />
Jahren gewachsen. <strong>Das</strong> gilt auch für die<br />
Tschechen, die uns liebe Nachbarn sind.<br />
Gezeigt hat sich das auch in Baku,<br />
als wir gemeinsam gefeiert haben, und<br />
daran, wie die tschechische Seite über<br />
uns sprach. Partnerschaft gedeiht mit einem<br />
gemeinsamen Ziel am besten. Wir<br />
sind jetzt für die kommenden Jahrzehnte<br />
auf Zusammenarbeit angewiesen.<br />
Diese Anerkennung als materielles<br />
<strong>Welterbe</strong> bedeutet auch eine Anerkennung<br />
für immaterielle Qualitäten der<br />
Erzgebirgsbewohner. Sie kommen von<br />
der Neiße, wie sehen Sie diese Stehauf-<br />
Menschen, die ja schon manche Krise<br />
auch im Bergbau bewältigt haben?<br />
Die <strong>Erzgebirge</strong>r haben eine eigene Mentalität,<br />
sind selbstbewusst, aber immer<br />
auch selbstkritisch, manchmal zeigen sie<br />
ihren Dickschädel. <strong>Sachsen</strong> könnte<br />
man nicht erklären ohne das <strong>Erzgebirge</strong>,<br />
wo unser Reichtum herkam. Die Leute<br />
haben sich immer durchgekämpft.<br />
Deswegen werden sie auch die gegenwärtigen<br />
Herausforderungen wie etwa<br />
die Elektromobilität meistern mit ihrem<br />
beherzten Zugriff. <strong>Das</strong> <strong>Erzgebirge</strong> ist<br />
an sich schon ein Zukunftskonzept.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Welterbe</strong> ist nun ein Ehrentitel.<br />
Aber zeigt er bald auch messbare<br />
Wirkungen in dem eben beschriebenen<br />
Sinn, etwa beim Tourismus oder bei<br />
der Wirtschaftsförderung?<br />
Es kommt darauf an, was man daraus<br />
macht. Gerade für die jungen Leute ist<br />
das ein tolles Zeichen: Ihr lebt mitten<br />
im <strong>Welterbe</strong>. Jetzt müssen wir was<br />
daraus machen. Wir sollten den Titel<br />
selbstverständlich auch für den Tourismus<br />
nutzen und neue Gäste für das<br />
<strong>Erzgebirge</strong> begeistern. <strong>Das</strong> kann dem<br />
Selbstbewusstsein und dem Stolz<br />
noch einmal einen Schub geben. Unternehmensansiedlungen<br />
befördert dieser<br />
auf Bergbau- und Industrietradition<br />
basierende Titel gewiss auch. •<br />
Foto: © Pawel Sosnowski<br />
<strong>ERZFREUNDE</strong>
Sonderausstellung<br />
28.9.2019<br />
12.1.2020<br />
<strong>Das</strong> <strong>Welterbe</strong> entdecken -<br />
<strong>Das</strong> <strong>Erzgebirge</strong> erleben<br />
Der<br />
oybin<br />
und die Malerei<br />
der Romantik<br />
in der Oberlausitz<br />
Kulturhistorisches Museum Franziskanerkloster<br />
Klosterstraße 3 | D-02763 Zittau | www.museum-zittau.de<br />
Motiv: Carl Blechen, Klosterruine Oybin bei Zittau, 1823, Ausschnitt, Kunsthalle Bremen<br />
Stadtansicht Annaberg-Buchholz Foto: Dieter Knoblauch<br />
Imposante Kirchen, historische Innenstädte<br />
und Besucherbergwerke erzählen die<br />
über 800-jährige, aber immer noch lebendige<br />
Geschichte des UNESCO-<strong>Welterbe</strong>s<br />
Montanregion <strong>Erzgebirge</strong>/Krušnohoří.<br />
Auch heute noch kann die<br />
Bergbaugeschichte authentisch<br />
erlebt werden <strong>–</strong> ob bei einer<br />
Wanderung oder Radtour<br />
vorbei an Stollenmundlöchern<br />
oder Haldenzügen, bei einem<br />
Bummel durch die Bergstädte<br />
oder bei einem Besuch der<br />
Schatzkammern unter Tage.<br />
Tourismusverband <strong>Erzgebirge</strong> e.V.<br />
Tel: 03733/18800 0<br />
Mail: info@erzgebirge-tourismus.de<br />
www.erzgebirge-tourismus.de/welterbe
MONTANREGION<br />
ERZGEBIRGE/<br />
KRUŠNOHOŘÍ<br />
WIR SIND<br />
WELTERBE!<br />
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!<br />
Die Montanregion <strong>Erzgebirge</strong>/Krušnohoří trägt seit dem 6. Juli 2019 den Titel „UNESCO-<strong>Welterbe</strong>“. Insgesamt zählen<br />
nun 22 Bestandteile mit ausgewählten Bergbaugebieten und einer Vielzahl von landschaftlichen und baulichen<br />
Sachzeugen <strong>zum</strong> <strong>Welterbe</strong>: 17 auf deutscher und fünf auf tschechischer Seite. In ihrer Gesamtheit repräsentieren<br />
sie die wichtigsten Bergbaugebiete und Epochen des sächsisch-böhmischen Erzbergbaus und vermitteln das Bild<br />
einer vom Bergbau geprägten historischen Kulturlandschaft.<br />
so-geht-sächsisch.de/montanregion<br />
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