Der lange Marsch.SCREEN
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len aber bedeutet, den Tod zum
obersten Maßstab zu erheben, den
physischen Agenten des Beendens.
Alle Religionen mühen sich an
seinem Skandal ab. Aber hätte
man ihn nicht behoben, hoffte
man für das Leben nur von seinem
Anfang her, statt über sein Ende
hinaus?
Es könnte uns wohler ergehen,
dächten wir, statt darauf zu hoffen,
unser Ende überlisten zu können,
dem voran, wie wir unser Begonnen-Haben
zu erfüllen vermöchten.
In ihrem unendlichen Beginnen
setzt die Kunst den Tod dorthin,
wohin er allein gehört: ans Ende
des Lebens, außerhalb seiner.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen,
hat die Philosophie ihn
immer an den Beginn ihrer Bestimmungen
des Lebens gesetzt. Deshalb
hat sie einer Lebensform
nichts mehr, noch nichts wieder, zu
sagen, die den Tod ver drängt, weil
sie ihn selbst, entgegen ihrer
menschlichen Bestimmung, unauf -
hörlich hervorbringt.
Die Vollendbarkeit der Geburt ist
das Thema der Philosophie im
Übergang zum kommenden Jahrhundert.
Es gibt ein Leben nach der
Geburt.
Zweite Geburt
Alles, was wir sind, sind wir
„von Geburt“, weil durch Geburt.
Daraus zu folgern, wir trügen
alle unsere Möglichkeiten bei unserer
Ge burt bereits in uns, wäre
verfehlt. Möglichkeiten sind einem
nicht „gegeben“, man muss sie
sich verschaffen. „Gegeben“ sind
einem Fähigkeiten und Fertig -
keiten. Es ist grundlos, sich über
einen „Mangel“ an Möglichkeiten,
über ungünstige „Umstände“ zu
beklagen. Eine Fertigkeit, ein Vermögen,
die ge bildet und ausgeübt
werden, schaffen sich ihre Umstände.
Es sind immer die jeweils
günstigsten.
Ein Leben beginnt nicht einmal,
mit seiner Geburt, sondern ständig.
Zu leben heißt, sich unablässig zu
erneuern und sich so von seinem
Ursprung zu entfernen.
In den Künsten ist diese Bedingung
des Lebens am reinsten erfüllt.
An ihnen lässt sich lernen,
dass das Beginnen in seiner Unablässigkeit
ein Prozess der Formung
ist. Vorgefundenes aufzunehmen
und ihm Gestalt zu geben ist die
Arbeit der Kunst, deren Gelingen
sie zum Modell des Lebens macht.
Jede Handlung zur Gestaltung eines
Lebens ist eine zweite Geburt, die
eine der Möglichkeiten verwirklicht,
in deren Fülle die erste entließ.
Perspektivenwechsel
Im Übergang ins neue Jahrhundert,
nach einem der Zerstörung,
der grenzen losen Menschenfeindlichkeit,
kommt es auf eine Umwendung
der Perspekti vität
unserer Welt- und Selbsterfahrung
an, hin auf den unendlichen Prozess
des Beginnens, fort von der
Fixierung aufs Beenden. Darin liegt
die größte Aufgabe des Denkens,
das aufs Ganze des Lebens geht,
sein Verständnis, das seine Formen
prägt, vom Schreckbild seines
Endes zu lösen.
So lässt sich nur hoffen, dass
keine Frage endgültig beantwortet
werde: Das wäre der Beginn der
Unendlichkeit des Nicht-mehr-Beginnens,
des Nichts.
Solange Auseinandersetzungen
wie die der Farben gegen das
Schwarz in der Malerei andauern,
muss einem darum nicht hoffnungslos
bange sein.
Ingo, 1971. Cold turkey
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