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Die Kraft der Geschichten

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Thema | Dossier<br />

Die Kraft der Geschichten<br />

Slam@School: «Man ist frei<br />

und kann seiner<br />

Kreativität freien Lauf lassen»<br />

Tina Uhlmann<br />

Welche Geschichten stecken in Jugendlichen? Das<br />

Projekt Slam@School verführt ganze Klassen zum<br />

Dichten und Vortragen. Ein Ohrenschmaus für<br />

alle, die offen sind für neue Formen der Literatur<br />

und die Anliegen der kommenden Generation.<br />

«Lüt, ig chas euch säge, es isch so astrengend,<br />

es tamilischs Meitschi z’si!» Da steht sie, Anamika<br />

Arunakaran, 14, Sekundarschülerin aus Langnau,<br />

und trompetet auf der Bühne des Berner Gaskessels<br />

ins Mikrofon. Sie hat es mit ihrem Text in<br />

den Final von Slam@School geschafft und nutzt die<br />

Gelegenheit, sich vor dicht gedrängtem Publikum<br />

einmal so richtig Luft zu machen: «Ig hasses,<br />

d’giele dörfe egau wenn use u d’meitschis, die chöi<br />

de schön deheim blibe u lehre wie me Curry<br />

macht.»<br />

Grosses Gelächter – das ist ja Bollywood!<br />

Anamika lässt sich nicht beirren:<br />

«Sie judge üs o fr aues. Si judge üs wenn mer dick<br />

isch, wenn me dünn isch, wenn me lislig isch, wenn<br />

me lut isch, wenn me überhoupt läbt. MIND YOUR<br />

OWN BUSINESS!!»<br />

Niemand lacht mehr. In den hinteren Reihen rufen zwei<br />

Jungs mit Dächlikappe «Respect». Okay, denkt man sich,<br />

hier geht es nicht nur um tamilische Mädchen, sondern<br />

um alle Frauen. Tatsächlich läuft Anamika jetzt zur Hochform<br />

auf:<br />

«O generell, wrum hei mer Lohnungerschied<br />

zwüsche Ma u Frou? Wrum si so weni Froue gfragt<br />

a Füehrerpositione? Wrum müesse Froue ni iz<br />

Militär? Wrum si Froue so unbeliebt ir Politik?<br />

U säget mir ni, es isch haut eifach e so!»<br />

Die Schülerinnen und Schüler, die 2019 am Projekt Slam@<br />

School mitgemacht hätten, seien viel politischer als die<br />

Jahrgänge davor, stellt Workshopleiter Valerio Moser fest.<br />

Im Vergleich zu den vorwiegend witzigen Texten, die noch<br />

vor drei, vier Jahren in den Workshops entstanden, seien<br />

diejenigen des aktuellen Schuljahrs ernster und kämpferischer<br />

ausgefallen: «Ganz klar – die Klimademos und der<br />

Frauenstreik machen sich bemerkbar.» Ihn freuts. Denn<br />

auch wenn Poetry-Slam, die Dichterschlacht, vom Talent<br />

der Schreibenden zur Komik auf der Bühne lebt, ist Tiefgang<br />

nicht verboten. Im Gegenteil: Die Kombination<br />

macht es aus. Was kein geringer Anspruch ist, das weiss<br />

Valerio Moser, der selbst aktiv slammt.<br />

Vom Mittelalter zur Generation 2.0<br />

Mit seinem langjährigen Bühnenpartner Remo Rickenbacher<br />

aus Thun und Projektleiterin Tina Messer von Spoken<br />

Word Biel hat Valerio Moser 2012 Slam@School<br />

gegründet und seither kontinuierlich ausgebaut. «Willkommen<br />

im Deutschunterricht 2.0 – Schweizer Poetry-<br />

Slammer entstauben den Frontalunterricht und bringen<br />

Schwung in die Klasse, aufs Papier und auf die Bühne»,<br />

verheisst die Website. «Wer schreibt und performt die<br />

besten Texte?»<br />

Angesprochen sind Schulklassen der Sek I und II,<br />

gerne aus ländlichen Gebieten mit kleinem Kulturangebot.<br />

Gefragt ist die Lust, sich mit Selbstgeschriebenem vor<br />

Publikum im Wettbewerb zu messen. Das ist nichts Neues<br />

in der Welt der Literatur: Schon die Minnesänger des Mittelalters<br />

traten in den Burghöfen vor ihren Angebeteten im<br />

Dichterwettstreit gegeneinander an.<br />

Das Kompetitive scheint aber für die beteiligten<br />

Schülerinnen und Schüler nicht im Vordergrund zu stehen.<br />

«Der Wettbewerb an sich spielte für uns als Slammer<br />

eigentlich gar keine grosse Rolle», gibt Niels Meister, 13,<br />

aus Uetendorf nach seinem Auftritt im Gaskessel zu Protokoll.<br />

«Mir hat der Anlass sehr gefallen, und es hat Spass<br />

gemacht, andere Leute kennenzulernen.»<br />

Ähnlich hat Lenny Amann, 14, aus Kaufdorf diesen<br />

U20-Poetry-Slam erlebt. Mit seinem lautmalerisch vorgetragenen<br />

Text hat er viele Lacher eingeheimst und den<br />

Wettbewerb gewonnen. Ente Emil und Elefant Elmar philosophieren:<br />

«Wieso wollen wir wissen, was wir werden?<br />

Wir wissen, wer wir waren, wir waren Affen. Werden<br />

wir Weisskopfseeadler werden? Wahrscheinlich wissen<br />

Weissrussen, was wir werden. Wir wissen, was wir wollen.<br />

Wir wollen wissen, was wir werden. Was wir werden, wollen<br />

wir wissen.» Bei dieser Passage hat sich der junge<br />

Dichter eine Regieanweisung notiert: «hohes Deutsch» –<br />

entsprechend der Vortrag. Aber dann gibt Elefant Elmar<br />

«eine eher entspannte Erzählung» zum Besten: «In Indien<br />

ist immer irgendein Inder im Innenstadt-Indoorspielplatz<br />

…». Nicht lustig? Mit indischem Akzent schon. Im<br />

Gaskessel kocht die Stimmung hoch – also doch noch<br />

Bollywood! Und dabei hat Lenny ganz nebenbei gelernt,<br />

wie effektvoll Alliterationen wirken können.<br />

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