Der lange Marsch.SCREEN
- Keine Tags gefunden...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Über die Hintergründe von
Schmerwitz
ein Artikel in der Zeitung
„die Fleckenbühler“.
Herausgegeben von der Suchthilfe
Fleckenbühl im Februar 2011:
Sommer 1970: Kinderladenbewegung
„Aktion für das Kind e.V.“ –
wir lernen Irene und Ingo Warnke
kennen, die vor kurzem aus Berlin
gekommen sind. 1971 besetzen
wir gemeinsam mit den anderen
Eltern der Gruppe ein leerstehendes
Haus in Hagen-Herdecke.
Es folgt der Einzug mit Kindern
bzw. die Einrichtung eines Kinderladens
mit wechselnder Betreuung
durch die jeweiligen Eltern – eine
erste Selbsthilfegruppe. Nach
Abriss des Hauses ist die „Kinderarbeit“
beendet, wir haben aber
weiterhin Kontakt und sehen, dass
es noch ein weiteres Programm für
Ingo und Irene gibt – und dass dies
der wahre Grund für ihren Umzug
von Berlin nach Hagen war:
Hoffnung auf ein Loskommen von
den Drogen.
Als Außenstehende erleben wir
jetzt, wie sie wieder stärker in diesen
Sumpf geraten, sehen schließlich
mit an, wie sich die beiden
einen Schuss setzen – und hören
immer öfter die Diskussion, was
aus ihrem Kind Eva werden sollte,
wenn beiden etwas „passiert“.
Ingo und Irene kommen in Kontakt
mit Dr. Walther Lechler, dem Chefarzt
der Neurologie im St. Johannes-
Krankenhaus in Hagen (später
Chefarzt der Klinik für psychosomatische
Erkrankungen in Bad Herrenalb),
er schenkt ihnen das Buch
„The Tunnel Back“ von Lewis
Yablonski, Ingo fängt an es zu
übersetzen. Sie hören von der
Selbsthilfegruppe „Release“ in
Heidelberg und fahren schließlich
dorthin.
Nach dem Anruf: „Könnt ihr kommen
und auf Eva aufpassen?“
fahren auch wir nach Heidelberg
und sind während des Drogenentzugs
dabei. Im Bauernhaus eines
Arztes, der das Release betreut,
werden Irene und Ingo nüchtern.
Und bleiben es auch von nun an.
Der Versuch, „Release“ Heidelberg
drogenfrei zu bekommen, scheitert.
Sie ziehen mit fünf Gleichgesinnten
nach Berlin und gründen
die erste drogenfreie Selbsthilfegruppe
Deutschlands.
Wir besuchen die beiden nun regelmäßig
in Berlin: Aus Release
wird schließlich Synanon.
Und immer geht alles gegen den
Strich, immer auf der Suche nach
dem eigenen Weg: Radikal, konsequent,
gegen die herrschende
Meinung, die vermeintlichen Fachleute,
die gängige Drogentherapie
– immer „Against all odds“, gegen
alle bisherigen Regeln. Für die
meisten ihrer Vorstellungen eines
drogenfreien und selbstbestimmten
Lebens gibt es noch nicht viele
Erfahrungen, lediglich Synanon in
USA bietet eine Orientierung.
Immer mehr Leute werden aufgenommen,
immer neue Betätigungsfelder
entwickelt, neue
Häuser eingerichtet, Zweckbetriebe
gegründet – die Gemeinschaft
wächst – drogenfrei.
Zeitweise leben alle ohne Zucker,
ohne Weißmehl, ohne Haare – eine
Ansammlung unterschiedlichster
Menschen, die, wenn sie sich auf
Synanon einlassen, ungeahnte
Fähigkeiten entwickeln. Viele von
ihnen haben wir kennen und
schätzen gelernt – mit einigen sind
wir bis heute befreundet.
1990 dann die Wende: Schmerwitz.
Synanon bekommt die Gelegenheit,
eine neue Art von Verantwortung
zu übernehmen: mehrere
Dörfer, volkseigene Betriebe,
riesige Flächen Land, verwohnte
Häuser, jede Menge Ostbürger.
Es gibt unüberschaubare Aufgaben
und unendlich viel Arbeit. Parallel
dazu noch ein Riesenprojekt: die
Herzbergstraße in Berlin, ein gigantischer
Gebäudekomplex, beängstigend
groß und in allen damit
verbundenen Konsequenzen unübersichtlich.
Denn die zentrale
Aufgabe ist schließlich die Arbeit
mit und für die Süchtigen. Bis
heute erinnern wir die Frage, die
Ingo damals formuliert hat:
„Wie sollen wir das alles mit
Leben füllen?“
Es geht auch nicht gut. Und es gibt
noch mehr Rückschläge. Irene und
Ingo lernen ihre persönlichen Grenzen
kennen. Unaufhörliches Wachstum,
die Vermischung der
Grundideen mit wirtschaftlichem
Druck und die Menge an Aufgaben
überschreiten die Grenzen der
eigenen Leistungsfähigkeit. Alte
Weggefährten gehen ihre eigenen
Wege, verwirklichen ihre eigenen
Vorstellungen. Es gibt Trennungen
im Guten. Die Anzahl der leistungsfähigen,
erfahrenen Mitstreiter hält
nicht mehr mit der Entwicklung
Schritt. Man muss nach neuen
Verbündeten suchen, fasst Vertrauen
in „falsche Freunde“,
fremde Interessen bestimmen
wichtige Entscheidungen der
Gemeinschaft.
40 Jahre Selbsthilfe
der Süchtigen
Am 30. Mai 1971
starteten
Irene und
Ingo Warnke
im
Release
Heidelberg
Heidelberg. 1971, Irene und Gudrun
108