Pressespiegel 2009
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DOCK 11 <strong>Pressespiegel</strong> <strong>2009</strong><br />
Bühne, der sich vom Rest des Geschehens abgrenzt. Im Rahmen des Tanzfestivals XtraFrei zeigen die beiden<br />
Tänzerinnen ihr selbst choreografiertes Stück „(Making of) District“ in der Bremer Schwankhalle. Der Sound<br />
stammt von Alessio Castellacci.<br />
Während eine der Tänzerinnen mit katzenhaften Bewegungen über den Boden schleicht und das Gras inspiziert,<br />
verlässt die andere den eingegrenzten Bühnenbereich, um kurz darauf mit zwei Sack Kartoffeln auf dem Kopf<br />
zurückzukehren. Wäre nicht diese Geräuschkulisse aus murmelnden Geräuschen und hohem Fiepsen, könnte<br />
man der ganzen Situation sogar etwas Amüsantes unterstellen. Doch über dem Geschehen lauert eine noch nicht<br />
greifbare Bedrohung.<br />
Beide Tänzerinnen sind hübsch zurechtgemacht und tragen elegante Absatzschuhe. Fast neidisch könnte man die<br />
sehnigen Körper betrachten – wäre nicht diese kaum ertragbare Spannung, die die beiden Frauen während des<br />
gesamten Stückes nicht verlassen wird. Soon Hee Meierkord trägt einen Berg roter Girlanden oder Stoff auf den<br />
Rasen, legt den Haufen in die Ecke, und bald wird erkennbar: Das ist kein Stoff, das ist rohes Fleisch und davon<br />
nicht zu wenig. Fasst genüsslich, aber zugleich apathisch beginnt eine der beiden, das Fleisch zu zerkleinern,<br />
zunächst mit einem größeren Messer, danach mit den bloßen Händen. Knochen knacken. Ein Raunen geht durch<br />
das Publikum. Auf der Bühne präsentiert sich eine starke Ambivalenz zwischen rohem Knochenbruch und der<br />
Schönheit einer Geisha.<br />
Der Moment der Gewalt liegt über dem Geschehen. Immer wieder steigert sich die musikalische Untermalung in<br />
einen Strudel aus Blubbern, Würgern, Summen und koreanischen Gesprächsfetzen. Hyoung-Min Kim im dunklen<br />
Kostüm liegt nun wie eine gefesselte Meerjungfrau auf dem Rasen; das porzellanhafte Gesicht bekommt eine<br />
erdige Färbung. Die Hände sind eng an ihren Körper gepresst, und sie wimmert, erst leise, dann immer lauter;<br />
stöhnend und wankend bewegt sie sich vor und zurück. Zu gerne möchte man mit ihr der Situation entfliehen.<br />
Die tänzerischen Elemente der beiden Darstellerinnen sind klein gehalten und zum Teil nur in Ansätzen<br />
erkennbar. Fast absurd wirkt das Sieges-Gebrüll, das vom anderen Rasenplatz in Bremen herübertönt. War das<br />
ein Tor für Werder?<br />
Höhepunkt des Stückes ist, als Kim aufsteht und zu klagen beginnt, erst leise, dennoch<br />
(knochenmarks)erschütternd. Wie in Trance schreit sie immer lauter, ein Sog tut sich auf, sie schüttelt sich, und<br />
Geräusche und eine Energie entweichen ihrem zarten Körper, von denen man nicht angenommen hätte, dass sie<br />
dort zu Hause sein könnten. Absurder wird die Situation, als sie sich ihre Bluse herunterreißt und dem Publikum<br />
ihren schneeweißen Rücken hinhält. Sie greift nach den rohen, dunklen Fleischbrocken und schlägt sich damit auf<br />
den Rücken, als wolle sie sich geißeln.<br />
Gänsehaut macht sich im Publikum breit. Was denkt wohl die ältere Frau in Reihe drei, die von ihrer Tochter oder<br />
Enkelin gestützt wurde, um auf ihren Platz zu gelangen? Endlich mal wieder einen Tanztheaterabend, nur wir<br />
zwei, und jetzt das. Und jetzt was? Diese Gedanken verschwinden nicht. Was soll das Stück sagen? Es<br />
transportiert starke Bilder und Momente der Gewalt. Waren wir nicht durch die täglichen Morde im TV und Kino<br />
längst abgehärtet; wieso schockt ein Fleischbrocken in der Hand dieser zarten Schönheit so sehr? Es fällt schwer,<br />
während des gesamten Stückes Abstand zu halten. Ein Mädchen in der ersten Reihe weint. Es gibt keinen Filter,<br />
keinen Puffer. Ton und Bild und vor allem Gefühl erwischen einen eiskalt.<br />
Autor: Gastautor