EDUCATION 1.20
Die Kraft der Geschichten
Die Kraft der Geschichten
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Thema | Dossier<br />
Die Kraft der Geschichten<br />
Slam@School: «Man ist frei<br />
und kann seiner<br />
Kreativität freien Lauf lassen»<br />
Tina Uhlmann<br />
Welche Geschichten stecken in Jugendlichen? Das<br />
Projekt Slam@School verführt ganze Klassen zum<br />
Dichten und Vortragen. Ein Ohrenschmaus für<br />
alle, die offen sind für neue Formen der Literatur<br />
und die Anliegen der kommenden Generation.<br />
«Lüt, ig chas euch säge, es isch so astrengend,<br />
es tamilischs Meitschi z’si!» Da steht sie, Anamika<br />
Arunakaran, 14, Sekundarschülerin aus Langnau,<br />
und trompetet auf der Bühne des Berner Gaskessels<br />
ins Mikrofon. Sie hat es mit ihrem Text in<br />
den Final von Slam@School geschafft und nutzt die<br />
Gelegenheit, sich vor dicht gedrängtem Publikum<br />
einmal so richtig Luft zu machen: «Ig hasses,<br />
d’giele dörfe egau wenn use u d’meitschis, die chöi<br />
de schön deheim blibe u lehre wie me Curry<br />
macht.»<br />
Grosses Gelächter – das ist ja Bollywood!<br />
Anamika lässt sich nicht beirren:<br />
«Sie judge üs o fr aues. Si judge üs wenn mer dick<br />
isch, wenn me dünn isch, wenn me lislig isch, wenn<br />
me lut isch, wenn me überhoupt läbt. MIND YOUR<br />
OWN BUSINESS!!»<br />
Niemand lacht mehr. In den hinteren Reihen rufen zwei<br />
Jungs mit Dächlikappe «Respect». Okay, denkt man sich,<br />
hier geht es nicht nur um tamilische Mädchen, sondern<br />
um alle Frauen. Tatsächlich läuft Anamika jetzt zur Hochform<br />
auf:<br />
«O generell, wrum hei mer Lohnungerschied<br />
zwüsche Ma u Frou? Wrum si so weni Froue gfragt<br />
a Füehrerpositione? Wrum müesse Froue ni iz<br />
Militär? Wrum si Froue so unbeliebt ir Politik?<br />
U säget mir ni, es isch haut eifach e so!»<br />
Die Schülerinnen und Schüler, die 2019 am Projekt Slam@<br />
School mitgemacht hätten, seien viel politischer als die<br />
Jahrgänge davor, stellt Workshopleiter Valerio Moser fest.<br />
Im Vergleich zu den vorwiegend witzigen Texten, die noch<br />
vor drei, vier Jahren in den Workshops entstanden, seien<br />
diejenigen des aktuellen Schuljahrs ernster und kämpferischer<br />
ausgefallen: «Ganz klar – die Klimademos und der<br />
Frauenstreik machen sich bemerkbar.» Ihn freuts. Denn<br />
auch wenn Poetry-Slam, die Dichterschlacht, vom Talent<br />
der Schreibenden zur Komik auf der Bühne lebt, ist Tiefgang<br />
nicht verboten. Im Gegenteil: Die Kombination<br />
macht es aus. Was kein geringer Anspruch ist, das weiss<br />
Valerio Moser, der selbst aktiv slammt.<br />
Vom Mittelalter zur Generation 2.0<br />
Mit seinem langjährigen Bühnenpartner Remo Rickenbacher<br />
aus Thun und Projektleiterin Tina Messer von Spoken<br />
Word Biel hat Valerio Moser 2012 Slam@School<br />
gegründet und seither kontinuierlich ausgebaut. «Willkommen<br />
im Deutschunterricht 2.0 – Schweizer Poetry-<br />
Slammer entstauben den Frontalunterricht und bringen<br />
Schwung in die Klasse, aufs Papier und auf die Bühne»,<br />
verheisst die Website. «Wer schreibt und performt die<br />
besten Texte?»<br />
Angesprochen sind Schulklassen der Sek I und II,<br />
gerne aus ländlichen Gebieten mit kleinem Kulturangebot.<br />
Gefragt ist die Lust, sich mit Selbstgeschriebenem vor<br />
Publikum im Wettbewerb zu messen. Das ist nichts Neues<br />
in der Welt der Literatur: Schon die Minnesänger des Mittelalters<br />
traten in den Burghöfen vor ihren Angebeteten im<br />
Dichterwettstreit gegeneinander an.<br />
Das Kompetitive scheint aber für die beteiligten<br />
Schülerinnen und Schüler nicht im Vordergrund zu stehen.<br />
«Der Wettbewerb an sich spielte für uns als Slammer<br />
eigentlich gar keine grosse Rolle», gibt Niels Meister, 13,<br />
aus Uetendorf nach seinem Auftritt im Gaskessel zu Protokoll.<br />
«Mir hat der Anlass sehr gefallen, und es hat Spass<br />
gemacht, andere Leute kennenzulernen.»<br />
Ähnlich hat Lenny Amann, 14, aus Kaufdorf diesen<br />
U20-Poetry-Slam erlebt. Mit seinem lautmalerisch vorgetragenen<br />
Text hat er viele Lacher eingeheimst und den<br />
Wettbewerb gewonnen. Ente Emil und Elefant Elmar philosophieren:<br />
«Wieso wollen wir wissen, was wir werden?<br />
Wir wissen, wer wir waren, wir waren Affen. Werden<br />
wir Weisskopfseeadler werden? Wahrscheinlich wissen<br />
Weissrussen, was wir werden. Wir wissen, was wir wollen.<br />
Wir wollen wissen, was wir werden. Was wir werden, wollen<br />
wir wissen.» Bei dieser Passage hat sich der junge<br />
Dichter eine Regieanweisung notiert: «hohes Deutsch» –<br />
entsprechend der Vortrag. Aber dann gibt Elefant Elmar<br />
«eine eher entspannte Erzählung» zum Besten: «In Indien<br />
ist immer irgendein Inder im Innenstadt-Indoorspielplatz<br />
…». Nicht lustig? Mit indischem Akzent schon. Im<br />
Gaskessel kocht die Stimmung hoch – also doch noch<br />
Bollywood! Und dabei hat Lenny ganz nebenbei gelernt,<br />
wie effektvoll Alliterationen wirken können.<br />
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