EDUCATION 1.20
Die Kraft der Geschichten
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Volksschule | Ecole obligatoire<br />
verlag plus AG<br />
Vor 45 Jahren konjugierten wir 1 im Französischunterricht<br />
Verben, lernten für die «Wörtliprobe» am nächsten Tag<br />
Vokabeln auswendig, um viele sofort wieder zu vergessen;<br />
jeder fehlende accent aigu, grave oder circonflexe wurde<br />
als Fehler verbucht. Im Einsatz stand das Lehrmittel «Ici<br />
Fondeval», dessen Wortschatz angestaubt und auf ein<br />
ländliches Leben ausgerichtet war. Wenig schmeichelhaft<br />
äus sert sich Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach,<br />
Jahrgang 1962, in der NZZ rückblickend zu «Ici Fondeval»:<br />
«Dass der Dreschflegel (fléau) ein Gegenstand ist,<br />
dem man schon damals eher im Bauernmuseum als im<br />
wahren Leben begegnet ist, wäre uns nicht aufgefallen.»<br />
Und: «Dieser Unterricht war effizient, hochgradig gelenkt<br />
und weitgehend sinnfrei.»<br />
Bei der Einführung der neuen Passepartout-Lehrmittel<br />
2011 tönten die Vorwürfe ähnlich – zumindest, was<br />
den Wortschatz anbelangt: zu wenig alltagstauglich. 2016<br />
schrieb die NZZ: «‹Percnoptère› – so heisst die Vokabel,<br />
in der das Entsetzen über das Französisch-Lehrmittel<br />
‹Mille Feuilles› kulminiert». Weil der «Schmutzgeier», das<br />
Pendant auf Deutsch, in Mitteleuropa höchstens ein verirrter<br />
Gast ist, sei die Frage vieler Eltern berechtigt, weshalb<br />
ihre Kinder dieses und andere exotische Wörter<br />
schon in ihrem ersten Französischschuljahr lernen müssten.<br />
Statt ordentlich eine Pizza bestellen zu lernen, doppelten<br />
andere Medien plakativer nach.<br />
Drastische Stoffreduktion bringt Zeitgewinn …<br />
Der «Percnoptère» ist auch heute noch Gast in «Mille feuilles<br />
3». Der Schulverlag plus hat jedoch auf Wunsch und<br />
in Zusammenarbeit mit den Passepartout-Kantonen viele<br />
Zusatzmaterialien für den Französischunterricht in der 3.<br />
und 4. Klasse erarbeitet. Damit können die Schülerinnen<br />
und Schüler nun auch mehr Alltagswortschatz erwerben,<br />
sprechen lernen und Grammatik üben.<br />
Eine Totalüberarbeitung erlebten und erleben die<br />
Französischlehrmittel für die 5. und 6. Klasse. Die Überarbeitung<br />
von «Mille feuilles 5» ist seit Sommer 2019 bei<br />
den Schulen in Gebrauch. Das überarbeitete «Mille feuilles<br />
6» wird ab dem kommenden Schuljahr einsatzbereit<br />
sein. Auch in diesen beiden Lehrmitteln wird der Alltagswortschatz<br />
gestärkt. Die Schülerinnen und Schüler erhalten<br />
mehr Anlässe, um zu parlieren. Das Grammatikangebot ist<br />
grösser und sichtbarer. Zu guter Letzt setzt Grammatik<br />
teilweise früher ein. Die Jugendlichen lernen nun ab dem<br />
5. Schuljahr regelmässige Verben konjugieren und befassen<br />
sich mit den Hilfsverben avoir und être, ohne die<br />
sich kaum ein Satz bilden lässt.<br />
1 Eigene Erfahrungen der Autorin, Jahrgang 1962<br />
2 Berner Schule, 10.9.2019, Interview Stefan Wittwer und<br />
Franziska Schwab, «Wir wollten das Lehrmittel zugänglicher<br />
und ein bisschen weniger dogmatisch machen», S. 8<br />
3 ebenda<br />
4 Details finden Sie im Interview der Berner Schule, 10.9.2019,<br />
mit Stefan Wittwer und Franziska Schwab, «Wir wollten<br />
das Lehrmittel zugänglicher und ein bisschen weniger dogmatisch<br />
machen», S. 8<br />
Verbesserungen auf einen Blick<br />
Neu zusammengestellt: Zusatzmaterialien des Lehrmittelverlags<br />
Schulverlag plus zu den Lehrmitteln<br />
«Mille feuilles» und «Clin d’œil»:<br />
– https://www.1000feuilles.ch/_file/933/sv-uebersicht-<br />
zusatzprodukte-mf-doppelseiten.pdf<br />
– https://www.clin-doeil.ch/_file/1316/sv-uebersicht-<br />
zusatzprodukte-cdo-doppelseiten.pdf<br />
Differenzierungshilfen zum Französischunterricht,<br />
die von den Passepartout-Kantonen erarbeitet wurden<br />
und laufend überarbeitet werden:<br />
– https://www.fremdsprachenunterricht.ch/informationen-fuer/lehrpersonen-primarstufe/differenzierung/<br />
… fürs Üben und Sprechenlernen<br />
Die Stoffmenge wiederum wurde reduziert – «drastisch»,<br />
wie Bernhard Kobel, Geschäftsführer des Schulverlags<br />
plus, und Michelle Harnisch, Projektleiterin Passepartout,<br />
kürzlich in einem Interview gegenüber der Berner Schule<br />
betonten. 2 Dies führe zu einem Zeitgewinn von rund zehn<br />
Wochen – Zeit fürs Sprechenlernen oder Üben, versprechen<br />
die beiden. Harnisch wie Kobel stehen aber weiterhin<br />
«voll» hinter den authentischen Texten. Also Texte, die<br />
nicht konstruiert sind und keine oder wenige Anpassungen<br />
enthalten, wie beispielsweise Gedichte, Chansons,<br />
Internetseiten oder Werbung. Man müsse nicht jedes<br />
Wort verstehen, betonen die beiden in der Berner Schule:<br />
«Wir wollen die Schülerinnen und Schüler auf das vorbereiten,<br />
was Sie nachher in der Alltagsrealität erwartet.» 3<br />
Sie können zudem in den meisten «magazines» den Input<br />
je nach Interesse und Umfang auswählen. Auch dies eine<br />
Massnahme, die sowohl leistungsstärkeren wie -schwächeren<br />
Jugendlichen entgegenkommt.<br />
Kundenfreundlicher zeigt sich der Schulverlag plus<br />
auch im digitalen Bereich: Früher wollte der Verlag seine<br />
Inhalte, sein Kapital, schützen. Heute hat die Zugänglichkeit<br />
der Kundinnen und Kunden eine viel höhere Priorität. 4<br />
Ende gut, alles gut? «Viele der Verbesserungen sind<br />
den Lehrpersonen noch zu wenig bekannt», sagt Sabine<br />
Bättig, Leiterin Passepartout der kantonalen Bildungs- und<br />
Kulturdirektion. Deshalb habe der Schulverlag plus nun<br />
neue Wegweiser zu allen Zusatzmaterialien für die Lehrmittel<br />
«Mille feuilles» und «Clin d’œil» erarbeitet (siehe<br />
S. 34). Differenzierungshilfen für schwächere Schülerinnen<br />
und Schüler zu «Mille feuilles» wie «Clin d’œil» wurden<br />
bereits im Projekt Passepartout erarbeitet und werden<br />
laufend weiterentwickelt.<br />
Ein beträchtlicher Teil der Lehrpersonen dürfte sich<br />
trotz den Anpassungen nicht mit den Passepartout-Lehrmitteln<br />
für Französisch anfreunden können – bessere<br />
Kommunikation hin oder her. Auch sie dürfen optimistisch<br />
sein: «Ich bin offen für ein Wahlobligatorium», betont die<br />
Bildungs- und Kulturdirektorin in ihrem politischen Kommentar<br />
auf Seite 5.<br />
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